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Hürdenlauf

2. Kapitel

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Ich sitze in meinem Zimmer. Vor einer Stunde habe ich meine Medikamente genommen, und mir ist übel. Manchmal kann ich nicht schlafen, wenn ich meine Tabletten geschluckt habe. Dann bin ich müde, komme aber nicht zur Ruhe. Das ist viel schlimmer als der Durchfall, den ich häufig habe.

Nebenan höre ich André, wie er seine Sachen in Umzugskartons verstaut. Helfen kann ich ihm nicht. Die letzten zwei Wochen sind zu schnell umgegangen, und ich fühle mich einsam, obwohl er noch gar nicht weg ist.

Alex nimmt zusammen mit Andrés Vater die Küche auseinander. Meine neue Küche wird in 4 Tagen geliefert. 10.000 EUR hat mich das gute Stück gekostet. Hinzu kommen eine neue Waschmaschine, ein neuer Wäschetrockner, Laminat für Andrés Zimmer, das am Dienstag verlegt wird. Meine Rücklagen sind geschrumpft, aber ich werde sie schon wieder aufgestockt bekommen.

Mir ist schlecht. Ich will mich nicht übergeben müssen. Ich fühle mich dann immer so krank. Natürlich bin ich krank, aber ich will mich nicht so fühlen.

Wenn es mir gut geht, kann ich manchmal sogar vergessen, dass ich es habe. Solche Tage sind häufiger geworden, seit ich mehr Sport treibe und etwas besser auf mich achte. Ich frage mich, ob das so bleibt, wenn André nicht mehr da ist, um auf mich aufzupassen.

Als ich in die Küche gehe, um mir ein Glas Wasser zu holen, stelle ich fest, dass die Spüle fehlt. Alex steht in einem Meer aus Brettern, die er sorgfältig mit Klebezetteln beschriftet hat, damit die Küche ohne Probleme in der neuen Wohnung wieder aufgebaut werden kann.

„Pass auf, da liegt der Beutel mit den Schrauben!“, warnt mich Andrés Vater, ohne mich anzusehen. Er kniet auf dem Boden und nimmt etwas auseinander, das mich stark an den Hängeschrank über der Spüle erinnert.

„Ich wollte nur ein Glas Wasser haben...“, murmele ich und bahne mir einen Weg durch das Chaos. Ich stütze mich mit den Händen ab und setze mich mit Schwung auf die Arbeitsplatte neben dem Ceranfeld. „Aber wie ich sehe, muss ich das wohl aus dem Bad holen. Ihr kommt gut vorwärts.“

„Müssen wir auch, Loki, die Küche soll spätestens morgen in der neuen Wohnung stehen.“

Auch Alex sieht mich nicht an, als er mit mir redet. Das Zerlegen des Geschirrschranks in seine Einzelteile scheint interessanter zu sein.

Ich rutsche von meinem unbequemen Sitzplatz, stakse aus der Küche, aufmerksam darauf bedacht, auf nichts zu treten, und gehe ins Bad. Meine hohlen Hände müssen als Glasersatz herhalten, da die Gläser schon alle ordentlich in Zeitungspapier eingewickelt in irgendeinem Karton verstaut wurden.

Ich will nicht, dass André geht. Er soll bei mir bleiben, mir mein Essen machen, mich an meine Medikamente erinnern, mich zum Sport motivieren, bei mir sein, wenn es mir dreckig geht...

Plötzlich wird mir bewusst, wie abhängig ich von ihm bin. Ich werde ohne ihn nicht zurrecht kommen. Es wird mich kaputt machen, weil ich uneigenständig bin. 23 Jahre alt, und hilflos wie ein kleines Kind!

Ich setze mich auf den heruntergeklappten Toilettendeckel, stütze das Gesicht in die Hände und fange an zu heulen.

Als ich ein Kind war, sind wir oft verreist, meine Eltern, Konstantin und ich. Jedes Jahr in den Sommerferien sind wir in den Urlaub gefahren, meist für 3 oder 4 Wochen. Oft waren wir in irgendwelchen teuren Hotelkomplexen, die Wellness für die Eltern und ein Ganztags-Animationsprogramm für die Kinder anboten. Das nutzten wir aber nur, bis Konstantin 12 und ich 6 war. Dann war es immer seine Aufgabe, auf mich aufzupassen. Wir verbrachten den Tag in den Poolanlagen oder mit unseren Eltern am Strand, kauften uns Eis von unserem Taschengeld. Trotzdem habe ich mich mit Konstantin nie gut verstanden. Ich war für ihn das nervige Anhängsel, und er war froh, dass er nicht mehr mit verreisen musste, als er 16 wurde. Er hat sich immer schon von der Familie entfernen wollen, was ich nicht nachvollziehen kann. Wir hatten alles, unsere Eltern waren nicht reich, aber bei weitem nicht arm. Wir wuchsen in einer schicken, zentralen Gegend auf, in einer großen, modernen Wohnung, bekamen genug Taschengeld, hatten immer neue Kleidung. Ich habe selten Klamotten von Konstantin auftragen müssen.

Trotzdem ist er abgestürzt, hat die Hauptschule schlecht abgeschlossen, ist aus der Lehre geflogen, seitdem arbeitslos. Er lebte lange auf Kosten seiner Freundin, mit der er eine zweijährige Tochter hat. Meine Nichte habe ich noch nie gesehen. Seit ich nicht mehr zu Hause wohne, gibt es so gut wie keinen Kontakt mehr zu meiner Familie. Ich habe mich eine Zeit lang bemüht und dann aufgegeben, als ich merkte, dass es keinen Sinn hat. Jetzt bin ich auf mich allein gestellt. Und wenn André weg ist, noch viel mehr.

Der große Umzugswagen ist voll. Es geht nichts mehr herein und ich frage mich, wie der ganze Krempel überhaupt hineingepasst hat.

André hievt den letzten Karton in mein Auto, dann schließt er den Kofferraum.

„Das war der Letzte“, keucht er. Er wirkt erschöpft. „Jetzt nur noch in die neue Wohnung damit, alles auspacken, aufbauen und dann fall ich tot um!“

„Fährst du mit dem Umzugswagen oder willst du bei mir mitfahren?“, will ich von ihm wissen, doch er hat schon die Beifahrertür meines Audis geöffnet.

„Ich will mit dir fahren.“

Andrés Vater fährt den großen Wagen, ich folge ihm mit dem Audi. An der neuen Wohnung werden wir auf Micha, Andrés Onkel, Alex' Vater, Achim, Colin und Lasse treffen, die sich alle angekündigt haben, beim Umzug zu helfen.

Lasse ist Andrés bester Freund, schon seit vielen Jahren. Sie kennen sich aus der Schulzeit und studieren zusammen Informatik. Nach den Semesterferien wird für beide das 10. und damit letzte Semester beginnen.

Andrés Bruder Colin ist 30, verheiratet und seit einem Jahr glücklicher Vater. Leider hetero. Auf keinen meiner Versuche, ihn doch noch dazu zu überreden, es mal mit einem Mann, mir, auszuprobieren, sind fehlgeschlagen. Aber man kann eben nicht alles haben.

„Ist mit dir alles in Ordnung? Du bist schon den ganzen Tag so still.“ Besorgt legt André die Hand auf mein Knie. „Es ist okay, dass du nicht mithilfst. Es ist zu anstrengend für dich, das verstehe ich. Und ich werde dich vermissen, das weißt du. Für mich ist das auch nicht leicht, immerhin hatten wir eine schöne Zeit.“

„Jetzt werd nicht melancholisch“, lenke ich ein, bevor sein Monolog noch in ein Seifenoper reifes Gesülze ausartet. „Du bist nicht weit weg, ich kann dich immer besuchen, was will ich mehr? Ich komm schon klar.“

Das ist natürlich nur die halbe Wahrheit. Sicher ist er nicht aus der Welt, aber die Angst ist immer noch da, allein nicht zurrecht zu kommen.

Das 5. Semester seines Studiums verbrachte André in den USA. Die Beziehung zu Alex war damals noch frisch, und wenn ich meine tägliche André-Mail las, erkannte ich sofort, dass es ihm nicht gut ging. Die beiden telefonierten häufig, anfangs täglich, dann wöchentlich. Als Alex Urlaub hatte, fuhr er für 3 Wochen nach Amerika, um André zu besuchen.

Ich wollte ihn nicht besuchen. Ich kam allein klar. Kochte allein, aß allein, räumte allein auf, das alles war nicht schwer. Allerdings nahm ich damals auch noch keine Medikamente...

Achim ist der erste, den ich auf dem Gehsteig vor Andrés neuem Wohnsitz erkennen kann. Ich verstehe mich nicht besonders gut mit ihm. Er redet zu viel und ist für mich einer der langweiligsten Menschen auf dem Planeten. Aber André mag ihn, die beiden kennen sich schon ewig.

Er winkt gerade den Möbelwagen in eine Parklücke, als mein bester Freund und ich aussteigen und ihn begrüßen.

„Hi, ihr zwei!“ Nur kurz dreht er sich zu uns um, lächelt, dann schaut er wieder auf das Umzugsmonstrum, dass endlich mehr oder weniger perfekt geparkt zwischen zwei PKW steht.

„Geschafft, der steht.“ Jetzt grinst Achim, rückt seine Brille zurecht.

Lasse lehnt an der Hauswand und raucht eine Zigarette. In der Hand hält er einen Motorradhelm. Micha muss ihn mit dem Roller abgeholt haben. Neben ihm steht Colin mit seinem und Andrés gemeinsamen Onkel, Micha hockt auf dem Boden, und Alex' Vater kommt gerade aus dem Haus.

„Die Tür hier unten können wir mit einem Holzkeil aufhalten“, verkündet er, als Andrés Vater und Alex aus dem Wagen steigen. „Und oben steht Daniel und passt auf, dass die Tür nicht zufällt. Am besten stellen wir gleich eine Kiste davor, dann kann er mit anpacken.“

Daniel? Mein ganzer Körper zuckt erschrocken zusammen, und ich fühle, wie ich kreidebleich werde. Fragend sehe ich André an, der weicht meinem Blick aus, schiebt sich an mir vorbei in den Hausflur.

,Das ist doch verrückt', denke ich und verwerfe den Gedanken, dass es sich bei dem Daniel, der oben an der Tür wartet, um meinen Daniel handelt. Ich öffne meinen Kofferraum, ziehe einen Karton heraus und trage ihn ins Haus.

Die neue Wohnung liegt im 2. OG eines schönen Altbaus. Die Treppe im Hausflur ist aus Holz, sie knarrt ein wenig, wenn man die Stufen betritt. Mir gefällt das Haus.

„Du kannst jetzt auch runter gehen, das hält schon“, höre ich André zu jemandem sagen, dann kommt dieser Jemand die Treppe hinunter. Ich sehe ein Paar Schuhe, zwei nackte Beine, gekrempelte Jeans, einen Ansatz T-Shirt, eine Hand auf dem Treppengeländer, Brust, Hals. Gesicht!

Erschrocken stolpere ich einen Schritt zurück. Aber da ist nichts, da geht es herunter! Ich merke, wie ich falle, lasse den Karton los, versuche, das Geländer zu greifen, doch da komme ich schon hart auf dem Boden auf. Erst mit dem Hintern, dann mit dem Hinterkopf. Irgendetwas schlägt mir gegen die Beine, auf den Oberkörper und ins Gesicht, mein Kopf tut weh und ein Schmerz zieht sich von meinem Steißbein durch meinen ganzen Rücken.

„Joni!“ Eine vertraute Stimme, hastige Schritte auf den Holzstufen treppab. Vorsichtig öffne ich die Augen. Blute ich irgendwo? Ich kann meine Füße bewegen, auch meine Arme gehorchen mir noch.

Daniel kniet neben mir und sammelt die Bücher und DVDs von meinem Körper, die aus dem Karton auf mich nieder geregnet sind, als die Kiste sich bei meinem Sturz öffnete.

„Bist du okay?“, fragt er.

Nein, bin ich nicht. Mir rutscht das Herz in die Hose, und überall spüre ich ein schmerzliches Kribbeln. Ich will weglaufen, weit weg, aber ich kann nicht.

„Was machst du hier?“, frage ich und schmecke Blut im Mund.

„Ich helfe André beim Umzug. Kannst du aufstehen?“ Als er besorgt über meinen Arm streichelt, ziehe ich diesen weg und setze mich auf. Mein Rücken schmerzt. Vorsichtig fahre ich mir mit dem Handrücken über den Mund. Ich blute, ich muss mir beim Sturz auf die Lippe gebissen haben.

„Kann mal jemand kommen, Joni ist gestürzt!“, brüllt Daniel durch den Flur. Dass er mich immer noch so nennt...

„Es ist okay!“, fahre ich ihn an, und ich weiß nicht einmal, warum ich so schroff zu ihm bin.

Er sieht gut aus. Hat an Gewicht zugelegt, was ihm sehr gut steht. Seine Arme wirken kräftiger, nicht mehr so schlaksig wie früher. Ob er trainiert? Seine dunkelbraunen Haare sind von blonden Strähnchen durchzogen.

Ich sehe Lasse, Alex, Colin und Micha die Treppe hinauf rennen, André und Achim kommen aus der neuen Wohnung gestürzt. André sieht mich an, die Augen geweitet. Er drängt Daniel beiseite, betrachtet mich überall, tastet hastig meinen Körper ab.

„Alles okay?“, will er wissen. „Kannst du alles bewegen? Tut dir was weh? Ruf mal einer einen Arzt!“

„André, ich brauch keinen Arzt, es geht schon“, versuche ich, ihn zu beruhigen. „Es waren nur ein paar Stufen, es geht mir gut.“

„Mein Gott, du blutest, wie ist das nur passiert?“ Seine Hände zittern, als er behutsam mein Gesicht befühlt und mir mit einem Papiertaschentuch, das er aus seiner Hosentasche gezogen hat, das Blut von der Unterlippe tupft.

„Wie viele Finger zeige ich?“ Er hält mir seinen Zeige-, Mittel- und Ringfinger vor die Nase.

„Drei“, antworte ich.

„Ist dir schwindlig?“

„Nein. Mir tut nur der Kopf weh. Und der Rücken ein bisschen.“

„Alex, Schatz, frag doch mal bei den Nachbarn nach Eis, Loki muss sich den Hinterkopf kühlen.“

Alex nickt. Ich fühle mich unwohl. Alle stehen um mich herum und starren mich an.

„Soll ich dir helfen, aufzustehen?“

André legt meinen Arm um seine Schultern, zieht mich vorsichtig hoch auf die Beine. Colin kommt, um mich von der anderen Seite zu stützen.

„Du machst heute nichts mehr, ich fahre dich nach Hause, da legst du dich ins Bett.“

„André, es ist alles in Ordnung mit mir. Wenn es dich glücklich macht, helfe ich in der Küche beim Schrauben sortieren, das ist nicht so anstrengend.“

Seine Augen glänzen feucht. Sehe ich da etwa Tränen?

André dreht sich weg.

„Wir müssen weiter machen“, murmelt er. Gerade kommt Alex wieder. Er drückt mir einen Kühlakku in die Hand, der mit einem Handtuch umwickelt wurde. Ich danke ihm, halte mir das Kühlelement an den Hinterkopf und lasse mir von Colin die Treppe hinauf helfen. In Andrés Wohnung setze ich mich auf den Küchenfußboden, lehne mich an der Wand an und schließe die Augen.

Warum hat André ihn hergeholt? Warum haben die beiden überhaupt noch Kontakt? Noch dazu hinter meinem Rücken? Ich fühle mich hintergangen und verarscht, und der Gedanke daran, dass Daniel hier herumläuft, nur wenige Meter von mir entfernt, macht mich wahnsinnig.

Gerade trägt er einen Karton in die Küche. Es ist die Kiste mit den Töpfen und Pfannen, es klappert auffällig, als Daniel sie abstellt. Seine Jeans ist eng, sie steht ihm und betont seinen festen Hintern sehr schön. Ich hole tief Luft und kneife die Augen zusammen.

Ich will das nicht!

„Es tut mir Leid.“ Die vertraute Stimme ertönt nah an meinem Ohr. Als ich die Augen öffne, sehe ich, dass Daniel vor mir hockt.

„Was tut dir Leid?“

„Wegen mir bist du von der Treppe gefallen... Das tut mir Leid.“

Er sieht mich direkt an. Und ich kann diesem Blick nicht ausweichen. Es ist so viel Zeit vergangen, aber ich kann mich immer noch nicht von diesem Jungen losreißen.

„Schon gut.“ Jetzt schaffe ich es endlich, den Kopf wegzudrehen und richte meine Aufmerksamkeit auf den Karton, den Daniel gerade hier abgesetzt hat. „Es tut schon gar nicht mehr weh.“

„Vielleicht ist es besser, wenn ich gehe... Es war eine blöde Idee, herzukommen.“

„Und warum bist du dann hier?“ Es klingt wie ein Vorwurf, obwohl ich gar nicht sicher bin, ob es einer sein soll.

Daniel seufzt tief, dann nimmt er neben mir Platz. Er schweigt, zieht seinen Ring vom Finger, spielt an ihm herum.

„Es ist wegen Achim“, antwortet er nach einer Weile.

Es tut weh. Irgendwo in der Brust sticht es, und ich bekomme keine Luft mehr. Ich will heulen, schreien. Mein Herz klopft wie verrückt, und meine Hände werden nass.

„Du und Achim, ihr seid-?“ Ich traue mich gar nicht, die Frage zu stellen. Ich habe Angst vor der Antwort.

„Waren.“ Krachend bröckeln in mir ganze Steinbrüche vom Herzen, ich atme erleichtert auf. Ich will etwas sagen, doch ich bekomme gerade kein Wort heraus. Aber das ist auch nicht schlimm, denn Daniel übernimmt das Reden für mich.

„Weißt du... Als es mit uns aus war, habe ich mich nach Geborgenheit gesehnt... Und Achim war da... Es hat nur ein paar Monate gehalten, wir waren beide nicht glücklich mit der Beziehung, aber wir sind gute Freunde seitdem.“

„Ach so...“ Richtig interessiert daran bin ich nicht. Ich fühle mich unwohl in der ganzen Situation. Zwischen uns herrscht eine Vertrautheit, die nicht angebracht zu sein scheint; es fühlt sich falsch an, hier mit ihm zu sitzen und zu reden, als sei nie etwas zwischen uns gewesen.

„Du siehst gut aus... Besser.“

„Danke.“

Warum können wir uns jetzt nicht mehr in die Augen sehen? Jeder starrt vor sich hin, und Daniel dreht immer noch den Ring zwischen seinen Fingern.

Die anderen Umzugshelfer, die Kisten, Kartons und Bretter in die Wohnung bringen, lassen uns in Ruhe. Wohl unter Anweisung von André. Erst, als Alex und Andrés Vater beginnen wollen, die Küche aufzubauen, müssen wir das Feld räumen.

Ich gehe hinter Daniel her, die Treppen hinunter. Er zieht zwei Stühle aus dem Umzugswagen, ich schnappe mir die anderen beiden, trage sie ins Haus. Daniel geht vor mir. Dieser Hintern...

Am liebsten würde ich die Stühle fallen lassen und ihn anfassen. Wer immer ihm dieses Outfit ausgesucht hat, hat einen ausgezeichneten Geschmack. Das enge, kurze, schwarz-weiße T-Shirt passt perfekt zur Jeans, die er bis zu den Knien hochgekrempelt hat. Was zwei Jahre nicht alles ausmachen können... Das, was mich vor zwei Jahren schon angemacht hat, ist jetzt so sexy, dass ich gern alles stehen und liegen lassen würde, um diesem Jungen ganz nah sein zu können.

„Loki!“ Ein Schrei reißt mich aus meinen Gedanken. „Stell das ab, du sollst doch nichts tragen!“

André schiebt sich an Daniel vorbei, nimmt mir die Sitzmöbel aus den Händen. Es ist mir ein bisschen peinlich, dass er mich so bemuttert. Auf der anderen Seite schäme ich mich dafür, mich nicht an seine Anweisung gehalten zu haben.

Den Rest des Tages verbringe ich auf dem Sofa, nachdem Colin und Achim es ins Wohnzimmer getragen haben. Die Couchgarnitur ist eins der wenigen Dinge, die André und Alex bei einem schwedischen Möbelspezialisten haben neu kaufen müssen.

Ich habe viel zu viel Zeit zum Nachdenken. Mehrere Versuche, einfach ein wenig zu schlafen, scheitern, weil zu viel gehämmert und gebohrt wird. Ich sehne mich nach meinem Bett oder einer ruhigen, einsamen Insel irgendwo mitten im Nichts...

Sauer auf André bin ich, weil er mir nicht gesagt hat, dass Daniel beim Umzug helfen würde. Sauer auf Achim bin ich, weil dieser Langweiler den Mann hat haben können, den ich geliebt habe. Und sauer auf mich bin ich auch, weil ich alle diese alten Gefühle zulasse.

Es ist schon dunkel draußen und die Küche ist immer noch nicht richtig aufgebaut. Alex flucht, weil er sich den Ablauf anders vorgestellt hat und André ist nur noch müde, hungrig und erschöpft.

„Wir müssen was zu essen kaufen, die Küche ist noch nicht fertig“, brummt Alex und lässt sich in den Sessel sinken. André nimmt neben ihm auf der Lehne Platz.

„Wir sind so weit gekommen, Schatz“, sagt er und drückt seinem Freund einen Kuss auf den Mund. „Ich fahre los und hole etwas vom Italiener, der hat noch eine Dreiviertelstunde geöffnet.“

„Was das wieder kostet...“

„Das Geld haben wir auch noch übrig.“

„Aber es muss nicht sein! Pro Person 5, 6 EUR, da sind wir schnell bei 60 EUR! Und was machen wir mit dem ganzen Essen, das wir geplant hatten? Die Pasta, die Saucen, das frische Fleisch, die Salate, das Baguette?“

„Das stellen wir kalt, und die ungekochten Nudeln halten sich doch ewig. Jetzt reg dich doch nicht so auf...“

„Ich reg mich aber auf!“

André ist verletzt, ich erkenne es in seinen Augen. Er hasst Streit mit Alex, es tut ihm jedes Mal weh. Ich kann nicht mit ansehen, wie er leidet.

„Alex, ich zahl das Essen“, schalte ich mich dazwischen. „Macht einen Zettel, ich fahre es holen.“

„Das ist doch Schwachsinn“, fährt Alex mich an. „Das können wir uns auch liefern lassen.“

Ich ignoriere ihn einfach, setze mich auf.

„Lasse, was willst du essen?“

Der hübsche junge Mann sieht mich verunsichert an, schaut dann Hilfe suchend zu André, der nur traurig mit den Schultern zuckt.

„Bolognese. Pizza Bolognese“, meint er, ich tippe die Information in mein Handy.

Micha nimmt Spaghetti mit Meeresfrüchten, Achim eine kleine Salamipizza, Colin entscheidet sich für Calzone mit Schinken und Champignons, Daniel wählt Tagliatelle mit 4-Käse-Soße, Andrés Vater möchte eine Pizza Arrabbiata mit extra Peperoni, Alex' Vater bleibt bei klassischen Spaghetti Napoli und Andrés Onkel sucht sich einen kleinen gemischten Salat und eine große Thunfischpizza aus.

„Und du, Alex?“, frage ich, als ich die Wünsche der anderen gespeichert habe. „Was möchtest du haben?“

„Salami“, brummelt er. Ich glaube, er ist immer noch schlecht gelaunt.

„Komm, André, wir suchen uns unsere Sachen unterwegs aus.“ Ich stehe auf und deute André an, mir zu folgen. Der erhebt sich mit gesenktem Kopf von seinem Sitzplatz, trottet hinter mir her.

Im Auto angekommen, bricht er endlich das bedrückende Schweigen.

„Du sollst das nicht machen“, seufzt er. „Das macht es nur noch schlimmer...“

Tränen laufen über seine Wangen. Er schnieft und wischt sie sich schnell weg.

„Wir wohnen noch nicht einen Tag zusammen, und schon fliegen die Fetzen. Was, wenn das jetzt so weitergeht? Wenn wir uns nach ein paar Wochen trennen, weil wir uns nicht mehr verstehen? Ich liebe ihn, ich will ihn nicht verlieren...“

Behutsam lege ich meine Hand auf sein Knie. Ich war noch nie ein guter Tröster, aber ich gebe mir Mühe, für meine Freunde da zu sein. Sacht streichele ich Andrés Bein, halte dann seine Hand fest.

„Ich glaube, es ist nur der Stress“, versuche ich ihn zu beruhigen. „Es war ein anstrengender Tag. Das gibt sich wieder, du wirst sehen.“

Ich lasse seine Hand los, starte den Motor; jedoch lasse ich meinen Fuß auf der Bremse. Mir brennt noch eine Frage auf der Seele.

„Warum hast du mir nicht gesagt, dass Daniel dabei sein wird?“

Ich kann ihm nicht in die Augen sehen, als ich ihm die Frage stelle. Ich schaue auf die Straße, schiebe den Fuß aufs Gaspedal und fahre los. „Und warum hast du mir nie gesagt, dass ihr noch Kontakt habt? Er ist mein Exfreund, muss so was sein?“

„Loki, es tut mir Leid...“

„Es tut weh!“

Die Ampel vor uns schaltet auf rot, fest trete ich die Bremse durch. Der Gurt drückt sich gegen mein Schlüsselbein.

„Ja.“ André klingt traurig. „Ich weiß... Ich bin ein Idiot.“

„Ja, bist du. Weil du mir den Kerl einfach so vor die Nase gesetzt hast! Und ich steh da wie so ein Blödmann und fall rückwärts von der Treppe, weißt du, wie peinlich das war?“

„Ja...“

„Mann! Du kennst mich, keiner kennt mich so wie du und dann leistest du dir so eine Scheiße!“

„Es war nicht richtig, es tut mir Leid...“

„Das sollte es auch! Mir tut der Kopf weh, und mein Arsch ist bestimmt ganz blau, und Daniel denkt, ich bin ein Volltrottel!“

„Ach was... Er hat sich genauso Sorgen gemacht wie wir anderen.“

„Er ist mein Ex! Und was zeichnet den Ex aus? Dass er der Ex ist, EX, Vergangenheit! Und den schleppst du mir an!“

„Fahr weiter, es ist grün...“

„Ich weiß!“

Ich glaube, er heult. Aber ich bin mir nicht sicher. Das Radio habe ich laut gestellt, und meine Konzentration richtet sich auf den Straßenverkehr.

Wir haben lange nicht gestritten. Eigentlich kommen wir gut miteinander aus. Doch Daniel unvorbereitet anzutreffen war einfach zu viel für mich.

„Vegetaria?“, frage ich André, als ich den Wagen vor der Pizzeria parke und aussteige.

„Spinacchi...“, seufzt er und schnieft.

Ich knalle die Fahrertür zu und stapfe in das Restaurant. Fast zwanzig Minuten muss ich warten, dann ist das Essen fertig.

André redet nicht mehr. Beim Essen wird geschwiegen. Alex und er sitzen nebeneinander, streicheln sich ab und an liebevoll über die Hand, tauschen Küsschen. Die Wogen scheinen sich wieder geglättet zu haben.

Daniel hat sich im Schneidersitz vor seine Tagliatelle platziert und futtert zufrieden. Ab und an sieht er auf, zu mir herüber, schenkt mir einen schüchternen Blick. Was hat das zu bedeuten? Flirtet er etwa mit mir? Jetzt schaue ich ihn an, ein bisschen zu lange, direkt in die Augen. Er weicht mir aus, blickt wieder her, weicht aus, wird rot, schiebt sich Nudeln in den Mund. Immer noch so schüchtern wie früher, süß!

Mein Körper stellt sich auf das ein, was er schon über tausend Mal gemacht hat: Eroberung! Ich will diesen Jungen, jungen Mann, haben, ich will ihn berühren, riechen, schmecken, hören, wie er stöhnt...

Meine Jeans wird eng.

Nach dem Abendessen schrumpft unsere kleine Runde. Alex' Vater fährt nach Hause und nimmt Achim mit, da dieser nicht weit von ihm wohnt, Micha bringt Lasse mit dem Roller heim, Colin, sein Onkel und sein Vater machen sich gemeinsam im Möbelwagen auf den Heimweg. Der Vater von Colin und André will den großen Umzugskoloss zurück zur Vermietung bringen, bevor es Mitternacht ist.

Übrig bleiben Alex, André, Daniel und ich. André sammelt die leeren Essensverpackungen in einen großen Müllsack, Alex spült das benutze Besteck in der halbfertigen Küche.

Müde sitze ich auf der Couch, mir gegenüber hat Daniel den Sessel in Beschlag genommen, streckt sich und gähnt.

„Auch müde?“, frage ich, er nickt. „Soll ich dich vielleicht nach Hause fahren?“

Er zögert mit der Antwort, zuckt mit den Schultern, sucht mit dem Blick im Raum herum, vielleicht nach einer passenden Erwiderung.

„Eigentlich wollte ich mit dem Bus...“, beginnt er zaghaft.

„Komm, ich fahr dich!“, will ich ihn überreden. „Dann musst du nicht alleine um die Zeit mit den Öffentlichen durch die Gegend fahren.“

„Ja... mhm... ja...“

„Na komm, zieh deine Schuhe an, ich werde dich schon nicht auffressen. Sieh es als... Versöhnungsangebot?“

Ich sehe ihm tief in die Augen, lächele ihn an. Seine Wangen werden dunkel, er schaut zu Boden.

„Mhm, also, na gut, dann fahr mich nach Hause.“

Sein Ring entpuppt sich auch im Auto wieder als perfektes Mittel, um daran herumzuspielen. Daniel wirkt nervös.

„Hier rechts rein, da kannst du anhalten“, sagt er und zeigt in eine Seitenstraße. Ich lenke den Wagen in die Straße, halte neben einer Laterne, schalte den Motor ab.

„Danke“, murmelt er und löst hastig seinen Gurt. Will er vor mir fliehen? Gerade will er die Tür öffnen, da verriegele ich durch Druck auf eine Taste das Auto und lege meine Hand auf seine.

„Hey!“ Ich fange seinen Blick ein, er kann sich nicht von mir abwenden. „Willst du schon gehen?“

„Joni, ich bin müde... Mach bitte die Tür auf...“

Ich beuge mich vor. Weiter, langsam, immer weiter... Er kommt mir entgegen, schließt die Augen, unsere Nasenspitzen berühren sich schon fast.

,Es ist zu gefährlich, du hast eine Wunde an der Lippe!', schreit mich eine kleine Stimme in meinem Kopf an. Mein Gewissen.

Aber es stimmt schon... Ich ziehe den Kopf zurück, entriegel die Tür wieder.

„Gute Nacht, schlaf schön“, verabschiede ich meinen Exfreund, starre das Lenkrad an. „Vielleicht meldest du dich ja mal wieder... Würde mich freuen...“

Daniel reagiert nicht. Er sitzt da, eine Hand am Türgriff, aber er öffnet sie nicht.

Ich schnalle mich ab, steige aus, laufe ums Auto herum und mache die Beifahrertür von außen auf.

„Komm, zeig mir, wo du jetzt wohnst“, fordere ich ihn auf. Er nickt und verlässt den Wagen.

Früher hat Daniel bei Nick gewohnt, einem Freund von ihm. Seine alte Wohnung war in einem abgerissenen Altbau gelegen und fiel fast auseinander, deshalb zog er zu Nick und sie gründeten eine kleine WG. Leider besitzt Nick einen Hund, Daniel hat einen Kater, und die Tiere vertrugen sich nicht miteinander. Deshalb war mein Exfreund nach etwa einem Jahr aus der Wohngemeinschaft ausgezogen und hat sich etwas Eigenes gesucht.

Seit einem Jahr arbeitet Daniel nun bei der Bank, macht eine Ausbildung zum Bankkaufmann. Mein Onkel hat ihm die Stelle besorgt.

In meiner Familie sind fast alle Männer in der Finanzbranche tätig. Meine Onkel, mein Vater, mein Großvater, Cousins, Großcousins, Großonkel, alle haben Jobs als Banker, Broker, Vermögensberater. Und ich reihte mich einfach ein.

Daniels Wohnung liegt in einem Mehrfamilienhaus unterm Dach. Wir stehen vor dem Haus.

„Da oben“, deutet er auf ein Fenster, ich schaue, wohin sein Finger zeigt. „Da wohnen wir jetzt.“

„Wir?“, frage ich verwirrt. Er mit wem zusammen? Für einen Moment stirbt in mir die Hoffnung, noch eine Chance zu haben.

„Philip und ich.“

Glück gehabt! Philip ist der Name seines süßen Katers.

Daniel lehnt sich an der Hauswand an. Das T-Shirt rutscht wenige Zentimeter nach oben, ich kann seinen flachen, trainierten Bauch sehen. Ich gehe auf den jungen Mann zu, nah, ganz nah an ihn heran. Ich habe Herzklopfen, bin nervös. Das habe ich bei meinen üblichen Treffen nie...

„Soll ich dich nach oben begleiten?“, flüstere ich in sein Ohr. Ich sehe, wie er die Augen schließt, höre, wie er tief einatmet. „Es sind sicher sehr viele Stufen, und wir wollen doch nicht, dass du dich verläufst...“

Ich lege meine Wange an seine, ich spüre, wie er sein Gesicht leicht an meins drückt.

„Ich weiß nicht, ob das so gut ist“, höre ich ihn leise und verunsichert antworten. Er hat immer noch die Augen geschlossen, als ich meine Stirn an seine lege, meine Nase an seiner reibe. Jetzt schließe ich auch die Augen, öffne die Lippen ein klein wenig. Ganz zaghaft lege ich sie auf seine, warte, warte auf Erwiderung. Er zittert. Dann drückt er seinen Mund auf meinen.

Wir küssen uns.

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