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Hürdenlauf

10. Kapitel

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Inhaltsverzeichnis

 

„Schau nicht so groß, ist wohl das erste Mal, dass dir jemand eine Abfuhr verpasst, was?“

Na, der traut sich was!

„Für einen Dorftrottel hast du eine verdammt große Klappe.“ Missbilligend blinzle ich ihn an. Der hat sie ja nicht mehr alle!

„Das war ja so klar... Treffer: versenkt, und du bist gleich eingeschnappt und wirst beleidigend, weil dir die Argumente fehlen.“

„Du hast überhaupt keine Ah-“

„Ich hab jede Menge Ahnung. Typen wie dich gibt’s doch überall. Du siehst wirklich gut aus, kann man nichts sagen. Muss ich auch nicht, das weißt du selbst ja gut genug.“

Ich muss was sagen, irgendwas, aber mein Kopf ist vollkommen leer. Wahrscheinlich sehe ich gerade aus wie der letzte Idiot, stammele perplex unverständliche Laute vor mich hin.

„Und Typen wie du sind für mehr als eine schnelle Nummer nicht geeignet“, bringt irgendeine Hirnwindung zustande, doch getroffen scheint Nils davon nicht zu sein. Er grinst.

„Schwimmen wir ein Stück.“

Wortlos schwimme ich neben ihm her, bis wir ein Stück Ufer erreichen, verborgen hinter dichtem Pflanzenwuchs. Nils setzt sich auf den matschigen Boden, deutet mir mit einer Klopfbewegung an, dass ich mich neben ihn setzen soll.

„Ich heiße Nils und komme aus Altenholz, das ist in der Nähe von Kiel“, beginnt er, ohne mich anzusehen. „Ich bin da geboren und aufgewachsen und bin jetzt zum Studieren in Berlin. Und jetzt sag mir deinen Namen, den konnte Julian mir nämlich nicht verraten.“

„Loki, hast du doch mitbekommen“, gebe ich schulterzuckend zurück und lasse meine Füße ins Wasser hängen. Meine Zehen graben kleine Löcher in den Sand.

„Ich glaube nicht, dass deine Eltern dich Loki getauft haben.“ Ich spüre, wie Nils mich ansieht. Was will der eigentlich von mir?

„Alle kennen mich als Loki, der Rest ist wirklich nicht wichtig.“

„Oh, ich finde deinen Namen schon sehr wichtig. Du versteckst dich hinter so einer albernen Loki-Fassade, weil du Angst hast, deine Gefühle zu zeigen. Vielleicht, weil du mal verletzt worden bist oder Angst vor einer Beziehung hast. Und weil der schnelle Sex dich nicht wirklich befriedigt, denkst du, mehr Sex mit noch mehr Männern könnte irgendwann Befriedigung bringen. Aber da wirst du lange suchen, und der Mensch hinter der Fassade hat das schon längst begriffen. Nur Loki will sich das nicht eingestehen.“

Dieser blöde Klugscheißer! Macht der jetzt auf Hobbypsychologe? Ich bin doch nicht schizophren!

„Jonathan“, brumme ich. Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, wie Nils lächelt.

„Ein schöner Name, Jonathan. Warum Loki?“

„Als ich 18 war, hab ich mit ein paar Leuten ‚Dogma’ geguckt. Einer von den gefallenen Engeln heißt Loki, und einer meiner Kumpels meinte, mich würde man wohl auch aus dem Himmel kicken. Seitdem heiße ich halt Loki.“

Nils legt sich auf den Rücken. Dass er total schmutzig wird, weil der Boden hier so aufgeweicht ist, scheint ihn nicht zu stören.

„Warst du schon mal verliebt?“, will er wissen. Wird das jetzt ein Interview? Was geht den bitte meine Gefühlswelt an? Ich gebe keine Antwort und starre weiter stumm aufs Wasser.

„Dich hat wohl mal jemand richtig verletzt, was? Der Kerl, der dich entjungfert hat?“ Hat der sie noch alle beisammen? Clemens hat mich nicht verletzt, nur gefickt, und ich wollte es ja auch nicht anders. Wenn das bei dem auf dem Dorf anders läuft, schön, aber in Berlin weht ein anderer Wind, daran wird sich der kleine Nils wohl gewöhnen müssen!

„Hattest du überhaupt schon mal eine Beziehung?“ Merkt der nicht, dass er mich nervt? So Sachen gehen ihn einen Scheiß an!

„Mann, Jonathan… Ich will dir doch nichts Böses. Wüsste halt gern, mit wem ich es zu tun hab.“

„Zum Ficken muss niemand meine Biografie kennen!“ Wenn der nicht bald die Klappe hält, flippe ich aus. „Was studierst du? Psychologie?“

„Nein, Jura…“ Nils seufzt tief. Gibt er jetzt endlich Ruhe? „Sag mal…“ Zu früh gefreut… „Hast du eigentlich keine Angst, dir was zu holen?“

Das reicht. Dieses kleine Würstchen kann was erleben!

„Ich hab keine Angst, vor nichts und niemandem!“, brülle ich ihn an, drehe mich zu ihm um und schaue ihm fest in die Augen. „Auch vor dir nicht! Und wenn du 100 Fragen stellst, mein Leben geht dich einen Scheiß an! Ich kenn dich keine halbe Stunde, warum sollte ich dir soweit vertrauen?“

Na, da hat’s ihm wohl endlich die Sprache verschlagen. Nils liegt da und schweigt sich aus. Hoffentlich hat er endlich verstanden, dass er nicht in meinem Leben und meiner Psyche zu wühlen hat.

„Du hast weiß ich wie vielen Männern deinen Arsch oder deinen Schwanz anvertraut, ohne überhaupt ihren Namen zu wissen. Und machst bei mir ein Theater, wo ich nur deinen Namen wissen wollte.“

„Wenn du meinst.“ Ich zeige ihm einen Vogel, doch er sieht gar nicht her. Auch gut. Ich springe wieder ins Wasser und schwimme zurück zu Tristan, Sandro und Julian. Ohne zu fragen greife ich mir Nils’ Handtuch, reibe mich trocken und ziehe mich an.

„Wo ist Nils?“, fragt Tristan verwundert. „Hast du ihn flachgelegt und jetzt liegt er erschöpft im Gebüsch?“ Die drei Jungs kichern.

„Ich hab euren Nils nicht angefasst.“ Handy? Portmonee? Schlüssel? Alles da.

„Haust du jetzt ab?“ Julian soll gar nicht so scheinheilig schauen. Dass er rumtratscht, ist mir ziemlich egal, aber, dass er mir damit diesen Möchtegern-Freud auf den Hals hetzt, ist einfach nur zum Kotzen.

„Ja, ich gehe“, erwidere ich knapp, schüttele das geliehene Handtuch aus und lege es wieder glatt auf den Sand. „War wirklich… nett mit euch.“

„Loki!“, brüllt es irgendwo weit hinter mir. Oh nein, ich werde jetzt ganz sicher nicht auf diesen Spinner warten. Ich sehe Nils wie einen Irren auf den Strand zu kraulen.

„Na dem scheint’s ja gefallen zu haben“, witzelt Tristan, langt mit der Hand zu mir nach oben und kneift mir in den Po. Sofort lasse ich ihn mit einem einzigen Blick auf seinem Handtuch zusammenschrumpfen. „Hui, sind wir aber zickig…“

Genervt verdrehe ich die Augen. Wollen mir heute alle irgendwelche Gefühlsregungen unterstellen? Ich will einfach nur mal meine Ruhe. Wo ich die heute noch finden werde? Zu Hause warten meine hyperaktiven Frettchen auf mich, zu André kann ich nicht, weil der nur wieder reden will. Daniel habe ich genug angetan, und Oliver hat mich abserviert, ohne mich abserviert zu haben, den will ich gar nicht sehen. Wahrscheinlich lauert an jedem See in Berlin und Umgebung ein Trupp von Schwuppen, die mich nerven wollen. Es scheint unmöglich, hier irgendwo ein bisschen Entspannung zu finden. Also Disco heute Abend? Auch eine schlechte Idee… Auf einen weiteren Gesundheitscrash nach einem Alkoholexzess kann ich wirklich verzichten.

„Ich… wollte… dich…“, höre ich Nils erschöpft keuchen, er hustet. Verdammt, jetzt hab ich hier zu lange gestanden und gegrübelt! „…nicht… verletzen!“

Verwundert sehen Julian, Tristan und Sandro sich an, Tristan zuckt mit den Schultern.

„Hast du nicht. Lass mich einfach in Frieden, okay?“ Ich fahre mir durch die nassen Haare. „Ich muss jetzt gehen. Mach’s gut.“

„Kannst du mich nach Hause bringen?“ Er hat sich in sein Handtuch gewickelt, legt den Kopf schief. Was wird denn das jetzt? Tristan lässt einen blöden Kommentar ab, ich merke, wie Julian mich argwöhnisch beobachtet.

„Wo wohnst du denn?“, höre ich mich sagen und könnte mich sofort dafür steinigen. Jonathan, dreh dich verdammt noch mal um und geh einfach!

„Schlachtensee, im Studentendorf.“ Ich beobachte Nils dabei, wie er seine Jeans über die tropfnasse Badehose zieht. Er räumt seine restlichen Sachen in seinen Rucksack, schultert ihn. „Find ich wirklich nett von dir, danke.“

Julian zieht Nils am Hosenbein, schüttelt besorgt den Kopf. Hat der etwa Angst, dass ich Nils irgendetwas Furchtbares antue? Ich bin froh, wenn ich die Nervensäge endlich los bin. Nils nickt Julian besänftigend zu, verabschiedet sich von seinen Freunden und sagt dann, an mich gewandt: „Komm Loki, wir gehen.“

Der Weg zurück zum Auto kommt mir viel länger vor als der Hinweg. Die Hitze ist immer noch unerträglich, und ich kann es kaum erwarten, endlich die Klimaanlage anzuschmeißen.

„Du bist kein schlechter Mensch, Jonathan“, meint Nils, als er neben mir auf dem Beifahrersitz sitzt und wir gemächlich die Landstraße entlangfahren.

„Warum nennst du mich so?“ Ich schalte das Radio an und drücke die Sender durch, bis ich vernünftige Musik finde. Meine eigene Musik auf CD kann ich gerade nicht ertragen.

„Dein Name scheint ein großes Geheimnis zu sein, und wenn du das schon mit mir teilst, will ich dich auch so nennen.“

Großes Geheimnis, dass ich nicht lache! Ich hab noch nie jemandem meinen Namen verheimlicht. Ich stelle mich lediglich als Loki vor. Wenn noch niemand auf die Idee gekommen ist, mal zu fragen, ob das auch mein richtiger Name ist, ist das doch nicht mein Problem. Und beim Ficken ist ein Name doch auch nicht wirklich von Bedeutung.

Nils ist ganz still geworden, sieht aus, als würde er sich nicht wirklich trauen, noch etwas zu sagen. Ich stelle die Klimaanlage um auf 26 Grad. Noch so einen Hitzeschock beim Aussteigen möchte ich mir nicht zumuten.

Das Navi bittet mich, in 200 Metern rechts abzubiegen, ich setze den Blinker. Die Sommerhits aus den Charts gehen mir ziemlich auf die Nerven. Und Nils tut mir ein bisschen Leid. Er hat ja nichts Schlimmes getan, eigentlich. Er war nur zu neugierig, und Einblick in mich und meine Seele gewähre ich bisher nur André. Seine plumpen Interpretationsansätze habe ich gar nicht erst hören wollen. Und er kann ja auch nicht wissen, was mich so alles beschäftigt.

„Ich bin HIV positiv“, sage ich, schaue Nils kurz an. Ich will seine Reaktion sehen. Er zuckt zusammen, ein bisschen nur, aber für mich deutlich sichtbar. Seine Augen werden größer und er schluckt.

„Das- das-“, stottert er, ich schüttele den Kopf.

„Das kannst du nicht gewusst haben, ist schon gut. Behalt das für dich.“ Aus dem Augenwinkel sehe ich ihn heftig nicken. „Das nächste Mal lass einfach das Rumstochern. Ich kann so was nicht leiden.“

„Das nächste Mal?“

Das nächste Mal?

„Sollten wir uns wieder mal über den Weg laufen, ja.“

Am Studentendorf angekommen, steigt Nils sofort aus. Er holt seinen Rucksack von der Rückbank; die Tasche hat lauter Sandkrümel auf dem schwarzen Leder hinterlassen, die Nils mit der Hand in den Fußraum wischt, bevor er die Tür schließt. Ich lasse mein Fenster herunter.

„Danke, dass du mich hergebracht hast“, bedankt Nils sich, lächelt. Ein hübsches Lächeln hat er und seine mittlerweile getrockneten, strubbeligen Haare machen ihn irgendwie niedlich. „Und… entschuldige, dass ich dich so angefahren und dann gelöchert hab. Nachdem Julian mir ein bisschen was über dich erzählt hat, wollte ich einfach nicht auf dich reinfallen, und dann kann ich sehr… direkt sein.“

Bevor er in ausschweifende Erklärungen verfällt, verabschiede ich mich von ihm und mache mich auf den Heimweg. Mein neuer bester Freund wird das sicher nicht. Wenigstens hat er eingesehen, dass er mit mir nicht umgehen kann wie er will. Besser geht es mir jetzt trotzdem nicht. Langsam holen mich alle schlechten Gefühle wieder ein, die ich eigentlich hatte verdrängen wollen mit Schwimmen und Sex. Geschwommen bin ich, aber die Lust auf Sex ist mir gründlich vergangen.

In meiner Wohnung empfangen mich meine Frettchen und tausend Erinnerungen an Daniel. Vielleicht ist es wirklich besser so… Ich sollte keinen Freund haben. Schon gar keinen, der nicht weiß, wie das ist, positiv zu sein…

Sehnsüchte

„Du solltest Dario mal eine E-Mail schreiben, der ist nur zwei Jahre älter als du und auch positiv.“ Der Rat kam von einem Freund, der wusste, wie sehr ich mir jemanden wünschte, der nachfühlen konnte, wie es war, infiziert zu sein. Einen Freund, einen Kumpel, jemanden zum Reden und sich gegenseitig Mut machen. Nicht für eine Beziehung, einfach nur jemanden, der mich verstand. Und dieser Dario schien wie geschaffen dafür zu sein. Bisher hatten meine Recherchen nur Männer ausgespuckt, die vom Alter her mein Vater hätten sein können, und das war nicht das, was ich suchte.

Noch am gleichen Tag schickte ich Dario eine Nachricht. Ich war aufgeregt und glücklich, jemanden in meinem Alter gefunden zu haben, der auch noch in meiner Stadt lebte und das gleiche Virus in sich trug wie ich.

Dario antwortete recht schnell. Wir tauschten ein paar Nachrichten, ich erzählte ihm von meiner Infektion, er mir von seiner, und ich fühlte mich ihm schnell sehr nahe und vertraut. Einem völlig Fremden einfach so mein Herz ausschütten zu können hätte ich mir eigentlich nicht zugetraut, aber schriftlich, via Internet, fiel es mir erstaunlich leicht. Bald war uns beiden klar, dass wir uns sehen wollten. Bei mir ging das nicht, da ich noch bei meinen Eltern wohnte und dort nicht mal als schwul geoutet war, also lud er mich in seine Wohnung ein. Wir wollten uns unterhalten, vielleicht einen Film sehen, und wenn ich wollte, könnte ich auch über Nacht bei ihm bleiben. Natürlich hatten wir das Thema Sex angesprochen. Ich wusste, dass er es gerne ohne Gummi machte, wenn er wusste, dass der Partner positiv war.

„Hast du keine Angst vor Mehrfachinfektion?“, fragte ich, doch er tat es mit einem „Das mit der Mehrfachinfektion gibt es sowieso nicht, das erklär ich dir, wenn du hier bist“ ab. Ich wusste nicht, ob ich ihm das glauben konnte. So viele Infoblätter, die ich mir bei der Aidshilfe geholt hatte, warnten vor der Infektion mit mehreren Virusstämmen, aber ich war gespannt darauf, was Dario mir dazu zu erzählen hatte.

Aufgeregt berichtete ich André von der bevorstehenden Verabredung. Auch von Darios Aussage zur Mehrfachinfektion.

„Also, Loki, ich weiß nicht…“, zweifelte er besorgt. „Bist du sicher, dass du da hin willst? Was machst du, wenn er Sex will, ohne Kondom? Ich will nicht, dass dir was zustößt…“

„Wenn er was macht, was ich nicht will, sag ich einfach nein. Außerdem will ich ihn als Freund, nicht für Sex.“

So selbstsicher ich André gegenübertrat, so verunsichert war ich doch, als ich am Abend vor der Verabredung vor dem BVG Liniennetzplan saß und mir ansah, wie ich würde fahren müssen, um zu Dario zu kommen. Ich schaltete meinen Laptop an, um doch noch mal nachzuhaken, was Dario genau von dem Treffen erwartete.

„Hey Dario, ich wollte nur fragen, wie das ist, mit morgen… Wir reden nur und gucken einen Film, oder?“, schrieb ich und wartete auf Antwort.

„Das, und dann mal sehen, was sich ergibt“, kam recht schnell zurück. Schauen, was sich ergibt? Klar… Eigentlich hatte ich damit kein Problem. Aber ich suchte doch einen Freund und keinen Fick! Und schon gar keinen, bei dem keine Kondome benutzt wurden…

„Wenn du nur Sex willst, sollten wir das wirklich lassen.“ Ich brauchte fast 5 Minuten, um diesen Satz zu tippen und abzuschicken. Ob ich ihm damit auf den Schlips trat? Oder mich blamierte, weil ich ihn falsch verstanden hatte?

„Komm erstmal her. Du musst keine Angst vor irgendwas haben. Ich hab doch gesagt, ich erklär’s dir“, las ich. Ich verabschiedete mich für die Nacht und legte mich zum Nachdenken ins Bett. André versuchte am Telefon, mir das Date auszureden. Dario wolle nur Sex, und das sei schließlich nicht das, wonach ich suchte, waren seine treffenden Argumente. Aber ich hatte Dario fest zugesagt, ihn einfach zu versetzen wäre nicht sehr nett von mir. Die ganze Nacht bekam ich kein Auge zu. Ich überlegte hin und her. Was, wenn Dario und ich gar nicht im Bett landen würden? Vielleicht würde er zu einem guten Freund werden, zu so einem, wie ich ihn mir über alles wünschte. Oder er wollte doch nur Sex mit einem niedlichen Kerl wie mir. Mit jemandem, der auch positiv war, wo er keine Kondome brauchte. Bei mir würde er die aber brauchen, das hatte ich mir geschworen. Nie wieder Sex ohne Gummi, egal mit wem! Und mit Freunden hatte ich eigentlich auch keinen Sex. Freunde waren Freunde, Ficks waren Ficks, das trennte ich ziemlich konsequent. Natürlich, André gefiel mir, und ich hatte schon vor drei Jahren versucht, ihn rumzukriegen, doch er hatte mir ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, dass Sex auch Freundschaften kaputt machen konnte, und das hatte ich mir gemerkt und zu einem Teil meiner eigenen Moral gemacht. Dario und ich durften also nicht in der Kiste landen, wenn er zu einem wichtigen Freund für mich werden sollte.

„Es tut mir wirklich Leid, Dario, aber ich fürchte, dass du mich nur ins Bett kriegen willst. Und das möchte ich nicht. Deswegen werde ich heute Abend nicht kommen, ich glaube, das ist besser so.“ Schweren Herzens schickte ich die Nachricht ab. Wenn Dario keinen Sex wollte, würde er das schreiben, und dann hätte auch eine Freundschaft eine Chance. Angespannt saß ich vor dem Bildschirm und wartete, was Dario auf meine Nachricht erwidern würde. Ich hatte ihn wirklich lieb gewonnen, und das, obwohl ich nicht oft Leute in mein Herz ließ. Schon gar nicht, wenn ich sie nur über ein paar Mails aus dem Internet kannte. Bei Dario war das alles anders. Ich fühlte mich zu ihm hingezogen, wollte mehr über ihn erfahren, ihn in den Arm nehmen, ihm erzählen, was mich so bedrückte, wovor ich Angst hatte, was mich belastete. Ob ich mich vielleicht sogar in ihn verlieben könnte? Womöglich war das gar nicht mal die schlechteste Idee. Eine Beziehung mit einem ebenfalls HIV-Infizierten, das war sicher viel leichter als mit einem negativen Mann.

Doch meine ganze Grübelei wurde zerschlagen von einer gesalzenen Antwortmail:

„Verarschen kann ich mich echt alleine! Leck mich doch am Arsch!“

Was? Verarschen? Hatte der sie noch alle?

„Nur, weil du einsam und verbittert bist, muss ich nicht mit dir in die Kiste hüpfen!“, pfefferte ich zurück. Wütend war ich, über alle Maßen. Er hatte also doch nur Sex gewollt, und ich Idiot hatte geglaubt, er würde genauso sehr einen guten Freund suchen wie ich!

„Ey, kleine, verseuchte Schlampe… Ich bin weder einsam noch verbittert, und auch nicht unglücklich, DU nervst, DEINE Geschichten nerven! Also lass mich, DANKE!“

Was?! Zitternd klappte ich den Monitor herunter, musste die Augen schließen. Doch auch da sah ich sie noch vor mir, groß und glühend: „Kleine, verseuchte Schlampe“, die Worte, die sich in mein Herz brannten. Wie konnte er so etwas zu mir sagen? Gerade er! Er hatte es doch selbst, er war doch selbst „verseucht“! Genervt hatte ich ihn also… War das alles nichts wert gewesen? Seine lieben, aufbauenden Worte, sein Versprechen, immer ein offenes Ohr für mich zu haben? Warum tat er mir so etwas an? Verletzt und verzweifelt warf ich mich aufs Bett und heulte.

Bei André liefere ich telefonisch den aktuellen Lagebericht ab. Er will wissen, ob ich Gesellschaft gebrauchen kann, doch ich verneine. Damit komme ich schon allein zurecht. Es hat nicht sein sollen mit Daniel, darüber werde ich hinwegkommen. Oliver und ich waren nicht füreinander bestimmt, damit kann ich leben. Nils hat ein bisschen an meiner Oberfläche geknibbelt, das kriege ich schon wieder geflickt. Und trotzdem ist da ein großes, schwarzes Loch in mir drin, und ich weiß nicht, womit ich das wieder auffüllen soll…


„Es gibt den perfekten Mann... auch für dich.“

André steht einfach vor meiner Tür. Dieser Idiot. Ich hab ihm doch gesagt, dass ich keinen zum Reden brauche! Jetzt sitzt er doch auf meinem Sofa, streichelt meine Hand und versucht, mir gut zuzureden.

„Soll ich Daniel seine Sachen nach Hause bringen? Du hast doch sicher noch einige Dinge, die ihm gehören.“

„André, das ist wirklich sehr nett von dir, aber ich schaff das schon.“ Er geht mir auf den Zeiger. Er merkt doch sonst immer alles, warum jetzt nicht? „Ich bin alt genug, ich werde Danis Sachen morgen oder so zusammenpacken.“

André nickt, streicht mir über den Kopf.

„Alex und ich wollten uns einen Film ausleihen, magst du mitgucken?“

„Immer nur Alex und du… kriegt man dich auch mal alleine?“ Wenn er schon auf mich aufpassen will, soll er das gefälligst allein tun. Das letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist ein glückliches Pärchen direkt vor meiner Nase.

„Ach du.“ André knufft mir in die Seite. „Seit wann bist du so empfindlich?“

„Hey, ich hab auch Gefühle, ja? Auch, wenn ich sie nicht jedem gleich auf einem silbernen Tellerchen unter die Nase halte!“ Was hat dieser Tag noch alles mit mir vor? Nils sucht Gefühle, wo keine sind, und André, der es besser wissen sollte, tut plötzlich so, als sei ich der emotionsloseste Klotz in ganz Berlin! Ich verschränke die Arme vor der Brust. Ja, ich will jetzt mucksch sein.

„Mann, Jonathan, komm runter.“ Jonathan? Oh man. Er nennt mich nie so. „Ich weiß doch, dass du Gefühle hast. Ich glaub, du brauchst einfach mal ein bisschen Abstand von allem. Ich sag Alex, dass wir heute keinen Film gucken, dafür gehen wir zwei raus ins Grüne. Ist doch noch so schön warm draußen. Und dann erzählst du mir, was dich alles ankotzt, ja?“

Eine andere Wahl habe ich sowieso nicht, und mit André über alles zu reden hat mir bisher immer ganz gut geholfen. Also liegen wir kurze Zeit später auf einer Decke im Tiergarten und genießen die Abendsonne. Ich habe mich bis auf die Unterhose ausgezogen, mir meine Sonnenbrille aufgesetzt und nutze die letzten Sonnenstrahlen, um noch ein bisschen braun zu werden. André liegt auf dem Bauch, die Ellbogen auf dem Boden aufgestützt, und betrachtet mich.

„Meinst du, du siehst in 10 Jahren immer noch so gut aus?“

Normalerweise würde ich denken, dass er mich necken will. Aber er klingt viel zu ernst, um einen Scherz zu machen.

„Wieso nicht?“, murmele ich. Auch, wenn er ernst klingt, ernst nehmen kann ich ihn nicht. „Vielleicht habe ich die eine oder andere Falte... Aber ich bin sicher auch mit Anfang 50 noch eine geile Sau.“ Ich grinse ihn an, er schüttelt den Kopf. „Ehrlich, keine Ahnung... Man sagt immer, Schönheit ist vergänglich, hm? Und sie liegt im Auge des Betrachters. Meinst du nicht auch?“

„Natürlich“, stimmt er mir zu. „Ich frag mich nur, ob dein Ego drunter leiden wird, wenn du faltig wirst und sich keiner mehr von dir abschleppen lässt.“

„Da machst du dir jetzt drüber Gedanken?“ Ich kann nicht anders als laut loszulachen. „André, ich bin 23 und nicht 63. Und du hast ja wohl auch noch einen Traumköper, und das mit 25.“ Ich strecke ihm die Zunge raus. „Du wirst auch in 10 Jahren noch geil aussehen. Vielleicht nicht mehr für die junge Zielgruppe zwischen 18 und 25, aber das ist dir ja eh nicht wichtig. Du wirst dann lange mit Alex verheiratet sein und mit Hund und Kind irgendwo ein Häuschen am Stadtrand bewohnen.“

„Und du wirst dich durch Ü30-Partys poppen?“

„Wer weiß das schon... Ich lass das Leben auf mich zukommen. Alles planen kann man doch eh nicht. Vielleicht verliebe ich mich irgendwann so, dass ich unbedingt heiraten will? Oder ich werde krank und verbringe meinen 30. Geburtstag im Krankenhaus. Ich hab keine Angst vor dem, was passiert. Bisher hab ich auch jede Hürde genommen.“

„Hm...“ André streicht mit dem Finger über meine Stirn, malt meinen Haaransatz nach. Ich mag die vertraute Stimmung zwischen ihm und mir. Eine Weile schweigen wir. Ich genieße seine kleinen Berührungen und die warme Sonne auf meiner Haut. Eigentlich könnte es immer so sein. Ein André an meiner Seite, der mich versteht, der weiß, was ich fühle. Dem ich mein Herz öffnen kann, den ich näher an mich ranlassen kann als jeden anderen Menschen auf der Welt. Und bei dem es nicht um Sex geht. Ich wünschte, er könnte mir auch helfen, wenn ich Probleme mit meinem Virus habe... Ja, er gibt sich alle Mühe, auch auf dem Gebiet immer für mich da zu sein, hat sich belesen, mich ein paar Mal zum Arzt begleitet, er kennt die Packungsbeilagen meiner Medikamente. Aber richtig nachfühlen kann er nicht wirklich, was ich durchmache.

Plötzlich zieht André mir die Sonnenbrille von der Nase, setzt sie sich auf. „Na, bin ich jetzt genauso heiß wie du?“, flachst er. Ich blinzele in die blendende Sonne, halte mir die Hand schützend über die Augen und begutachte meinen besten Freund, der wie ein Model den Kopf hin und her dreht und mir meine Brille präsentiert.

„Du bist noch viel heißer!“ Mit Schwung drehe ich mich auf die Seite, drücke André auf den Rücken und setze mich auf ihn drauf.

„Hey!“, quietscht er, zappelt unter mir, aber ich lasse nicht locker. Da muss der kleine Dieb jetzt durch. „Was machst du mit mir?“

„Keine Ahnung. Gefällt dir denn die Aussicht?“

André schaut nach links und rechts. „Ja, schön hier“, antwortet er. „Aber ich kenn den Tiergarten doch schon. Und da oben blendet die Sonne ein bisschen, wird Zeit, dass es dunkel wird, bevor ich erblinde. Das ganze Licht hält deine Superbrille auch nicht ab.“

„Du freches Stück!“ Der soll leiden! Mit einem lauten Kampfschrei starte ich eine Kitzelattacke. Lachend und schreiend windet André sich unter mir, versucht, mich runterzudrücken, doch er hat keine Chance.

„LOKI!“, kreischt er. „Hör auf, hör auf! Erbarmen!“

Ein bisschen lasse ich ihn noch leiden, dann höre ich auf, lege beide Hände auf seine Brust. Ich spüre sein Herz schlagen, höre ihn leise keuchen. Vorsichtig nehme ich ihm meine Brille ab, lege sie neben uns auf die Decke, streiche ihm durch die braunen, lockigen Haare. Ich find ihn immer noch schön, genau wie vor fünfeinhalb Jahren, als ich ihn das erste Mal gesehen habe. Mit großen, klaren Augen sieht er mich an, lächelt offen, so, wie er mich immer anlächelt. Er passt auf mich auf, er lässt mich nicht allein. Er ist ein besserer großer Bruder als Konstantin.

Langsam öffne ich die Knöpfe seines Hemdes, lege seine glatt rasierte, natürlich gebräunte Brust frei, lasse meinen Zeigefinger um seine rechte Brustwarze kreisen. Dann beuge ich mich runter und küsse ihn sanft auf den Mund.

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