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Christmas in July...

oder Lovis all around

Weihnachtschallenge 2012

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Inhaltsverzeichnis

Lovis all around

1999

Der Regen hämmerte von außen an die Zeltwand. Wie kleine Soldaten, die auf der Außenfläche marschierten, drangen die prasselnden Tropfen an mein Ohr. Genervt wälzte ich mich mit meinem Schlafsack herum. Blödes Wetter. Blödes Camp. Alles blöd. Ich würde gerade viel lieber daheim sein und Pokémon fangen. Aber nein, meinen Gameboy durfte ich nicht mitnehmen. Das wäre nicht der Sinn von dem Zeltlager, haben meine Eltern gesagt. Blöde Eltern. Während ich hier im Zelt absaufe, haben die anderen bestimmt schon alle 150 Pokémon gesammelt. Ich seufzte laut. Wieso mussten meine Eltern unbedingt auf die Idee kommen mich für so eine Zeltfreizeit anzumelden? Ohne mein Einverständnis. Das ist Freiheitsberaubung. Mitten im Nirgendwo auf einer Kuhweide waren wir hier.

Da hörte ich es auf einmal neben mir rascheln. Ein braunhaariger Wuschelkopf kam unter dem Nachbarschlafsack zum Vorschein. „Kannst du auch nicht schlafen?“, flüsterte der Kopf.

„Wie soll man bei dem Lärm denn schlafen können?“, flüsterte ich zurück. Ruckartig drehte sich der Kopf nach links und rechts. „Na ja, die könnten dir eine Antwort darauf geben.“

Er hatte recht. Die anderen Jungs im Zelt schliefen tief und fest. Insgesamt lagen wir zu siebt dicht an dicht auf unseren Isomatten in diesem Zelt. Wie die anderen bei dem Lärm ein Auge zu tun konnten, war mir ein Rätsel.

„Du bist Lovis, nicht wahr?“, fragte ich.

„Ja“, antwortete der Wuschelkopf. „Tut mir leid, ich hab leider kein so gutes Gedächtnis wie du. Wie heißt du noch mal?“

„Ich bin Casper.“ Zum Glück war es dunkel, sonst hätte Lovis gemerkt, wie ich in dem Moment etwas errötete. Er konnte meinen Namen nämlich gar nicht wissen. Heute war der erste Tag des Camps und bei den Kennenlernspielen waren wir beiden gar nicht in einer Gruppe gewesen. Doch er war mir sofort aufgefallen. Seine niedlichen, kleinen Augen, das liebe Lächeln und der Ausdruck im Gesicht, dass er mindestens genauso wenig hier sein wollte wie ich. Klar, dass ich mit meinen Ohren mehr bei seiner Gruppe war, als bei meiner, um den Namen dieses süßen Jungen zu erfahren.

„Zum Glück hab ich das hier dabei“, und Lovis kramte aus seinem Rucksack etwas hervor.

„Ist das ein Gameboy? Cool! Was für Spiele hast du?“, rief ich begeistert, fast schon ein wenig zu laut. Ich blickte mich um, aber die anderen schlummerten friedlich weiter.

„Ich hab nur ein Spiel dabei, aber das reicht total. Kennst du das schon?“

Ich rutschte näher an ihn heran um auf den kleinen Bildschirm zu kucken.

„Hey, das ist ja Pokémon! Oh wie cool, du kennst das? Welche Edition hast du?“

„Die mit dem Glurak drauf.“

„Oh, toll. Ich hab die blaue Edition. Schade, hätte ich mein Spiel dabei, könnten wir ein bisschen tauschen.“ Aber ich hatte mein Spiel nicht dabei und daher gab es auch nichts Relevantes, das noch hätte gesagt werden müssen und wir verbrachten die restliche Zeit damit, beide gebannt auf den Bildschirm zu starren, während Taubsi, Onix und Co sich attackierten. Als dem eingeschlafenen Lovis der Gameboy letztendlich aus der Hand glitt, war ich schon längst, ganz leicht an ihn herangekuschelt, mit meinem Kopf an seiner Schulter, im Reich der Träume.

Ich beschloss dem Camp eine Chance zu geben. Und so wurden die darauffolgenden Tage auch tatsächlich besser. Tagsüber fand ich wirklich Spaß an den Spielen, verstand mich gut mit den anderen und lernte zum Beispiel was ein Stockbrot ist. Vielleicht lag mein ungeahnter Enthusiasmus aber auch nur an der Vorfreude auf die weiteren Abende oder Nächte mit Lovis, in denen ich seinen Gameboy als Vorwand nutze konnte, um mit meinem Körper ganz dicht an seinen zu rutschen. Das Wissen, nur durch zwei dünne Schlafsäcke von ihm getrennt zu sein, ließ es in meinem Körper kribbeln.

„Oh, Lovis, fängst du das jetzt?“

„Ich versuchs. Pummeluff hab ich noch nicht.“

So leicht schien das aber nicht zu werden. Lovis Pokémon bekamen ständig Pumeluffs Lied ab und wurden eingeschläfert.

„La, lalalala“, murmelte ich mit zuckersüßer Stimme.

„Vorsicht, sonst schläferst du mich auch noch ein und wenn ich nicht abgespeichert habe, war alles umsonst.“ Ich verstummte grinsend und sah zu, wie er noch drei weitere Bälle verbrauchte, bis schließlich die triumphierende Melodie erklang.

„Juchhu, du hast es gefangen! Ein Pummeluff für einen Pummel.“

,,Ey“, motzte Lovis, „wen nennst du hier Pummel? Ich bin ja wohl mega schlank.“

Ich pikste in seinen Schlafsack. „Tatsächlich? Ich finde, das fühlt sich ganz schön pummelig an.“

„Na warte“, und mit diesen Worten riss er den Reißverschluss seines Schlafsacks auf. Mehr musste er auch gar nicht mehr sagen. Sein Schlafshirt war ein wenig hochgerutscht und zeigte deutlich, dass sein Körper alles andere als pummelig war. Ich starrte auf seinen schlanken, zarten Bauch.

„Und jetzt du.“

„Was? Aber...“, stammelte ich. Aber das ging nicht. Ich brauchte den Schlafsack gerade als Schutz, um vor Lovis etwas ganz anderes als meinen Bauch zu verstecken. „Aber ich habe gar kein Pummeluff gefangen.“

Das ließ Lovis nicht als Ausrede zählen und beugte sich über mich. Ich versuchte, seine Hände von meinem Reißverschluss weg zu halten, aber er war ein wenig stärker als ich. Frech blickte er mir in die Augen, während er mich von meinem Schlafsack befreite. Als er meinen Körper beäugte, wurde sein Grinsen nur noch breiter.

„Jetzt verstehe ich. In deinem Schlafsack versteckt sich kein Pummel, sondern ein P....“ Absichtlich brach er mitten im Wort ab und genoss es, dass mir das ganze sichtlich unangenehm war.

„Ich finde das Spiel zwar auch geil, aber das ist dann doch ein wenig übertrieben.“

Ich blickte verschämt zur Seite. War klar, dass nun die letzten Tage lauter Sprüche von Lovis kommen würden. Gleich morgen würde er rumposaunen, dass Klein-Casper einen Ständer hatte. Ob er als Grund sich selbst oder das Pokémon-Spiel angeben würde, war dabei eigentlich egal.

„Hey, wieso schaust du denn so zur Seite?“, fragte Lovis ruhig.

„Ich versuch zu schlafen“ und schloss meine Augen.

Lovis flüsterte irgendwas. Dass er nur Spaß gemacht hätte. Dann krabbelte Lovis wieder in seinen eigenen Schlafsack und war nach wenigen Momenten eingeschlafen.

Tatsächlich verlor er tagsüber kein Wort über gestern Nacht. Niemand machte sich über mich lustig, niemand tuschelte oder kicherte, wenn ich auftauchte. An unseren Nächten veränderte sich ebenfalls nichts. Egal wie sehr ich ihm auf die Pelle rückte, er machte keine Anzeichen, dass ihn die körperliche Nähe störte. Und so kuschelte ich mich Nacht für Nacht immer mehr an ihn, natürlich nur, um einen besonders guten Blick auf das Treiben im Spiel zu haben.

Ich genoss diese Momente sehr. So sehr, dass mir meine Enttäuschung im Gesicht stand, als Lovis am letzten Abend seinen Gameboy nicht auspackte.

„Der Akku ist leer“, erklärte er. „Aber morgen geht’s ja wieder nach Hause. Eine Nacht werde ich wohl aushalten.“

Das ist schön für dich, dachte ich. Aber wie sollte ich es aushalten nun nicht mehr an seiner Seite zu liegen? In meiner Magengegend drückte etwas.

„Ach so“, wisperte ich. „Dann schlaf mal schön.“ Und ich drehte mich zur anderen Seite. Ich fühlte mich komisch und versuchte meine Augen so fest wie möglich zu zukneifen, um möglichst schnell einzuschlafen. Da spürte ich mit einem Mal, wie sich jemand an mich drückte. Ein Arm umschlang mich und Lovis schmiegte sich mit seinem gesamten Körper an meinen Rücken. Seine Hand tastete nach meiner. Als sie sich fanden, verschränkten sich unsere Finger. Sanft lagen unsere Hände an meiner Brust, während mein Herz so laut pochte, dass es mich wunderte, dass nicht das ganze Zelt mit vibrierte. Ich spürte Lovis Atem in meinem Nacken. Warm und so nah, dass sich seine Lippen nicht weit von meiner Haut befinden konnten. Irgendwann wurden seine Züge regelmäßiger und ich wusste, er war eingeschlafen. Ganz im Gegensatz zu mir. Ein Gefühl des Glücks unternahm eine Achterbahnfahrt durch meinen Körper. Es bereitete sich über die Hand aus, die Lovis fest umschlossen hielt. Schoss über meine Arme dahin, eine Welle von Gänsehaut nach sich ziehend. Kribbelte sich durch meinen Bauch, wobei Schmetterlinge in den buntesten Farben aufgestöbert wurden und pulsierte bis in meine Zehenspitzen, sodass mir einfach nur zum tanzen zumute war.

So intensiv dieses wunderschöne Gefühl auch war, so weh tat es am nächsten Tag. An Tanz konnte ich nicht mehr denken. Der letzte Tag war angebrochen und die Zelte wurden abgebaut. Die anderen Kinder sprangen ausgelassen umher, freuten sich auf daheim und auf ihre Eltern. Ich hingegen konnte nur daran denken, dass ich mich nun von Lovis trennen musste. Wir sprachen an dem Tag kein Wort miteinander. Zu gerne hätte ich gewusst, was er sich dachte. Ob er genauso traurig war, wie ich. Als der Abschied kurz bevor stand, umarmten wir uns innig. Für eine kurze Ewigkeit, so schien es mir und doch hielt die Umarmung nur einen Augenblick an. Dann lösten wir uns voneinander, er sah mir ein letztes Mal in die Augen. Im nächsten Moment fand ich mich im Auto meiner Eltern wieder. Ihre Fragen hörte ich kaum. Insgesamt registrierte ich kaum etwas. Das Bild vor meinen Augen wurde unscharf. Verschwommen. Ich weinte die ganze Fahrt bis nach Hause. Ich weinte, als meine Eltern versuchten, mich mit einem Pikachu-Wecker aufzumuntern und ich weinte immer noch, als ich schon lange im Bett lag, ganz allein, ohne Lovis. Meine Eltern waren ratlos. Kein Wunder, ich hatte auch tapfer geschwiegen. Hätte ich ihnen erzählen sollen, dass ich mich unsterblich in einen Jungen vom Zeltlager verliebt hatte? Bestimmt hätten sie gesagt, dass ich mit elf Jahren noch zu jung bin, um das zu wissen oder dass es nur eine Phase wäre. Und so tröstete ich mich allein über ihn hinweg. Zu gerne hätte ich jemandem von Lovis erzählt. Von ihm geschwärmt, sodass meine Erinnerungen an ihn lebendig blieben. Doch da war niemand.

2008

Ich will der Allerbeste sein, wie keiner vor mir war.....“

Meine Hand krachte auf das Pikachu. Es war ein Wunder, dass dieser Wecker es nach so langer Zeit immer noch tat. Es war ein Wunder, dass ich nach so langer Zeit nicht die Schnauze voll hatte von diesem Lied geweckt zu werden. Müde rieb ich mir die Augen und blickte mich im Zimmer um. Es war mir fremd. Und nein, das lag nicht daran, weil ich letzte Nacht mit irgendwem mitgegangen bin und mich nun in der Wohnung eines Fremden befand. Vor allem, was hätte mein Wecker dann da verloren. Nein, das Zimmer war fremd, weil ich erst einen Tag zuvor eingezogen war. Ja, Klein-Casper ist groß geworden. Auch wenn 1,73m nicht unbedingt groß sind. Ich tapste auf Zehenspitzen ins Bad um möglichst wenig Kälte von den Fließen abzubekommen und startete mit einer heißen Dusche in den Tag. Ich liebte es das Wasser immer noch mal ein bisschen heißer zu stellen. Und noch mal. Und noch mal. So hatte ich immer wieder aufs Neue noch mal das entspannende Gefühl der Wärme auf meiner Haut. Bis auf einmal, da hatte ich nicht gemerkt, dass ich mir bei dem fließenden Wasser die Haut verbrannt habe.

Erfrischt und splitternackt verließ ich das Bad. Ja, nackt in der Wohnung herum laufen, das war Freiheit. Ein Leben lang bei meinen Eltern in einer wirklich kleinen Wohnung zu leben und danach noch eine miserable WG-Erfahrung haben den Wunsch in mir immer lauter werden lassen in meine eigenen vier Wände zu ziehen. Die WG war aber auch wirklich schlimm. Einer der drei Mitbewohner nerviger als der andere. Wenn ihr mal mit einem gewissen Tobias zusammen wohnen solltet, er an eure Tür klopft und meint: „Hey, Casper, ich wollte nur mal kurz...“ dann lasst ihn auf gar keinen Fall herein, denn er lügt. Er will nicht kurz, es sei denn kurz ist ein sehr dehnbarer Begriff. Sobald er einen Schritt in die Tür gemacht hat, seid ihr in die Falle getappt. Klingt paradox, ich weiß, aber so war es. Aus seinem „kurz“ wurde eine quälende Ewigkeit, in der er es schaffte, jedes unwichtigste Detail seines gesamten Lebens zu erzählen, ohne dass ihr auch nur einmal eine Frage gestellt habt. Ruhe hatte ich dort also keine und auch mein Essen musste ich schwer verteidigen, denn nur einmal nicht hingekuckt, verschwanden frisch gebackene Pfannkuchen auf sonderbare Weise oder fanden sich Joghurt-Becher nicht im Kühlschrank, sondern aufgerissen und leer im Mülleimer wieder. Nicht mal im gelben Sack! Was meint ihr? Spießer? Ich bevorzuge die Bezeichnung Weltretter. Wie auch immer.

Das Studium in einer neuen Stadt bot sich jedenfalls dafür an, mir endlich meinen Wunsch zu erfüllen und während andere ganz heiß darauf waren, in eine möglichst coole Wohngemeinschaft zu ziehen, genoss ich einfach nur, endlich für mich sein zu können. Und das nutzte ich in vollen Zügen aus. Jede Ecke in der Wohnung gestaltete ich, in den folgenden Wochen, wie ich es für richtig hielt. Niemand, der mir in eine Farbe reinreden wollte. Niemand, der meine Sticker wieder von den Schränken riss.

Nach und nach nahm meine Wohnung Gestalt an und das Gefühl der Fremde verschwand. Auch in der Stadt lebte ich mich gut ein. Hier war alles so viel größer als daheim. Zu jedem Zeitpunkt konnte man alles machen, was gefiel. Und zum Jungs kennenlernen eignete sich so eine Großstadt natürlich auch besser. Zumindest in der Theorie. Ich hielt mich zwar schon immer wieder mal in der sogenannten Szene auf, aber wirklich jemandem begegnet bin ich dabei nicht. Also, was macht ein Junge, der andere Jungs kennenlernen mag? Genau, er hat einen Account bei einer Seite. Vorzugsweise blau. Und so klickte ich mich an manchen Abenden durch ein paar Profile. Ab und an ergaben sich ein paar nette Gespräche. Mehr aber nicht. Bis an einem Abend der Zufall an die Tür klopfte. Ich saß vor meinem Computer, hatte ein wenig Musik angemacht und klickte mich durch ein paar Bilder. Da blieb ich an einem hängen. Mein Herz schlug ein wenig schneller als gewöhnlich. War ich übermüdet und meine Augen spielten mir einen Streich? Ich drückte auf das x, überlegte kurz und rief das Profil erneut auf. Zwei wunderschöne Augen blickten mich an. Ein Wuschelkopf, wie es ihn nur einmal geben konnte. Meine Hände zitterten. Es war zu krass. Einfach zu krass. Konnte es wirklich sein, dass ich nach all den Jahren den süßen Jungen wieder entdeckt haben sollte, der mir damals dieses unglaublich starke, warme Gefühl geschenkt hat und das ich seitdem nie wieder gespürt hatte?

Ich gab eine Nachricht ein. „Hey, ich hoffe das kommt jetzt nicht irgendwie komisch. Aber kann es sein, dass du der Lovis bist?“

Senden. Und ich wartete. Wie gebannt starrte ich auf meinen Monitor. Komm schon, antworte. Immer wieder klickte ich herum, um zu sehen, ob meine Nachricht bereits gelesen war.

Yeah, eine Antwort. Ich öffnete sie. „Und wer bist du bitte?“

Mit einem Mal war meine Aufregung davon. Und wer bist du bitte? Nicht nur, dass der Satz irgendwie feindselig klang, wobei das auch nur Einbildung sein konnte. Aber, er hatte mich vergessen? Ich weiß, es war lange her. Aber ich hatte tagtäglich an ihn gedacht und von ihm geträumt. Ok, vielleicht nicht in den letzten Jahren. Wäre auch etwas merkwürdig, wenn ein 20jähriger von einem 11jährigen träumt. Aber dennoch, er war der erste Junge, in den ich mich verliebt hatte, ehrlich gesagt sogar der Einzige, und da konnte er sich nicht an mich erinnern? Ich war enttäuscht. Ich seufzte und tippte wieder.

„Schon ok. Ich muss mich wohl geirrt haben.“ Senden. Oh Mann, Casper, bist du bescheuert? Da begegnet dir der Junge deiner pubertären Träume und du gibst einfach klein bei, nur weil er sich nicht an dich erinnern kann?

„Du gibst aber schnell auf, du Pummel.“

Verdattert las ich die Nachricht. Ich grinste und tief in mir hüpfte etwas vor Glück. Er erinnerte sich. „Wollen wir ein wenig schreiben?“

Ich musste nicht lange auf seine Antwort warten. „Nein.“

Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich schluckte. Da kam schon eine zweite Nachricht. „Ich möchte dich viel lieber sehen. Hast du heute Abend noch Zeit?“

Meine Uhr sagte, es war kurz nach 22 Uhr. Eigentlich noch nicht allzu spät. Wir verabredeten uns und keine halbe Stunde später stand ich vor seiner Tür. Er öffnete mir und ich trat verschüchtert ein. Kennt ihr den Ausdruck das Herz schlug ihm bis zum Hals? Total abgedroschen, aber in diesem Moment war es einfach so. Hoffentlich merkte er nicht, wie nervös ich war. Wer weiß, vielleicht mochten wir uns auch gar nicht. Ich hatte ja keine Ahnung, wie er sich entwickelt hatte. Vielleicht war er ein totaler Blödarsch geworden, der mich nur kurz zum vögeln zu sich nach Hause bestellt hatte.

„Hi Casper“, er lächelte mich an, drückte mich kurz und schloss die Tür hinter mir.

„Hallo“, murmelte ich. Verstohlen sah ich mich um. „Du bist aber schön eingerichtet.“

Lovis lachte. „Ach, das ist doch nur der Flur.“

„Eben drum. Es ist nur der Flur und trotzdem komm ich mir gerade vor, wie in einem Sternehotel.“ Und das hörte auch bei den anderen Zimmern nicht auf. Sämtliche Räume waren bis ins kleinste Detail schick durchdesigned. Nicht zu vergleichen mit meiner Studentenwohnung, die einen Hauch von Kindheit an sich hatte. Lovis Wohnung hingegen wirkte richtig erwachsen und seriös. Ich meine, ich bin noch nie jemandem in meinem Alter begegnet, der eine Lampe besaß, die wie ein in Form gebrachtes Wurzelwerk aussah mit einem eckigen, braunen Lampenschirm obenauf.

„Man, Lovis, hier sieht`s aus wie in einer Abteilung vom KaDeWe. Ist das Molton Brown Seife?“ Eigentlich schon verwunderlich, dass ich diese Marke kannte. „Wie kannst du dir das leisten? Oder hast du dafür aufgehört zu essen?“

Lovis streichelte mir über den Rücken. „Ich mag`s eben ein wenig schicker.“

„Ein wenig. Du bist gut. Wie kannst du dir das denn leisten?“

„Ich bin bei der Mafia.“

Meine Augen wurden groß. Er lachte. „Ach nein, Casper. Schau doch nicht so. Ich verdiene eben gut.“

„Hast du studiert?“, fragte ich. Er verneinte. „Und du hast trotzdem ein 50-Euro-Seife-Gehalt?“

Lovis winkte ab. „Also erst mal kostet die nur knapp 25 Euro.“ Mein Fehler. „Und zweitens sollten wir nicht direkt zu Beginn unseres Wiedersehens über Geld sprechen, oder? Sonst fühlst du dich noch unwohl.“ Zu spät. Doch Lovis lächelte mir aufmunternd zu. Danach sprach niemand mehr von Geld. Monate später verriet er mir, dass er in jungen Jahren bereits eine eigene Firma gegründet hatte, die ziemlich gut was abwarf. Politisch war er ebenfalls ein wenig unterwegs. Aber dass er mir das alles erst später erzählte, zeigte, dass er niemand war, der damit angab, was er bereits erreicht hatte. Und daher lernte ich ihn an unserem ersten Abend auch als einen wirklich sympathischen Jungen kennen. Einen besonderen Jungen, nicht nur wegen seiner Wohnung. Seine ganze Art, seine Körpersprache war ungewöhnlich und interessant. Ein Schmetterling regte sich in meinem Inneren.

„Es wird langsam spät, oder?“

Ich blickte auf die Uhr. „Na ja, es war schon spät, als ich ankam. Aber du hast recht, ich sollte vielleicht los.“

Lovis winkte ab. „Das habe ich damit nicht gemeint. Du schläfst selbstverständlich hier oder meinst du ich lasse einen so süßen Jungen jetzt in Nacht und Nebel verschwinden? Du gehst da nur verloren.“

Ich errötete. „Na gut, wenn du mir eine Decke geben kannst, dann mach ich`s mir auf der Couch gemütlich.“

„Casper.“ Lovis blickte mir ernst in die Augen. Nicht böse, sondern bestimmt. Und bevor ich mich in seinen Augen verlieren konnte, nahm er mich an der Hand und zog mich in Richtung Schlafzimmer.

„Du hast einen schönen Körper“, sagte er, während er mir beim ausziehen zusah. Ich stammelte ein schnelles Danke. Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, dass ich ihm jederzeit das selbe Kompliment hätte machen können, verzichtete aber darauf ihn richtig zu beobachten, während er sich seiner Hose entledigte, um einen weiteren Moment, wie damals im Zelt zu vermeiden. Ich merkte nämlich jetzt schon, dass es mir schwer fiel meinen Körper unter Kontrolle zu halten.

„Im Nachtkästchen neben dir liegen neue Zahnbürsten. Such dir eine aus, aber keine blaue bitte. Die Farbe ist für mich reserviert.“, und er verschwand im Bad. Ich kramte in der Schublade und wurde nur noch nervöser. Ich fand nämlich nicht nur Zahnbürsten, sondern auch einen Lebensvorrat an Kondomen. War das gerade Absicht gewesen? Wollte er, dass ich mich schon mal drauf einstellen konnte, was heute Abend, neben schlafen, noch in seinem Bett passieren würde? Wer weiß, wie viel Erfahrung Lovis bereits hatte. Bestimmt eine ganze Menge. Ich meine, der Junge war ein wandelnder Gott. Diese Augen, der Körper. Und ihr braucht gar nicht mit den Augen zu rollen, kommt ihr erst mal in diese Wohnung und dann reden wir weiter. Das heißt, solltet ihr dann überhaupt noch her eurer Sinne sein.

Ich hingegen konnte auf noch keine so lange Reihe von Lovern zurückblicken. Ehrlich gesagt gar keinen. Damals hatte ich mir zwar oft vorgestellt, wie es wäre mit Lovis ein bisschen Erfahrungen zu sammeln. Ja, schon mit elf, denkt euch euren Teil. Aber nun, in der Situation?

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als Lovis vor mir stand. Nur in Shorts bekleidet. „Du kannst ins Bad“, flüsterte er sanft. „Lass dir ruhig Zeit.“

Panik. Was war das gerade für ein Zusatz? Ein Code? Wofür soll ich mir denn Zeit lassen? Ich konnte mir so ein klein wenig denken, was er damit meinte. Ich meine, so ganz blöd ist man ja auch nicht und wenn man sich Pornos anschaut und da die Jungs gefickt werden und das alles so ohne Sauerei klappt, dann überlegt man ja schon. Aber, aber. Sollte ich nun auf Toilette gehen oder wie? Ich war überfordert. Ich schloss mich im Bad ein und bürstete meine Zähne so heftig, als würde ich sie mir abraspeln wollen.

„Nur die Ruhe“, sprach ich an mein Spiegelbild gerichtet. „Du schaffst das. Immerhin bist du erwachsen.“ Nein, bist du nicht, schrie es in mir. Du hast einen Pikachu-Wecker, stehst wie ein Irrer auf Lego und kannst sämtliche Disney-Filme synchron mitsprechen. In mehreren Sprachen!

Ich schlich mich leise wieder aus dem Badezimmer und öffnete vorsichtig die Schlafzimmertür. Nur eine kleine Lampe auf Lovis Nachttisch erleuchtete den Raum. Als ich aber registrierte, was ich da im gedimmten Licht sah, verflog meine Angst.

„Was machst du denn da?“

„Und du dachtest, ich hätte alles vergessen. Wonach sieht es denn aus?“, gab Lovis entspannt zurück. Ich krabbelte zu ihm ins Bett. In seinen Händen hielt er einen Gameboy. Nicht den grauen Klotz von damals im Zeltlager, sondern einen Nintendo DS. Und auch das Spiel war nicht das selbe geblieben.

„Ist das die Pearl-Edition?“

Lovis nickte. „Ich habe die rote, die goldene, die Saphir und die Pearl-Edition.“

„Wie witzig. Ich hab auch aus jeder Generation ein Spiel. Nur immer das jeweils andere Exemplar.“ Er sah mich an. Sein Blick war schwer zu deuten, aber es lag etwas wie Freude oder Belustigung darin. Dann widmete er sich wieder seinem Spiel. Ich schmiegte mich an ihn. Und mit einem Mal war es wieder da. Dieses schöne Gefühl, als wir damals, Kinder die wir waren, gemeinsam im Zelt lagen und dem Treiben auf dem Bildschirm zusahen. Kurz bekam ich beim Gedanken an „Treiben“ ein paar unanständige Bilder in den Kopf. Das hatte ausgereicht, dass Lovis merken musste, dass sich etwas von mir gegen ihn gedrückt hatte. Ich rutschte ein Stück weg. Als Reaktion darauf rutschte Lovis aber nur ein wenig nach und schlang ein Bein um meine. Und so blieben wir liegen, bis mir die Augen und ihm der Gameboy aus der Hand fielen.


„Oh nein, Lovis, das ist doch eklig.“

Er stellte seine Tasse ab, schluckte einmal und ließ mit einem Ah bekannt geben, dass er sein Gesöff rein gar nicht eklig fand. „Das trinken hier viele. Es ist halt Kaffee.“

Ich riss meine Augen auf. „Nein. Oh nein, das ist kein Kaffee. Kaffee an sich ist schon eklig, aber DAS DA ist etwas, was an Katzen verfüttert, ausgeschieden, und dann pulverisiert...“

Lovis unterbrach mich. „Du hast das Reinigen vergessen.“

„PULVERISIERT wurde. Und egal wie oft du diese Kaffeebohnen wäschst, du wirst trotzdem nie rückgängig machen, dass sie einmal im Körper einer Katze waren. In einer Katze!“

„Probier`s doch einfach, dann merkst du, dass das gar nicht schlimm ist.“

Ich verzog das Gesicht. Seit unserem ersten Abend waren viele Wochen vergangen und wir hatten uns regelmäßig gesehen. Anders als in der Vergangenheit nahm das Pokémon-Spiel nun den geringsten Teil unserer gemeinsamen Zeit ein. Stattdessen waren wir viel unterwegs, genossen ,was die Stadt uns an Kultur zu bieten hatte oder saßen gemütlich in einem unserer Stamm-Cafés. Ja, wir hatten über die Wochen hinweg mehrere davon gefunden. Und ich genoss die Zeit mit ihm sehr. Wenn er jedoch seinen kopi luwak trank, schüttelte es mich jedes Mal aufs Neue.

„Ach Casper, es ist einfach Katzenkaffee.“

„Nein“, widersprach ich ihm vehement, so wie jedes Mal, wenn wir diese Diskussion führten. „Nein, mein Herr, du lässt da eine Kleinigkeit außer Acht. Es ist Katzen-Kacke-Kaffee. KKK. Und dass Dinge, die man mit diesen drei Buchstaben abkürzt, nicht gut sind, das sieht man ja, wenn man nur mal nach Amerika schaut.“

Lovis lächelte. „Ich hab dich lieb. Gib mir einen Kuss.“ Angewidert verzog ich mein Gesicht. Nein danke. Vor allem hatten wir uns bisher noch kein einziges Mal geküsst. Und meinen ersten Kuss mit Lovis stellte ich mir dann doch ein wenig appetitlicher vor. „Ich hab dich auch lieb“, murmelte ich und strich dabei über seine Hand.

„Ich dich mehr“, grinste er.

„Gar nicht und ich glaub du hast noch ein wenig Katze zwischen deinen Zähnen hängen.“

„Würdest du mich mehr lieb haben, würde ich jetzt einen Kuss kriegen.“

Ich räusperte mich. „Pizza.“

Er sah mich beleidigt an. „Ach nein, nicht schon wieder die Geschichte. Irgendwann musst du auch mal darüber hinweg kommen.“

Ich verzog mein Gesicht, als müsste ich gleich weinen und jammerte mit künstlicher Stimme: „Oh nein, das werde ich nimmermehr. Du hast meine Gefühle damals zutiefst verletzt. Von diesem Schock werde ich mich meiner Lebtage nicht mehr erholen.“

Ich lachte, als er genervt seine Hand weg zog. Aber das musste er aushalten, denn die Pizza-Geschichte würde ihm noch auf ewig nachhängen.


.ganz allein fang ich sie mir, ich kenne die Gefahr...

Ich schaltete den Wecker aus. Blinzelte müde durchs Zimmer. Es kam mir so fremd vor. Das lag aber wahrscheinlich daran, dass ich in der letzten Zeit kaum mehr hier, sondern bei Lovis geschlafen hatte. Die Zahnbürste sah mittlerweile schon ein wenig in Mitleidenschaft genommen aus und ich sollte sie bald mal wechseln. Die Zahl der Kondome hingegen hatte sich nicht verringert. Von links kam ein Arm an.

„Kuscheln“, grummelte es an mein Ohr.

Ich wuselte dem schönen Jungen in meinem Bett durch die Haare. „Voll schön, dass du nun auch mal bei mir geschlafen hast.“

„Tja, ich hab dich halt lieb“, murmelte Lovis schlaftrunken.

Ich legte mich auf seinen Bauch und kuschelte mich in seine Arme. „Ich dich mehr.“ Dabei gab ich ihm einen sanften Kuss auf die Wange. Mit einem Schlag war mir heiß geworden.

Lovis schien das aber nicht auf sich sitzen lassen zu wollen, reckte seinen Kopf kurz in die Höhe um mir ebenfalls einen Kuss auf die Wange zu drücken und flüsterte: „Ich hab dich mehr lieb.“

Wie bei den meisten Dingen, war das ein harmloser Beginn, sollte sich aber zu einem anstrengenden Spiel – oder besser harten Kampf? – entwickeln. Jeder von uns versuchte dem anderen zu beweisen, dass er ihn mehr lieb hatte, als der andere es tat, indem man einen Wangenkuss verteilte ohne dabei selbst einen zu kassieren. Da ich auf ihm drauf lag, hatte er die schlechteren Chancen und wir fingen an uns zu balgen und im Bett herum zurollen. Er umfasste meine Hände, vielleicht sogar ein wenig zu grob, drückte mir seinen Kuss auf und sprach triumphierend: „Ich, Lovis, habe ihn, Casper, mehr lieb. Und jeder, der dies anzweifelt, ist ein Clown.“

„Ich geb dir gleich Clown“, und ich versuchte mich mit meinen Beinen frei zu strampeln. Lovis blickte mich amüsiert an.

„Na, Klein-Casper? Kannst du dich nicht aus dem Griff von Lovis, dem Bezwinger, befreien?“

„Das schon, nur mit dem Gewicht von Lovis, dem Pummel, hab ich ein wenig Probleme.“ Ich kniff ihm in den Bauch. Dabei seufzte ich innerlich auf. Kein Gramm Fett, dafür ein harter Widerstand.

„Sag das noch mal.“

„Pummel!“, ja, ins Gesicht. Und noch mal: „Pummel!“

Ein weiteres Mal brachte ich es nicht heraus, denn Lovis hatte sich rasch zu mir heruntergebeugt und seine Lippen auf meine gelegt. Warm. So warm und weich fühlte sich das an. Langsam bewegten sich unsere Münder und wir begannen uns zu küssen. Ganz vorsichtig. Ganz sanft. Scheiß auf das Spiel. Soll er mich doch mehr lieb haben. Das hier war der wahre Sieg. Ich spürte seine Zunge meine Lippen entlang fahren, bis sie schließlich in meinen Mund wuselte. Ein ganzer Schmetterlingsschwarm rumorte in meinem Inneren, kribbelte durch meinen ganzen Körper und vor meinem inneren Auge sah ich sie aus meinem Mund heraus platzen, in den schillerndsten und buntesten Farben. Aber nichts dergleichen geschah. Unser Kuss wurde nicht unterbrochen und niemand von uns beiden drohte an einem Insekt, wenn auch ein sehr schönes Insekt, zu ersticken. Unser Kuss wurde inniger und ich merkte, wie er mit seinen Händen meinen Körper entlang fuhr. Dabei presste er seinen Unterleib gegen meinen. Ich wuschelte ihm durch die Haare. Immer wilder fuhren unsere Zungen herum, immer gieriger wurden unsere Finger, bis plötzlich....

...ich streife durch das ganze Land, ich suche weit und breit...

Verdammter Wecker, dachte ich mir und schlug ihn von meinem Nachtkästchen herunter. Lovis ließ von mir ab. „Nein, bitte, nicht aufhören“, jammerte ich, noch bevor ich verhindern konnte, dass es aus mir herausbrach.

Dieser lächelte mich nur an. „Tut mir leid, Casper, du hast Pikachu gehört.“

„Wir sollen durchs Land streifen?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, aber wir sollten trotzdem langsam in den Tag starten.“

Ich verschränkte beleidigt die Arme. „Wenn ich ein so schlechter Küsser bin, dann kannst du mir das ruhig sagen.“ Statt einer Antwort spürte ich Lovis Lippen auf meinen.

„Das wollte ich damit nicht sagen. Und nur weil wir nicht mehr im Bett knutschen, heißt das nicht, dass wir das nicht woanders fortsetzen könnten.“ Mit diesen Worten rappelte er sich auf, ließ seine Shorts fallen und schlenderte ins Badezimmer. Ich schaute ihm verdutzt hinterher, dann rannte auch ich ins Bad.


„Und bist du verliebt?“ Naziha schaute mich neugierig an.

Ich lächelte: „Ja, bin ich.“ Ich lehnte an einer Vitrine der Bäckerei in der Naziha arbeitete. Nach meinem Umzug in die Stadt hatte ich dort ein paar Wochen gejobbt, hab dann aber doch einen anderen Job vorgezogen. Trotzdem schaute ich immer wieder gerne vorbei.

„Das ist schön“, sprach sie mit ihrem bosnischen Akzent. „Sehr schön.“ Sie putze ein paar Bleche. „Weißt du, hatte ich auch Kollege, wo der hat genauso gehabt wie du. Auch verliebt und auch gestrahlt, genau wie du.“

„Naziha, ich weiß, dass du von Tamo redest.“ Der bediente gerade eine Kundin, schaute aber kurz in unsere Richtung und lächelte mich an. Tamo war süß. Nicht, dass zwischen uns mal was gelaufen wäre. Er hatte schließlich seinen Sam und sie waren ein wirklich zuckersüßes Paar. Und mein erstes mal mit einem Pärchen gemeinsam musste auch nicht unbedingt sein.

„Ach, und hat Tami immer geredet von die Sami. Ach, so viel, hab ich schon Kopfschmerzen bekommen an jede Tag“, sie lachte. Sie war einfach eine so liebe Person.

Da räusperte sich Tamo. „Ich glaub du hast Besuch, Casper.“ Ich drehte mich um. Vor mir stand eine Rose. Nein, falsch. Vor mir stand Lovis mit einer sehr langen Rose in Händen. Sie war wunderschön. „Ist die für mich?“

„Die war eigentlich für dich“, meinte Lovis. „Aber das war bevor ich wusste, dass so eine junge, schöne Frau hier arbeitet. Da geht die Rose selbstverständlich an sie.“ Und er hielt Naziha die Rose entgegen.

Die aber winkte ab: „Ach, nein, lass du mal, sonst kriegst du noch Ärger mit meinem Mann. Oder wir beide.“ Und so durfte ich dank Nazihas Freigiebigkeit doch meine Rose in Empfang nehmen.

„Sag du, Lovis, hast du nicht mehr Geld, dass nur für eine Blume reicht?“

„Naziha“, rief ich.

„Ja, und weißt du, weil Caspa redet immer von dir. Und hast du schöne Haare und ach hast du schöne Augen.“

„Naziha“, rief nun auch Tamo, dem bestimmt aufgefallen war, dass das alles Dinge waren, die er damals gesagt hatte.

„Gut, gut. Bin ich schon still“, sie zwinkerte aber noch einmal frech in meine Richtung, dann widmete sie sich dem nächsten Kunden.

„Wollen wir los?“, fragte ich peinlich berührt. Ich nahm Lovis Hand, winkte noch kurz und ging eilig davon.

Leider nicht eilig genug, denn hinter uns hörte ich Tamo mit Nazihas Akzent hinterherrufen: „Ach und Caspa, hast du wirrklich, wirrklich Recht gehabt. Ist er sehr schöne, junge Mann.“

Lovis lachte sich kaputt. „Nette Kollegen hast du da.“

„Ex-Kollegen“, zischte ich zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor. „Und ich kann´s nicht fassen, dass du meine Rose einfach weitergereicht hättest.“

Er streichelte mir über die Wange. „Das glaubst du doch nicht ernsthaft, oder?“ Ich zuckte mit den Schultern.

„Casper, du bist der einzige, dem ich Blumen schenken würde. Der Allereinzige. So einzig wie die Rose, die ich dir heute mitgebracht habe.“

So einzig sollte sie aber nicht bleiben, wie sich über die kommenden Monate herausstellte. Es sollte noch viele weitere Male geben, an denen ich durch spontane Blumengeschenke überrascht wurde. Mal eine Rose, dann aber auch immer öfter ganze Blumen-Sträuße. Von niemandem zuvor habe ich jemals Blumen geschenkt bekommen. Und insgeheim würde ich auch nie wieder von jemand anderem Blumen geschenkt haben wollen.


Der erste Kuss war schon ein Weilchen her und natürlich hatten wir seitdem auch immer wieder ein wenig Spaß zusammen. Doch über Sex hatten wir noch nicht gesprochen. Ich fragte mich, ob er keine Initiative ergriff, weil er wusste, dass ich noch nie mit einem Jungen geschlafen hatte und mir einfach alle Zeit der Welt lassen wollte. Und ich fragte mich, warum ich nicht einfach selbst die Initiative ergriff. Schließlich waren wir nun zusammen. Wir mussten einen genauen Tag zwar irgendwie ausknobeln, weil keiner von uns beiden so recht wusste, ab wann man sagen konnte, dass wir zusammen waren, aber seit Monaten war diese emotionale und auch körperliche Nähe und Vertrautheit so gewachsen, dass alles andere einfach keinen Sinn gemacht hätte.

Ab und an machte ich mir Gedanken über das Thema Sex, über das wie, wann und was. Verwarf das alles aber schnell wieder, denn wenn unsere Beziehung schon einfach so entstanden war, vielleicht ergab sich das mit dem Sex auch einfach so, im richtigen Moment.

„Hattest du einen schönen Abend?“, Lovis strahlte mich an.

„Ja, sehr.“ Und ich war tatsächlich noch immer wie verzaubert. Er hatte Karten für die Philharmonie gekauft. Ein japanisches Orchester, die konkreten Titel hatte ich zwar nicht mehr im Kopf, aber jedes Stück war sein Geld wert. Glaub ich zumindest, denn Lovis wollte mir den Preis nicht nennen. Zu Beginn war es mir immer unangenehm gewesen, wenn er mir Dinge ausgab für die ich sonst mein Geld nicht ausgegeben hätte. Oder nicht hätte ausgeben können. Doch seine Beteuerungen, dass das völlig in Ordnung ist und ich es mir gefallen lassen soll, drangen irgendwann durch, sodass mein Protest immer seichter wurde.

„Und das Essen war auch wundervoll.“ Leute, bevor ihr neidisch werdet, denke ich, ist es besser ich beschreibe euch nicht, wie unser Dinner in der Himmelspagode war. Aber wenn das Teil schon Himmelspagode heißt …. ja, muss ich nicht weiter ausführen.

Lovis legte seinen Arm um mich und ich kuschelte mich an ihn ran. „Das war wirklich ein schöner Abend, vielen Dank.“ Ich küsste ihn sanft. Erst zaghaft, dann immer inniger bis wir einfach wie wild herumknutschten. Ich half ihm dabei sein Shirt auszuziehen und leckte an seinem Hals herum. Meine Hände wanderten dabei zwischen seine Beine. Und während wir miteinander rummachten und uns gegenseitig verwöhnten, machte sich mein Mund selbstständig.

„Lovis, willst du … willst du mich ficken?“

Lovis hielt kurz inne. Er schien zu überlegen, ob er mich darauf ansprechen sollte, dass das gerade sehr platt von mir formuliert war, besann sich aber eines besseren und antwortete: „Bist du dir sicher?“

Ich reagierte nicht sofort, nickte dann aber. Das schien ihn nicht so ganz zu überzeugen und er wiederholte seine Frage: „Bist du dir sicher?“

Dieses Mal antwortete ich gar nicht, sondern küsste ihn einfach wieder. Und als hätte ich damit irgendetwas von ihm gelöst, wurden Lovis Küsse inniger und gieriger. Er zog eine Schublade auf und kramte etwas heraus. Er ging sehr vorsichtig und zärtlich vor. Nur für einen kurzen Moment spürte ich Schmerzen, dann gewöhnte ich mich an das Gefühl und begann es zu genießen. Ok, genießen war untertrieben. Ich fand alles, was in der darauffolgenden Stunde passierte unglaublich geil. Und ihm schien es nicht anders zu gehen. Völlig außer Atem lagen wir nebeneinander.

„Bist du dir sicher, dass du vorher noch keinen Sex hattest?“

Ich runzelte die Stirn. „Ähm, soweit ich informiert war, ja. Wieso?“, fragte ich unsicher.

„Casper, das war einfach unglaublich guter Sex. Wirklich. Und wäre ich jetzt nicht so fertig, müsstest du direkt noch mal hinhalten.“

„Ach, wie romantisch du das gesagt hast.“

Lovis lachte. „Na hör mal, wer hat hier vorhin vom Ficken gesprochen? Das hätte man auch mit ein wenig mehr Gefühl ausdrücken können.“

„Aber wir haben nicht miteinander geschlafen. Du hast mir einfach die Seele ausm Leib gevögelt.“

„Und du die Nachbarn aus dem Haus gebrüllt.“

Ich errötete. „Meinst du wirklich so schlimm?“ Darauf schwieg Lovis, nahm mich aber fest in den Arm und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.

„Kein Pokémon heute?“, flüsterte ich.

„Kein Pokémon heute. Heute bist du das einzige kleine Monster mit dem ich spielen will.“

So erschöpft wie er war, schien Lovis doch nicht gewesen zu sein. Wie spielten noch zweimal miteinander.


das Pokémon, um zu verstehen, was ihm diese Macht verleiht...

Lovis warf ein Kissen nach dem Pikachu. Es fiel herunter und verstummte.

„Ey, das ist nicht dein Wecker“, murmelte ich verschlafen.

„Er steht in meinem Zimmer.“

Ich wusste nicht genau, warum ich ihn Lovis mitbringen sollte. Aber irgendwie hatte er bei seinem letzten und bisher auch einzigen Besuch bei mir Gefallen an dem Wecker gefunden. Inmitten der stylischen, in edlem braun gehaltenen Möbel wirkte das grell-gelbe Pikachu ziemlich fehl am Platz. Wie ein bunter Ball in einem Schwarz-weiß-Film.

Ich streckte mich. „Sex?“, fragte ich unschuldig. Als hätte er es nicht gehört, sang Lovis die letzte Zeile, die das Pikachu von sich gegeben hatte.

Ich ließ mein Schlafshirt ein wenig hochrutschen. „Sex?“, wiederholte ich.

„Also manchmal bist du echt stumpf.“

„Das macht gar nichts“, entgegnete ich, kniete mich auf alle viere und streckte mich noch einmal katzenmäßig, so dass mein Hintern besonders gut zur Geltung kam. „Solange du einfach nur weiterhin spitz bist.“

Lovis seufzte, streifte seine Shorts herunter. „Sex,“ sagte er. „Mein kleines Pokémon.“ So viel zu Macht, grinste ich in mich hinein.

Auch dieses Mal dürfte ich die Nachbarn ziemlich unterhalten haben. Verschämt saß ich am Frühstückstisch, während Lovis Rührei machte. „Casper, ich hab nachgedacht und wollte etwas mit dir besprechen.“

„Ja, ich weiß, aber ich kann einfach nicht leiser, dafür ist es eben zu gut.“

„Was? Wovon redest du?“

Ich sah unbeteiligt weg. „Von nichts. Von dem, was du gerade sagen wolltest. Was war das noch gleich?“

„Ich wollte dich fragen, ob du Lust hast hier einzuziehen.“

Hatte ich das gerade richtig verstanden?

„Ich weiß, das ist ein großer Schritt und du sollst ihn dir auch gut überlegen. Aber ich fänds schön. Und so oft bist du auch gar nicht mehr in deiner Wohnung, also macht es eigentlich nicht so viel Sinn, dass du da weiterhin Miete zahlst.“ Er überlegte kurz. „Ja, und außerdem ist dein Pikachu ja auch schon hier einzogen, das kannst du nicht alleine lassen.“

Er hatte recht. Also nicht unbedingt mit dem Pikchua, aber mit allem anderen. Wirklich oft war ich nicht mehr Zuhause. Aber zusammenziehen? Solange kannten wir uns noch nicht. Was wenn damit die Probleme beginnen würden? Andererseits wohnten wir theoretisch sowieso schon zusammen und es ging gut. Aber wollte ich meinen persönlichen Raum aufgeben? Die vier Wände, die ich so eingerichtet und gestaltet hatte, dass ich mich dort wohl fühlte. Mein eigenes Daheim, das ich mir so sehr gewünscht hatte? Völlig frei sein, ganz allein Entscheidungen treffen können. Wollte ich das aufgeben um mit Lovis zu wohnen?

„Casper, bist du noch da?“

„Ja.“

„Gut, das Frühstück ist nämlich gleich....“

„Nein, ich sagte ja. Ja, ich möchte mit dir zusammen wohnen.“ Fast hätte Lovis die Pfanne fallen gelassen. ER stellte sie ab, rauschte um den Tisch und schlang seine Arme um mich.

„Solange ich hier auch nackt herumlaufen kann, wie daheim, ist alles gut.“ Wie ausdrücklich ich die Erlaubnis hatte, weil die Wohnung ab sofort auch mein Zuhause war, zeigte er mir auf dem Küchentisch. Als wir endlich zum essen kamen, war das Rührei kalt.


„Wie sehe ich aus?“

Lovis rückte meinen Hemdkragen zurecht. „Wie gemalt.“

Ich schaute ihn ungläubig an. „Das soll ein Kompliment sein um mich zu beruhigen? Ich werde gleich deiner gesamten Familie vorgestellt, und zwar nicht ganz gemütlich bei einem normalen Kaffee ohne Katze drin, sondern direkt an Weihnachten. Und du sagst mir ich sehe aus wie gemalt? Schon mal was von Picasso gehört?“

Er rieb seine Nase sanft an meine. „Sie werden begeistert von dir sein, glaub mir.“

In dem Moment wurde die Tür, eine Riesentür, wenn ich das mal bemerken darf, aufgerissen.

„Die knutschen ja“, rief eine Kinderstimme und lachte. Ein Junge grinste uns von unten an. Das Mädchen neben ihm verzog mit herausgestreckter Zunge das Gesicht. „Mama, die knutschen!“, plärrte sie durch den Flur.

„Ist da jemand neidisch?“, grinste Lovis und drückte dem Mädchen einen Kuss auf die Wange. Wie auf Kommando schlangen die beiden Kleinen ihre Arme um meinen Freund. „Vorsicht, ihr erdrückt mich ja.“

Lachend liefen die Kinder davon. „Süß die beiden“, bemerkte ich.

„Wart nur ab, da wo die herkommen, gibt es noch mehr.“ Er hatte nicht zu viel versprochen. Ich war noch nie wirklich der Weihnachts-Mensch. Lag vielleicht daran, dass Weihnachten zu Hause nicht immer so fröhlich und friedlich ablief, wie man sich das eigentlich wünschen würde. Dass Lovis aber ein absoluter Weihnachts-Fanatiker war, hatte ich schon wenige Tage vor dem ersten Dezember gemerkt. Ich betrat die Wohnung und wurde regelrecht geblendet von einer Kugelpracht. Na gut, das war übertrieben. Aber er hatte wirklich die gesamte Wohnung geschmückt mit Dekorationen aller Art. Überall zierten Lichterketten die Pflanzen, Fenster und vereinzelt ein paar Möbel und sorgten so für ein angenehm festliches Licht. Für mich hatte er einen riesigen Adventskalender gebastelt, für jeden Tag ein kleines Säckchen in dem wunderschöne Überraschungen waren. Die Adventstage verbrachten wir besonders ruhig bei Kerzenschein, Filmen bei denen man schön zusammen schmusen konnte und gutem Essen. Und nun waren wir irgendwo außerhalb der Stadt auf einem riesigen Anwesen mit Geschenken für gefühlt ein ganzes Dorf. Und fast so viele Menschen schien Lovis Familie zu beinhalten. Mir jeden einzelnen Namen zu merken, war mir nicht möglich. Und ich habe mich wirklich sehr angestrengt. Aber als wir gemeinsam um die lange Tafel saßen und die vierzig Sitzplätze gerade noch so gereicht hatten, war ich froh, dass ich zumindest ein paar Namen zu Gesichtern zuordnen konnte.

„Und Casper, erzähl doch mal. Wie macht sich mein Sohnemann so?“ Lovis Mutter blickte mich vom anderen Ende der Tafel an. Ebenso hatte ich nun von allen anderen Familienmitgliedern die ungeteilte Aufmerksamkeit.

„Na ja...“, wollte ich ansetzen, wurde aber direkt von Lovis Vater unterbrochen.

„Lass den langweiligen Kram direkt aus und komm sofort zu den delikaten Details. Kämpft ihr manchmal miteinander? Sind schon Teller durch die Gegend geflogen? Als mir der erste Teller um die Ohren geflogen ist, war ich gerade dabei einen Antrag zu machen.“ Alles lachte.

„Habt ihr schon geknutscht?“, wieder eine Kinderstimme. Lovis hatte recht, es gab wirklich viele Kinder hier im Raum.

Der Junge von vorhin, sein Name war Maxwell – ja, ich weiß, Maxwell – rief ganz aufgeregt: „Ja, vorhin. Und ich hab das sogar gesehen.“ Die anderen Kinder blickten ihn anerkennend an. Vereinzelt hörte man kichern und die Erwachsenen lächelten gutmütig.

Es dauerte ein wenig, bis ich tatsächlich zum erzählen kam, aber als das richtige Stichwort fiel, wusste ich welche Anekdote ich zum Besten geben konnte. „Pizza“, grinste ich.

„Oh nein, bitte. Es reicht, wenn eine Person mich damit aufzieht.“ Doch damit hatte Lovis den Teufel herauf beschworen und seine gesamte Familie riss sich nun darum zu erfahren, was es mit Pizza auf sich hatte. Also begann ich zu erzählen.


Lovis und ich hatten uns noch nicht oft gesehen, vielleicht zweimal, aber wir telefonierten viel. Ein Gespräch fiel allerdings kürzer aus als sonst.

„Na du, wie geht’s dir?“, fragte ich in den Hörer.

Am anderen Ende vernahm ich ein Ächzen. „Nicht gut. Ich bin krank. Ich hab alles und das ganz schlimm und niemand ist da, der mich pflegen kann. Außerdem hab ich Hunger.“

„Armer Lovis.“

„Ja.“

„Das tut mir leid, dann wünsche ich dir gute Besserung und hoffe wir können uns bald wieder sehen.“

Lovis schniefte. „Ich leg lieber wieder auf und leg mich hin. Ich hoff das ist ok.“

Natürlich war es ok und passte mir auch viel besser in den Kram. Denn in Windeseile griff ich nach Jacke und Schuhen und rauschte hinaus auf die Straße. Mein Lovis wollte etwas zum Essen, also sollte er auch etwas bekommen. Ich joggte zu den Bahnstationen, fuhr mit der schnellsten Verbindung in seinen Stadtteil und kaufte unterwegs zwei große Pizzen. So schnell mich meine Beine trugen, rannte ich zu Lovis Wohnung, damit die Pizzen auch möglichst heiß bei ihm ankamen. Mit pochendem Herzen stand ich vor seiner Wohnungstür und klingelte. Die Haustür stand praktischerweise offen. Ich versuchte meinen Atem wieder zu normalisieren und hielt erwartungsvoll die Pizza-Kartons in Händen. Im ersten Moment tat sich nichts. Dann hörte ich schlurfende Schritte. Die Tür öffnete sich. Ein kranker Lovis musterte ich von oben bis unten. Freudig strahlte ich ihn an. „Ich hab dir....“ doch er unterbrach mich.

„Ich hasse solche Aktionen“, und mit einem Knall schmiss er die Tür vor meiner Nase zu. Wie erstarrt stand ich da und musste erst mal realisieren, was da eben passiert war. Ich habe voller Euphorie und mit den besten Absichten für einen leidenden Jungen Pizza mitgebracht und wurde dafür angefeindet. Für einen Moment musste ich mit den Tränen kämpfen. Dann ließ ich mich auf dem Boden nieder. Der würde mich doch bestimmt nicht einfach hier vor seiner Tür lassen, wie bestellt und nicht abgeholt. Zugegeben, ich kam unangekündigt, aber … hallo? Freundliche Geste, lieber Mensch? Ich hasse solche Aktionen, schnaubte ich. Das ist keine Aktion, das ist ein Liebesdienst. Weil ich in dich verliebt bin, du Volldoofmann. Als hätte jemand meine Gedanken gelesen, öffnete sich die Wohnungstür. Ich rappelte mich auf und blickte Lovis in die Augen. Er blickte zurück. Und so sahen wir uns eine Weile an.

„Steh doch nicht so blöd da rum!“, blökte er.

Ich wurde aggressiv. „Sag mal, hast du nen Vollschaden? Du solltest dich freuen, dass ich mir gerade die Mühe gemacht habe und dir was zum Essen bringe. Aber stattdessen motzt du hier so rum. Meintest du nicht eben noch du hättest Hunger?“ Ich knallte ihm die Schachteln auf die nächste Ablage, machte kehrt und verließ das Haus. Trotzig stampfte ich vor mich hin. Unglaublich. Ich war schon eine ganze Weile gelaufen, da klingelte mein Handy.

„Du bist voll der Doofmann.“

„Ich weiß“, mampfte mir Lovis ins Ohr. Das ist doch nicht zu fassen.

„Isst du gerade meine Pizza?“, schrie ich ins Telefon.

Lovis ließ sich davon nicht stören. „Wieso deine? Die hast du doch mir mitgebracht.“ Ich legte auf. Doch keine zwei Sekunden klingelte es erneut.

„Was ist?“

„Was isst? Ich glaub die richtige Antwort auf die Frage wäre Lovis.“ Ich gab einen unmenschlichen Laut von mir, gepaart mit ein paar Flüchen und drückte ihn wieder weg. Wieder mein Handy.

Ein drittes Mal würde ich noch ran gehen, danach war Schluss. Dieses Mal sagte ich nichts.

„Casper, magst du zurück kommen?“ Seine Stimme hatte den Trotz und den Ärger verloren. Stattdessen klang sie ein wenig weinerlich.

Ich machte kehrt. Bei ihm angekommen, ließ ich mich erst mal ausgiebig knuddeln und hörte mir immer und immer wieder seine Entschuldigung an. Seine letzte Entschuldigung brachte er hervor, als ich entdeckte, dass beide Pizza-Schachteln leer waren.


Ich schmiegte mich an Lovis. „Meinst du ich habe einen guten Eindruck bei deiner Familie gemacht?“

„Bei meiner Familie ja, bei mir sieht es da anders aus. Sie werden sich wohl für jemanden entscheiden müssen. Dich oder mich.“

Ich nickte. „Mhm, ja, vielleicht. Und ich glaube der Ausgang der Entscheidung würde dir nicht gefallen.“ Lovis biss mir leicht in den Hals.

„Au, wofür war das.“

„Du hast noch viel mehr verdient. Diese Geschichte wird sich noch über Generationen hindurch in dieser Familie halten. Mein Ruf wurde geschädigt, das Ansehen unter den Kleinen zerstört.“

„Wollen wir ein klein wenig vorspulen zum Versöhnungs-Sex?“

Lovis Stimme wurde eisig. „Ja genau, mit all den kleinen Monstern im Haus? Es würde mich nicht wundern, wenn plötzlich eines von ihnen aus dem Schrank oder unterm Bett hervor kommen würde.“

Ich nickte. „Na gut, du hast recht. Aber wäre das erlaubt?“ Ich wedelte vor Lovis Augen mit einem kleinen Mistelzweig herum. Ich hielt ihn mir über den Kopf und mein Freund folgte dem Brauch. „DIE KNUTSCHEN JA!“, schallte es aus allen möglichen Verstecken im Raum.


2009

Ich stand in der Küche und kochte vor mich hin. Mein Freund musste bald nach Hause kommen. Keine Ahnung, was er genau in seiner Firma macht, aber sie nahm ihn sehr ein. Die Feiertage waren viel zu schnell vergangen, Neujahr war ebenfalls vorbei und eh wir uns versahen, war auch schon wieder Frühling. Da hörte ich die Tür zufallen. Ein Kopf lugte herein.

„Hallo Wuschel, ich hoff du hast Hunger mitgebracht.“

Lovis gab mir einen Kuss „Hmmm, das riecht aber lecker. Danke fürs Kochen, mein Clown.“

„Nenn mich nicht so,“ maulte ich und zog meine Mundwinkel nach ganz unten. „Ist dir Kasperle lieber? Oder süddeutsch: Kaschparl?“

Ich erhob feierlich den Kochlöffel. „Möge er mich König Casper von Melchior-Balthasar nennen.“

Lovis nahm mir den Löffel aus der Hand und rührte ein wenig herum. „Ähm, ja. Vielleicht auch nicht. Drei Königstag ist zwar schon ein bisschen länger her, aber scheinbar wurdest du so mit Weihrauch vollgedampft, dass dein Hirn dauerhafte Schäden davon getragen hat.“

Ich grinste: „Hast du die erwachsene Begleitung der Kinder gesehen, als wir beide Arm in Arm den Kleinen bei ihren Versen zugehört haben?“

„Ja, die hätten uns wahrscheinlich am liebsten verbrannt“, witzelte Lovis.

Apropos verbrennen. „Gib mir den Löffel. Du passt ja gar nicht anständig auf.“ Er trat zur Seite und ließ mich rumwerkeln. Wenige Augenblicke später hatte ich unser Essen gerettet, den Tisch schön gedeckt und durch die Luft ertönte schöne Entspannungsmusik. Was mich wunderte, war, dass mein Freund sich schon die ganze Zeit ziemlich still verhielt.

„So, lass uns essen“, und ich begann damit mir unser vorm Verbrennungs-Tod gerettetes Mahl in den Mund zu schaufeln. Lovis hingegen rührte sich nicht, sondern blickte mich nur verträumt an. Ich versuchte es zu ignorieren und aß unbehelligt weiter. Doch mein Blick kreuzte immer wieder den seinen. Emotionslos starrte ich zurück, monoton vor mich hin kauend. Er strahlte mich an. „Casper, weißt du noch damals an Weihnachten, als wir im Bett von den Kids überrascht wurden?“

„Wie das klingt. Überrascht hört sich so an, als hätten sie uns tatsächlich bei etwas erwischt. Dabei haben wir uns nur geküsst.“

Lovis ging darauf nicht ein. „Genau, als wir unter dem Mistelzweig lagen. In dem Moment wollte ich dir eigentlich zum ersten mal sagen, dass ich dich liebe.“

Ich hörte auf zu kauen.

„Ja, leider wurde dieser schöne Moment ein wenig gestört und dann habe ich immer wieder auf einen neuen, besonderen Augenblick gewartet, in dem ich dir meine Liebe gestehen konnte. Doch je länger ich darüber nachdenke, umso klarer wird mir, dass es keine besondere Gelegenheit dafür braucht. Nein, mit dir ist selbst jeder alltägliche Moment so besonders, so kostbar und wunderschön, selbst wenn du einfach nur für uns beide Essen machst und den Tisch deckst. Und deswegen möchte ich diesen Moment nutzen. Diesen Moment, in dem dir ein wenig Reis an der Wange klebt und du nicht gemerkt hast, dass ein Klecks Soße auf deinen Pullover getropft ist. Casper, ich liebe dich. Von ganzem Herzen.“ Er strahlte mich an.

Wärme breitete sich über meinen Körper aus. Keine unangenehme Hitze, keine feurige Schamesröte, sondern Geborgenheit und Vertrauen. Liebe.

„Ich“, ich schluckte, „Ich liebe dich auch. Ich kann jetzt leider aus dem Stegreif keine so tolle Rede halten wie du, weil ich kaum in Worte fassen kann, wie sehr ich dich liebe und wie du mein Leben bereicherst. Aber ich liebe dich auch.“

Wir beugten uns beide über den Tisch, einander entgegen und gaben uns einen innigen Kuss. Dann fing auch endlich Lovis an zu essen.

„Wo ist mein Ring?“, platzte ich in die Stille herein. Lovis zog belustigt die Augenbrauen hoch. „Dein Ring? Du trägst deinen Namen zurecht, an dir ist wirklich ein Komiker verloren gegangen. Wir wollen ja jetzt nicht direkt übertreiben.“

Ich schürzte die Lippen, als wäre ich gekränkt, zeigte ihm dann aber schnell, dass es nur ein Scherz war und aß zufrieden weiter. Er liebte mich. Mein Freund liebte mich. Sonderbar, diese drei Worte machten tatsächlich etwas aus. Auch wenn das Gefühl bestimmt auch vorher da war und mir eigentlich klar gewesen sein musste, dass er mich liebt oder ich es zumindest gemutmaßt hatte, so fühlte ich mich in diesem Moment plötzlich leicht. Leicht und sorgenfrei. Als könnte ich alles im Leben schaffen. Als gäbe es keine Enttäuschung, die ich jemals befürchten müsste, solange mein Freund an meiner Seite war.

„Casper, du weinst ja.“

„Zwiebeln. Das sind die Zwiebeln.“

Lovis legte den Kopf schief. „Mein Süßer, ich weiß, dass du nie Zwiebeln beim Kochen verwendest.“ Er erhob sich vom Stuhl, stellte sich hinter mich und umschlang mich mit seinen Armen. Sein Kopf war ganz dicht an meinem Ohr und er sang leise: „Ich lieb dich, du liebst mich. Lalala la lala la.“

Ich setzte ein: „Wir umarmen uns und ein Küsschen geb ich dir.“ Ich drückte meine Lippen sanft auf seine Wange. „Keiner ist so froh wie wir.“

Lovis strahlte. „Hey, sieh mal wie süß wir sind. Wir haben gerade zusammen ein kleines Lied erfunden. Ganz spontan.“

Ich kicherte. „Was redest du denn da. Du weißt doch bestimmt ganz genau, woher das kommt, was du da gesungen hast.“

Lovis richtete sich wieder auf. „Wieso? Das hab ich gerade selbst erfunden. Die Melodie und die Zeilen.“

Ich merkte, dass er es ernst meinte. Ich brach in schallendes Gelächter aus, während er mich nur verwirrt ansah. Wie süß kann ein Mensch sein. Ich bekam mich kaum ein und immer, wenn ich in seine verwunderten Augen sah, brach es wieder aus mir heraus. Dieses Mal würde ich die Tränen tatsächlich nicht auf die Zwiebeln schieben.

„Hast du´s jetzt so langsam?“

Ich versuchte mich zu beruhigen. Ich versuchte es noch nach drei weiteren Anläufen. Dann sah ich ihn ernst an. „Wuschel, dieses Lied stammt von Barney.“

„Du meinst von How I Met Your Massa?“ Autsch, ich hasste es, wenn Menschen kein anständiges „th“ sprechen konnten.

„Es heißt mother. Mother, mother, mother. Du musst das lernen, denn diese Serie ist meine Religion. Und nein, nicht den Barney. Ich meine den rosa Riesen-Dino, der immer mit den Kindern singt.“

Lovis schaute mich mit großen Augen an. „Was?“

„Ja, Barney. Der singt am Ende jeder einzelnen Folge eben dieses 'Ich lieb dich, du liebst mich, nen besseren Freund als dich gibt’s nicht'.“ Mein Freund hatte offensichtlich keine Ahnung, wovon ich sprach. Er sah mich nur ein letztes Mal süß an, murmelte verstohlen: „Das hab ich erfunden, nich son komischer Dinosaurier“, und räumte schließlich seinen Teller ab. Ich ließ die letzten Minuten noch mal an mir vorüberziehen und musste meinem Freund recht geben. Unser Alltag war besonders. Ich fühlte mich glücklich.


Lovis faszinierte mich mit seinem Weihnachts-Fimmel. Ich lernte, dass Weihnachten bei ihm nicht mit dem Entzünden der ersten Kerze begann. Oder mit dem ersten Türchen, das man öffnen durfte. Das gesamte Jahr über fotografierte er mit seinem Handy alle möglichen Dinge in den Geschäften, wenn er meinte, dass es sich als Weihnachtsgeschenk für eine bestimmte Person eignete. Dann speicherte er es in einem Ordner ab, wo all diese Fotos gesammelt wurden. Ebenso schrieb er auf seinem Computer bereits im Oktober den Text für Weihnachtsbriefe vor, die er dann handschriftlich auf schönes, verziertes Papier übertrug. Und jedes Mal, wenn man ihn darauf ansprach, bekam man die selbe Antwort: „Nach Weihnachten ist vor Weihnachten. Also ist eigentlich immer Weihnachten, nur die meisten Leute feiern es eben bloß einmal.“

Ich fragte mich, ob seine Begeisterung vielleicht etwas mit seiner Arbeit zu tun hatte. Seine Pflichten und Aufgaben nahmen ihn sehr ein und verlangten viel von ihm ab. Meistens kam er total erledigt und entnervt zu Hause an und war froh, wenn er sich dann um nichts mehr großartig kümmern musste. Nur wenn es irgendwas gab, was er mit Weihnachten assoziierte, dann schien er dafür über Extra-Kraftreserven zu verfügen und war wie ausgewechselt. Damit war nun nicht gemeint, dass man sich über Weihnachtskugeln unterhielt oder in welcher Ecke ein Baum am besten zur Geltung kam. Nein, er verband mit Weihnachten vor allem Anteilnahme und Liebe und das lebte er so gut er konnte. Jeden Tag.

„Aber um so zu sein, meinst du es ist dafür notwendig immer Weihnachten im Kopf zu haben? Ich bin doch auch fröhlich und fürsorglich, ohne, dass ich das mit Weihnachten verbinde.“

Lovis blickte mich an. „Ja, weil du besonders bist. Aber hast du nicht auch, leider, die Erfahrung gemacht, dass die meisten Menschen immer einen Anlass brauchen, um etwas bestimmtes zu machen oder zu empfinden? Wann wünscht dir jemand alles Gute? Zum Geburtstag. Aber kann man sich nicht auch einfach so mal im Jahr alles Gute wünschen und sagen, dass man an den anderen denkt und ihn gern hat? Ihn feiern will, weil man sich darüber freut ihn im Leben zu haben? Und so ist es mit den meisten Dingen und eben auch mit Weihnachten. Die Leute sind lieb zueinander, zerrüttete Familien raufen sich wieder zusammen und Freunde, die monatelang nichts voneinander gehört haben, geben ein Lebenszeichen von sich, eben weil Weihnachten ist. Und damit ich nicht so bin, versuch ich mir im Gedächtnis zu behalten, dass ich jeden Tag so begehe, als wäre Weihnachten. Dass ich allen meinen lieben Freunden und meiner Familie immer das schenke, was sie an Aufmerksamkeit und lieben Worten verdient haben.“

Seine Worte brachten mich zum grübeln. In gewisser Weise machte das, was er mir da sagte Sinn. Vielleicht nicht komplett. Aber … ich dachte nach. Wenn jeden Tag Weihnachten wäre, dann bräuchte man gar kein Weihnachten, weil jeder Tag gleich wäre und sich jeden Tag alle Menschen gern hatten und füreinander da waren.

Lovis unterbrach meine Gedanken. „Deswegen feiere ich keinen Valentinstag. Ich brauche keinen bestimmten, vorgegebenen Tag, um daran erinnert zu werden, meinem Freund etwas zu schenken. Ich möchte auch nicht, dass ich nur einen Tag im Jahr für ihn besonders gestalte. Ich möchte für ihn jeden Tag besonders machen. Jeden Tag zum Valentinstag. Würde es Valentinstag geben, und davon bin ich überzeugt, würden so manche Menschen öfter mitten im Jahr ihre Liebe beweisen.“

Ich pflichtete ihm stumm bei.

„Ach ja, bevor ich´s vergesse“, und Lovis kramte in seiner Hosentasche herum. „Frohen Valentinstag.“ Er hielt mir ein kleines Reclam-Büchlein entgegen.

„Oh, das ist super lieb von dir. Vielen Dank. Aber es ist doch Mai.“

Lovis lächelte mir zu. „Na und?“

Und damit hatte er Recht.


Wenn ich zurückdenke, so gibt es eigentlich kaum negative Erinnerungen. Klar, wir haben auch mal gestritten. Den absurdesten Streit hatten wir wegen Avocados, die Lovis ins Essen gemacht hatte in der festen Überzeugung, dass ich die lecker fand, was ich einfach nur vehement bestreiten konnte. Aber er wäre sich doch so sicher gewesen. Nein, kannst du gar nicht. Aber natürlich, er wüsste das. So ergab ein Wort das andere, bis wir uns schließlich anschrien wie die Bekloppten. Und das wegen so einem Stück Obst. Als gäbe es nichts wichtigeres. Aber in dem Moment war es wichtiger Recht zu haben. Wie bescheuert man als Paar manchmal sein kann. Heute scheint nicht mal der schlimmste Streit, den wir hatten, eine Rolle zu spielen.

Ich war für eine Woche weggefahren. Mittlerweile wusste ich nicht mal mehr, wo ich genau war. Ich konnte mich nur noch daran erinnern, als ich zurück kam.

„Hey, Wuschel. Dein Clown ist wieder zu Hause.“ Es war das erste und letzte Mal, dass ich mir selbst diesen fragwürdigen Kosenamen gab.

Lovis erwartete mich bereits im Wohnzimmer. Stürmisch begrüßte ich ihn, setzte mich auf seinen Schoß und strahlte ihn an. „Ich hab dich vermisst.“

Lovis blickte mich an. Eine Träne lief ihm die Wange hinab.

„Hey, was ist denn? Ist was passiert?“ Ich machte mir ernsthafte Sorgen. Lovis hatte vor mir so gut wie noch nie geweint. Außer einmal an seinem Geburtstag. Da hatte ich … aber egal, ich schweife ab. Er räusperte sich laut und schien sich zusammen reißen zu wollen.

„Ich muss mit dir reden“, flüsterte er.

Jetzt machte ich mir wirklich Sorgen. Da war man eine Woche mal weg und schon stand der Weltuntergang bevor?

Mit fester Stimme fing Lovis langsam an zu reden. „Casper, mein lieber Casper, ich hab etwas Dummes gemacht.“ Ich entgegnete nichts und wartete auf das, was kommen sollte. Aber eine böse Vorahnung schnürte mir alles zu.

„Casper, ich liebe dich.“

„Ja, ich weiß,“ antwortete ich.

„Und ich würde dir niemals weh tun wollen.“ Wieder lief Lovis eine Träne hinab. Mir ging es da nicht anders, denn ich konnte vorhersehen, was nun kommen sollte. Diese Szene sah man in allen möglichen Filmen und immer liefen sie gleich ab.

„Casper, ich wollte dir nicht weh tun, aber ich glaub ich hab wirklich scheiße gebaut. Ich hab einen meiner Exfreunde getroffen. Und eigentlich wollten wir nur was trinken....“ Mehr wollte ich mir nicht anhören. Ich rannte Richtung Haustür. Lovis rief mir noch hinterher, versuchte mich aufzuhalten, doch ich riss mich von ihm los.

„Warum willst du, dass ich mir das zu Ende anhöre? Soll ich mir wirklich anhören, dass du jemanden gefickt hast? Dass du nicht in der Lage warst eine Woche lang mal deinen Schwanz bei dir zu behalten? Wow, große Klasse. So sehr liebst du mich also. Weißt du noch, ich hab dich mehr lieb als du mich? Beschissenes Spiel, so viel dazu.“ Ich rannte hinaus und lief. Ich lief einfach, ohne recht zu wissen wohin. Mir war egal, wie die Leute sahen, dass ich weinte.

Irgendwann taten mir die Beine weh und ich ließ mich einfach auf die nächste Wiese fallen. Ich blickte auf mein Handy. Die Anrufe in Abwesenheit waren im zweistelligen Bereich. Nicht anders sah es bei den SMSn aus. Ich überflog die zahlreichen Zeilen 'Es tut mir so leid' und 'Komm wieder zurück'. Leck mich. Dabei lächelte ich kurz. Ein schöner Gedanke.

Das Lächeln verschwand aber sofort wieder. Ich blieb in der Wiese sitzen, fuhr mit meiner Hand durchs Gras. Und langsam kam ich zur Ruhe. Mein Atem regulierte sich wieder und auch das Gedankenchaos ebbte ab. Ich wollte dieses Bild nicht mehr im Kopf haben, wie Lovis, mein Lovis, in jemand anderem drin steckte. Ich wollte gar nichts im Kopf haben. Einfach nicht nachdenken müssen. Mich nicht scheiße fühlen müssen. Ein Schmetterling zog an mir vorbei. Er war sehr schön.


„Du bist nicht nach Hause gekommen.“

Wir saßen uns in einem Cafe gegenüber. Einem Cafe ohne Kopi luwak.

„Tatsächlich, war mir gar nicht aufgefallen.“

Lovis seufzte traurig. „Casper, du bist seit einer Woche nicht daheim gewesen. Ich mache mir Sorgen.“

„Eine Woche,“ ich machte ein nachdenkliches Gesicht. „Irgendwie erinnert mich dieser Zeitraum an etwas. Eine Woche. Ach ja, ich hab´s.“ Ich schnipste Wicky-like mit dem Finger. „Länger war nicht nötig, um zu vergessen, dass du einen Freund hast, der dich liebt und dir vertraut.“

Lovis wurde immer kleiner in seinem Stuhl. „Ich hab doch gesagt, dass es mir leid tut. Bitte, Casper, bitte komm wieder zurück. Ich … Ich habe Angst.“

Ich blickte ihn stumm an. Als ich nichts entgegnete, fuhr er fort: „Ich habe Angst, dich zu verlieren. Du bist mir so wichtig. Ich liebe dich wie sonst niemanden und ich wünschte ich könnte diese Sache, die dich so verletzt hat, rückgängig machen. Wenn es irgendetwas gibt, damit du mir verzeihen kannst, dann bitte, sag es mir. Ich würde alles tun.“

Ich rührte gedankenverloren in meinem Kakao. „Hast du noch Gefühle für deinen Exfreund?“

Lovis wurde hektisch. „Oh Casper, niemals. Ich liebe dich. Das mit ihm ist vorbei, schon lange. Ich weiß auch nicht, warum das passiert ist.“

„Es ist nicht 'passiert'. Du hast es gemacht.“

„Ok.“ Lovis atmete ruhig ein. „Du hast recht. Ich bin schuld, ich habe es zugelassen und mitgemacht und ich hätte es verhindern können und sollen und müssen. Aber bitte, bitte komm wieder nach Hause. Ich vermisse dich. Ich kann nachts nicht schlafen, weil du nicht neben mir liegst. Ich habe nicht mal Lust auf Pokémon, weil ich immer nur daran denken kann, dass der süße kleine Kopf auf meiner Schulter fehlt. Ich...“ Lovis fing an zu weinen.

Sanft streichelte ich ihm über seinen Handrücken. Er sah auf.

„Ich habe viel nachgedacht in den letzten Tagen. Du hast mich sehr verletzt. Und es tut wirklich immer noch weh.“ Lovis weinte ein wenig heftiger.

„Und ich hatte auch sehr viel Angst. Ich hatte Angst, dass ich dir nicht mehr wichtig genug bin.“

„Casper, nein, das darfst du nicht...“ doch ich brachte ihn zum schweigen.

„Ich dachte, dass ich dir nicht wichtig genug bin. Und dass du vielleicht für den anderen wieder etwas empfindest. Dass du mich nicht mehr liebst.“ Ich versuchte mich zu beruhigen, denn ich wollte nicht auch noch anfangen zu weinen. Ich räusperte mich.

„Deswegen frage ich dich, und ich möchte eine kurze, klare Antwort von dir haben. Ich möchte, dass du ehrlich antwortest. Also ich frage dich, ist dir unsere Beziehung wichtig und möchtest du, dass wir weiterhin zusammen sind?“

Lovis starrte mich an, als hätte er die Frage nicht verstanden. Dann aber nickte er. „Natürlich“, brachte er heiser hervor. „Nichts würde ich mir mehr wünschen, als dich weiterhin als meinen Freund in meinem Leben zu haben.“

Ich atmete tief ein, atmete aus. Dann fuhr ich fort: „Ist es nicht komisch? Wir waren all die Monate glücklich. Schon ein bisschen länger als ein Jahr nun. Und bei einem solchen Vorfall stellt man auf einmal alles in Frage. Ich habe viel nachgedacht und ich kam zu dem Schluss, dass ich nicht möchte, dass ein solcher Vorfall die vergangene gemeinsame Zeit relativiert. Dass wir diesem Fehler, den du begangen hast, mehr Bedeutung beimessen, als all den schönen Erinnerungen und unserer Liebe. Denn letzten Endes ist es nur ein Fehler. Jeder macht Fehler. Und normalerweise werden Fehler auch verziehen. Wieso aber machen Paare grundsätzlich immer direkt Schluss, wenn es um Sex geht? Als wäre Sex alles. Letzten Endes geht es doch auch nicht um Sex, das ist nur so eine Ego-Sache. Nein, es geht darum, dass der andere etwas getan hat, was einen selbst verletzt hat. Und das kann alles Mögliche sein.“ Ich brach ab. Ich wollte nicht schwafeln, keine großartige Lebensweisheit verkünden.

„Was ich eigentlich sagen möchte, ist, dass ich dich liebe. Und mit dir zusammen sein möchte. Und dass wir es immer schaffen können unsere Probleme zu lösen. Wir müssen nur immer ehrlich miteinander über alles reden.“

Ich nahm einen Schluck Kakao. Lovis sah mich dankbar an. „Das heißt du verzeihst mir?“

„Das heißt, ich gebe dir die Chance dich so zu verhalten, dass ich dir verzeihen kann.“

„Danke“, flüsterte er und wischte sich über seine Wangen.

„Du schläfst heute Nacht auf der Couch.“

Mein Freund nickte schuldbewusst. Auf die Couch hatte ich ihn dann doch nicht verbannt. Schließlich hatte ich ihn mindestens genauso sehr vermisst, wie er mich. Und ich hatte gehört Versöhnungs-Sex soll einer der besten überhaupt sein. Und ich muss sagen, die Leute untertreiben.

Lovis kuschelte sich an mich.

„Hey, machs dir nicht zu gemütlich. Die Couch wartet schon auf dich.“

Lovis sah mich erschrocken an. „Muss ich wirklich? Also, ich meine. Natürlich gehe ich, wenn du das möchtest.“

Ich schüttelte den Kopf und schlang meine Arme um seinen Körper. „Nein, bleib lieber bei mir, damit du auch ja nicht noch mal auf dumme Gedanken kommst. Vielleicht sollte ich für dich eine Leine kaufen.“

„Ist das jetzt der Moment, wo du mir deine geheimen Fetische offenbarst? Nach etwas über einem Jahr? Man, damit liegen wir für ein Paar gut in der Zeit, oder?“

Ich überlegte. „Na ja, vielleicht sollten wir wirklich mal über Wünsche und Vorstellungen sprechen. Ich meine, wenn du doch jemand anderen gevögelt hast“, Lovis zuckte schuldbewusst zusammen. „Dann fehlt es dir doch scheinbar ein bisschen, oder? Vielleicht sollten wir auch mal Sex mit anderen haben.“

„Casper, nein, das möchte ich doch gar nicht. Oder, also. Möchtest du das denn?“

Unglaublich. Mein Freund war unglaublich. Die nächste Stunde machte ich ihm noch gespielt Vorwürfe, bis ich zu erkennen gab, dass man durchaus mal darüber nachdenken könnte. Manche Filme geben ja ganz nette Anregungen, was man so alles anstellen könnte, was einem zu zweit beispielsweise nicht so gelingt.

In dieser Nacht schliefen wir versöhnt oder zumindest friedlich ein. Irgendwann jedoch wurde ich geweckt. Es war noch stockfinster im Zimmer und ich wunderte mich wovon ich wach geworden war. Ein Geräusch. Es war ein Murmeln das an mein Ohr drang.

„Lovis, kannst du nicht schlafen?“

Ich spürte wie er mir einen Kuss auf den Kopf gab. „Doch, ich hatte schon geschlafen. Aber ich bin noch mal wach geworden, weil ich dir was sagen wollte.“

„Aha. Macht es nicht Sinn mir Dinge zu sagen, wenn ich selbst auch wach bin?“

Na ja, das bist du ja nun.“ Mein Freund war ein Genie. Ich verdrehte die Augen.

„Casper, ich wollte dir sagen, dass ich dich liebe.“ Das weiß ich doch. „Und dass ich dir nie wieder weh tun möchte. Egal was passiert, ich werde dich nicht mehr so verletzen. Und du brauchst auch keine Angst zu haben, dass du mir irgendwann nicht mehr wichtig wärst. Du wirst mir immer wichtig sein und deswegen werde ich für immer bei dir bleiben. Versprochen.“ Mein Herz machte einen Hüpfer. Doch bevor ich etwas darauf entgegnen konnte, war ich schon wieder eingeschlafen. Wie ahnungslos wir waren.


Die Zeit zog an uns vorüber und wir schafften es tatsächlich Lovis Sexkapade hinter uns zu lassen. Und eh wir uns versahen, stand auch schon wieder Weihnachten vor der Tür. „Nach Weihnachten ist vor Weihnachten!“, rief Lovis aus dem Nebenraum.

Ich stand in der Küche, zusammen mit einer Horde Kinder und einer Handvoll Erwachsener und gemeinsam bereiteten wir das Weihnachtsessen vor. „Ja, und das ist so in der letzten Zeit bei uns passiert“, beendete ich den Jahresrückblick. Lovis Fremdfick hatte ich dabei natürlich rausgelassen.

Ich unterhielt mich ganz gut mit Lovis Familie und fühlte mich angenommen und wohl. Irgendwann schallte dann der laute Ruf durchs Haus, dass das Essen fertig war. An der Tafel Platz genommen, erstaunte es mich, wie das Jahr zuvor auch, dass alle Familienmitglieder es geschafft hatten zu kommen. Andererseits kannte ich mich mit Großfamilien nicht aus und fragte mich, ob es vielleicht gerade da eher die Regel war, dass sich an Weihnachten alle einfinden, im Vergleich zu kleineren Familien.

„Pizza! Pizza!“, tönte es über den Tisch. Ich horchte auf. „Was?“

„Nein, Kinder, die Pizza-Geschichte kennen wir doch schon alle. Aber was wir alle ganz besonders gerne hören würden, wäre die Geschichte, in der ein Video vorkommt.“

Lovis ließ seine Gabel fallen. „Nein, Casper, das erzählst du nicht.“

„Ach, hab dich nicht so. Bei der Pizza-Geschichte kommst du doch schlechter weg. Außerdem gibt es da auch gar nicht so viel zu erzählen.“


Ich hatte erwähnt, dass Lovis diese besonderen Daten wie Valentinstag nicht mochte. Außer natürlich Weihnachten, was aber daran lag, dass immer Weihnachten war. Lovis Logik.

Dementsprechend machte sich mein Freund aber auch nicht wirklich etwas aus seinem Geburtstag. Er mochte es nicht, wenn Freunde ihm aus Zwang irgendeinen Scheiß zum Geburtstag schenkten, nur weil er Geburtstag hatte, ihnen aber nichts besseres eingefallen war. Und umgekehrt fand er´s doof, dass Leute nur zum Geburtstag etwas schenkten, wo jeder andere Tag genauso gut wäre. Ich ließ es mir aber nicht nehmen ihn zu seinem Geburtstag zu überraschen. Er kam von der Arbeit nach Hause und war eigentlich nur abgegessen. Von Feierstimmung konnte gar keine Rede sein. Zum Glück musste er für mein Geschenk nichts weiter machen als auf der Couch zu sitzen und es sich gut gehen zu lassen.

„Casper, der Kuchen ist wundervoll. Wo hast du den gekauft?“

„Scherzkeks. Den hab ich selbst gebacken.“

„Selber Scherzkeks. Eine Backmischung ist nicht unbedingt das, was man unter selbst gebacken versteht.“

Oh, Vorsicht, da näherte er sich langsam der 'Humor muss draußen bleiben'-Zone.

„Lovis, ich habe noch nie eine Backmischung verwendet und ich werde auch nie eine Backmischung verwenden. Diese Donauwelle ist in stundenlanger Arbeit mit Mehl, Eiern und dem ganzen Krams entstanden. Ich weiß nicht, wie textsicher du beim Backe-Kuchen-Lied bist.“

Bevor ich weiter sprach, hob mein Freund beschwichtigend die Hände. Besser so. Letzten Endes war es natürlich ein Kompliment, das er mir nicht unbedingt durch die Blume gesagt hatte.

„Omnomnom“, Lovis leckte die letzten Krümel vom Teller. „Das war wirklich lieb. Danke, dass du dir eine solche Mühe gemacht hast.“

„Das hab ich gerne gemacht. Und jetzt lehn dich zurück, nun kommt nämlich noch dein Geschenk.“

Verwirrt sah Lovis mich an. „Aber ich dachte der Kuchen war mein Geschenk?“ Ich schenkte ihm ein Lächeln, entgegnete aber nichts mehr weiter. Ich schaltete den Fernseher an und schloss einen USB-Stick an und nach wenigen Augenblicken prangte ein 'Für Lovis' auf dem Bildschirm. Über seinem Kopf hatten sich jede Menge Fragezeichen gebildet. Ich setzte mich neben ihn, streichelte mit meiner Hand über seinen Rücken und betätigte die Play-Taste. Ein paar Kinder erschienen im Bild. Ich musste mir das Video nicht extra noch mal anschauen, ich wusste was zu sehen war. Ich hatte schon Monate vorher die verschiedensten Verwandten, außerdem enge Freunde und gute Arbeitskollegen darum gebeten mir ein kleines Video zu schicken, in dem sie Lovis zum Geburtstag gratulierten. Und das haben sie. Besonders seine Familie hatte sich Mühe gegeben, mit selbst geschriebenen Gedichten oder Liedern. Ein Teil der Familie hatte sogar ein Lovis-Theaterstück aufgeführt. Während das Video lief, beobachtete ich meinen Freund. Und tatsächlich war das der allererste Moment in dem ich ihn weinen sah. Zu Beginn versuchte er noch sich die Tränen nicht anmerken zu lassen. Doch irgendwann war es völlig um ihn geschehen und die Rührung ließ alle Dämme brechen. „Ähm, Pummel, du heulst mein Hemd voll.“

„Da musst du durch, es heißt doch in guten, wie in schlechten Zeiten.“

Auch wenn er mir eine gute Vorlage gegeben hatte, so verkniff ich mir wieder die Ringe zu erwähnen. Stattdessen schmiegte ich mich an meinen heulenden Freund und konnte dabei kaum mein Grinsen verstecken. Ich freute mich einfach ungemein, dass mein Geschenk so viel in ihm ausgelöst hatte.


Allgemeines Lachen erklang an der weihnachtlichen Tafel. Kein schadenfrohes Lachen, sondern einfach Freude. Freude darüber, dass das Geschenk, an dem sie alle beteiligt waren, so gut angekommen war. Ich legte diesen Gefühlsausbruch einfach mal als positiv aus.

„Aha, da lacht ihr also. Aber soll ich mal eine Geschichte von Casper erzählen?“, brummte Lovis in die Runde.

„Na da bin ich aber gespannt“, flüsterte ich ihm zu.

„Klappe. Es ist nämlich so, dass der Casper die ganzen Filme nicht mag, die ich kaufe. Er nennt sie Bull-Shit-Filme. Aber wenn Besuch bei uns da ist, wisst ihr welche Filme die Leute dann immer sehen wollen? Na? Genau, meine und nicht die von Casper. Da, was sagt ihr nun?“

Schweigen.

„Ähm, Schatz, reichst du mir mal die Kartoffeln?“, fragte jemand in die Stille hinein, was der Anstoß war sich wieder dem Essen zu widmen.

„Hey!“, rief Lovis aufgeregt. „Wieso lacht ihr denn nicht?“

Ich drückte ihm einen Kuss auf die Wange und verschwieg, was ich immer als Argument brachte, wenn wir von diesem Thema sprachen und was sich wahrscheinlich auch alle gerade am Tisch dachten. Die Filme, die mir gehörten, waren einfach so cool, dass sie auch schon jeder gesehen hatte. Lovis Filme hingegen waren unbekannt, weswegen sie logischerweise meistens die erste Wahl waren. Und ich schätze mal, die wenigsten äußerten danach ihre Enttäuschung vom Film.

Schmollend stocherte Lovis in seinem Essen herum.

„Apropos Film“, rief plötzlich Onkel So-und-so und kündigte an, dass nach dem Essen ein gemeinsames Filmschauen geplant war. Wir machten es uns alle gemütlich. „Tatsächlich... Liebe“ lautete der Titel. Ich hatte bereits von ihm gehört, aber noch keine Gelegenheit gehabt ihn zu sehen. Ein wirklich schöner Film, das konnte ich ohne Zweifel sagen. „Absolut kein Bull-Shit-Film. Kein Wunder, dass er nicht in deiner Sammlung steht“, flüsterte ich Lovis zu.

Besonders begeistert war ich, als die bekannten Klänge des Wet Wet Wet-Songs ertönten. Im Film wurde die entscheidende Textstelle zwar verändert, aber das konnte nicht verhindern, dass ich Lovis später leise im Bett ins Ohr sang:

I feel it in my fingers, I feel it in my toes. Lovis all around me and so the feeling grows.

„Das habe ich selbst erfunden“, kicherte ich. Als Antwort kam ein Grummeln zurück. Ich gab ihm einen Kuss auf seinen lächelnden Mund und ließ mich schließlich auch in den Schlaf sinken.


2011

Nur ich und du, in allem was ich auch tu....

Konnte das stimmen? Klingelte der Wecker gerade, obwohl wir noch nicht mal eingeschlafen waren? Ich blickte auf die Uhr. Krass. Einfach nur krass.

„Yeah, wieder ein neues Level!“

„Könntest du bitte aufhören das ständig zu sagen,“ stöhnte ich gähnend. „Wenn du ein Neues gefangen hast, dann ok. Aber nicht bei jedem kleinsten Ereignis Yeah, Antidot gekauft. Wuhuh, aufs Fahhrad gestiegen“, äffte ich. Lovis beachtete mich gar nicht. Er war viel zu sehr in sein Spiel vertieft. Genauso wie ich. Darauf hatte die Welt gewartet. Zumindest die Welt innerhalb unserer kleinen Wohnung. Eine neue Pokémon-Generation von Spielen hatte die Konsolen-Regale erobert. Ich hatte mir sofort die weiße Edition geholt, Lovis dafür die schwarze. Und nun saßen wir bereits seit Tagen noch bis spät in die Nacht an dem Spiel. Und ob ihrs glaubt oder nicht, unser Sexleben wurde dadurch nur besser. „Oh nein, was ist das denn für ein bescheuerter Name. Ach, wieso kann es nicht mehr so wie früher sein, als die Viecher anständige Namen hatten. Sowas wie Pummel.“ Lovis warf ein Kissen nach mir. Ich kroch ein wenig in seine Richtung und küsste ihn. Er ignorierte meinen erwartungsvollen Blick. „Casper, Süßer, wir hatten bereits drei Sexpausen. Das muss reichen, ich bin kurz davor mein Evoli zu entwickeln und noch ist es Nacht.“

Waren wir nicht süß? Selbst über und über mit Puderzucker bestreut, hätten wir den Süß-Faktor nur minimal vergrößert.


„Du weißt, dass ich das beim nächsten Weihnachtsfest erzählen werde.“

Ich war starr vor Schreck. „Nein, Lovis, bitte nicht.“

Lovis schüttelte belustigt den Kopf. „Sorry, mein Süßer, aber da musst du durch.“

Ich konnte es ihm nicht verübeln. Das gab tatsächlich eine gute Geschichte ab. Wir saßen in einem Restaurant um unseren Jahrestag zu feiern. Mittlerweile waren wir ja schon längere Zeit zusammen. Und irgendwie hatte ich es geschafft, ohne es zu bemerken, meine Speisekarte über die Kerze zu halten, sodass diese Feuer fing. Ich war ziemlich erschrocken und hatte nicht so schnell reagiert, wie mir lieb gewesen wäre. Gerade mal zwei Minuten da und schon hatte ich unseren gesamten Tisch mit Rußflocken eingesaut. Doch egal wie hoch die Flamme gelodert hatte, mein Kopf übertraf sie garantiert an Hitze und Farbe. Ich schämte mich in Grund und Boden.

„Ach ja“, Lovis sah mir tief in die Augen, nachdem der erste Schrecken wieder überstanden war und die Kellnerin unseren Tisch wieder sauber gemacht hatte. Ich wusste, dass ich ihr besonders viel Trinkgeld geben würde. „Wir werden wenigstens nicht langweilig, was?“, grinste mein Freund mich an. Ich lächelte unsicher zurück.

„Drei Jahre. Drei wunderschöne Jahre.“ Wir lächelten uns an. Großartige Lippenbekenntnisse waren in dem Moment nicht nötig. Wir mussten uns nicht gegenseitig erzählen, wie sehr wir einander liebten. Das konnten wir von den Augen allein ablesen.

„Was, wenn ich dir sage, dass diese kleine Feuershow eigentlich geplant war?“, fragte ich frech.

„Tatsächlich?“, Lovis blickte mich skeptisch an.

„Ja, ich dachte mir, bei dieser ganz besonderen Zahl, vielleicht könnten wir uns heute Abend ja auch ganz besonders die Zeit vertreiben. Und dafür wollte ich uns schon mal einstimmen. Könnte ja sein, dass es ziemlich heiß heute zugeht.“

Im Blick meines Freundes sah ich, dass er verstand, worauf ich anspielte und dass ihm meine Gedankenspielerei gefiel. „Und an wen hast du gedacht?“

„Leonidas!“, platzte es aus mir heraus. Lovis schaute erst überrascht, begann dann aber zu grinsen.

„So so, der hat es dir also angetan?“ Lovis nahm einen Schluck Wasser.

Ich murmelte verlegen. „Nein, nicht angetan. Aber, er ist einfach süß. Blasse Haut, treue Augen und seine blonden Haare erinnern mich irgendwie an Schafe.“

Lovis prustete in sein Glas. „Schafe? Das lass ihn mal nicht hören.“

„Wieso?“, protestierte ich. „Das ist doch voll das schöne Kompliment. Seine Haare sehen einfach so wollig-wattig-luftig aus und trotzdem sitzen sie perfekt.“

„Also ich würde bei deinem Kompliment eher an die Mutter oder die Oma aus der Serie 'Die Nanny' denken.“

Ich pustete mir die Haare aus den Augen. „Leonidas?“, fragte ich noch mal eindringlicher. „Ich meine allein wegen des Namens würde ich gerne Sex mit ihm haben.“

„Wir können ihn gerne für heute zu uns einladen. Aber ich weiß nicht, ob du so viel Freude an ihm haben wirst. Soweit ich weiß, wäre ich der einzige von uns beiden, der mit ihm … sagen wir kompatibel wäre.“

Pah. „Das werden wir noch sehen.“


Tatsächlich hatte es nicht viel Überredungskunst gebraucht, damit Leonidas auch mit mir kompatibel war. Ich hatte nicht viel Erfahrung mit Dreiern, aber nachdem wir uns fast dreieinhalb Stunden vergnügt hatten und vor allem ich mehr als nur auf meine Kosten gekommen war, konnte man diese Erfahrung wohl getrost auf die 'Haben'-Seite packen. Es war ziemlich interessant gewesen, nun auch mal einen anderen Jungen in mir zu spüren. Völlig außer Atem lagen wir drei angekuschelt und verschmust über und untereinander.

Leise murmelte der Junge mit den weich-wattigen Haaren: „Schade, dass ihr nicht öfter euer dreijähriges Jubiläum feiert. Ich wäre das nächste Mal gerne wieder eingeladen worden.“

„Ach, weißt du“, fingen Lovis und ich synchron an zu sagen. „Wir halten nicht viel von besonderen Anlässen oder fixen Daten. Soll heißen, das hier ließe sich auch an jedem x-beliebigen Tag wiederholen.“

„Wie wär´s mit Morgen?“, fügte ich hinzu. So sehr wie sich mein Freund und Leonidas dann allerdings an mir rieben, schien ihnen mein Vorschlag zu spät zu sein. Und wo ich recht überlegte, eigentlich war ich auch schon wieder ausreichend erholt.


Ich saß im Wohnzimmer. Mit verheultem Gesicht. Um mich herum war alles still. Wie eigentlich immer in letzter Zeit. Stille. Ich ertrug es nicht und stapfte ins Schlafzimmer, riss die Tür auf. Da saß mein Freund. Oder zumindest die Person, die ich für meinen Freund hielt. Er blickte nicht auf. Keine Reaktion ließ erahnen, dass er wusste, dass ich den Raum betreten hatte.

Ich schnappte mir ein Kissen und wollte es ihm an den Kopf werfen. Dabei traf ich allerdings nur Pikachu, der laut zu Boden fiel. Du, mein bester Freund, komm retten wir die Welt, dann war er wieder verstummt. So langsam gab er tatsächlich den Geist auf.

„Lovis.“ Keine Reaktion.

„Lovis.“ Er starrte weiter auf seinen Game Boy.

Ich schrie. Vor Wut und Verzweiflung begann ich einfach wie blöd zu schreien und warf mich auf ihn. „Rede mit mir.“ Ich haute mit geballten Fäusten auf ihn ein. „Du blöder Pummel. Du blöder, fetter Pummel. Wie kannst du nur so sein. Seit zwei Wochen hast du kein Wort mit mir gesprochen. Zwei Wochen. Und ich will endlich wissen, was los ist. Was habe ich getan?“ Die Tränen liefen mir die Wangen herunter. Da merkte ich, dass es gar nicht meine waren. Lovis hatte angefangen zu weinen. Ich umarmte ihn und streichelte ihn. So hilflos. Ich fühlte mich so hilflos. Im einen Moment haben wir noch fröhlich Pixars 'Oben' angeschaut, im nächsten behandelte er mich wie Luft. Ich vermisste seine Stimme und ich vermisste es zu hören, dass er mich liebte. Denn gerade fühlte ich mich auch nicht geliebt. Lovis hatte sich mittlerweile beruhigt. Er befreite sich aus meiner Umarmung, erhob sich vom Bett und ging auf den Flur. Ungläubig starrte ich ihm hinterher. Er ließ mich einfach hier sitzen. Doch bevor ich dazu kam wieder meiner Wut freien Lauf zu lassen, erschien er im Türrahmen. Er hatte seinen Mantel angezogen und hielt mir meinen entgegen. Ich folgte seiner stummen Aufforderung und gemeinsam gingen wir spazieren. Es war Herbst geworden, fast schon Winter. Unsere Mäntel trugen wir also zurecht. Normalerweise gingen wir immer Hand in Hand. Doch Lovis hatte seine Hände in seinen Manteltaschen versteckt. Ich ließ mich davon nicht beeindrucken und ließ eine Hand in seine Tasche gleiten. Meine Finger suchten die seinen. Die Erinnerung an den einen Abend im Zeltlager schoss mir durch den Kopf. Er wehrte sich nicht gegen meine Berührung und unsere Finger verschränkten sich. Warm war es in der Tasche. Ich hielt es für klüger ihm das Sprechen zu überlassen, sollte er sich nun doch dazu entschließen. Aber nach zwei Wochen Schweigen war alles und nichts möglich.

Wir gingen noch eine ganze Weile bis Lovis schließlich ein kurzes Räuspern von sich gab.

„Es tut mir leid.“

Ich wartete, doch er schien im ersten Moment nichts mehr sagen zu wollen.

„Was tut dir leid?“ Ich fühlte mich zu dem schrecklichen Tag zurückversetzt, als er mir gebeichtet hatte, dass er mich betrogen hatte. „Egal, was es ist, wir können darüber reden und dann wird es wieder gut.“

„Casper, es tut mir so leid.“ Ich begann zu weinen, ich verstand nicht, was ihm leid tat.

„Es tut mir leid, dass ich mein Versprechen nicht halten kann.“

„Welches Versprechen meinst du?“

Lovis holte tief Luft. Dann sagte er mit einem Seufzen, als würden die Worte für Erleichterung bei ihm sorgen: „Bei dir zu bleiben.“


Dass Lovis einen harten Job hatte, wusste ich. Ich bekam es tagtäglich mit, wenn er gestresst und völlig am Ende nach Hause kam. Was ich nicht wusste, war, dass sich bereits in jungen Jahren durch den Stress Magengeschwüre bei ihm gebildet hatten, wegen denen er auch bereits operiert worden war. Das war noch bevor wir uns kennengelernt hatten, deshalb hatte er mir nie davon erzählt. Doch vor kurzem bekam Lovis wieder Beschwerden. Er ging zum Arzt, und hoffte, dass ich von der ganzen Sache nichts mitbekommen würde. So einfach wie er es sich gedacht hatte, sollte es aber nicht werden. Von neuen Magengeschwüren musste er mir nicht erzählen, denn es hatte sich keines gebildet. Lovis hatte Krebs.


2012

„Casper, du hast noch gar nichts auf deine Liste geschrieben.“

Ich zuckte kurz zusammen. „Was? Ach so, ja. ich find diese Listen blöd.“

Er lächelte mich an. „Aber warum denn? Wir wollten uns doch aufschreiben, was wir noch alles besonderes machen wollten. Hier, ich hab eine Reise nach Disneyland aufgeschrieben.“

Ich nickte. „Ja, das klingt sehr schön und nach viel Spaß.“

Eine Träne. Da, noch eine. Sie sickerten in meinen Pullover. Die letzten Wochen und Monate hatte ich mich zusammen gerissen. Versuchte stark zu sein für meinen Freund. Für jeden Arztbesuch. Und auch als er mit der Therapie begonnen hatte. Wir mussten Weihnachten ausfallen lassen. Die Anekdote mit der brennenden Speisekarte musste auf sich warten lassen. Zwar sah die gesamte Familie von Lovis es als selbstverständlich an, dass sie zu ihm ins Krankenhaus kommen würden um für ihn da zu sein. Doch Lovis wollte nicht. Wollte niemanden sehen. Oder wohl besser von niemandem so gesehen werden.

Die Therapie hatte ihm arg zugesetzt. Den ganzen Tag war ihm schlecht von der Strahlung und den Medikamenten. Sein Mund war komplett offen und blutig, sodass ihm das sprechen schwer fiel. Dieses Mal machte ich ihm keine Vorwürfe, dass er mich anschwieg. Nachts wachte ich an seinem Bett und streichelte ihn in den Schlaf. Ich sang das Barney-Lied und Lovis all around. Er sah so friedlich aus mit geschlossenen Augen. Ich hoffte, dass er wenigstens im Schlaf zur Ruhe kam. Denn wenn er wach war, musste ihm alles wie die reinste Hölle vorkommen. Und trotz der Qualen, die er erleiden musste, blieb er der liebe, rücksichtsvolle Lovis, wie ich ihn kannte. Er musste verzweifelt sein, er musste Angst haben. Doch von all dem war nichts zu spüren. Er beschwerte sich nicht. Und er schien nicht aufzugeben. Täglich erwachte er, sichtlich geschwächt, aber dennoch mit einem Lächeln, das seine Mundwinkel umspielte.


Und plötzlich war alles vorbei. Die Therapie wurde abgebrochen. Oder sollte ich von der Mehrzahl sprechen. Lovis wurde nach Hause geschickt. Geheilt war er jedoch nicht.

Er blickte wieder auf mein leeres Stück Papier.

„Hast du mir nicht erzählt, dass du schon immer mal...“

Ich unterbrach ihn: „Lass es gut sein, Lovis.“

„Aber möchtest du nicht für deinen Wuschel....“

Da explodierte ich. „Wo siehst du denn bitte noch meinen Wuschel?“

Ich sah ihn betroffen an. Sah ihm in die Augen und ließ dann meinen Blick über seinen Kopf wandern. Es war ein ziemlicher Schock gewesen, als ich ihn an einem Abend streichelte und büschelweise seine Haare in der Hand hielt.

Traurig blickte ich ihn an. „Es tut mir leid. Das hätte ich nicht sagen sollen. Es war nicht so gemeint.“

Er nickte verständnisvoll. Ich wusste nicht, ob ich ihn dafür hassen oder lieben sollte. Wie konnte er so gefasst sein. So souverän. Dadurch kam ich mir so schwach vor. Dabei war es gar nicht ich, der krank war, sondern er. Doch statt dass ich voll und ganz für ihn da war, wünschte ich mir sehnlichst Unterstützung von ihm. Ich hatte Angst und war wütend und traurig alles dazwischen zugleich. Und dann kam er mit dieser bescheuerten Idee von einer Liste mit Dingen, die wir noch alle machen sollten, dabei war uns beiden bewusst, dass wir nicht eine Sache abhaken können würden.

Er schien meine Gedanken zu lesen, versuchte tief Luft zu holen, dann sagte er: „Du weißt nicht, wo der Sinn liegen soll? Dann hör mal gut zu, hier hast du deinen Sinn. Wir. Wir beide sind dieser Sinn. Bisher hat uns der Alltag gereicht, weil wir wussten, dass wir noch Zeit haben würden. Da war es egal, dass wir so viel Zeit vor dem Game Boy oder Zuhause verbracht haben. Ja, es war schön. Ja, es hat Spaß gemacht. Und wie ich damals sagte, liebe ich dich nach wie vor dafür, dass die gewöhnlichen Sachen durch dich zu etwas besonderem werden. Aber so haben wir uns davon abgehalten wirklich besondere Dinge zu tun. Nicht Dinge, die besonders sein können, weil man dafür sorgt, sondern Dinge, die es einfach sind. Und deshalb bitte ich dich, mir dabei zu helfen, dass wir noch ein paar davon gemeinsam erleben. Weil wir bisher zu wenig davon hatten.“ Er hatte es total sanft gesagt. Ohne Anspannung, ohne Druck.

Ich wollte nicht schreien. Ich wollte ihn nicht anfahren. Schließlich war er derjenige, der wirklich litt. Doch nachdem er noch immer so ruhig wirkte, während ich mich als kleines Häufchen Elend fühlte, verlor ich für einen Moment die Kontrolle über mich und konnte meine Gefühle nicht weiter im Zaum halten. Es brauchte keine Worte um zu erklären, warum ich heulte. Er wusste es ebenso gut, wie ich oder jeder andere. Ich sah ihn aus meinen traurigen Augen an, weinte noch immer. Ich legte mich sanft auf seinen Körper, der viel zu dünn geworden war und streichelte ihn. Sein Shirt wurde immer feuchter. Schließlich fing der Körper unter mir an zu zittern und zu beben und stimmte in meine Heulattacke ein. Es war zu viel für uns beide. Und es war nicht fair. Es war verdammt noch mal nicht fair, dass zwei so junge Menschen ihr Glück nicht genießen durften. Wir versuchten uns zu beruhigen, schafften es aber erst nach mehreren Anläufen.

Ich massierte ihm zaghaft den Nacken, versuchte dabei nicht zu sehr zu drücken.

Ich schluckte. „Die Ärzte sagten doch, du hättest keine zwei Monate mehr. Dass die Therapie nicht angeschlagen hat.“ Er fing wieder an zu weinen. „Dass sie dir nur ein bisschen Zeit schenken konnten. Oh Lovis, deine Idee mit den Listen mag ganz süß sein, aber findest du nicht auch, dass es etwas von Folter hat? Wir werden nicht mehr nach Disneyland fliegen. Nicht gemeinsam. Warum soll ich mir also nun den Besuch vorstellen und ausmalen, wenn ich letzten Endes nur enttäuscht werden kann?“

„Weil du dein Leben weiterleben musst. Weil du es weiterleben können und wollen musst. Für mich und für dich. Ich muss wissen, dass es dir gut gehen wird. Und dafür brauchst du Träume.“

Wieder schossen mir die Tränen in die Augen. „Aber mein einziger Traum bist du. Du warst ein wahr gewordener Traum. Und du hattest versprochen immer bei mir zu bleiben.“

„Ich weiß“, brachte er erstickt hervor.

„Du hast gesagt in guten, wie in schlechten Zeiten. Aber nicht bis der Tod uns scheiden würde. Das war nicht so geplant gewesen.“

Lovis nickte. „Und es tut mir so leid, das musst du mir glauben. Ich wollte dich niemals alleine lassen. Du bist ein so großartiger Mensch, den ich länger lieben durfte als ich mir erhofft hatte.“

„Drei Jahre“, schluchzte ich. „Drei Jahre.“

„Ja, drei wundervolle Jahre.“

Meinen ganzen Körper schüttelte es. Er versuchte mich mit seinen schwachen Armen ein wenig an sich zu drücken und ruhig zu halten. Eine Stunde lang konnte ich mich nicht beruhigen. Die Trauer ließ meinen Körper verrückt spielen. Erst war mir heiß, dann kalt. Bauchschmerzen plagten mich und ein Würgereflex unterbrach meine Heulattacke stellenweise.

„Ich werde nicht aufgeben“, stieß ich schließlich hervor.

„Danke, Casper. Das ist gut, dass du das sagst.“

Ich war aber noch nicht fertig. „Du darfst das aber auch nicht. Du darfst dir von diesen doofen Ärzten nichts sagen lassen. Wer sind die denn? Die kennen dich doch gar nicht. Die wissen gar nicht, wie stark du bist. Und du wirst es ihnen allen zeigen. Was sagten sie noch mal zu dir?“

Lovis sprach langsam: „Zwei bis drei Monate. Maximal vier.“

„Maximal? Nein, wir zeigen es denen. Mindestens vier Monate. Vier bis fünf. Und vielleicht sogar sechs. Dann wäre es Juli. Lovis, im Juli, weißt du was wir da machen?“

Lovis sah mich mit gemischten Gefühlen an. „Verrate es mir, mein Casper.“

„Wir feiern Weihnachten. Ich hatte dir kein Weihnachtsfest in der Klinik geschenkt und das tut mir leid.“

„Hey“, beruhigte er mich, denn ich fing wieder an zu weinen. „Du hast genug getan. Dass du all die Nächte an meinem Bett gesessen hast, das war das schönste Weihnachtsgeschenk, das ich jemals bekommen habe.“

„Schöner, als die Freikarten für das 'König der Löwen'-Musical, die ich dir letztes Jahr geschenkt habe?“

Lovis seufzte. „Mein süßer Casper, wir haben diese Karten leider noch nicht eingelöst.“

Trotzig schnappte ich mir einen Stift. „Wo ist deine Liste. Ich hab einen Punkt zum drauf setzen.“


Weihnachten im Juli. Wie verlegte ich Weihnachten in den Juli? Und wie sorgte ich dafür, dass bis dahin ebenfalls jeden Tag Weihnachten war? Ich wollte Lovis glücklich machen. Als sein Freund war es mir wichtig, ihm irgendwie ein letztes Mal etwas Besonderes zu schenken. Ich brauchte nur einen Plan. Dekoration, klar. Ich brauchte ganz viel Dekoration. Ich schmückte die Wohnung so festlich es mir möglich war und sicherte mir weiteren Schmuck um jede Woche die komplette Dekoration auszutauschen. Bestimmt gefiel Lovis die Veränderung, wenn mal alles in blau und lila und dann wieder in rot und gold gehalten war, wenn mal klassische Strohsterne und dann wieder mit Glitter vollgesprühte Rentiere ums Bett herum hingen. Der nächste Punkt auf meiner Liste war Musik. Ich besorgte mir quasi jede Weihnachts-CD, die ich zwischen die Finger bekommen konnte. Egal ob es ganz klassische Lieder waren, Pop-Hits mit Weihnachts-Thema oder die Stücke vom Ballett „Nutcracker“. Ich legte eine riesige Weihnachts-Datenbank an, sodass Lovis die Auswahl nie langweilig werden sollte. Außerdem Weihnachtspost. Ein paar Anrufe getätigt und ich hatte eine immense Telefonlawine ins Rollen gebracht. Ihre Botschaft war einfach: Schreibt Lovis täglich Weihnachtsbriefe. Diesen Aufruf machte ich an Lovis gesamte Familie, wie auch an alle anderen näheren und engeren Menschen in unserem Umfeld. Dazu orderte ich bei allen backwütigen Leuten die mir einfielen, Plätzchen. Plätzchen in den verschiedensten Ausführungen und Geschmacksrichtungen.

Was für ein Echo dadurch zurückkommen sollte, wusste ich gar nicht. Die Nachbarn der diversen Familienmitglieder wollten ihre Anteilnahme bekräftigen, indem sie sich bei den Projekten Briefe und Kekse beteiligten. Sie trugen es weiter in ihre Arbeitsstellen, in Kindergärten und Schulen. Lovis kam kaum mit lesen hinterher und mit essen sowieso nicht. „Jetzt werde ich vielleicht doch noch ein Pummel“, scherzte er. Ich lächelte nickend zurück. Die Wahrheit war jedoch, dass mein Lovis noch nie weiter davon entfernt war ein Pummel zu werden.


Die ersten Monate waren vergangen und Lovis hatte sich noch gut gehalten. Er wurde merklich schwächer, aber nicht so rapide, wie erwartet.

Ich hatte meinen Freund zu meinem persönlichen Vollzeitjob und Projekt erklärt und schob ihn immer wieder im Rollstuhl durch die Gegend. Wir fütterten Enten, wir fuhren mit irgendwelchen Kids in Einkaufswägen um die Wette und wir besuchten fast täglich Theaterstücke oder Konzerte. Wie das? Tja, Lovis Geschichte hatte sich mittlerweile so weit verbreitet, dass Besitzer von kleinen Szenelocations bis hin zu großen, renommierten Bühnen uns freien Eintritt sponserten um ihren Teil für Lovis tägliche Weihnacht beizutragen.

„Na, ist das schon besonders?“, raunte ich ihm leise zu, während auf der Bühne eine Frau wunderschön ihre Stücke zum besten gab. „Bestimmt singt sie gerade nur für dich.“

Lovis lächelte. „Ach hör doch auf.“ Gänzlich ausschließen konnte es jedoch keiner von uns. Denn manchmal machten die Menschen die merkwürdigsten Sachen. Es wurde April. Am ersten Tag hielt ich es für einen Aprilscherz, doch auch Tage danach hielt es an. Die Geschäfte in unserem Stadtteil hatten begonnen ihren Weihnachtsschmuck auszukramen und ihre Läden zu dekorieren. Die Kinder der nächsten Schule hatten sich inzwischen selbst etwas ausgedacht und organisierten sich in kleinen Weihnachts-Chören, die sich alle an einem anderen Tag vor unser Haus stellten und Weihnachtslieder sangen. Zugegeben, es hatte etwas ulkiges Weihnachtslieder zu hören, während draußen der Krokus blühte und Vögel aller Art durch die Gegend zwitscherten. Währenddessen konnten sich die verschiedensten gemeinnützigen Vereine und andere Organisationen nicht erklären, wie verschiedenste Unternehmen auf einmal dazu kamen mitten im Mai Weihnachtspenden zu verteilen. Nicht, dass sich jemand beschweren wollte.

Von all den Prozessen und Entwicklungen erzählte ich Lovis ausführlich. So ausführlich, dass ich manchmal vielleicht sogar ein wenig übertrieb. Aber in der Liebe war das erlaubt.

Die Woche darauf klingelte es an der Wohnungstür, weil uns ein Lebensvorrat an Kerzen zugeschickt wurde. Und parallel dazu konnte eine Suppenküche für Obdachlose ihr Angebot vergrößern, weil sie eine große Lebensmittelspende erhalten hatte. Tatsächlich, nach und nach wirkte es so, als wäre überall wo man hinkam das Weihnachtsfieber ausgebrochen und damit auch Mitgefühl und Spendabelkeit einhergegangen. Den Zustand von Lovis verbesserte es leider nicht, auch wenn er sich natürlich über die Neuigkeiten freute, die ich ihm vorlas oder erzählte.

Ich lag neben ihm, streichelte über seine Brust und beobachtete ihn beim schlafen. Er war immer schwächer geworden. Und bestimmt hatte er Schmerzen. Seine Medikamente schien er aber regelmäßig einzunehmen. Ich nahm seine Hand, drückte sie sanft. Dann suchte ich nach seiner Liste, die er vor ein paar Monaten begonnen hatte. Als ich sie las, wurde mir warm ums Herz. Nur in der ersten Zeile stand Disneyland, in jeder Folgenden stand immer wieder dasselbe:

Casper lieben dürfen, das Besonderste überhaupt.

Erst auf der letzten Seite erkannte ich meine Schrift. König der Löwen-Musical hatte ich ergänzt. Möglichst bald sollten Lovis und ich uns einen Tag aussuchen, an dem wir dann nach Hamburg fahren würden. Mit dem Zug war man ziemlich schnell da, das sollte funktionieren. Ich beobachtete meinen schlafenden Lovis, deckte uns beide noch mal extra schön zu und schloss dann selbst die Augen. Die Vorstellung mir mit Lovis noch tatsächlich das Musical anschauen zu wollen, hatte mir wohl gut getan, denn ich wachte völlig entspannt auf. Lovis nicht.


Der Schnee knarzte unter meinen Schuhen. Sie waren für diese Jahreszeit ein wenig zu dünn, weswegen ich an den Füßen fror. Für den Monat waren sie eigentlich normal. Es war Juli und niemand konnte es sich erklären, aber zum Monatswechsel hatte es geschneit. So sehr wie die letzten Wintermonate nicht mehr. Regungslos stand ich vor einem Grabstein.

„Ich wünschte du könntest das sehen,“ sprach ich. „Einen Monat hättest du noch durchhalten müssen, dann hättest du es dir selbst anschauen können. Die Leute sind völlig aus dem Häuschen. Und weil die meisten sowieso durch dieses Projekt Love is All Around, wie die Medien es getauft hatten, schon in vorweihnachtlicher Stimmung waren, werden morgen tatsächlich viele Leute Weihnachten feiern. Wenn man es denn Weihnachten nennen kann. Aber vielleicht ist es sogar besser als Weihnachten. Es ist nämlich nicht im Dezember und trotzdem denken die Leute aneinander, nehmen sich Zeit und beschenken sich mit vielen lieben Wünschen. Deine Familie hat mich auch eingeladen. Und ich denke ich werde hingehen. Es wird nicht leicht, aber …“, ich stockte. Der Gedanke allein das große Haus zu betreten, ein Ort, an dem ich noch nie ohne meinen Freund war, machte mir Angst. Ich zitterte und es lag nicht an der Kälte des Schnees.

„Ich vermisse dich“, flüsterte ich. „Wuschel, ich vermisse dich so sehr, dass es jeden Tag weh tut und ich nicht weiß, wann diese Leere wieder gefüllt wird. Ob das überhaupt jemand kann. Und weißt du was das Blödeste ist, du Obervolldoofmann? Wir haben in all den Jahren vergessen gemeinsame Fotos von uns zu machen. Kein einziges Foto bleibt mir als Erinnerung, obwohl unsere beiden Handys das drauf haben.“ Ich wischte mir die Tränen aus den Augen. Doch es brachte nichts, es kamen nur wieder neue hinterher. „Ich wünschte, du hättest noch bei mir bleiben können. Das Beste lag noch vor uns, da bin ich mir sicher.“ Ich kniete mich auf den Boden. „Es tut mir leid, dass wir wegen Avocados gestritten haben. Oh Wuschel, wir haben uns wegen Avocados gestritten. Wie viel Zeit wir damals hatten, ist das nicht absurd?“

Ich griff in meinen Rucksack. „Ich hab dir etwas mitgebracht. Damit du weißt, dass ich jeden einzelnen Moment in guter Erinnerung behalte. Und ich dich niemals, niemals vergesse.“ Ich begann wieder zu weinen. „Lovis, ich werde dich niemals vergessen.“

Ich liebe dich. Mit diesem letzten Gedanken stapfte ich davon durch den Juli-Schnee. Der Grabstein, der vor meinem Besuch noch einsam und verlassen im kalten Weiß hervorragte, hatte Gesellschaft bekommen. Eine rote Rose und einen grellgelben Pikachu-Wecker.

Nur ich und du, in allem was ich auch tu..


Epilog

Ob ich dieses Jahr Weihnachten feiern werde? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich niemals wieder wegen Avocados mit einer Person streite. Liebe ist zu kostbar um ihre Zeit so zu verschwenden.

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