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Feigling

Teil 1

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Lässig lehnte er an dem grün gestrichenen Pfosten des Wartehäuschens. Es war schon fast 22 Uhr und trotzdem fühlte er sich wacher als heute morgen.

Wenn er den Kopf ein wenig rauf und runter bewegte, konnte er das rote Licht der Ampel aus dem Augenwinkel auf der grünen Lackoberfläche reflektieren sehen. Wie ein Marienkäfer auf einem Grashalm wanderte es hin und her. Er lächelte als ihm der Vergleich in den Sinn kam. Marienkäfer fühlten sich wahrscheinlich nie so aufgeregt und durcheinander, wie er jetzt gerade.

Das Lächeln auf seinem Gesicht erstarb und mit zusammen gepressten Lippen zog er den Schal über den Mund. Es war nicht kühl, aber der Schal schien ihn vor unliebsamen Blicken zu schützen. Er sollte ihn nicht direkt erkennen.

Linda hatte gesagt: „Ich kenn dich Elia! Du bist nicht der Typ für ein Blind Date und auch generell kein Beziehungsmensch. Es gibt zwei Möglichkeiten. Erste: Du rennst davon, wenn er aus dem Bus steigt oder Zweite: Du servierst ihn direkt nach der Begrüßung ab.“

Zu bestreiten waren ihre Vorahnungen nicht, war doch schließlich jedes Date in etwa so gelaufen. Aber dieses Mal hatte er sich alles ganz genau durch den Kopf gehen lassen. Er war sich sicher.

Hunderte Male war er die erste Begegnung durchgegangen. Alles würde funktionieren. Er schien es zu fühlen und war so fest von seinem Handeln überzeugt. Diesmal war es sowieso ganz anders. Er hatte ihn nicht wie die anderen in irgendeinem Chatroom kennen gelernt, sondern durch einen Briefclub.

Die ersten Briefe schienen schüchtern zu sein und kurz, aber bald schon war er jeden Tag zum Briefkasten gerannt und hatte aufgeregt durch den Schlitz in das schwarze Innere gestarrt.

Alle paar Tage lag ein weißer Umschlag darin, der ihn aus dem Dunkel heraus anstrahlte. Jedes Mal musste er einige Minuten lang den Brief betrachten, bevor er ihn andächtig öffnete.

Was Simon schrieb war anders als alles, was er zuvor gelesen hatte. In jedem Brief spürte er Poesie und Anmut. Mit zitternden Fingern hatte er jeden einzelnen in eine kleine Schatulle gesteckt, um sie alle gut aufzubewahren. Es waren schon 26 Briefe.

Er wusste genau, dass er sich verliebt hatte und nun stand er hier am Bahnhof und wartete. Der Bus hatte Verspätung und langsam wurde er ungeduldig. Dann endlich konnte er von weitem die Scheinwerfer eines Fahrzeugs erkennen. Das musste der Bus einfach sein.

Mit beiden Händen schlug er die Kapuze über den Kopf. Das helle Licht blendete ihn und er musste einen Moment die Augen schließen. Als er sie wieder öffnete, hatte der Bus schon gehalten.

Mit einem Zischen öffneten sich die Türen und mehrere Personen stiegen aus. Er bemühte sich nicht zu auffällig hinüber zu sehen und lehnte weiter an dem Pfosten.

Da war er. Sein Herz hüpfte.

Er stand da und sah so verdammt gut aus. Groß, breite Schultern, ein schüchternes Lächeln auf den Lippen. Sein braunes Haar stand wirr von allen Seiten ab und seine schönen Augen musterten die Umgebung erwartungsvoll.

Elia spürte, wie seine Hände zu zittern begannen. Schnell wand er den Blick ab und starrte zu Boden. Simon hatte ihn nicht erkannt.

Langsam und unauffällig drehte er sich um und ging. Er wusste, dass Simon warten würde und dass er jetzt alles kaputt machte.

Das war nicht egal, aber so wie er ihn gerade gesehen hatte, war ihm klar geworden, dass es niemals funktionieren würde. „Er ist zu gut!“ , dachte er und verschwand in der Dunkelheit.

Simon stieg aus und blieb gespannt stehen.

Eigentlich hätte er sich gerne direkt bewegt, die müden Beine vertreten und sich den Bahnhof angesehen. Er mochte Bahnhöfe eigentlich, auch wenn sie oft etwas schmutziges an sich hatten. Trotzdem schien jeder Bahnsteig und jede Schiene, selbst die Wartehäuschen der Bushaltestellen kleine Geschichten von Abschied und Wiedersehen zu erzählen.

Wie viele Menschen sich wohl heute schweren Herzens verabschiedet hatten und wie viele von ihnen jemals wieder zurückkehrten?

Nun stand er selbst etwas verloren an diesem Ort und wartete auf eine Person.

Es war zwar kein Wiedersehen, aber doch seine eigene kleine Geschichte, die er hier an diesem Bahnhof hinterließ. Erst schien es so, als wäre niemand da, der auf ihn warten würde, doch dann sah er ihn. Er hatte den Schal bis über die Nase gezogen und die Kapuze bedeckte die blonden Locken. Er wusste genau, dass er es war.

Zu oft hatte er die Bilder angestarrt, die er geschickt bekommen hatte und zu oft war ihm eben dieses Bild in merkwürdig verzerrten Träumen erschienen, in denen es immer um Liebe und Einsamkeit ging. Er war zwar wild entschlossen, aber etwas schien ihn abzuhalten, direkt auf ihn zuzugehen.

Es war Elia, das sagte ihm schon allein sein aufgeregt schlagendes Herz, aber seine ganze Körperhaltung wirkte so verschlossen und ablehnend.

Und plötzlich geschah etwas womit er niemals gerechnet hätte: Elia schien in sich zusammenzufallen, drehte sich weg und verschwand einfach ohne ein Wort in der Dunkelheit.

Seine Brust begann zu stechen. Hatte er nur mit ihm gespielt? Aber warum war er dann überhaupt gekommen? War er nicht hübsch genug für Elia? Sein Kopf schien voll mit Watte zu sein, aber gleichzeitig schwer wie ein Stein. Zum ersten Mal wollte er sich auf etwas einlassen und nun stand er alleine in einer fremden Stadt, wusste nicht wohin und der nächste Bus zurück kam erst in über einer Stunde.

Wütend und unglaublich verletzt, ließ er sich auf einen Sitz nieder, verbarg das Gesicht in den Händen und dachte nach.

Dachte an die Briefe, die aufkeimenden Gefühle für einen Fremden, die Vorfreude und das Fiasko.

Und schon stand dort der Bus, der ihn nach Hause fahren und der ihn zu den Briefen bringen würde, die er mit feuchten Augen aus der Box nehmen und jede einzelne Zeile auf Vorzeichen oder Lügen studieren würde.

„Und du bist einfach gegangen, weil er gut aussah?“, flüsterte Linda über ihr aufgestelltes Buch hinweg.

„Ja, meine Güte! Wenn du ihn gesehen hättest, dann wärst du auch gegangen. Verdammt! Er sah wirklich so super toll wie auf den Fotos aus und kam mir total sympathisch vor.“ Elia musste sich zurückhalten, denn eigentlich hätte er die Worte gerne lauter und energischer herausgebracht.

„Ja klar! Er sieht gut aus, ist mal zur Abwechslung wie eigentlich 90% der Männer kein Arschloch und du findest ihn natürlich deswegen total bescheuert!“ Theatralisch wie sie immer war, verdrehte sie die Augen und schüttelte den Kopf.

„Jetzt kenn ich dich schon über fünf Jahre, Elia, und immer noch bist du mir ein Rätsel, was Beziehungen angeht.“

Genervt schlug Elia sein Buch zu und begann seine Unterlagen zu ordnen. Als er aufstehen wollte, hielt Linda ihn zurück: „Du willst doch jetzt nicht aus der Bücherei flüchten, nur um mir die ganze Sache nicht erklären zu müssen? Vergiss es! Erstens entkommst du mir sowieso nicht, schließlich kann ich viel schneller rennen und zweitens hast du versprochen mir bei meiner Geschichtsarbeit zu helfen. Also setz dich wieder!“

Elia musste sich geschlagen geben und ließ sich zurück auf den Stuhl gleiten. Immer brachte sie ihn dazu, den Mund aufzumachen und zu sagen, was er empfand.

Er hatte keine Wahl, denn er wusste, dass sie ihn mit der Sache niemals in Ruhe lassen würde. Und war nicht das gerade etwas, was er an ihr mochte? Dieses Gefühl nicht fliehen zu können und sich die Dinge einmal Auge in Auge ansehen zu müssen.

Sie brachte ihn zu Dingen, die er niemals alleine schaffen konnte.

„Also noch einmal zum Mitschreiben! Ich bin einfach nicht für Beziehungen geschaffen. Mein Talent besteht mehr in Zerstören als Aufbauen. Als ich Simon gesehen habe, wusste ich genau, dass dieses Treffen zu etwas führen würde. Er war so perfekt, dass ich ihm nicht weh tun wollte, indem ich später die Beziehung aus irgendwelchen Gründen auflöse. Du hättest den Glanz und die Aufregung in seinen Augen sehen sollen.“

Sein Blick wirkte entrückt, während er das sagte und Lindas Herz begann zu pochen. Nein, so war es noch nie gewesen, wenn er über einen Mann gesprochen hatte. Selbst seine Hände verrieten ihr, dass es ihm schwer gefallen war einfach zu gehen, denn sie krallten sich in die Seiten seines weiten Pullovers, wie ein kleiner Junge, der Halt am mütterlichen Rockzipfel sucht.

Sie fühlte Mitleid mit ihm, denn zum allerersten Mal begriff sie, dass er es wirklich nur gut meinte mit den Männern, die er sitzen ließ. Eigentlich hatte sie immer gedacht er würde mit ihnen spielen. Würde seinen Spaß daran haben begehrt zu werden und nicht zurück begehren zu müssen. Aber das war definitiv nicht der Fall. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm, irgendetwas war ihm zugestoßen, was ihn davon abhielt eine Beziehung zu beginnen. „Warum glaubst du, dass du alles zerstören wirst? Warum lässt du dich nicht einfach mal auf etwas ein und wartest ab? Es kann gar nichts wirklich schlimmes passieren!“, sagte sie und drehte den Kugelschreiber zwischen den Fingern. Mit seiner Reaktion hatte sie nicht gerechnet, denn eine kurze Zeit lang starrte er sie an, dann umfasste er ihre beiden Handgelenke und zog sie ruckartig an sich heran. „Du hast ja keine Ahnung, was alles passieren kann!“, zischte er und seine Augen sprühten Schnee, der sich auf ihre Haut legte und sie verbrannte.

Wie hinter einer Barriere aus Glas, durch die sie immer hindurch gesehen hatte, kam er ihr vor.

Nie hatte sie diese unsichtbare Mauer entdeckt, doch jetzt war sie geradewegs davor gelaufen. Wütend riss sie sich los, aber ihre Wut schien nur oberflächlich zu brodeln. In Wirklichkeit zitterte alles in ihr drin. Sie spürte, dass da etwas in Elia drin war, das sie berührt hatte, ohne es zu wollen und zu dürfen. „Fass mich nie wieder so an!“ Sie wollte, dass ihre Stimme gefasst und überheblich klang, doch alles was sie zustande bekam, klang gepresst und leise. Sie achtete nicht auf seinen schmelzenden Blick, auf die Tränen in seinen Augen oder seine hilflosen Versuche sie zurückzuhalten.

Er wusste, dass er sie verletzt hatte, obwohl er ihr keinen Grund dafür sagen konnte. Natürlich gab es einen, aber er wollte ihn nicht aussprechen, wollte ihr nicht sagen, was sie wirklich in ihm ausgelöst hatte. Schon wieder hatte er es getan. Schon wieder hatte er einen nahe stehenden Menschen wütend gemacht und vielleicht verloren. Er konnte sie nicht aufhalten, hatte resigniert. Wenn sie doch nur wüsste, wie früh er gelernt hatte, dass es nichts nützt jemanden aufzuhalten, wenn er geht. Eilig schob sie ihre Bücher in die Tasche und ging. Keiner von beiden sagte ein Wort. Aber es war gut so, denn wenn niemand etwas sagte, musste dies nicht unbedingt einen Abschied bedeuten. Linda ging den Flur entlang Richtung Ausgang. Sie blickte nicht zurück und erwartete auch nicht, dass er ihr nachlaufen würde. Dafür kannte sie ihn zu gut. Alter Sturkopf! Vor der gläsernen Eingangstür blieb sie stehen, die Hand schon auf der Klinke, bereit in die kühle Abendluft zu treten. Doch sie zögerte, drehte auf dem Absatz um und ging energischen Schrittes zurück. „Was dieser Kerl sich bloß einbildet!“, dachte sie.

Wie sie erwartet hatte, saß er immer noch am selben Schreibtisch, das Gesicht in den Händen verborgen.

Mit einem lauten Klatschen ließ sie ihre Geschichtsbücher auf die Tischplatte donnern. „Hast wohl geglaubt dich mit dieser kleinen, unnötigen Aktion vorm Lernen zu drücken, was? Das kannst du knicken, mein Freund. Beste Freundinnen wird man nicht durch solche Kindereien los. Also Kopf hoch und ran an die Arbeit.“

Ja, er wusste was er an ihr hatte, als er sie mit geschwollenen Augen anblinzelte. Sie war die Beste und es war wunderbar, dass sie ihm oft das Gefühl gab nicht einfach zu verschwinden. Aber trotzdem war ihm bewusst, dass sie ihn irgendwann doch allein lassen würde, da war er sich sicher. Menschen und die Beziehungen zu ihnen waren wie feiner Sand, der ihm, egal was er versuchte, zwischen den Fingern heraus rieselte. Wenigstens ließ sie sich nicht von ihm einschüchtern oder vergraulen, das hatte er schon oft genug erstaunt festgestellt und immer wieder wunderte er sich darüber, dass er sich überhaupt noch wunderte.

Es war erst knapp 8 Uhr am Morgen und Simon saß im Bus, der gemächlich dahin tuckerte. Er lehnte den Kopf gegen die kühle Scheibe und spürte bloß das Vibrieren des Motors. Er wollte nichts denken und das penetrante Kribbeln in seiner Stirn hielt ihn wunderbar davon ab. Nach einer knappen Stunde erreichte der Bus endlich seine Haltestelle und Simon stieg aus. Er rieb sich die Schläfen. Sein ganzer Kopf fühlte sich taub an.

Langsam ging er die Straße entlang, musste sich jedoch erst etwas orientieren. Als er zu einer Kreuzung kam, blieb er stehen und zog die Wegbeschreibung aus der Tasche. Er sollte nach rechts dem Straßenverlauf folgen und dann auf der linken Seite würde ein kleines weiß getünchtes Haus erscheinen. Er brauchte nur anzuklingeln und wenn sich die Türe öffnen würde, dann war er mitten in einem Date.

Einen kleinen Augenblick lang grübelte er, versuchte die Taubheit aus seinen Gedanken zu löschen, aber es schien nicht zu funktionieren. Es war nicht nur der Kopf, der sich taub anfühlte, sondern auch sein Herz.

Er musste einen anderen Weg wählen, drehte sich um und lief nach links in die Innenstadt hinein. In einem schönen Café setzte er sich in eine Ecke und bestellte einen Kaffee.

Die Kellnerin bedachte ihn mit einem koketten Lächeln, doch er beachtete sie überhaupt nicht, sondern nahm bloß die heiße Tasse entgegen, die sie ihm über den Tisch reichte.

Er wusste wie er auf Frauen wirkte, denn egal wo er hin ging, lächelten sie ihm zu oder versuchen auf eine andere Art einen Flirt mit ihm zu beginnen. Noch nie war er auf eine von ihnen eingegangen. Früher war es einfach eine innere Ablehnung, die er verspürt hatte, doch heute war es Elias Gesicht, dass ihm wie ein Blitz durch den Kopf schoss, als die zweifellos hübsche Kellnerin ihr Interesse gezeigt hatte.

Langsam trank er einen Schluck des heißen Getränks. Es wärmte seinen Körper von innen. Er schloss die Augen, lehnte sich zurück und versuchte zu entspannen. Der Lärm um ihn herum schien deutlich leiser zu werden und nur noch das Rauschen seine Blutes füllte seine Ohren. Sein Magen krampfte noch ein wenig und lächelnd dachte er, dass es falsch gewesen war gerade Kaffee zu bestellen. Aber nun war alles andere nebensächlich. Nur noch Entspannung, etwas anderes wollte er nicht.

Die Ärzte hatten ihm gesagt, er solle sich weniger aufregen und mehr auf seine Gesundheit achten, sonst hätte er mit Mitte zwanzig sicher schon ein Magengeschwür. Sie hatten ihm autogenes Training beigebracht, doch er hatte seine eigene Technik.

Spürte er das erste Anzeichen der Magenschmerzen, so lehnt er sich zurück und begann zu träumen. Das war viel besser als seinen Körper schwer und heiß werden zu lassen. Er ging lieber auf Reisen und erlebte in seiner Phantasie die schönsten Dinge. Seine Finger umschlossen die Tasse, die sich jedoch direkt in einen wunderbaren goldenen Kelch verwandelte. Er konnte die feinen Verzierungen mit den Fingern geradezu spüren. Er saß in einem Korbstuhl weit oben auf einer Klippe und konnte hinunter auf sein Phantasiemeer blicken. Es lag ganz still unter ihm und selbst der Wind blies kein Lüftchen zu ihm hinauf. Die Zeit in seiner Phantasie schien still zu stehen und genau das genoss er in vollen Zügen.

Er mochte die Zeit nicht besonders, denn sie verging viel zu schnell und ließ ihm keine Zeit Luft zu holen. Nur wenn er die Augen schloss und sich davon träumte, war es, als könnte er bestimmen wie schnell die Zeit verging.

Er schreckte erst auf, als die Kellnerin ihn ansprach. Ihre Stimme klang zuckersüß, als sie ihn fragte: „Kann ich dir noch was zu trinken bringen? Der Kuchen ist auch schon fertig. Warmer Kirschstreusel! Selbst gebacken.“ Sein Mund fühlte sich trocken an und seine Stimme klang gereizt, als er antwortete: „Nein! Ich will nur zahlen!“ Sie hatte ihn aus seinen Gedanken gerissen, gerade als er sich Elia an seine Seite träumen wollte.

Und plötzlich war das Ziehen im Magen wieder da. Elia! Er hatte vorgehabt ihn in seiner Phantasie zu sehen. Wie dumm konnte ein Mensch bloß sein? Er betrog sich selbst. Blinddates mit Männern, die er nicht anziehend fand, Träumereien, die niemals real wurden. Was kam bloß als nächstes? Würde er sich einen Hund kaufen und ihn Elia nennen? Das musste nun endgültig aufhören. Entweder er würde diese kleine Liebelei vergessen und einfach weiter leben oder er musste um seine Liebe kämpfen, um herauszufinden, ob Elia wirklich seine große Liebe war.

Vielleicht war er auch ganz anders, als er sich in den Briefen dargestellt hatte, aber das konnte er nur herausfinden, wenn er ihn wirklich treffen würde. Er würde ihn finden und dann zur Rede stellen. Er würde nicht locker lassen und erst gehen, wenn er einen vernünftigen Grund für Elias Ablehnung gehört hatte. Genau das würde er tun. „Entschuldigung? Was ist denn jetzt? Willst du zahlen oder nicht?“Die Stimme der Bedienung klang scharf.

Verwirrt starrte er sie an. Die Kellnerin hatte er völlig vergessen. Wie in Trance zog er einen Schein heraus gab ihn dem Mädchen und verließ das Café. Seine Schritte waren leicht und sein Magen fühlte sich voller kleiner Ringelraupen an. Würden es Schmetterlinge werden oder Fliegen? Das war erstmal egal, Hauptsache es war Hoffnung da, an die er sich klammern konnte.

Elia saß auf dem Bett, um sich herum alle Briefe offen verteilt. Neben ihm hockte Linda und starrte auf die Fotos, die Simon geschickt hatte. „Und er sieht wirklich so aus, wie auf den Bildern? Halleluja! Warum sind geile Kerle immer schwul?“ „Hör auf damit!“, blaffte Elia und zog ihr die Bilder aus der Hand. Er hatte ihr die Bilder und Briefe vorher nicht zeigen wollen, da sie für ihn kleine Schätze waren, die er nicht teilen wollte, doch jetzt war sowieso alles zu spät. Also warum der besten Freundin nicht das verlorene Glück präsentieren?

Niedergeschlagen ließ er sich zur Seite kippen und lehnte den Kopf gegen ihre Schulter. „Ich will nicht mehr schwul sein! Ich will dich heiraten!“, sagte er und rieb seine Stirn gegen ihren Körper. „Lass das, sonst machst du mir noch Hoffnung!“, kam es von ihr zurück. Einen Moment hielt Elia inne. War da eine Spur Ehrlichkeit in ihrer Stimme, die sie mit Spott verdecken wollte? Er richtete sich auf und blickte sie gerade heraus an.

„Was ist?“, stammelte sie und versuchte sich wegzudrehen, doch er packte sie und schloss sie in die Arme. „Du bist meine allerbeste Freundin! Wenn ich nicht schwul wäre, dann würde ich dich nehmen. Wirklich! Du bist schön, klug und einfach wundervoll, aber ich bin nicht für Mädchen geschaffen.“ Er konnte ihre Tränen im Nacken spüren und es schmerzte ihn selbst. Damit hatte er niemals gerechnet.

Was dachte er sich auch bloß? Sie war seine beste Freundin. Zusammen hatten sie unendlich viel erlebt und niemals hatte sie auch nur im Ansatz versucht ihn zu verführen. So war sie eben nicht. Im Gegenteil! Sie ließ nicht locker mit ihren kleinen Beziehungsratschlägen, die ihm helfen sollten das große Glück mit einem Partner zu finden.

Seufzend legte er seine Arme um ihre Hüfte und drückte sich an sie. Simon war weg und mit ihm war die Hoffnung auf die große Liebe geschrumpft. Nein, nicht bloß geschrumpft. Sie war verschrumpelt wie eine getrocknete Pflaume.

Langsam drehte sich Linda, sodass sich die beiden im Arm lagen und flüsterte mit erstickter Stimme: „Ich werde dir helfen dein Glück zu bekommen, mein Kleiner! Und denk immer dran: Ich bin da, egal was passiert!“ Ihr warmer Atem kribbelte in seinem Nacken und verursachte ihm ein flaues Gefühl im Magen. Doch er verscheuchte die wirren Gedanken, damit er die Umarmung genießen konnte. Es war nicht oft der Fall, dass jemand ihn in den Arm nahm.

„Wie willst du mir denn helfen?“, wollte er wissen und löste sich von ihr. „Weiß ich noch nicht!“ Ihre Stimme schien die Wahrheit zu sagen, doch auf ihrem Gesicht lag ein leichter Hauch von Ahnung und ihr Haar roch nach verrückten Plänen. Sie aßen noch zusammen ein Fertiggericht und dann verließ Linda seine Wohnung.

Wie sehr sie ihn doch manchmal bewunderte. Er lebte ganz alleine in einer kleinen Wohnung im Zentrum der Stadt. Nie beklagte er sich über den Lärm der Nachbarn, den stinkenden Hausflur oder das Alleinsein. Bloß die kleine gefleckte Katze, die der alten Frau im Erdgeschoss gehörte, teilte manchmal mit ihm das alte Schlafsofa. Auch wenn die kleine Bestie nur hin und wieder über das Dach und durch das Fenster geschlichen kam, war die ganze Wohnung voller weicher kleiner Fusselhaare, die nie mehr aus der Kleidung gingen. Wie oft sie das Tier wohl schon verflucht hatte. Auch jetzt klebten tausende feiner Haare an ihrem Wollmantel. Elia war nicht der ordentlichste Mensch, sodass sich die Haare auch oft zu Knäueln unter dem Bett sammelten, von daher war sie überrascht, dass er all die Briefe in einer alten Keksdose aufbewahrt hatte. Ordentlich gestapelt und mit einem Seidenband zusammen geschnürt.

Da war der Punkt gekommen, an dem sie endgültig begriffen hatte, was er wirklich wollte. Er hatte das lärmende, stinkende Haus und die haarige kleine Katze satt, sehnte sich nach mehr als nur denselben Dingen Tag für Tag.

Er wollte Aufregung, Spannung, Abwechslung, Liebe und Leidenschaft. Und trotzdem lebte in ihm ein Gefühl von Angst, dass ihm immer wieder Einhalt gebot, Beziehungen wirklich anzufangen. Er hatte Angst etwas Kostbares zu verlieren, wenn die Beziehung zu Ende gehen sollte.

Bloß was?

Sein Herz? Das Vertrauen in andere Menschen? Seinen Stolz? Sich selbst?

Sie konnte ihn nicht richtig verstehen und das kam eigentlich niemals vor. Linda kannte ihn einfach manchmal besser als er sich selbst. Das war ihr bewusst. Aber nichts erklärte ihr, warum er solch große Beziehungsängste besaß. Grübelnd stieg sie in ihr Auto ein und ließ den Motor an. Elia besaß wenige Freunde und wenn sie genau nachdachte, fielen ihr außer einigen Bekanntschaften von der Uni keine anderen Freunde außer ihr ein. Er hatte keinen Kontakt zu seiner Familie, das sagte er jedenfalls immer, wenn sie ihn nach ihnen gefragt hatte. Niemals erwähnte er sie freiwillig und es war noch nie vorgekommen, dass er etwas aus seiner Kindheit erzählt hatte. Immer wieder gelangten ihre Gedanken zu seiner Familie zurück.

„Daran muss es liegen!“, dachte sie während sie die dunkle Straße hinab fuhr. „In seiner Kindheit liegt des Pudels Kern. Etwas muss passiert sein, als er klein war, was ihn davon abhält, sich mit Menschen einzulassen.“ An den Männern lag es jedenfalls nicht, mit denen er hin und wieder eine Nacht verbracht hatte. Sie hatten ihn niemals abserviert. Da war er immer schneller gewesen.

Energisch legte sie den zweiten Gang ein, denn der Motor brummte laut auf und als ihr Blick auf den Tacho fiel, bemerkte sie, dass sie nur etwa 20 km/h fuhr. Wildes Hupen bestätigte ihr Tempo. Als sie in den Rückspiegel sah, konnte sie einen Mercedesfahrer erkennen, der schon ganz dicht aufgefahren war.

„Arschloch!“, schoss es ihr durch den Kopf und ohne groß nachzudenken stieg sie auf die Bremse und brachte ihren Wagen zum Stillstand. Die Reifen des Mercedes schrien auf, als der Mann ein Ausweichmanöver vollführte.

Lachend erwiderte Linda die Geste mit dem Mittelfinger, den der wütende Mann ihr entgegen streckte und ließ den Motor auf ein Neues an.

„Ihr bekommt mich nicht klein, ihr Männer! Egal welcher. Ich werde eure Geheimnisse schon noch entdecken.“

Simon saß in seinem Wohnzimmer auf dem Sofa, eine Decke fest um den Körper gewickelt. Das Wohnzimmer war sehr groß und es dauerte ewig bis der ganze Raum völlig beheizt war. Langsam zog er mit dem Finger die raue Struktur des Sofabezuges nach. Er mochte seine eigene Wohnung nicht. Wenn er sich umschaute, sah er viele neue und teure Dinge.

Seine Eltern hatten ihm die ganze Wohnung einrichten lassen, nichts hatte er selbst bestimmt oder eigenhändig getan. Schmerzlich wurde ihm bewusst, wie wenig er in seinem Leben erreicht hatte. Er lebte vom Geld seiner Eltern, ließ sich alles von ihnen bezahlen, aber selbst hatte er noch nie Geld verdient.

Dass seine Eltern ihn überhaupt hatten ausziehen lassen war ein Wunder gewesen. Immer wollten sie ihn beschützen, ihn wie ein kleines Küken mit ihren Hühnerflügeln bedecken und bewachen. Niemals hatten sie verstanden, dass er ein Mensch war und Menschen mussten Atmen. Luft war besonders wichtig für ihn. Freiheit, Autonomie, all dies waren tiefe Wünsche seiner Seele gewesen. Schon immer hatte er gespürt, dass er diese erdrückende Liebe nicht ertragen konnte und am Ende hatte sie etwas in ihm zerbrochen. Wie ein Schatten lagen die Ereignisse auf seiner Seele. Seine Finger glitten nicht mehr über den rauen Stoff des Sofas, sondern spürten den glatten Stoff des Autositzes. Ihm war, als wäre er wieder im Wagen seines Vaters und mit geschlossenen Augen drangen alle Bilder auf ihn ein. Schweigend starrte er auf sein eigenes verzerrtes Spiegelbild, das ihm traurig und leer aus der Scheibe entgegen starrte. Er konnte seinen Vater stur auf die Straße blicken sehen, aber er vermied es ihn in der Scheibe genau anzusehen. Seine Gedanken ließen sich nicht ordnen. Nie hätte er damit gerechnet, dass sein Vater so abweisend auf seine Bitte ausziehen zu dürfen reagieren würde. „Sieh dich an, du kannst nicht einmal dein eigenes Zimmer sauber halten und dann willst du schon ausziehen?“ Die Worte taten weh und schnitten ins Fleisch. Er wollte seinen eigenen Vater anschreien, ihn zwingen ihn ernst zu nehmen, aber all dies blieb ihm im Halse stecken. Seine eigenen Wünsche auszudrücken war ihm schon immer schwer gefallen und seinen eigenen Eltern zu sagen, er wolle ausziehen hatte einige Überwindung gekostet. Doch er wollte nicht ewig unter ständiger Kontrolle leben, wollte einfach mal selber für sich das Leben entdecken und auskosten, wollte endlich selber denken und handeln. Die Autofahrt war ihm perfekt erschienen. Sein Vater, mit dem er als erstes sprechen wollte, denn er glaubte, er würde die ganze Sache etwas gelassener aufnehmen, konnte nicht fliehen und musste ihm zuhören. Aber er erkannte, dass er nun der einzige war, der in die Enge getrieben war. Er kannte die Art seines Vaters. Simon hatte ein Thema berührt, dass als Tabu galt. Kein Kind wollte freiwillig von zu Hause ausziehen und wenn es diesen Wunsch äußern sollte, so war dies ein Zeichen für eine unglückliche Kindheit - so dachten wenigstens seine Eltern. Simon sah alles völlig anders. Er war alt genug alleine zu leben und gerade dieser Wille etwas allein schaffen zu können, musste ein Beweis dafür sein, dass seine Eltern ihn gut auf das Leben vorbereitet hatten und er somit der Welt dort draußen gewachsen war. Doch auch dies schien seinen Vater nicht zu überzeugen und so saßen sie schweigend im Wagen. Sicher würde sein Vater gleich damit beginnen eine belanglose Unterhaltung zu starten, aber er würde diesmal nicht antworten. Sein Körper fühlte sich ausgelaugt an und er wollte nichts als ausbrechen aus der Situation. „Im Radio läuft auch nur Mist! Hast du letztens diese Reportage von dieser drogensüchtigen Sängerin gehört? Meine Güte, als wenn ich nicht schönere Dinge hören möchte!“ Die Stimme seines Vaters drang nur gedämpft zu ihm herüber. Er war so unendlich enttäuscht von sich selbst und von seinem Vater. Hätte er doch anders angefangen oder sich einen besseren Ort ausgesucht. Hätte er doch zuerst mit seiner Mutter gesprochen, vielleicht hätte sie ihn verstanden. Hätte er doch einfach nichts gesagt und ausgeharrt. Hätte, hätte, hätte. Warum lehnten seine Eltern alle seine Entscheidungen so vehement ab? Glaubten sie wirklich noch, dass er nicht fähig war eigenständig zu denken? Zu jung war? Das Leben nicht kannte? Wie blind sie doch waren, eingehüllt in Illusionen, die ihren Sohn als kleinen, dummen Jungen zeigten. „Hörst du mir zu? Manchmal denke ich du träumst wirklich zu viel von Dingen, für die du nicht bereit bist!

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