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Wege

Teil 9 - Hürdenlauf

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„Du hast WAS?“

Babs‘ Augen waren ungläubig geweitet und Mic konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Na ja, es bot sich an, als wir einmal da waren. Die Gelegenheit war günstig.“

Babs schüttelte den Kopf, während sie sich den 5. Löffel Zucker in den Kaffee rührte. Brauner Bio-Rohrzucker. Natürlich. Was auch sonst …

„Aber … aber … warum geht das plötzlich alles so schnell bei dir? Noch vor nicht allzu langer Zeit hattest du einen Panikanfall in der Bar, weil da zwei Typen geknutscht haben, und jetzt ist schon Outing bei deinen Eltern angesagt? “

„Schnell? Also bitte … 17 Jahre … so besonders rasant finde ich mein Tempo ehrlich gesagt nicht. Außerdem hat meine Mutter es eh schon geahnt … spätestens seit sich eine gute Freundin von mir verplappert hat.“

Obwohl Mic auch nicht andeutungsweise sauer war wegen Babs‘ Versprecher, so musste diese kleine Spitze einfach raus. Auf einem von Babs berüchtigten Müsli-Keksen kauend und mühevoll eine ernste Miene beibehaltend, beobachtete er genussvoll ihre Reaktion. Babs wirkte dann auch erwartungsgemäß betreten.

„Ja, sorry, aber hey, ich hatte das eigentlich wieder gedreht bekommen … dachte ich jedenfalls …“

Mic konnte sich das Lachen nicht länger verkneifen.

„Dachtest du, ja? Du kennst halt meine Mutter nicht. Aber das ist schon in Ordnung. Das war eh nicht ihr einziges … sagen wir mal Indiz.“

Babs drohte, ihm den Kaffee über den Kopf zu schütten.

„Mich so zu erschrecken … na warte. Ich dachte schon, du wärst sauer.“

„Nein, bin ich nicht.“

Babs grinste.

„Dann läuft es also gut mit Richard und dir, ja?“

„Kann man, glaube ich, wahrscheinlich so sagen.“

„Das klingt jetzt aber … na ja … nicht gerade euphorisch. Solltest du nicht eigentlich eine Spur begeisterter sein? Machst du dir noch immer Gedanken wegen Jörn?“

„Auch.“

Klar war Jörn auch eines der schwierigen Themen, nach wie vor. Immer noch war es so, dass Jörn in ihm ein ziemliches Gefühlschaos auslösen konnte. Hinzu kam, dass Richard nicht einmal andeutungsweise Reaktionen von Eifersucht zeigte, was Mic noch immer sehr irritierte. Keine Spur von Missstimmung bei Richard wegen Jörn, im Gegenteil. Seit Mic sich kaum noch traute, Zeit mit Richard zu verbringen, weil er ihn immer wieder fragte, was mit ihm los sei seit dem Besuch bei seinen Eltern, verbrachte Richard ungewöhnlich viel Zeit mit Jörn. Dennoch war Jörn zurzeit nicht das Problem, das Mic beschäftigte.

„Ok, Klartext, ja! Was ist denn noch?“

Mic zögerte. In der letzten Nacht hatte er ernsthaft darüber nachgedacht, Babs alles zu erzählen. Es würde gut tun, seine Angst mit jemandem zu teilen, aber er fürchtete, sie würde darauf bestehen, es Richard ebenfalls zu erzählen, was ihn quälte. Und das … ging auf keinen Fall. So hatte er entschieden zu schweigen.

„Nichts, worüber ich reden könnte, Babs.“

Babs sah ihn mit diesem „Ich krieg dich schon zum Reden“-Blick an und öffnete gerade den Mund, um etwas dazu zu sagen, als Mic dazwischenfuhr.

„Ich will nicht wieder austicken.“

Das war ihm in letzter Sekunde noch als Begründung eingefallen. Und irgendwo stimmte es ja auch, auch wenn es ihm gerade erst eingefallen war. Er hatte wirklich Angst, wieder in einen dieser üblen Zustände zu geraten, wenn er darüber reden würde; über das, was sich am Krähenstein damals vielleicht … oder wahrscheinlich abgespielt hatte. Allein der Gedanke daran versetzte ihn in eine kaum zu ertragende, innere Unruhe und Spannung.

„Bitte, können wir über etwas anderes reden, Babs? Ich bin immer dann ausgerastet, wenn es um diese Sache damals ging oder wenn mich was daran erinnert hat. Ich glaub, ich bespreche das besser mit einem Psychiater in einem andern Rahmen.“

„Tust du das denn? Hast du schon Termine gemacht?“

„Ja, ein Vorgespräch habe ich Ende Januar. Das war das schnellste. Bitte Babs. Anderes Thema? Über irgendwas anderes reden?“

Babs warf ihm noch einen prüfenden Blick zu, während sie an ihrem Kaffee nippte. Und anschließend spuckte.

„Ja, können wir, und zwar darüber, welcher Irre mir so viel Zucker in den Kaffee geschüttet hat.“

Mic musste schmunzeln.

Das war so sehr Babs, und unter anderem dafür liebte er sie.

„Und wie läuft es mit Heather?“, lenkte Mic ab, worauf Babs dann auch sofort ansprang.

„S-O-F-I-A!“ buchstabierte sie mit gerunzelter Stirn, doch nur Sekunden später nahm ihr Gesicht einen fast schon verklärten Ausdruck an.

„Gut. Ich meine … richtig gut. Schon fast so‘n bisschen unheimlich. Ach Mic … ich meine … sie ist toll. Wir fahren übrigens über Weihnachten zusammen weg nach Straußdorf. Stell dir vor, makrobiotisches Essen, ein richtiges Weihnachtsmenü, und das ist gleichzeitig ein Kochkurs! Hat sie toll ausgesucht, find ich. Allerdings … liebster, allerliebster Mic … ich hab da noch ein winzig kleines Problem …“

Mic stöhnte auf.

„Ich kann es mir schon denken. Du brauchst noch einen Drachenbändiger über Weihnachten.“

„Wärst du so lieb? Ich mein … du hast ja jetzt schon Übung …“

„Wenn ich Predo nicht makrobiotisch ernähren muss …“

„War das ein Ja? Das war ein Ja! Oh danke, Mic. Hast was gut bei mir. Die Woche bedeutet mir `ne Menge.“

Aha, nun war es schon eine ganze Woche. Von wegen über Weihnachten …

„Ihr bleibt also auch über Silvester da?“

Strahlend nickte Babs.

„Klingt, als hättet ihr euch gesucht und gefunden, du und Heather. Also Sofia.“

„Oh, der Herr ist lernfähig.“

„Vergiss es einfach. Wann fahrt ihr denn? Oder geht ihr zu Fuß? Von wegen Umweltschutz?“

„Hattest du nie Erdkunde in der Schule? Straußdorf liegt bei … na ja, nicht sooo weit von München. Zu Fuß nach Süddeutschland? Spinnst du?“, antwortete sie in keiner Weise auf Mics Stichelei eingehend. „Wir fahren mit dem Zug. Hier …“

Babs legte ihm einen Schnellhefter hin.

„Da steht alles drin, was du wissen musst. Nochmal ´ne Pflegeanleitung für Predo, unsere Zugverbindungen, Adresse, Telefonnummern … falls mal was sein sollte.“

Mic schmunzelte, als er einen darin liegenden Prospekt eines Tantra- Workshops mit dem Titel „Frauenlust und Sinnlichkeit“ entdeckte, den Babs ihm allerdings sofort wieder entriss.

„Und der, mein Lieber, ist nicht für dich. Such dir deinen eigenen Workshop. Könnte DIR sicher auch nicht schaden.“

„Was soll das denn heißen?“

Babs grinste nur, dann wurde sie ernst.

„Du rückst ja nicht raus damit, was zwischen Richard und dir nicht stimmt. Aber tu dir selbst einen Gefallen, ja? Vermassel das mit Richard nicht.“

„Ich versuch‘s“, seufzte Mic und fragte vorsichtshalber nicht nach, was genau Babs damit meinte.


Ein letztes Winken und Richard entschwand Mics Gesichtsfeld, als der Zug aus dem Bahnhof rollte. Mic ließ sich in seinen Sitz plumpsen. Auch wenn ihm prinzipiell dieser Jour-Fixe in der Adventszeit nicht passte, so war er doch froh, ein paar Tage nicht zu Hause zu sein, seine Kommilitonen wiederzusehen und sich einfach mal wieder voll und ganz mit dem Theater beschäftigen zu dürfen. Nur noch ein halbes Jahr bis zum Abschluss, dann waren die 4 Jahre rum und Mic würde sein Zertifikat als Theaterpädagoge erhalten. Die Zeit raste.

Mic streckte sich aus. Es war eine gute Idee gewesen, mit dem Zug statt mit dem Auto zu fahren, fand er. Richard hatte ihn bringen und abholen wollen, aber Mic hatte sich dagegen gewehrt und Unterstützung von Babs bekommen, die Richard einen Erd-Erwärmer geschimpft hatte. Mics Motivation dagegen war eigentlich nur gewesen, seinen Ängsten zu entfliehen, nicht mit Richard darüber reden zu müssen. Im Auto hätte er ihm nicht ausweichen können, und Richard hätte ganz sicher wieder gefragt, was mit ihm los sei. Er spürte ganz offensichtlich, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Kein Wunder. In dem ständigen Gefühl, durchschaut zu sein, war Mic Richard in der letzten Woche, wo immer es ging, aus dem Weg gegangen. Einen Abend hatte er sogar mal wieder exzessiv zum Gras gegriffen, in der Hoffnung, sein Gedanken- und Gefühlschaos mal für ein paar Stunden zum Schweigen zu bringen. Ergebnislos. Leider einerseits und glücklicherweise andererseits.

Mic griff in seine Tasche, suchte nach der letzten Ausgabe von „Korrespondenzen“, einer Zeitschrift für Theaterpädagogik, die er sich extra für die Fahrt besorgt hatte - als Einstimmung auf die kommenden Tage sozusagen. Zwischen den Blättern fiel die Speisekarte eines Pizzalieferservice heraus, die Mic schon abwesend wegwerfen wollte, als er einen handgeschriebenen Zettel darauf kleben sah:

„Diese Pizzeria ist um die Ecke von deinem Seminarhaus. Falls das Essen da scheiße sein sollte. Kuss, Richard“

Lächelnd strich Mic mit den Fingerspitzen über den Zettel. Richard kannte ihn für die kurze Zeit, seit sie sich begegnet waren, schon ziemlich gut. Überhaupt war er einer der aufmerksamsten Menschen, die er kannte. Und er vermisste ihn. Vermisste ihn sehr. Das brachte ihn auf eine Idee, aber auf die Reaktion würde er bis zum Abend warten müssen. Dann würde Richard bei Babs zum Essen sein. Er holte sein Handy hervor und hoffte, er hätte Giannis Nummer gespeichert. Hatte er, und Gianni ging sogar selbst dran.

„Gianni? Hier ist Mic, einer deiner Lieblingsgäste. Kannst du mir bitte einen riesigen Gefallen tun?“

„Ah, Mic. Was brauchst du?“

„Wie viel Tiramisu hast du noch da?“

„Warte, ich sehe nach.“

Gianni machte laut Richard das beste Tiramisu der Welt.

„Genug für dich“, kam nach einer Weile die Antwort.

„Sehr gut. Also, worum ich dich bitten wollte … könntest du 8 … oder sagen wir 10 Portionen zu meiner Nachbarin bringen? Ich bin im Zug nach Köln, deswegen kann ich nicht selbst kommen. Ich zahl‘s dir Montagabend oder spätestens Dienstag, dann bin ich wieder da.“

„Kein Problem. Wann?“

„Gegen 21 Uhr? Ich weiß, dann ist grad viel los bei euch und ihr liefert ja eigentlich nicht, aber kannst du das irgendwie hinbekommen? Es ist auch wirklich nicht weit, keine 5 Minuten zu Fuß.“

Mic hörte, wie Gianni am anderen Ende übertrieben laut seufzte.

Dann:

„Ich hänge es an den Bonblock, damit ich es nicht vergesse. Aber das wird nicht zur Gewohnheit, ja? Nur Tiramisu? Was ist mit Essen?“

„Nein, nur das Dessert. Meine Nachbarin hat einen Gast zum Essen, und dein Tiramisu soll eine Überraschung sein.“

„10 Portionen für nur einen Gast? Dann weiß ich, wer der Gast ist. Der frisst mir doch immer die Vorräte weg, wenn ihr hier seid.“
Gianni lachte herzhaft.
„Ok, gib mir die Adresse.“

„Moment noch. Kannst du einen Zettel dazulegen? Oder, wenn du sowas hast, eine Karte? Und etwas für mich draufschreiben?“

Wieder seufzte Gianni laut und vernehmlich, aber Mic wusste, dass er gewonnen hatte.

„Warte.“

Mic hörte Schritte, Papierrascheln, Küchengeräusche, dann wieder Schritte.

„Ich habe was. Was soll ich schreiben?“

„Schreib: Für dich, Richard, damit wenigstens das Dessert nicht makrobiotisch ist und um deine Röllchen zu füttern. Kuss von Mic.“

„Moment, Moment, nochmal langsam.“

Als Gianni fertig geschrieben hatte, forderte Mic ihn auf:

„Und jetzt mal noch ein Herzchen dazu.“

„Ein was?“

„Ein Herzchen. Du kannst doch ein Herzchen zeichnen, oder? Versuch es wenigstens. Es muss ja kein Gemälde werden. Bitte?“

„Mic, du bist ein guter Kunde, aber du musst ein noch besserer werden, wenn ich das hier tun soll. Also gut, ich habe ein Herz gezeichnet. Zufrieden?“

„Gianni, ich werde nie wieder woanders Pizza essen, wenn ich nicht grad in Köln bin.“

„Das will ich auch hoffen.“

Mic gab ihm noch Babs‘ Namen und die Telefonnummer von Richard für den Fall, dass wider Erwarten keiner öffnen sollte, bedankte sich noch einmal und beendete das Gespräch.

Er lächelte in sich hinein. Tiramisu war Richards Lieblingsdessert, erst recht das vom Bella Italia, wo sie in den letzten Wochen einige Male gewesen waren. Obwohl es eigentlich nur eine kleine, einfache Pizzeria war, konnte Richard über das Tiramisu regelrecht ins Schwärmen geraten. Und bei Babs würde es mit Sicherheit etwas Vollwertiges, Vegetarisches, biologisch Dynamisches und politisch Korrektes zu Essen geben, und neuerdings war sie ja auch noch auf einem Makrobiotik-Trip, was auch immer das war. Von Makrobiotik hatte er nur eine recht schemenhafte Vorstellung. Richard würde sich jedenfalls freuen, und Mic konnte ihm endlich mal wieder, jetzt mit sicherem, räumlichem Abstand, zeigen, dass er ihm etwas bedeutete.

Überaus zufrieden mit sich selbst schlug er seine Zeitschrift auf und vertiefte sich


„Du elender Mistkerl!“, schallte es statt einer Begrüßung aus seinem Handy, als endlich jemand das Gespräch angenommen hatte. Dieser Jemand war Babs.

„Was passiert jetzt mit meinem Cranberry-Kompott mit Vanille-Sojasahne? Soll ich dir den vielleicht aufbewahren? Dabei wollte ich dir nur indirekt was Gutes tun. Cranberrys sind nämlich gut für die Harnorgane, und außerdem verlangsamen sie den Alterungsprozess!“

Mic musste lachen.

„Danke, Babs, das ist rührend von dir. Bist du wirklich sauer?“

„Quatsch. Ich wollte Cranberry-Kompott mit Vanille-Sojasahne machen, hab ich aber nicht. Hab keine Cranberrys gefunden, obwohl grad die Zeit dafür ist, so um Weihnachten. Aber ich kann doch mal so tun.“

„Puh. Ich hab mir nur zu Herzen genommen, dass du gesagt hast, ich soll das mit Richard nicht vermasseln.“

„Braver Mic. Hast du gut gemacht.“

„Gibst du ihn mir mal?“

„Geht nicht, der hat die Backen voll Tiramisu. Und bevor du fragst – Jörn und Sofia, die Verräterin, auch.

„Ehm … Jörn ist auch da?“

„Ja, wusstest du das nicht? Na, offensichtlich ja wohl nicht. Ist das jetzt irgendwie schlimm oder was?“

Jörn? Wieso war Jörn da? Gut, er und Babs kannten sich, aber sie waren nun nicht gerade enge Freunde. Also war er wegen Richard da. Absurderweise schoss Mic sofort das Bild in den Kopf, wie Jörn und Richard eng aneinander in seinem Bett gelegen hatten, nach seinem Krankenhausaufenthalt – und das gab ihm genau so einen Stich, wie sie ihm die Vertrautheit zwischen den beiden immer wieder mal gab. Eine Vertrautheit, die ganz normal war in Anbetracht der Tatsache, dass die beiden ja mal ein Paar gewesen waren. Doch eben das machte es auch nicht einfacher. War das allen Ernstes sowas wie Eifersucht, was er da spürte? Ausgerechnet er, der nach wie vor so heftig auf Jörn reagierte, sollte eifersüchtig sein? Mit Gewalt versuchte Mic, dieses unerwünschte Gefühl zur Seite zu schieben, als er Richards Stimme am Telefon hörte.

„Hey. Das war total süß. Danke.“

Fast hatte Richard geflüstert.

„Rate, welche Pizza ich bestellt habe?“

„Du hast wirklich Pizza bestellt?“

Mic grinste.

„Wo du ja schon den organisatorischen Teil übernommen hattest, musste ich ja nur noch anrufen. Danke. DAS war süß. Dadurch bin ich erst auf die Idee mit dem Tiramisu gekommen. War eine Nachricht dabei?“

„Ja. Hat Gianni das etwa für dich geschrieben?“

„Ja, ich musste ihm versprechen, nie wieder woanders Pizza zu essen.“

„Du fehlst mir. Nicht nur jetzt, auch die letzten Tage …“

Womit sie genau bei dem Thema waren, wo Mic nicht hin wollte.

„Ich weiß. War ja immer was in letzter Zeit, aber das wird wieder besser. Warum ist Jörn da?“

Noch in dem Moment, in dem er das fragte, erkannte Mic sein Ablenkungsmanöver als Eigentor. Das Thema war nämlich auch nicht wirklich besser.

„Ich hab ihn gebeten, mitzukommen. Stört dich das?“

„Nein“, log er.

„Ich … wusste es eben nur nicht.“

Richard seufzte.

„Ach Mic, ich hab dir schon mal gesagt, dass ich dir das nicht versprechen kann.“

„Was versprechen?“

„Na immer daran zu denken, dir zu sagen, wenn ich mich mit Jörn treffe. Aber du warst ja auch nie da und meistens nicht mal erreichbar.“

Mic biss sich auf die Lippen. Da waren sie wieder bei genau dem Thema, von dem er weg wollte.

„Richard, ich vermisse dich doch auch“, murmelte Mic hilflos.

„Du hast keine Ahnung wie sehr.“

Das stimmte. Er vermisste Richard schmerzlich, und doch war da diese Angst, die ihn ständig zusammenzucken ließ. Noch war sie stärker, aber er würde sie schon noch in den Griff bekommen. Er würde das schaffen, ganz sicher.

„Dann lass mich dich Montag zumindest in Köln abholen. Wir hätten wenigstens mal wieder Zeit, ein bisschen zu reden bei der Fahrt. Und wenn ich etwas schneller fahre, vielleicht auch für mehr.“

Mic wand sich.

„Aber ich habe doch das Ticket schon.“

„Scheiß auf das Ticket, wenn wir uns dann mal länger als eine halbe Stunde sehen können. Ich hätte eh heute mitkommen sollen. Wir hätten eine Nacht im Hotel schlafen können, dann wärst du trotzdem pünktlich zum Beginn morgens da gewesen, ohne aufstehen zu müssen, wenn es noch dunkel ist.“

Auch so eine Sache. Die Nacht von Freitag auf Samstag im Seminarhaus war keineswegs obligatorisch. Er hätte auch am Samstagmorgen um 05:29 Uhr abfahren können und wäre um 07:28 Uhr am Hauptbahnhof in Köln gewesen. Früh genug, Warming Up sollte um 8:30 Uhr sein. Aber er war lieber schon einen Tag früher geflohen und hatte einen Zug am Freitagnachmittag genommen.

„Hey, warum sagst du nichts?“

Mic knetete seine Lippen.

„Hier ist Montag um 16 Uhr Schluss. Wird die viele Fahrerei nicht zu anstrengend für dich? Und wie willst du das überhaupt schaffen? Du musst doch arbeiten …“

„Das lass mal meine Sorge sein. Und du kannst ja auch mal fahren.“

„Na gut, dann machen wir es so.“

Mic fiel nichts Glaubwürdiges mehr zu erwidern ein.

„Ja, ich freu mich auch. Aber hey, du musst ja nicht gleich so überschäumen vor Begeisterung.“

„Nein, ich freu mich wirklich. Ich will nur nicht, dass du dir zu viel zumutest“, log er.

„Ich mir? Was kann mir zuzumuten schlimmer sein als Mic-Entzug? Ich bin dann um 16 Uhr da.“

Mic schluckte.

„Ja, danke. Das wird bestimmt … schön.“

Scheinbar endlose Sekunden schwiegen sie.

„Und? Wie ist die Stimmung bei euch? Sind viele da?“

Erleichtert, über etwas anderes reden zu können, sprudelte es nur so aus Mic heraus.

„Die Stimmung ist phantastisch. Wir kennen uns ja auch schon seit über 3 Jahren, und die Jour Fixes sind immer Highlights. Wir haben hier einen riesigen Kaminraum, in dem wir sogar rauchen dürfen. Das Feuer knistert, wir reden, und die anderen haben auch fast alle Fotos mit von ihren Projekten. Es ist immer toll, wenn die anderen über ihre Projekte reden. Ich hab schon wieder ganz viele neue Ideen im Kopf, aber noch total unsortiert.“

„Du klingst richtig begeistert …“

„Das bin ich auch.“

„Was auch immer dir gut tut. Genieß die drei Tage.“

„Das werde ich. Morgen bekommen wir noch ein paar Filme zu sehen, die die anderen mitgebracht haben. Sonntag dann ein paar Unterrichtseinheiten und Montag eben noch ein paar theoretische Prüfungen, aber das wird alles gut gehen.“

„Da bin ich sicher. Meldest du dich zwischendurch mal? Ich mag nicht anrufen, ich weiß ja nie, ob du nicht grad was Wichtiges besprichst. Mir kommt‘s vor, als wärst du da in einer anderen Welt.“

„Ja, mach ich. Aber die Welt kennst du doch schon. Ohne dich wären die Kostüme für die Passage nie fertig geworden.“

„Trotzdem. Das da scheint mir anders.“

Richard seufzte.

„Was musste ich mich auch in einen Lehrer verlieben, der auch noch ein Theater-Futzi ist …“

„… und ich mich in einen Marketing-Futzi …“, ergänzte Mic.

„Willst du noch jemanden sprechen? Jörn oder Sofia?“

„Nee, lass mal. Ich werde jetzt auch mal wieder zu den anderen gehen. Bis morgen?“

„Ja, bis morgen. Meld dich, ja?“

„Mach ich. Küsse!“

„Auch Küsse. Und Montag wieder in echt.“

Mit einem seltsamen Gefühl in der Magengegend drückte Mic auf die Taste mit dem roten Telefonhörer. Er stellte sich vor, wie die 4 zusammen bei Babs saßen und Tiramisu futterten. Bestimmt gab es fair gehandelten Biokaffee mit Bio-Soja-Milch dazu. Wie 2 Pärchen, die einen netten Abend zusammen haben. Mic versuchte, dieses geistige Bild abzuschütteln, während er in die Kaminflammen starrte.

Es waren nicht mehr viele Leute hier und am liebsten hätte Mic sich auch in sein Zimmer zurückgezogen. Einzig die Tatsache, dass er dort nicht würde rauchen dürfen, hielt ihn davon ab. Und der Kamin. Die Flammen hatten schon etwas Meditatives, fand er. Emilia war noch da und spielte leise Gitarre, Levin und Jens unterhielten sich noch leise. Alle anderen hatten sich schon verzogen. Eine ganze Weile lag Mic auf einem der riesigen Bodenkissen und betrachtete das langsam niederbrennende Feuer, bis Jens ihn aus seinem tranceartigen Zustand riss, indem er Holz nachlegte.

Mic stand auf und ging nach draußen. Es war eisig, aber er hatte sich extra für die Abende ein paar Joints vorgebaut, und die konnte er ja wohl auf keinen Fall drinnen rauchen. Zitternd stand er im Windfang, rauchend und Musik von seinem iPod hörend, und spürte, wie das Gras langsam seine Wirkung tat.

Er zuckte heftig zusammen, als er eine Berührung an seinen Schultern spürte, und fuhr herum. Levin hatte ihm offensichtlich eine Decke um die Schultern gelegt und stand nun mit erhobenen Händen da. Mic zog sich die Stöpsel aus den Ohren.

„Mann, hast du mich erschreckt!“

„Du bist ohne Jacke raus, da dachte ich …“

Levin schnüffelte.

„Wow. Lässt du mich mal ziehen?“

Grinsend reichte Mic ihm den Joint.

„Ach, du auch?“

Levin zuckte mit den Schultern.

„Hab‘s aber zu Hause vergessen. Was hörst denn da?“

Damit schnappte er sich einen der Stöpsel, bevor Mic es verhindern konnte.

„Schön. Schräg, aber hat was. Was is‘n das?“

„Benjamin Britten, Flowersongs.“

Schweigend und Musik hörend, jeder mit einem Ohr, teilten sie sich den restlichen Joint. Mic spürte an seiner Schulter, wo sie sich berührten, dass auch Levin zu zittern begonnen hatte. Es war einfach verdammt kalt. Ob es weiter schneien würde? Dann hätte er einen guten Grund, mit dem Zug nach Hause zu fahren.

Mic trat den aufgerauchten Joint aus.

„Also ich gehe wieder rein ans Feuer.“

„Ich komm mit.“

Wohlige Wärme empfing sie drinnen. Jens und Emilia waren wohl auch schlafen gegangen, jedenfalls waren sie nicht mehr da. Dabei hatte Jens doch eben noch Holz nachgelegt. Immerhin war das Feuer dadurch noch nicht ganz heruntergebrannt. Mic legte noch ein paar Scheite nach und schob sich sein Bodenkissen näher an den Kamin.

Auch Levin angelte sich ein Kissen, setzte sich zu Mic.

„Du musst nicht wegen mir aufbleiben. Ich kann nur jetzt noch nicht schlafen.“

„Cool, dann kannste mir ja Gesellschaft leisten. Ich kann jetzt auch nicht pennen. Is nämlich schon komisch, Jens hier wiederzusehen.“

„Hm? Wieso?“

„Liest du denn gar nicht mehr im Forum? Wir haben uns doch getrennt.“

Das Forum. Eine geschlossene Gruppe nur für ihren Kurs, wo viel über Projekte diskutiert, aber auch Privates ausgetauscht wurde. Mic hatte tatsächlich lange nicht mehr reingeschaut.

„Getrennt?“

„Ja, getrennt. Du weißt schon. Wir sind nicht mehr zusammen. Wochenendbeziehungen haben eben so ihre Tücken.“

Levin, der bäuchlings auf seinem Kissen lag, die Ellbogen aufgestützt und das Kinn in den Händen, zog einen Schmollmund, als er zu Mic herüberschaute.

„Himmel, ich wusste nicht mal, dass ihr zusammen wart.“

Da war es wieder. Immer wieder stieß Mic auf Dinge und Begebenheiten, die er einfach aus seinem Leben ausgeblendet hatte, sofern es irgendwie mit Homosexualität zu tun hatte.

„Eineinhalb Jahre. Ey Mic, du warst auf unserem Einjährigen, hast du das vergessen?“

Stimmt, da war mal an einem Jour Fixe eine Art Party gewesen. An den Anlass konnte er sich nicht erinnern, und da ihm Partys ohnehin nie behagt hatten, war er auch nicht lange dort geblieben.

„Das war euer Einjähriges? Sorry, das muss mir … hm … entfallen sein.“

„Aha.“

Levins Blicke sprachen Bände. Wahrscheinlich hielt er ihn für einen verschrobenen Kautz. Sollte er jetzt zu einer Erklärung ausholen?

„Wann habt ihr euch denn getrennt?“

„Anfang Oktober. Ging mir nicht so besonders danach. Deswegen hink ich doch mit der Projektarbeit so hinterher.“

„Deine Mittel sind aber auch sehr begrenzt. Hab ich das richtig in Erinnerung? Du machst das in einer OT, oder?“

„Ja, aber das ist nicht das Problem. Is ja ´ne kreative Truppe. Ich hab durchgehangen, das ist alles. Aber geht schon wieder. Wir haben eben sogar ´ne Weile geredet, und in manchen Momenten war‘s total locker.“

Eine Weile sahen sie in die Flammen, dann seufzte Levin.

„Vielleicht sollte ich es so machen wie du und mich einfach aus allem raushalten.“

„Raushalten? Wie meinst du das?“

„Na an dir prallt doch alles ab. Wenn ich dran denk, wie Tanja dich angegraben hat … und überhaupt. Du hattest in all der Zeit nicht eine Freundin, oder?“

Mic musste schmunzeln. Natürlich, das konnte Levin nicht wissen.

„Ah, das meinst du mit raushalten. Tu ich aber gar nicht mehr. Da gibt’s neuerdings jemanden.“

Levin setzte sich auf.

„Der einsame Wolf hat eine Freundin. Ich fass es nicht.“

„Keine Freundin. Einen Freund.“

„Das wird ja immer besser. Glückwunsch. Woher kennt ihr euch? Was ist das für ein Typ, der dich arroganten Sack geknackt hat? Selbst schuld, jetzt musst du mir alles erzählen.“

Und Mic erzählte, natürlich die eher problembeladenen Aspekte aussparend, bis sie nur noch rumalberten.

Noch einmal gingen sie später nach draußen und rauchten einen Joint. Allerdings nahmen sie sich diesmal jeder eine der Wolldecken aus dem Kaminzimmer mit.

„Dieser Typ scheint gut für dich zu sein. So locker hab ich dich noch nie erlebt. Oder liegt das hieran?“

Levin reichte Mic den Joint.

„Nein, das Hobby hatte ich schon, bevor ich mit der Ausbildung hier angefangen habe. Wahrscheinlich hast du recht. Das muss wohl an Richard liegen. Er bringt mich dauernd zum Lachen.“

„Bist plötzlich gar nicht mehr so verschlossen und arrogant.“

„Du hast eben schon was von arrogant gesagt. Ich wirke tatsächlich arrogant?“

„Yep, total. Arrogant und unnahbar. Ehrlich gesagt hab ich mich oft gefragt, warum so ein Arsch wie du Theater machen will.“

So wirkte er also? Höchst interessant.

„War mir nicht klar, dass ich so wirke. Dabei bin ich eigentlich einfach nur ein Angsthase …“

„Angsthase? Du bist doch Lehrer, oder? Die dürfen doch keine Angst vor Menschen haben.“

„Das ist was anderes …“, murmelte Mic, war sich da aber keineswegs wirklich sicher.

„Wie auch immer. Dann wird es wohl Zeit, das Bild vom arroganten Arsch zu ändern.“

Tatsächlich fühlte Mic sich in diesem Moment seit langem mal etwas unbeschwert, und das strahlte er wohl auch aus.

„Also mein Bild von dir hat sich schon verändert“, grinste Levin.

Wieder im warmen Kaminzimmer sah Levin auf die Uhr.

„Heilige Scheiße! Es ist schon nach 4 Uhr! Ich mach, dass ich in mein Zimmer komm. Was ist mit dir?“

„Ich gehe auch in ein paar Minuten schlafen.“

„Ok. Dann … gute Nacht.“

„Nacht.“

An der Tür drehte Levin sich nochmal um.

„Mic? War schön, mal so richtig mit dir zu quatschen.

„Ja. Ich fand‘s auch schön. Schlaf gut.“

Mic beobachtete die inzwischen nur noch glühenden Holzscheite im Kamin. Bis die ganz aus sein würde, würde es noch dauern. Ob er trotzdem gehen konnte? Er beschloss, dass da sicher nichts passieren könne und machte sich auf den Weg in sein Zimmer, wo er sich aufs Bett fallen ließ und, wenn er die Augen schloss, noch immer die Kaminflammen vor sich sah. Schnell schlief er ein.


Nach einer viel zu kurzen Nacht und einer leider nur lauwarmen Dusche, einem aus Gummibrötchen und Plastikkäse bestehenden Frühstück und sehr transparentem Kaffee, kämpfte Mic im abgedunkelten Raum mit seiner Müdigkeit. Nicht, dass die Filme, die er zu sehen bekam, langweilig gewesen wären. Nein, es waren durchaus interessante Projekte, die hier vorgestellt wurden, aber spätestens nach dem dritten Projektfilm fühlte Mic sich dezent überfordert. Und müde, einfach nur müde. Den Genuss des Mittagessens, von dem er nicht vermutete, dass es Abendessen oder Frühstück mit seinem Genussfaktor würde toppen können, ließ er sich dann auch entgehen und beschloss, die eineinhalb Stunden Mittagspause lieber in ein wenig Schlaf zu investieren. Er stellte sich den Handywecker, den er aber wohl überhört haben musste, denn er wurde von Levin wachgerüttelt.

„Dachte ich doch, dass du pennst. War spät gestern. Kommst du gleich runter? Wir sind gleich bei szenischer Interpretation von Musik. Das ist doch dein Thema, oder?“

Mic setzte sich auf. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich zu entkleiden, hatte in Klamotten geschlafen und fror nun erbärmlich.

„Danke. Ich komme gleich runter. Ich habe den Wecker wohl nicht gehört …“

„Definitiv nicht“, grinste Levin.

„Beeil dich. Ist grad Raucherpause.“

Damit war er auch schon wieder zur Tür raus.

Mic streifte sich einen dicken Pulli über, schlüpfte in seine Schuhe und schlurfte in Richtung Kaminzimmer. Dann musste er über sich selbst grinsen. Das war das erste Mal, dass er unpünktlich zu einer Studienveranstaltung kam. Jawohl, das arrogante Arschloch kam zu spät. Und ging jetzt trotzdem erst noch eine rauchen.


Mic überreichte dem Pizzaboten das eingesammelte Geld. Dieser bedankte sich überschwänglich, wahrscheinlich, weil beim Einsammeln ganz nett was an Trinkgeld zusammengekommen war. Es hatten sich tatsächlich alle angeschlossen, verzichteten auf das im wahrsten Sinne des Wortes vertrocknete Abendbrot und hatten bei dem Pizzaservice bestellt, den Richard rausgesucht und dessen Speisekarte er für Mic ausgedruckt hatte. Das musste er unbedingt Richard erzählen.

So zog er sich mit seinem Nudelauflauf zurück und rief Richard an. Er wollte gerade unverrichteter Dinge wieder auflegen, als Jörn sich meldete.

„Jörn? Hier ist Mic. Wieso hast du Richards Handy?“

„Der duscht grad. Ich bleib das Wochenende über hier, die WG ist leer und dein Schatz soll ja nicht vereinsamen“, schallte es gut gelaunt aus dem Handy.

Vereinsamen? Ok, Mic hatte wirklich wenig Zeit mit Richard verbracht, und jetzt war er das ganze Wochenende weg, aber musste Jörn deswegen gleich das ganze Wochenende dableiben?

„Aha“, antwortete Mic nur etwas einfallslos.

Er war buchstäblich sprachlos.

„Ist was Wichtiges oder wolltest du dich einfach nur melden?“

„Ich wollte Richards Stimme hören.“

Ups, das klang patziger als Mic beabsichtigt hatte.

Jörn stöhnte.

„Ok, was hab ich dir jetzt wieder getan?“

„Ich … ach vergiss es einfach.“

„Bist du eifersüchtig? Ja, ich glaub, du bist eifersüchtig.“

„Das bin ich nicht. Na ja. Ein wenig. Vielleicht“, gab Mic zögernd zu. Wie sollte er auch das allzu Offensichtliche abstreiten?

„Ich dachte, das Thema wäre durch?“

„Dachtest du, ja? Was machst du dann das ganze Wochenende da bei Richard?“

Jörn lachte.

„Die Frage ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Was denkst du denn, was wir machen?“

Mic fühlte Ärger in sich aufsteigen. Lachte Jörn ihn aus?

„Wundert dich das? Bei deinem Lebenswandel …“

„Und was bedeutet das nun wieder?“

„Ich sag nur Blondie. Wie hieß der noch? Addi? Andi? Zitat: Ich wollte die Nacht durchficken statt zu denken.“

„Und was hat das mit Richard zu tun?“

„Das ist doch wohl offensichtlich.“

Mic hörte Jörn am anderen Ende Luft einsaugen.

„Sag mal, wofür hältst du dich eigentlich? Du hast kaum noch Zeit für Richard, und jetzt regst du dich darüber auf, dass ich mich um meinen Freund, denn das ist und bleibt er, kümmere? Du solltest froh sein! Selbst wenn wir ficken würden. Was wir nicht tun. Vielleicht sollten wir aber einfach, macht für dich ja wohl keinen Unterschied. Geht’s noch, Mic? Da kommt Richard. Viel Spaß noch beim Vorwürfe machen.“

„Jörn? Jörn!“

„Nee, ich bin‘s. Sag mal, was hab ich da grad mitbekommen? Du denkst, dass Jörn und ich ficken? Dass er deswegen hier ist? Auf was für ´nem Trip bist du denn grad?“

Trip? Er war doch auf keinem Trip. Und hatte er gerade gesagt, dass dem nicht so war? Nein, hatte er nicht! Nicht wirklich!

„Wenn es nicht so ist, dann sag es mir.“

Nach kurzem Schweigen kam eine leise Frage.

„Mic? Meinst du das wirklich ernst?“

„Und wie ernst ich das meine …“

„Ok, das ist zu viel. Ich habe auch Gefühle, die man verletzten kann. Und ich werde diese absurde Frage nicht beantworten. Trau mir oder lass es sein. Und melde dich, wenn du dich entschieden hast. Ciao.“

Richard hatte aufgelegt. Er hatte einfach aufgelegt! Was war das denn für ein Verhalten? Wutentbrannt drückte Mic auf die Wahlwiederholung, worauf sich sofort die Mailbox meldete. Richard hatte, scheint’s, das Handy sofort abgestellt. Auch der Versuch, Jörn auf seinem Handy zu erreichen, schlug fehl. Na wunderbar. Mic starrte auf seinen Nudelauflauf. Der Appetit war ihm vergangen.

Ein Joint. Das war‘s jetzt. Mic holte Jacke und Rauchwaren aus seinem Zimmer und ging nach draußen, sog tief den beruhigenden Rauch ein, dachte nach. Mit dieser Aktion hatte er Richard wahrscheinlich direkt in Jörns Arme geschoben, mutmaßte er.

„Scheiße! Scheiße! Scheiße!“

Es tat gut, das rauszuschreien.

Er hatte immer das vage Gefühl gehabt, dass da noch irgendwas war zwischen den beiden, nur war es nie wirklich greifbar gewesen, schon gar nicht so deutlich wie heute. Mics Augen füllten sich mit Flüssigkeit, gleichzeitig war er wütend. Wütend auf Jörn, auf Richard und auf sich selbst.

Im Kaminzimmer schnappte er sich ein Bier und gesellte sich zu den anderen. Ablenkung, das war es, was er jetzt brauchte. Es wurde eben über die anstehende Prüfung diskutiert und Mic fiel es leicht, sich da einzuklinken. Für eine ganze Weile vergaß er tatsächlich, dass Jörn gerade bei Richard war und was sie vermutlich grad taten.

Dann löste sich die Runde mit und mit auf und Jörn ging raus, um noch was zu rauchen. Kaum war er draußen, öffnete sich auch schon die Tür und Levin stand neben ihm. Vermutlich wollte er mitrauchen und so reichte Jörn ihm wortlos den Joint, den Levin auch nahm.

„Alles cool bei dir? Is was?“

Mic musste fast grinsen. Die Sprache in der OT hatte offensichtlich mehr als nur ein bisschen auf Levin abgefärbt.

„Alles ok“, log er.

Levin schaute ihn weiterhin fragend an aus seinen großen Augen.

„Sicher?“

Während Mic Levin so betrachtete, formte sich ein Gedanke in seinem Kopf.

„Ja, alles ok. Gleiches Recht für alle.“

„Hä? Kannste das mal übersetzen?“

Einen Moment zögerte Mic noch, warf dann aber einfach alle Bedenken über Bord.

„Sag mal, hat Gras auf dich auch so eine … stimulierende Wirkung?“

„Du meinst, ob mich das spitz macht?“

Mic nickte.

„Manchmal, ja“, nuschelte er mit dem Joint zwischen den Lippen.

Mic nahm den Joint von seinem Mund weg, ließ aber zunächst seine Finger dort verweilen.

„Und wie ist das jetzt grad so?“

Gar nicht so schlecht fand Mic sich bei seinem ersten Bagger-Versuch, zumal Levin sofort zu verstehen schien.

„Du willst mit mir … also das ist …“

Levin stockte.

„Was?“, fragte Mic.

„Absurd? Eine gute Idee? Ekelhaft? Interessant? Lustig? Was?“

„Unerwartet“, kam es von Levin zurück.

„Also … nicht uninteressant. Nur …“

Levin räusperte sich.

„… na ja … weißt du, eigentlich hab ich mir geschworen, nichts mehr mit jemand anzufangen, mit dem ich im Job oder im Studium zu tun hab. Das mit Jens hat mir gereicht.“

Levin wirkte betreten. Da musste Mic wohl einen Irrtum aufklären.

„Ich will auch nichts anfangen. Nicht so. Das hier wäre etwas anderes.“

Ein schneller Seitenblick von Levin sagte Mic jedoch, dass Levin ihn keineswegs falsch verstanden hatte.

„Nee, is schon klar. Du hast ja ´nen Freund. Trotzdem …“

Mic schluckte. Das war dann wohl eine Abfuhr. Interessant, so fühlte sich das also an. Wahrscheinlich war es aber eh besser so, versuchte er sich zu überzeugen.

„Ok, die Botschaft ist angekommen.“

„Hey, trotzdem alles cool zwischen uns?“

Levins zaghaftes Lächeln rührte Mic irgendwie.

„Alles … ehm … cool“, antwortete er – ihn etwas hölzern zitierend - und trat den Joint aus.

„Gehen wir wieder rein?“

Levin schien erleichtert.

„Ja, klar. Gehn wir rein. Ne Runde Skip-Bo?“

Mic grinste.

„Ok, dann spielen wir Skip-Bo …“

Mic war wohl etwas unkonzentriert. Levin und er hatten gerade die vierte Runde begonnen, nachdem Levin die ersten drei gewonnen hatte, als Mics Handy klingelte. Mic schielte auf das Display. Babs! Auf keinen Fall hatte er jetzt Lust auf eine Standpauke von Babs. Sicher hatte Richard ihr sein Leid geklagt und sie würde ihn nach allen Regeln der Kunst zusammenfalten wollen. Nein danke, nicht heute.

„Gehst du nicht dran?“

Levin schien irritiert.

„Nein. Ganz sicher nicht.“

Schweigen.

Es folgte ein Versuch, darüber zu schweigen und Levins fragendem Blick mit den hochgezogenen Augenbrauen auszuweichen, weil standhalten zu schwierig war.

„Was ist? Spielen wir weiter? Ich hab abgelegt.“

Mic hoffte, damit die größer werdende Spannung zu zerreißen.

„Willst du nicht lieber erzählen, was los ist?“

„Nein. Dir garantiert nicht.“

Mic wollte ganz sicher jetzt nicht erzählen, was los war. Er wollte einfach Ablenkung.

Levin stand nach einem scharfen Blick auf, streckte sich.

„Dann nicht. Ich geh dann mal schlafen, dann hast du deine Ruhe.“

„Sorry. Levin, ich wollte nicht …“

Ja, was wollte er eigentlich nicht? Levin beleidigen? Mic wurde klar, dass er wohl sehr barsch geklungen hatte.

„Mach dir kein Kopf“, unterbrach Levin ihn und verließ das Kaminzimmer, Mic mit ein paar anderen zurücklassend, die zusammen vor einem Laptop hingen und wild über irgendwas diskutierten.

Mic kramte den vorletzten Joint aus seiner Tasche und ging nach draußen. Vielleicht hätte er doch mit Babs reden sollen. Vielleicht hätte sie ja womöglich verstanden, was für Nöte er gerade hatte. Sie war doch eine Freundin. Nein, sie war seine einzige wirkliche und auch seine beste Freundin. Dennoch brachte er es nicht fertig, die grüne Taste zu drücken, nachdem er ihre Nummer eingegeben hatte.

Mic ließ sich an der Hauswand heruntergleiten, bis er mit dem Rücken an der Wand auf seinen Hacken saß. Die mitgebrachte Decke zog er sich über den Kopf, ließ nur eine Raucherlücke frei.

Jörn und Richard. Was nur verband die beiden so eng miteinander? Unmengen an Situationen fielen ihm ein, an die er lieber gar nicht denken wollte. Situationen zwischen Jörn und Richard, aber auch zwischen Jörn und ihm selbst. Um diese Gedanken zu vertreiben, steckte er sich die Stöpsel in die Ohren, aber das machte es nicht wirklich besser. Fataler Fehler, denn für scheinbar endlose Momente war es, als würde er gerade mit Jörn tanzen. Wie gebannt saß er mit geschlossenen Augen an der eiskalten Hauswand und versuchte, sich gegen dieses verrückte Gefühl zu wehren, das gerade so präsent war. Das Gefühl, Jörn im Arm zu halten, sich mit ihm im Rhythmus der Musik zu bewegen, ihn zu küssen … Nein. Nicht das. Wie so oft in den letzten Wochen hatte sein Verstand nur einen kläglich geringen Einfluss auf seine Gefühlswelt, dennoch schaffte Mic es irgendwie, die Augen wieder zu öffnen. Und schaute in Levins Gesicht.

Mic fuhr zusammen, zog die Stöpsel aus den Ohren.

„Scheiße! Du hast mich schon wieder erschreckt!“

„Sorry, wollt ich nicht“, grinste Levin.

„Ich hab dich angesprochen, aber du hast ja nix gehört.“

Dabei hielt er einen der Stöpsel hoch. Dann fuhr er mit einem Finger unter Mics Augen sanft über die Haut.

„Tränen …“, antwortete er auf Mics fragenden Blick.

„Bist du sicher, dass du nicht reden willst?“

„Ja, Ich bin sicher. Warum bist du hier? Ich dachte, du schläfst schon …“

Levin lächelte.

„Eben im Zimmer … ich hatte meinen Schwanz schon in der Hand, dann dacht ich, was für ein Schwachsinn. Das könnt ich netter haben. Und da bin ich.“

„Aber du hattest doch gesagt, dass …“

„Halt doch mal die Klappe.“

Damit küsste Levin ihn. Einfach so, und Mic ließ es zu, küsste ihn zurück, war doch auch genau das, was er gewollt hatte.

„Komm mit“, zog Levin ihn hoch und zu seinem Zimmer, wo er erst die Tür abschloss, dann fortfuhr, Mic zu küssen. Relativ zügig landeten sie so unter der Dusche und im Bett, und etwas für Mic ziemlich Interessantes geschah: Er fühlte sich völlig unbefangen, gelöst, wie entfesselt. Sein Körper nahm jede kleinste Berührung so überdeutlich wahr wie jede Reaktion von Levin auf seine Berührungen. Für einen Moment war da nichts mehr, was schwierig gewesen wäre, keine Panik, keine Ängste, kein Zeitgefühl, keine Bedenken, keine „Abers“ oder „Vorsichts“. Da war nur noch spüren, entdecken und genießen. Nur ganz am Rande wunderte sich Mic kurz über sich selbst und fragte sich, was hier gerade mit ihm passierte, aber selbst das war Sekunden später wieder vorbei.


„Schläfst du etwa?“

Mic lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen, dem fast schon verschwenderisch entspannten Gefühl in seinem Körper nachspürend, als diese leise Frage von Levin kam. Fast automatisch zogen sich Mics Mundwinkel nach oben.

„Nein. Ich genieße.“

Das war in diesem Moment die volle Wahrheit. Er schlug die Augen auf und sah, dass Levin ebenfalls lächelte.

„Gut. Ich hätt meinen Arsch drauf verwettet, dass du nachher erzählst, von wegen das war falsch und darf nie wieder blablabla …“

„Es kann auch gut sein, dass das hier nie wieder passiert. Aber heute sind wir hier … zusammen …“

Dann lachte er.

„Weißt du was? Ich hab sowas noch nie gemacht.“

„Ganz der treue Freund, hm? Bis heute? Was ist heute anders? Ich würd ja gern glauben, dass das an meinem umwerfenden Aussehen, meinem strahlenden Charme und an meiner überentwickelten Intelligenz liegt, aber das ist es nicht.“

„Na gut, bevor du weiter fragst: Mein Freund verbringt das Wochenende mit seinem Ex. Wenn er denn noch sein Ex ist und nicht er meiner.“

Levin, der seinen Kopf auf Mics Bauch platziert hatte, grinste, und Mic meinte, eine gute Portion Spott darin zu erkennen.

„Die beiden ficken, oder wie? Eifersucht is schon ´ne scheiß Sache.“

Mic antwortete nicht. Levin schien das ja äußerst komisch zu finden.

„Und mit mir zahlst du es deinem Freund jetzt so richtig heim, ja?“

Das war ja jetzt wohl eindeutig Spott.

„Unsinn“, wischte Mic diese Vermutung weg. Levins Formulierung gefiel ihm ganz und gar nicht – vor allem deswegen, weil er sich ertappt fühlte, weil seine Reaktion auf Jörns Anwesenheit bei Richard durch Levins Formulierung so kindisch wirkte und auch weil er nicht wollte, dass Levin sich benutzt fühlte. Außerdem genoss er die Situation auch wirklich, fühlte sich endlich mal wieder gelöst. Mal wieder? Hatte er sich überhaupt je so gelöst gefühlt? Er konnte sich grad nicht erinnern …

„Wenn ich Gras rauche, bekomme ich halt Lust und … na ja, es ist wirklich … schön mit dir.“

„Is ja niedlich. Du sagst schön, wenn du geil meinst. Aber hör mal … allzu oft rauchst du dann aber wohl nicht, was? Wenn du sowas noch nie gemacht hast? Dann waren das hier deine ersten Joints?“

Levin setzte ein übertrieben erstauntes Gesicht auf.

Mic zuckte die Schultern.

„Nein, Quatsch. Das waren nicht meine ersten Joints … Himmel nochmal! Ok, ja, an dem Heimzahlen ist was dran. Nur ist es das nicht allein … aber müssen wir jetzt über Richard und Jörn reden?“

„Sieh an, die beiden haben ja Namen …“

„Jetzt halt du einfach mal die Klappe.“

Damit zog er Levin zu sich hoch.

„Bist du sicher, dass die beiden ficken?“, nuschelte dieser an Mics Mund.

„Klappe!“

„Huch …“


„Tadaaa!“

Fröhlich präsentierte Levin ein Glas löslichen Kaffee.

„Ein Löffel, und die Brühe hier wird koffeinhaltig. Willst du auch?“

Dankbar griff Mic nach dem Glas. Er war tatsächlich auf Koffeinentzug.

„Danke. Vielleicht schaffe ich es dann, heute wach zu bleiben. Wo hast du den denn plötzlich hergezaubert?“

„Von zu Hause mitgebracht. Hättest du gestern schon haben können. Hab so meine Erfahrungen mit Hütten wie der hier und ohne Kaffee geht bei mir gar nix.“

Mic gähnte ausgiebig.

„Das kann ich verstehen, besonders nach so kurzen Nächten.“

Levin grinste.

„Ich fand die Nacht ziemlich lang. Und geil.“

„Ja, sie war … schön.“

Grinste Mic zurück.

Nachdenklich rührte Mic in seinem Kaffee. Morgen wollte Richard ihn hier abholen kommen. Oder vielleicht jetzt doch nicht mehr? Schließlich hatte er einfach aufgelegt und war auch eben wie am Abend zuvor nicht mehr zu erreichen gewesen. Aber wenn er käme, wie würde es dann wohl sein, Richard nach dieser Erfahrung hier zu sehen? Damit, und mit der Unsicherheit, was denn nun mit Jörn war oder nicht war? Sicher, inzwischen war Mic schon klar, dass er mal wieder überreagiert hatte, aber dennoch wurde er das Gefühl nicht los, dass da noch irgendwas lief zwischen den beiden. Andererseits reagierte er selbst nach wie vor auf Jörn. Maß er da mit zweierlei Maßstäben? Auch wenn zwischen ihm und Jörn nichts mehr gewesen war? Aber wäre das auch der Fall, wenn Jörn es wirklich darauf angelegt hätte? Hatte er wirklich das Recht, Richard wegen einer mehr oder weniger vagen Ahnung so anzugehen? Nein, er musste wirklich lernen, sich besser im Griff zu haben. Und gleich nach der Mittagspause würde er noch einmal versuchen, Richard anzurufen. Eben war noch abgeschaltet gewesen. Und dann würde er sich entschuldigen, so schwer es ihm auch fiel.

„Was seufzt du denn die ganze Zeit? Doch ein schlechtes Gewissen?“, riss Levin ihn aus seinen Gedanken.

„Ich denke an Richard. Ich glaube, ich habe wirklich Mist gemacht.“

„Weil wir gefickt haben?“

„Nein. Vielleicht auch das. Aber ich habe Richard ziemliche Vorwürfe gemacht, weil Jörn, sein Ex, das Wochenende bei ihm verbringt. Dabei weiß ich nicht mal, ob die beiden … also ob da etwas läuft oder nicht. Außerdem finde ich Jörn selbst noch immer … spannend. Ich hatte da mal was mit ihm, und durch Jörn habe ich überhaupt Richard erst kennengelernt.“

Seltsam. Plötzlich war es ganz leicht, das alles zu erzählen. Mic verstand selbst nicht mehr, warum das vorher so schwierig zu sein schien.

Levin stützte das Kinn auf die Hände.

„Du Glückspilz“, grinste er.

„Bitte was???“

„Muss ich doch jetzt nicht erklären, oder? Liegt doch auf der Hand. Sieht wohl so aus, als wärt ihr dann zu dritt.“

Mic verschluckte sich an seinem Kaffee.

„Das … das kann doch … wohl nicht … dein Ernst sein?“, würgte er hustend heraus.

Levin kicherte.

„Doch. Warum nicht?“

„Weil … weil … sowas geht doch nicht …“

„Warum nicht?“

„Weil … weil … ich könnte das nicht. Richard teilen. Auch noch mit Jörn. Ich bin mit Richard zusammen und den will ich für mich allein.“

Levins Antwort triefte vor Ironie.

„Aaaah. Nee, is klar. So wie er dich für sich alleine hat. Ey, werd mal wach, Kleiner.“

„Kleiner? Ich?“

„Yep. Benimmst dich grad wie so‘n pubertierendes Balg.“

„Spielst du auf heute Nacht an? Das war eine Ausnahme. Und was anderes. Das … das hatte Gründe.“

Levins Grinsen wurde noch breiter.

„Ich spiel auf nix an. Ich sag nur, du hast auch mit ´nem anderen gefickt. Und jetzt?“

Mic seufzte. Gute Frage. Was jetzt?

Entschlossen stand er auf.

„Jetzt? Jetzt haben wir erst mal Unterricht.“

Mic marschierte aus dem Speiseraum und sah gerade noch, wie Levin theatralisch seine Augen verdrehte.


Mittags war Richards Handy noch immer abgeschaltet und auch bei Jörn antwortete nur die Mailbox. Ein weiterer Versuch am späten Nachmittag nach Unterrichtsende blieb ebenso erfolglos. Entsprechend mies gelaunt machte Mic sich auf den Weg in den Speiseraum, wo Levin ihn quasi abfing.

„Stehst du auf trockenes Brot oder was willst du da? Ich hab ´ne bessere Idee. Hol deine Jacke, wir fahren in die Stadt.“

Mic überlegte kurz.

„Hm. Morgen sind die Prüfungen. Dann sollten wir fit sein.“

„Sind wir auch, versprochen. Wir essen was und dann gibt’s in der Nähe noch ´nen Kaffee, dann fahren wir wieder.“

„Aber ich kenne mich in Köln gar nicht aus.“

„Ich aber, ich mach den Fremdenführer. Mach hinne, der 131er fährt in … 14 Minuten. Tempo, Tempo …“

Damit fühlte Mic sich in Richtung Zimmer geschoben.


„Wohin genau fahren wir?“

Mic rieb sich die Hände. Am Bahnhof Rhodenkirchen, wo sie hatten umsteigen müssen, hatten sie 10 Minuten auf die Bahn gewartet und ziemlich gefroren. Ein Blick aus dem Fenster sagte Mic, dass sie wohl am Rhein entlangfuhren.

„Zum Neumarkt. Von da gehen wir Richtung Rudolfplatz. Ich kenn da so‘n Brauhaus, is ganz nett da.“

Die letzten Stationen vor dem Aussteigen fuhr die Bahn unterirdisch. Als sie die Treppen von der U-Bahn-Station erklommen hatten, fanden sich Mic und Levin in einem ziemlichen Getümmel wieder. Ein großer Platz, auf dem unzählige Buden standen. Weihnachtsmarkt!

Levin lotste Mic zielstrebig eine breite Straße entlang, weg von den Menschenmassen, die sich bei Weihnachtsliedern aus der Konserve durch bunte Lichter und eine wüste Mischung aus Gerüchen schlängelten. Nach etwa 10 Minuten Fußweg bei gefühlten minus 30 Grad blieb Levin stehen.

„Hier ist sie, die Brennerei Weiß. Das einzige mir bekannte schwul-lesbische Brauhaus.“

Argwöhnisch beäugte Mic das Lokal mit dem bläulich schimmernden Schriftzug über dem Eingang.

„Ich war manchmal mit Jens hier, wenn wir in Köln waren“, erklärte Levin.

Drinnen empfing sie wohlige Wärme – und ein ziemlich überfüllter Thekenraum mit bunt gemischtem Publikum. Im nächsten Gastraum ergatterten sie jedoch einen Tisch.

Mic war ein wenig erstaunt. Ein stinknormales Brauhaus mit der üblichen rustikalen Einrichtung und Speisekarte. Lediglich Gäste und Personal machten den kleinen Unterschied zu einem Allerweltsbrauhaus deutlich. Zumindest auf den zweiten Blick. Der bestellte Spanferkelbraten war gut und reichlich, die Kellner waren trotz offensichtlichem Stress super nett und sogar das ausgeschenkte Gilden-Kölsch schmeckte Mic hier. Kurz, er fühlte sich wohl und wäre gern noch ein wenig geblieben, aber Levin drängte es nach draußen.

„Jetzt gibt’s noch Kaffee und Waffeln … auf zum Bastard.“

„Noch ein schwuler Laden?“

Levin grinste.

„Wir sind in Köln …“

Später musste Mic zugeben, dass die Waffeln wirklich lecker gewesen waren, ganz zu schweigen vom Kaffee.

Auf einem Schlenker über den Rudolfplatz gönnten sie sich noch einen Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt, als Mic plötzlich erst stutzte, dann geradezu versteinerte. Da posierten doch zwei Männer Arm in Arm mit einem fast nackten Weihnachtsmann aus Pappe für ein Foto. Die beiden alberten rum, steckten die Köpfe zusammen, küssten sich, hatten offenbar eine Menge Spaß.

Levin, der Mics Blick gefolgt war, fragte grinsend:

„Na? Willst du auch ein Foto?“

Mic, der sich von dem Anblick nicht losreißen konnte, wusste nicht, was er antworten sollte.

„Ey, ich hab was gefragt.“

Mic wirbelte zu Levin herum.

„Darf ich vorstellen? Das sind Richard und Jörn …“

Jetzt schaute auch Levin mit offensichtlich gesteigertem Interesse zu den beiden hinüber.

„Wer von den beiden ist dein Freund?“

„Richard ist der etwas mollige.“

„Niedlich.“

„Aber was machen die hier???“

Levin lachte mal wieder. Was nur fand der an allem so lustig, was Mic Kopfweh machte?

„Frag. Dann weißt du‘s.“

„Niemals! Lass uns gehen, ja?“

Levin trank aufreizend langsam einen Schluck von seinem Glühwein.

„Nö. Ich find, du solltest das regeln.“

Was nahm der sich denn plötzlich raus?

„Hör mal, das ist meine Sache, ok?“

„Reg dich ab. Ich find trotzdem …“

„Das geht dich absolut nichts, aber auch gar nichts an“, zischte Mic dazwischen.

Levin zuckte grinsend die Schultern und blieb in aller Seelenruhe stehen.

So langsam wurde Mic wütend.

„Wie du willst. Ich finde auch alleine zur U-Bahn.“

Doch als Mic losstapfen wollte, fühlte er sich am Arm festgehalten.

„Nu wart doch mal. Wenn du jetzt gehst, dann …“

„Lass mich los!“, fuhr Mic ihm über den Mund, aber Levin hielt ihn nur noch fester, als Mic versuchte, sich aus dem Griff zu befreien.

„Ey, komm wieder runter. Überleg doch mal …“

„Lass mich verdammt nochmal los!“

Mic hatte in Panik geschrienen.

„Nicht hier und jetzt. Bloß jetzt nicht abdrehen“, dachte er noch, bevor er die Kontrolle verlor.


Diesmal waren es mehrere Leute, die ihn festhielten.

„Keine Ahnung, warum. Ist einfach total ausgerastet.“

Das war Levins Stimme. Mic blinzelte. Levin hielt sich etwas ans Schienbein. Einen Eisbeutel? Ja, das war wohl ein Eisbeutel.

„Levin?“

Levin schaute finster auf.

„Was?“

„Was hab ich gemacht?“

„Was is‘n das für ´ne bescheuerte Frage? Das weißt du doch. Sag du mir lieber, was das sollte!“

„Hab ich dich geschlagen?“

„Getreten trifft‘s besser. Ey, was is los mit dir?“

„Scheiße. Tut mir leid …“

Levin sagte nichts darauf. Vermutlich wartete er auf eine Erklärung. Die 3 Jungs, die ihn festhielten, sahen verunsichert aus.

„Könnt ihr mich bitte wieder loslassen?“, bat Mic sie. Unsicher schauten sie zu Levin rüber, der darauf nickte. Ohne das Gefühl, festgehalten zu werden, fühlte Mic sich schon ein wenig besser.

„Können wir jetzt bitte gehen? Levin? Bitte?“

„Okay …“, kam es zögernd zurück.

„Aber du musst mir dann sagen, was grad los war.“

„Ich bekomme Panik, wenn ich festgehalten werde. Bitte … lass uns bitte jetzt gehen. Wo sind Richard und Jörn? Die haben das doch hoffentlich nicht mitbekommen?“

Levin warf ihm einen genervten Blick zu.

„Keinen Schimmer. Ich war grad mit was anderem beschäftigt.“

Mic schaute sich um, konnte die beiden aber nicht entdecken.

Schweigend fuhren sie mit Bahn und Bus wieder zurück zum Seminarhaus, wo Mic sich sofort in sein Zimmer verzog. Dort, endlich allein, verlor er die Fassung. Es war also schon wieder passiert. Schon wieder war er auf jemanden losgegangen. Die ganze Zeit in Köln hatte er kaum noch an die Sache mit Bernd gedacht – und jetzt das! Mic zog sich die Decke über den Kopf und heulte wie ein kleines Kind. Das sollte aufhören. Es sollte einfach nur aufhören, verdammt! In diesem Moment hätte er gern mit jemandem geredet, aber mit wem? Babs etwa? Die würde ihm nur den Kopf waschen wollen. Richard war sauer und außerdem grad anderweitig beschäftigt. Seine Eltern? Ging jetzt gar nicht. Er war allein mit dieser Geschichte, und das zu realisieren war ganz schön bitter.

Eine Badewanne gab es hier nicht, aber immerhin duschen konnte er, und die heiße Dusche tat zumindest seinem durchgefrorenen Körper gut. Er hatte sich zum Glück eine seiner geliebten Schlabberhosen mitgenommen und dicke Stricksocken, mit denen er seine endlich wieder einigermaßen warmen Füße umhüllte. In T-Shirt und dickem Pulli setzte er sich aufs Bett und gab Richards Nummer ein. Abgeschaltet war nicht mehr, aber antworten tat er auch nicht. Mailbox. Was sollte er da sagen? Er legte wieder auf, schaltete den Fernseher ein, um festzustellen, dass es nur einige wenige Programme gab. Und sein geliebtes Arte war nicht dabei. Eine Tierdoku war das einzig Akzeptable, konzentrieren konnte er sich aber darauf nicht. Zu viele Fragen geisterten durch seinen Kopf.

Warum war Richard eigentlich schon heute in Köln? Und warum mit Jörn? Richard hätte er ja noch verstehen können, aber die beiden zusammen? Und was war diese Fotogeschichte gewesen? Nur Spaß? Nein, eigentlich sah Mic seinen Verdacht nur bestätigt. Da war noch was zwischen den beiden. Die Frage war nur, was genau zwischen den beiden war.

Mitten in seine Gedanken hinein klopfte es, und Mic stöhnte auf. Das war sicher Levin. Er wollte schon genervt „Lass mich in Ruhe!“ brüllen, überlegte es sich aber anders und schloss seine Tür auf. Es war wirklich wie vermutet Levin, der etwas betreten vor der Tür stand.

„Hi. Ich wollt sehen, wie‘s dir geht und mich entschuldigen. Aber hey, wenn du so Panikattacken kriegst, dann musst du das den Leuten doch vorher sagen, wovon. Ich hatte doch keine Ahnung davon.“

Levin hatte so schnell gesprochen, dass seine Stimme sich überschlug.
Mic öffnete die Tür ganz, trat einen Schritt zur Seite und bat Levin mit einer Handbewegung in sein Zimmer, doch Levin schüttelte den Kopf.

„Lass uns lieber eine rauchen gehen.“

„Ok, ich ziehe nur eben Schuhe an. Dann können wir ja eine Runde ums Haus machen oder so. Einen hab ich noch.“

„Du meinst Gras? Nee, das meinte ich nicht.“

„Auch gut.“

Also gingen sie erst mal rauchend und schweigend ein Stück die schmale Straße entlang, an der das Seminarhaus lag, und Mic hatte das Gefühl, die eisige Kälte ließ seine Gedanken wieder klarer werden.

„Eigentlich muss ich mich bei dir entschuldigen, nicht umgekehrt“, fand er endlich die ersten Worte.

„Es ist so: Wenn ich mich festgehalten oder in die Ecke gedrängt fühle, passiert sowas manchmal. Ich hätte dir das sagen sollen. Du konntest gar nichts dafür. Tut mir leid. Ich wollte nicht auf dich losgehen …“

„Ja, hättest du echt sagen sollen.“

Und nach weiteren Metern Weg fragte er:

„Passiert das oft? Ich meine … bekommst du noch durch andere Sachen so Attacken?“

„Ich weiß es nicht genau. So lange hab ich das noch nicht.“

Mic hatte nicht vor, Levin die ganze Geschichte zu präsentieren.

„Und wie kommt das? Ich mein … so aus dem Nichts? Sowas hat doch ´nen Grund?“

Mic seufzte.

„Ja, hat es, aber darüber möchte ich jetzt nicht reden.“

„Redest du denn mit deinem Freund darüber? Was sagt der denn dazu?“

„Richard weiß das. Er hat es ja auch mal zu spüren bekommen. Er weiß nicht alles, aber das muss er auch nicht.“

„Traust du ihm nicht?“

Gute Frage. War es das? Nein, war es nicht.

„Doch, klar traue ich ihm. Es ist … kompliziert. Und für mich schwierig, darüber zu reden.“

Levin blieb stehen.

„Hast du mit ihm gesprochen seit eben?“

„Nein. Nicht erreicht. Aber ich denke, er holt mich morgen hier ab. Bist du noch sauer? Mir tut wirklich leid, was da draußen passiert ist.“

Levin hakte sich bei Mic ein und ging weiter.

„Hoff mal, das macht dir keine Panik. Und nee, is schon ok.“

„Danke.“


„Das muss einfach reichen“, murmelte Mic, als er mittags am folgenden Tag seine Prüfungsbögen abgab. Er hatte die Fallbeispiele so gut es ging bearbeitet, mehr ging heute einfach nicht. Er hatte schlecht geschlafen und es war ihm schwer gefallen, sich auf die Prüfung zu konzentrieren. Na ja, wirklich passieren konnte ihm nichts, selbst wenn das Ergebnis nicht so berauschend sein sollte.

Nach der Mittagspause gab es noch eine Feedbackrunde, dann machte sich einer nach dem anderen auf den Weg nach Hause. Mic hatte bereits gepackt und wurde gegen 15:30 Uhr langsam nervös. Am Morgen hatte er Richard endlich erreicht. Lange hatten sie nicht geredet, nur verabredet, dass Richard gegen 16 Uhr dort sein würde. Als Mic dann Richards Auto auf dem Hof parken sah, wusste er noch immer nicht, was er ihm sagen sollte.

Er trat ins Freie, als er Richard aufs Haus zukommen sah, und Richard blieb unschlüssig vor ihm stehen.

„Bist du alleine?“, war das erste, was Mic über die Lippen kam. Er hatte halb damit gerechnet, dass Jörn bei ihm wäre. Richard schaute sich demonstrativ um.

„Ja, siehst du hier noch jemanden? Nette Begrüßung …“

Mic biss sich auf die Lippen, gab sich dann einen Ruck und umarmte Richard.

„Ich bin froh, dass du hier bist.“

Das stimmte in diesem Moment sogar. Mic wusste, er hatte da etwas in Ordnung zu bringen, und je länger er damit warten würde, umso schwieriger würde das werden. Aber er hatte auch Fragen, viele Fragen, aber da er darauf auch Antworten wollte, hütete er sich, diese Fragen in Richards nur zu offensichtliche Abwehrhaltung hinein zu stellen.

Er holte sein Gepäck, und direkt hinter ihm drängte sich Levin aus der Tür, ebenfalls mit einem riesigen Rucksack beladen.

„Mach‘s gut, Kleiner. Und regel deinen Scheiß.“

Damit drückte Levin ihm einen herzhaften Kuss auf den Mund und schlurfte los, um abrupt stehenzubleiben, als er Richard entdeckte.

„Oh … sorry … ich wusste nicht …“

„Schon ok“, beeilte Mic sich, zu sagen. Jedes weitere Wort würde die Situation nur peinlicher machen.

„Ok … meld dich mal, ja? Bye!“

Ein Winken, dann verschwand Levin um die Ecke in Richtung Bushaltestelle. Dabei ging Mic auf, dass er nicht mal wusste, wo Levin eigentlich wohnte. Nun, das würde er in der Liste nachschauen können, wenn er das denn mal wollen sollte.

„Können wir?“

Richard machte eine Handbewegung in Richtung Auto und Mic nickte.

Im Auto schien die Spannung zwischen ihnen sich noch zu verdichten, als keiner von beiden auch nur einen Ton sagte. Schließlich seufzte Richard.

„Ehrlich gesagt hatte ich mir unser Wiedersehen anders vorgestellt.“

Mic nickte.

„Ich auch. Richard … tut mir leid, dass ich dich so … na ja, so angegangen bin. Es ist nur so … ich hab schon länger das Gefühl, dass da noch was ist zwischen dir und Jörn. Keine Ahnung was, aber irgendwie …“

„Natürlich ist da noch was zwischen uns“, unterbrach Richard ihn.

„Wir sind Freunde. Und wir kennen uns gut.“

„Und das war‘s?“

„Ja. Das war‘s. Zumindest seit wir beide zusammen sind. Sind wir das noch, Mic?“

„Und vorher?“

„Vorher war da hin und wieder mal was. Und? Du hast meine Frage nicht beantwortet.“

„Ob wir noch zusammen sind? Wenn es nach mir geht, ja. Sag du es mir.“

„Ich bin doch hier, oder?“

Richard lächelte, aber es wirkte verzerrt.

„Ich verstehe nur nicht, warum du dich über Jörn so aufregst. Grad du. Du stehst doch noch immer auf ihn …“

Mic schluckte. Egal, ob Richard sich ärgern würde, jetzt musste es raus.

„Wenn da nichts mehr ist zwischen euch, was war das dann gestern?“

Richard setzte den Blinker, fuhr rechts ran.

„Gestern? Was meinst du?“

„Na die Küsserei auf dem Weihnachtsmarkt …“

„Woher …“

„Ich war gestern auf dem Weihnachtsmarkt und hab euch gesehen.“

Mic erzählte, was er am vorigen Abend gesehen hatte, aber Richards Reaktion war nicht ganz die erwartete. Statt peinlich berührt zu sein, herrschte er ihn an:

„Himmel, Mic! Wir haben rumgealbert, einfach Spaß gehabt. Das ist alles. Wir waren nicht zusammen im Bett. Ich vermute, du und dieser Typ von eben, da ist mehr gelaufen als zwischen Jörn und mir.“

„Das ist was anderes“, erwiderte Mic fast schon trotzig.

„Ach ja? Ist es das? Ja, kann sein. Ein wenig anders ist das wirklich, denn zwischen Jörn und mir war nichts. Du regst dich über nichts auf … ich dagegen könnte mich über etwas aufregen.“

„Warum war Jörn überhaupt mit dir in Köln?“

„Weils mir scheiße ging. Er hat frei genommen und hat mich herbegleitet, mich abgelenkt. Ist heut Mittag mit dem Zug zurück, damit wir beide allein reden können. Wir sind Freunde, Jörn und ich. Schon mal was davon gehört, dass man sich dann gegenseitig beisteht?“

Richard schlug auf das Lenkrad.

„Tu das nicht, Mic. Hör auf damit, ja? Wenn du es nicht ertragen kannst, dass Jörn und ich befreundet sind, dann zieh die Konsequenzen, aber ich werde verdammt noch mal nicht jedes Mal ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich mich mit Jörn treffe. Da haben wir doch auch schon drüber geredet. Ich dachte, das wäre geklärt.“

Mic zündete zwei Zigaretten gleichzeitig an und schob eine davon Richard zwischen die Lippen, was dieser mit einem Nicken quittierte, um dann in seiner Ansprache fortzufahren.

„Aber vielleicht solltest du endlich mal auf die Kette kriegen, was da zwischen dir und Jörn ist. Das schwelt doch noch immer. Und noch was. Du nimmst dir für dich heraus, da irgendwas mit einem Typen zu haben, den du von hier kennst. Ich interpretier doch deine Antwort von eben richtig, oder? Ich denk mal ihr habt gefickt. Mir machst du aber Vorwürfe. Erst mal total unbegründet, aber selbst wenn sie das nicht wären, mit welchem Recht bitte? Was ist das denn bitte für eine Doppelmoral?“

Richard hatte sich offensichtlich in Rage geredet, denn so ging es noch eine ganze Weile weiter, auch als sie längst wieder fuhren. An einer Raststätte hielten sie dann an, tranken einen Kaffee. Da erst beruhigte Richard sich wieder einigermaßen.

Mic, dem immer klarer wurde, wie schräg das alles war und wie sehr er mal wieder nur sich selbst gesehen hatte, wollte plötzlich nur noch, dass alles wieder gut war. Bei der Zigarette nach dem Kaffee griff er unsicher nach Richards Hand und spürte erleichtert, wie dieser den Druck erwiderte. Mic kroch regelrecht in Richards Arme. Eine ganze Weile standen sie so, während die Zigaretten ungeraucht verglühten. Nach einem zurückhaltenden Kuss fuhren sie weiter Richtung Süden, schweigend, aber jeweils mit einer Hand auf dem Knie des anderen.

Nein, ausgestanden war das alles noch nicht, aber es war ein Anfang.


Hektisch lief Richard vor Mics Nase hin und her.

„Ich will nur … verdammt, ich will einfach nur wissen, was los ist!“

Mic zuckte ob Richards lauter und ungehaltener Stimme heftig zusammen.

Richard seufzte.

„Siehst du? Genau das mein ich. Seit wir bei deinen Eltern waren, rennst du rum wie jemand, der jemanden ermordet hat und jetzt unter Gewissensbissen zum Nichts schrumpft. Wegen allem und jedem zuckst du zusammen, und wenn ich dich drauf anspreche, dann ist nichts. Alles in Ordnung. Aber du bist gar nicht mehr du! Und dann denkst du dir auch noch Ausreden aus, um mich nicht sehen zu müssen. Dann letzte Woche diese Vorwürfe wegen Jörn. Du machst mit jemand anders rum, was auch nicht zu dir passt … also was ist los? War es ein Fehler, deinen Eltern zu sagen, dass wir zusammen sind? Geh ich dir auf die Nerven? Willst du das alles nicht mehr? Willst du einfach mich nicht mehr? Dann raus damit. Ey, ich will das jetzt wissen.“

Das war sicher nur ein Bild.

Nur ein Bild, um ihm, Mic, deutlich zu machen, wie er wirkte.

„… wie jemand, der jemanden ermordet hat …“

Richard hatte ganz sicher keine Ahnung davon, mit welchen Ängsten Mic sich wegen Bernd herumschlug, ganz sicher nicht. Oder doch?

Nein, es war nur ein Bild, ein Zufallstreffer.

Das versuchte Mic sich klar zu machen. Sicher war es so.

Er versuchte, sich mit seinem Verstand an diesem Wissen festzuklammern, während die emotionale Seite außer Kontrolle zu geraten schien.

Ohne dass Mic es verhindern konnte, rutschte es auch schon raus:

„Woher weißt du das?“

Richard schien verwirrt.

„Woher weiß ich WAS? Dass du nicht mehr willst? Dass wir uns trennen sollten?  Dass irgendetwas ist? Ich hab doch IMMER WIEDER gefragt, was los ist. War nun wirklich nicht schwer, DAS rauszufinden, dass irgendwas nicht stimmt … oder … was meinst du?“

„Du weißt gar nichts“, brach es aus Mic heraus, noch während er ergebnislos versuchte, sich zu beruhigen. Die Tränen liefen trotzdem.

Richard setzte sich mit einer resignierten Geste ihm gegenüber. Seine Wut von eben schien verflogen.

„Genau da liegt das Problem, Mic. Ich weiß anscheinend eine Menge nicht.“

Mic wusste, Richard hatte Recht, und doch wünschte er, er würde nicht immerzu fragen.

„Immerhin streitest du nicht mehr ab, dass irgendwas ist. Dann sind wir ja schon mal einen Schritt weiter.“

„Hab ich das?“

„Ja, hast du. Mic … hat es was mit Jörn zu tun?“

Mic lachte unter Tränen auf. Darauf hatte Babs vor ein paar Tagen auch schon getippt.

„Jörn? Nein, das ist ein anderes Thema.“

„Was ist dann das Thema?“

Mic fühlte sich in eine Ecke gedrängt, aus der er sich nicht herauszuwinden wusste. Also doch wieder die Flucht nach vorn antreten? Hatte er denn eine andere Möglichkeit?

Der Versuch der letzten beiden Wochen, sich nichts anmerken zu lassen, erklärte Mic erst in diesem Augenblick bewusst für gescheitert. Er hatte auch nicht mehr die Kraft, sich zu verstellen, und Richard schien sich ernsthaft Sorgen zu machen. Er hatte ihn nie zuvor so sauer erlebt wie heute, als er rausgefunden hatte, dass er, Mic, doch zu Hause war und nicht wie angekündigt bei einer zusätzlichen Bandprobe mit anschließendem Kneipenbummel. Außerdem gingen ihm so langsam die Ausreden aus bzw. sie wurden immer unglaubwürdiger. Mic stellte erschrocken fest, dass er angefangen hatte, Richard zu belügen.

Und da war auch dieser Wunsch, das alles endlich mit jemandem teilen zu können. Jetzt, wo es sich ohnehin nicht mehr aus seinen Gedanken, seinen Gefühlen, ja seinem Leben verbannen ließ.

Fast sehnte er sich in diesem Moment nach dem Zustand der letzten 17 Jahre zurück, wohl wissend, dass er dahin nicht mehr zurück könnte, selbst wenn er es ernsthaft in Erwägung ziehen würde. Zurück in 17 Jahre voller Lügen, und jetzt log er schon wieder.

Erbärmlich. Einfach nur erbärmlich. Seine Selbstachtung driftete gegen Null.

„Also gut. Da ist was. Bernd. Es ist wegen Bernd.“

Richard atmete tief ein.

„Bernd? Aber warum dann erst, seit wir bei deinen Eltern waren?“

Noch während Richard sprach, glaubte Mic eine Art Verstehen in Richards Gesichtszügen lesen zu können.

„Wegen dem, was du Jörn und mir erzählt hast, oder? Hat es damit zu tun? Und dann hast du auch Jo erzählt, dass er sich umgebracht hat.“

„Wenn er das denn hat.“

„Was willst du damit sagen? Mic, sprich mit mir. Lass mich nicht alles erraten müssen.“

Mic biss sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte.

„Ich will damit sagen, dass ich nicht weiß, ob er sich umgebracht hat. Richard, warum war ich dort, als Polizei und RTW und was weiß ich nicht noch da angerückt ist? Was hatte ich da zu suchen? Ich habe in dem Viertel keine Freunde, und nach Stadtbummel war mir sicher nicht. Ich komm da zufällig vorbei, just nachdem Bernd … du weißt schon … und dann sich umgebracht hat. Findest du nicht auch, dass das ein seltsamer Zufall ist?“

Richard saß kerzengerade und wirkte in höchstem Maße alarmiert.

„Soll das heißen, du hast …“

„Nein!“, unterbrach Mic ihn. „Oder doch. Vielleicht. Oder wahrscheinlich. Das heißt, ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht. Ich kann mich nicht erinnern.“

Inzwischen schluchzte er hemmungslos.

„Richard, ich kann mich einfach nicht erinnern. Nicht daran, wie ich Bernds Wohnung verlassen hab, und auch nicht daran, zu dieser beschissenen Hochhaussiedlung gegangen zu sein. Da ist nichts zwischen Bernds Wohnung, also dem, was du weißt, und dem Krähenstein. Nichts. Ich erinnere mich einfach an nichts. Und ich hab eine Scheißangst davor, was ist, wenn ich mich eines Tages vielleicht erinnern werde.“

Er sah, wie Richard regelrecht erstarrte. Einige Minuten herrschte angespanntes Schweigen.

„Siehst du, und genau deswegen wollte ich dir nichts davon sagen, Richard.“

Immerhin brachte diese Bemerkung Richard dazu, aufzuspringen.

„Was ist das für ein bescheuerter Mix aus unangebrachtem Heldentum und Selbstverurteilung, den du da abziehst? Für wen hältst du mich eigentlich, dass du glaubst, du müsstest dich damit alleine rumquälen? Selbst wenn du ihn geschubst haben solltest, wer sollte dir das schon ernsthaft übel nehmen, nach dem, was passiert ist? In Panik? Außer dir selbst natürlich, womit wir bei der Selbstverurteilung wären. Dass du dich scheinbar widerlich findest, bedeutet das nicht, dass das für andere Menschen auch gilt. Das lass mich bitte selbst entscheiden, ja? Aber gib mir demnächst verdammt noch mal auch die Chance dazu. Ich hab echt gedacht, du willst mich nicht mehr.“

Richard atmete tief ein und aus, setzte sich dann neben Mic.

„Scheiße, Mic, du warst unter Schock oder wie man das nennt. Was immer du getan hast …“

„Richard! Bitte! Nicht das, ja? Ich habe vielleicht einen Menschen umgebracht. Von mir aus im Schock, wie du es nennst, ja. Und was, wenn nochmal ein Schock kommt? Irgendwas eigentlich belangloses, so wie bei dir … oder beim Tanzen mit Jörn, mit Levin … was dann? Ich habe euch beide schon verletzt. Wollte ich das? Nein. Aber es ist passiert. Was passiert als nächstes?“

Mic fühlte, wie sich Richards Arme um ihn legten, ihn näher zu sich zogen.

„Ich hab keine Angst vor dir, wenn du das meinst. Anfangs war das anders, aber inzwischen … ich bin oft unsicher, aber Angst habe ich nicht.“

„Solltest du aber vielleicht.“

„Weiß Babs davon?“

Mic schüttelte den Kopf.

„Nein, niemand. Babs hätte ich es fast mal erzählt, aber … ich dachte, sie würde wollen, dass du es auch erfährst.“

„Womit sie auch Recht gehabt hätte. Smart girl. Aber Mic? Ich werde jemanden brauchen, mit dem ich darüber reden darf. Jemanden außer dir.“

„Kann ich verstehen. Wird schon ok sein, wen auch immer du dir dazu aussuchst. Aber wenn es Babs ist oder sonst jemand, den ich kenne, dann würd ich es gerne wissen.“

„Geht klar.“

Voller Verwunderung spürte Mic Richards Lippen auf seinen.

„Ach Mic, warum machst du es dir nur immer so schwer? Diese Angst hättest du nicht die ganze Zeit alleine rumschleppen müssen. Vertrauen ist nicht grad eine deiner Stärken, was?“

Mic wusste darauf nichts zu sagen, also schwieg er.

„Wirst du das deiner Mutter erzählen, wenn ihr euch morgen trefft?“

Das Treffen mit seiner Mutter! Das hatte Mic ja völlig verdrängt. Das fehlte ihm jetzt gerade noch.

„Mist. Das ist ja auch schon morgen … ich weiß es noch nicht. Eher nicht. Es soll ja um die letzten Wochen gehen und wie ich vermeiden kann, dass sie sich so viele Sorgen macht. Und für den Fall, dass ich nochmal in eine Phase kommen sollte, wo ich einfach nicht mit ihr reden kann, wollte ich ihr ein paar Vorschläge machen. Ich wollte ihr vorschlagen, dass sie dich oder Babs jederzeit kontaktieren kann und dass ihr sie kontaktiert, wenn ich‘s grad nicht kann. Dein Einverständnis vorausgesetzt natürlich … Babs hat schon okay gesagt.“

Richards Arme zogen Mic noch näher zu sich.

„Einverstanden. Aber du solltest es ihr sagen.“

„Warum? Damit sie sich noch mehr Sorgen macht?“

„Weil sie dir vielleicht helfen kann. Sie hat dich doch damals erlebt und hat gemerkt, dass du anders warst. Ich wette, dass sie eh ahnt, dass da irgendwas Schlimmes passiert ist. Hast ´ne kluge Mutter. Und mehr Sorgen macht sie sich eh dann, wenn sie nur ahnt, statt zu wissen. Nee, mein Lieber, ihr Wohlbefinden ist nicht der Grund für deine Angst. Vielleicht willst du das beim Erzählen nicht wieder durchleben oder du hast Angst, auszurasten, oder auch beides, oder noch mehr Gründe, aber hier geht es nicht um die Angst deiner Mutter um dich, sondern um die deine um dich.“

„Wann hast du beschlossen, an mir praktische Erfahrung in der Psychologie zu sammeln? Studierst du heimlich?“

Richard küsste Mics Hals.

“Nein, dafür braucht’s echt kein Studium. Versuch es, ja? Du schützt sie nicht, wenn du nichts sagst. Du machst es nur schlimmer. Wie bei mir. Du hast keine Vorstellung davon, was ich alles gedacht und vermutet hab. Und es hat auch ganz nett wehgetan.“

Wieder biss Mic sich auf die Lippen.

„Ich hasse dich grad dafür, dass du immer so den Punkt treffen musst.“

„War das ein Ja?“

„Es war ein *Ich versuch es*. Mehr kann ich nicht versprechen.“

„Das reicht ja auch. Mehr wollte ich gar nicht. Außer … vielleicht eine Kleinigkeit … Ich würd gern hierbleiben heut Nacht, Mic.“

Mic musste lächeln. Genau das hatten sie in den letzten beiden Wochen nicht mehr getan: die Nacht gemeinsam verbracht. Mic hatte sich immer neue Ausflüchte ausgedacht, bis Richard heute 3 dieser Ausflüchte hieb- und stichfest enttarnt hatte. Mic hatte es vermisst, zusammen einzuschlafen und aufzuwachen, und doch … die Angst war größer gewesen.

„Ja, das wäre schön …“

„… und hättest du die ganze Zeit haben können. Stattdessen ziehst du es vor, uns beide zu quälen. Stvike him centurion, vevy roughly!“

Was hatte Richard nur an sich, dass er Mic selbst in dieser Situation zum Lachen bringen konnte?

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