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Hürdenlauf

12. Kapitel

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Inhaltsverzeichnis

 

„The floods is threatening my very life today. Gimme, gimme shelter or I’m gonna fade away...”

Die Musik klingt sehr weit weg. Mein Kopf fühlt sich an wie ein Betonklotz. Wo bin ich? Wie lange hab ich geschlafen? Und woher kommt die Musik? Die Stones... Ich kannte mal wen, der die Stones mochte... Florian? Fabian? Ich kann mich nicht erinnern. Aber ist das jetzt überhaupt wichtig?

Vorsichtig öffne ich die Augen. Alles ist hell und verschwommen. Ich kann mich kaum bewegen, alles tut mir weh. Nackt bin ich, und ich liege auf dem Bauch auf einer butterweichen Matratze. Das Kissen, in dem mein Gesicht zur Hälfte versunken ist, riecht muffig. Wie lange hab ich hier gelegen? Wie bin ich überhaupt hier hergekommen? Mein schwerer Kopf ist voller schwerer Fragen.

„I can’t get no sa-tis-fac-tion...“ Erschrocken zucke ich zusammen. Mick Jagger ist das nicht. Jedenfalls nicht alleine. Er bekommt stimmliche Unterstützung von einem brünetten jungen Mann in Höschen und Socken, der sich langsam aus dem verschwommenen Brei vor meinen Augen zusammensetzt. Jetzt kann ich auch den Raum erkennen, den großen, hellen Schrank, die orange gestrichenen Wände, die blau-weiße Hertha-Bettwäsche.

„’cause I try, and I try, and I try, and I try... I can’t get no- Hey, du bist ja wach!“ Der Besitzer des Schlafzimmers grinst mich an. „Du hast dir ja Zeit genommen... Es ist nach zwölf!“

Mühsam wälze ich mich auf den Rücken, greife mir an die Stirn. Mir ist schwindelig, und es pocht schmerzend in meinem Kopf.

„Willst du was zum munter werden? Ich hab noch was in der Küche.“

„Kaffee“, krächze ich, huste. Warum ist mein Hals so trocken? „Und ’ne Zigarette...“

„Kaffee und Kippchen?“ Er legt den Kopf schief. „Du brauchst was anderes. Ich mach dir was fertig. Und dann gehst du erstmal duschen, du siehst schlimm aus.“

Was fertig machen? Duschen? Ich versteh die Welt nicht mehr. Ich will doch einfach nur hier liegen bleiben, bis mein Kopf aufhört, zu brummen...

Die Musik ist lauter geworden. Der süße halbnackte Sänger kommt zurück und stellt mir ein Glas aufs Nachtkästchen.

„Trink das“, sagt er, setzt sich zu mir und hilft mir hoch. Woooo... alles dreht sich...

„Was ist das?“, frage ich, betrachte die braune Flüssigkeit, in der zwei Eiswürfel treiben.

„Bacardi-Cola“, antwortet er.

„Zum Frühstück?“ Der Geruch von Alkohol steigt mir in die Nase. Da ist wohl mehr Bacardi als Cola drin...

„Süßer, es ist bald Nachmittag, und der Drink wird dich wieder fit machen, glaub mir. So, wie du aussiehst, hast du einen tierischen Kater.“

Alkohol gegen den Kater... Nico würde mich hassen. Gut, dass er das nie erfahren wird... Widerwillig schütte ich das Getränk in mich hinein, ein Schauer Gänsehaut läuft über meinen Körper.

„Na? Das fühlt sich schon ganz anders an, was?“ Er steht auf, holt ein Handtuch aus dem Schrank und wirft es mir hin. „Willst du noch was für die Nase, bevor du ins Bad gehst?“

„Für die Nase?“ Er nimmt mir das leere Glas weg, reißt das Fenster auf und schleudert die Eiswürfel heraus.

„Du hast einen Filmriss, oder?“ Mit der Hand streichelt er mir über den Kopf. „Du machst das nicht so oft, oder?“

„Party?“ Ich stehe total auf dem Schlauch. Und ich merke den Alkohol im Kopf.

„Koksen, du Idiot!“ Er lacht, viel zu laut für meine schmerzende Rübe. Koksen... Bilder rattern durch mein Gehirn. Die Party... der Alkohol... und dann hier bei... wie heißt er doch gleich? Ich habe definitiv große Scheiße gebaut!

„Ich will die Scheiße nicht...“, nuschele ich. „Ich war schon mal drauf.“

„Dafür hast du es letzte Nacht wirklich bereitwillig angenommen“, zickt er mich an. „Aber wenn du nicht willst...“

„Ich muss Medikamente nehmen, ich will nicht wegen irgendwelcher Wechselwirkungen hops gehen!“, erkläre ich wütend. Auch, wenn ich mich damit nicht gut fühle, der Alkohol hilft wirklich gegen den Kater.

Mein süßer Aufriss starrt mich erschrocken an.

„W- was für Medikamente?“, stottert er, und die Farbe weicht aus seinem Gesicht. Ich hab ihm also nicht gesagt, dass ich positiv bin. Soweit nichts ungewöhnliches, wenn wir verhütet haben. Haben wir verhütet?

„Antibiotika“, weiche ich ihm aus. „Ich hatte eine Entzündung am Zahnfleisch, nachdem mir da ein Zahn gezogen wurde, und jetzt muss ich noch drei Tage Antibiotika nehmen.“

„Ich will für dich hoffen, dass das stimmt.“ Panik schwingt in seiner Stimme mit. „Sonst... sonst...“

Okay, was mach ich jetzt? Ich darf mir nichts anmerken lassen, sonst sitze ich gleich auf der Polizeiwache und darf mich auf ein paar Jahre Gefängnis freuen. Wenn ich ihn frage, ob wir Kondome benutzt haben, schöpft er Verdacht. Wenn ich nichts sage, wird er vielleicht irgendwann einen Test machen, hoffentlich negativ sein, und wenn nicht... Na, wenn er immer so viel kokst, hat er sicher öfter ungeschützten Sex, ganz abgesehen davon, was man sich beim Koksen schon alles holen kann, und dann bin ich raus aus der Nummer. Aber... was sagt mein Gewissen dazu?

„Wann hast du dich denn das letzte Mal testen lassen?“, frage ich und gehe damit in die Offensive. „Wenn wir hier so fröhlich frei rumficken, geht es schließlich auch um meine Gesundheit!“

„Bei mir ist alles in Ordnung“, kommt von ihm zurück, er verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich geh davon aus, dass man so freundlich ist, und mir sagt, wenn man was hat, bevor man mit mir in die Kiste steigt!“

„Ach so, der Herr geht davon aus, dass alle HIV Positiven offen und ehrlich auf dich zukommen und natürlich immer Kondome mit sich herumschleppen, oder wie?“ Der Kerl macht mich wütend. Was bildet der sich eigentlich ein?

Ich stehe auf, suche nach meinen Klamotten, finde meinen Rucksack im Flur.

„Es wäre jedenfalls angebracht! Und krieg ich jetzt eine Antwort? Du bist doch gesund, oder?“, wettert der braungebrannte junge Mann hinter mir, während ich in mein Höschen steige und mir mein Shirt aus dem Rucksack überziehe.

„Sehe ich krank aus?“, frage ich, drehe mich zu ihm um und breite meine Arme aus. Schweigend betrachtet er mich. Ich schlüpfe in meine Jeans, ziehe Socken und Schuhe an. „Gut, dann: Nimm’s mir nicht übel, aber ich werde jetzt gehen. Danke für den Wachmacher und ein schönes Leben noch.“

Er brummt etwas, das sich wie „Arschloch“ anhört.

„Wie bitte?“ Was hab ich ihm denn getan?!

„‚Arschloch’ sag ich!“, brüllt er mich an und hält mich am Arm fest. „Dir ist doch egal, wie ich mich jetzt fühle!“

„Ich weiß nicht mal, wie du heißt, und natürlich ist es mir egal, weil du maßlos übertreibst. Du hast nichts!“ Ich will hier raus! Ich schmeiße mir meinen Rucksack über die Schulter, reiße die Wohnungstür auf, befreie meinen Arm aus seinem Griff. „Mach einfach einen Test, wenn du so Schiss hast.“

Zügig mache ich mich auf den Weg die Treppen hinunter, stürme aus der Haustür.

„Hey!“, tönt ein Schrei von oben, ich drehe den Kopf in die Richtung. Mein Aufriss hängt mit dem Oberkörper aus dem Fenster und fuchtelt wütend mit dem Arm in der Luft herum. „Ich heiß Dennis, du Arsch!“ Ein paar Passanten drehen sich irritiert um, ich zucke nur die Schultern. Nach Hause will ich, und das schnell. Weit weg von diesem Dennis, weit weg von der Verantwortung. Wenn ich mich doch nur richtig erinnern könnte!

(Ein-) Geständnisse

Wohlig stöhnend sinke ich in hohen, duftenden Schaum, warmes Wasser umarmt meinen Körper. Ja, ich habe das Richtige getan. Es wird schon nichts passiert sein. Dennis sehe ich doch eh nie wieder, und wenn schon, er kann mir nichts in die Schuhe schieben. Ich hab nichts getan, er hat mir das Koks angedreht, dann muss er auch damit rechnen, dass ich unzurechnungsfähig bin.

Es juckt am Arm. Langsam gleitet meine Hand über die kleine, rote Einstichstelle in der Armbeuge. Ich muss das Pflaster verloren haben...

„Was hast du da?“

„Impfung.“

Scheiße! Ich halte die Luft an und tauche unter, versuche, die Gedanken zu ertränken. Nach kurzer Zeit wird mir die Luft knapp, aber ich werde nicht auftauchen, ich werde hier unten bleiben, bis das hämmernde Gewissen in meinem Kopf stillschweigt! Es rauscht in meinen Ohren, mir wird schwummerig. Ich muss atmen!

Keuchend schießt mein Kopf nach oben, röchelnd schnappe ich nach Luft, mein Herz rast. Jetzt hilft mir wohl wirklich nur noch André. Nach dem Bad werde ich ihn anrufen, ihm mein Leid klagen... mir anhören, wie er mich ausmeckert, wie er mich zwingt, zu Dennis zu fahren, mit ihm zu reden, ihm alles zu erklären und für meine Fehler gerade zu stehen. Es ist doch immer das Gleiche! Und wenn ich es vorher schon weiß, kann ich mir den Umweg über André auch sparen...


„Was willst du denn hier?“ Begeistert sieht Dennis nicht aus. Dabei hab ich bei drei Nachbarn klingeln müssen, bis ich endlich seine Tür gefunden habe! Woher soll ich auch wissen, dass er Neudorf heißt?

„Mich entschuldigen?“ Meine Finger sind ganz feucht, so nervös bin ich. Aber da muss ich jetzt durch! „Und mit dir reden... War nicht nett, dich einfach so stehen zu lassen... Darf ich reinkommen?“

„Na, von mir aus.“

Dennis ist angezogen, aber nüchtern ist er nicht. Er schwankt, als er vor mir her durch den Flur läuft, ich folge ihm ins Wohnzimmer.

„Willst du was trinken?“ Wenigstens hat er sich seine guten Manieren noch nicht weg gesoffen.

„Aber bitte nur Wasser... danke.“ Ich lasse mich auf das blaue, fleckige Sofa fallen und schaue mich im Zimmer um, während Dennis in die Küche wankt. Was er wohl auf diesem Ding schon alles getrieben hat? Die hellen, eingetrockneten Flecken sprechen Bände.

Die Möbel sehen noch nicht sehr alt aus und es ist mäßig aufgeräumt, auf dem kleinen Couchtisch türmt sich ein Berg aus leeren Chipstüten, etlichen benutzten Gläsern, verschiedenen Zetteln, einem überfüllten Aschenbecher und jeder Menge anderem ekligen Krimskrams, über den Boden verstreut liegen einzelne Schuhe, ein Sitzsack fläzt sich über den grauen Teppich, der vollgepackte Wäscheständer versperrt die Sicht auf den Fernseher. Die Gardinen vor den Fenstern sind blütenweiß und sehen fast spießig aus; es gibt ein Regal mit mehr DVDs als Büchern und einen kleinen CD-Ständer voller beschrifteter Rohlinge in Slimcases, die schief in ihren Fächern hängen. André würde hier drin die Krise kriegen! Aus der kleinen Stereoanlage singt Mr. Jagger sich immer noch die Seele aus dem Leib. Oder schon wieder?

„Hier, dein Wasser.“ Mit der linken Hand schiebt Dennis eine Ecke Kram vom Rand des Tisches in die Mitte, um Platz für mein Glas zu machen, das er mir hinstellt. Dann schmeißt er sich in den Sitzsack auf dem Boden. „Und, was hast du mir zu sagen?“

Mein Hals ist trocken. Schnell stürze ich einen großen Schluck Wasser herunter, fummle meine Zigaretten aus der Hosentasche.

„Darf ich?“, frage ich, Dennis nickt Schulter zuckend. Meine Hände sind so zittrig, dass ich Mühe habe, den Glimmstängel anzuzünden, doch dann flutet endlich beruhigender Qualm meine Lunge.

„Junge, ehrlich, wenn du meine Gesellschaft suchst, die kann ich nicht gebrauchen, okay?“ Er verdreht die Augen und verschränkt die Arme vor der Brust.

„Ich hab nur eine Frage...“, beginne ich und puste kleine Wölkchen in die Luft. „Wir hatten letzte Nacht Sex, und...“

„Ja, hatten wir. Ich kann mich noch dran erinnern, du dich wohl nicht, also bestätige ich es dir: Wir hatten Sex, und es hat dir mindestens so viel Spaß gemacht wie mir, so, wie du abgegangen bist.“

Mein Selbstbewusstsein muss ich irgendwo auf dem Weg hierher verloren haben, ich fühle mich hundselend und will nur noch heim, heulen und allein sein. Ich kann das nicht, ich kann es ihm nicht sagen, ich zerstör ihm damit doch sein ganzes Leben!

„Bist du nur deswegen hergekommen? Du hast dir doch denken können, dass wir gefickt haben.“

Ich trau mich gar nicht, ihn anzusehen. Nervös stippe ich Asche auf den Haufen Kippen im Aschenbecher, starre auf die Tischplatte.

„Haben wir... also, hatten wir Kondome?“ Hat er mich überhaupt gehört? Meine Stimme ist verdammt leise, und mein bollerndes Herz übertönt bestimmt alles.

„Hätte ich sonst heute früh so einen Aufstand gemacht? Hör zu, es tut mir Leid, dass ich dich so angemacht hab, ich glaub dir ja, dass du nichts hast. Und wenn du jetzt hier bist, weil du Angst hast, dir bei mir was geholt zu haben, dann kann ich dich beruhigen. Ich hab nämlich nichts, und ich lass mir auch nichts anhängen.“

„Darum geht es gar nicht...“ Mit Eisfingern kratze ich mich im Nacken, ziehe so kräftig an meiner Zigarette, dass ich husten muss. „Dennis, ich...“

„Sag nicht, du hast irgendwas?“

Mir steigt das Wasser in die Augen, schuldbewusst kaue ich auf meiner Unterlippe herum, als ich den Blick hebe und in Dennis’ fassungslos-weißes Gesicht sehe.

„Was ist es?“ Seine Lippen bewegen sich beim Reden kaum, ich senke den Kopf. Ich kann ihm jetzt nicht in die Augen schauen.

„Ich bin HIV positiv“, sage ich leise, wische mir mit der Hand übers Gesicht. Ich drücke meine halb aufgerauchte Zigarette im Aschenbecher aus. Die schmeckt mir sowieso nicht mehr.

„Du bist was?“ Wieso steht er denn jetzt neben mir? Grad eben saß er doch noch da! „Angie“ bleibt Mick im Hals stecken, als Dennis eine Fernbedienung auf den Müllberg auf dem Tisch knallt. „Du hast mich mit Aids angesteckt?!“

In mir bricht alles zusammen. Ich kann nicht mehr!

„Wenn das nur ein Scherz ist, dann ist es kein besonders guter.“ Sein Fuß tippelt aufgedreht auf dem Teppich, ich höre es gedämpft klopfen. Ich will was sagen, aber meine Stimme versagt total. Ohne ihn anzusehen schüttle ich den Kopf, kneife die Augen zusammen und halte die Luft an.

„Warum hattest du dann keine Gummis mit?“, wirft er mir vor. Ich hebe den Kopf, sehe ihn ernst an.

„Also hör mal, Verhütung ist ja wohl nicht nur meine-“, versuche ich, mich zu verteidigen, doch Dennis unterbricht mich.

„Hast du sie noch alle?!“ Ich verberge mein Gesicht hinter meinen Händen. Beruhigen kann ich ihn jetzt sowieso nicht mehr... „Du verdammtes Arschloch!“ Ich höre Glas klirren, Schritte, dann fliegt eine Tür zu. Tränen schießen mir in die Augen, Schluchzer schütteln mich. Es tut mir Leid! Es tut mir so Leid, und ich kann ihm nicht helfen! Wo er wohl hin ist? Sicher zur Polizei...

Ich weiß nicht, wie lange ich gebraucht habe, um mich wieder zu beruhigen. Als ich die Augen wieder aufmache, finde ich einen nassen Fleck an der Wand und etliche Scherben auf dem Boden vor. Dennis hat mein Wasserglas gegen die Wand geschmettert.

Meine Nase läuft, und mein Gesicht ist bestimmt total verheult. Im Wohnzimmer kann ich keine Taschentücher finden, in der Küche gibt es kein Küchenpapier. Also muss ich wohl ins Bad und mir die Nase mit Klopapier putzen. Da kann ich mir auch gleich mein verquollenes Gesicht anschauen.

Doch die Badezimmertür ist abgeschlossen.

„Dennis?“, frage ich zaghaft und klopfe vorsichtig, meine Stimme ist ganz rau. „Bist du da drin?“

„Hau ab“, weint es von drinnen.

„Mach die Tür auf“, bitte ich ihn, doch ich bekomme keine Antwort. Ich kann nicht einfach so verschwinden und ihn hier allein lassen, hinterher stellt er noch Dummheiten an! Sein Heulen dringt dumpf durch die Tür. „Jetzt komm da raus... Bitte...“

„Verschwinde!“, keift er, seine Stimme ist vom Weinen ganz schrill. „Du hast mein verdammtes Leben ruiniert! Ich will dich nie mehr sehen!!!“

„Dennis, mach die scheiß Tür auf, bitte“, flehe ich, schlage mit der flachen Hand gegen das Holz. Mir ist eiskalt und mein Herz flattert nervös. Was, wenn ich ihn wirklich angesteckt habe? Wenn es wirklich passiert ist? Er wird mich anzeigen, und ich lande dann wegen Körperverletzung im Knast. Oder ist das sogar Mord? Ich hätte mich mit den blöden Gesetzen besser auseinandersetzen sollen!

„Ich geh hier nicht weg. Ich warte, bis du da rauskommst, verlass dich drauf. Ich... Wir müssen darüber reden, deswegen bin ich doch hier...“

„Du hast mir alles gesagt, was es zu wissen gibt, du kaltes Arschloch!“ Er pfeffert Worte auf mich ab wie Gewehrkugeln, und jede trifft mich mitten ins Herz. Aber, anstatt zu sterben, lässt mich eine übermächtige Kraft ausbluten und höllische Schmerzen leiden.

„Jetzt beruhig dich doch... bitte, Dennis, komm da raus.“ Ich spüre die Tränen schon wieder kommen. Meine Stimme kippt um. „Es muss doch gar nichts heißen. Du hast doch gar keinen Test gemacht, vielleicht bist du-“

„Hör auf!“, brüllt Dennis und wirft irgendwas von innen gegen die Tür. Erst bollert es laut, dann klatscht es dumpf. Wahrscheinlich hat er irgendein Duschgel oder Shampoo gegriffen und in meine Richtung geschleudert.

„Ich hab doch auch Angst. Um dich!“ Und das stimmt sogar. Ich weiß noch, wie es für mich war, als ich erfahren habe, dass ich HIV positiv bin... Aus der Praxis bin ich gelaufen, im Winter, ohne Jacke. Bin rein ins erstbeste Café, aufs Klo, Tür abgeschlossen, und hab geheult. Minuten-, vielleicht stundenlang. Viel später, als ich wieder zu Hause war, hab ich mich aufs Bett gelegt und versucht, irgendwie zu vergessen. Musste mich mehrmals übergeben, konnte tagelang kaum was essen. Meinen Eltern erzählte ich, ich hätte eine Magen-Darm-Grippe und würde schon wieder werden. Und wenn ich mir jetzt vorstelle, wie Dennis alleine im Bad sitzt, heult, Angst hat... Ich weiß ja nicht mal, ob er jemanden hat, der für ihn da ist, wenn wirklich was ist.

Plötzlich höre ich es klappern, dann geht langsam quietschend die Tür auf. Zwei rote, nass-geschwollene Augen schauen mich an, Dennis sieht furchtbar aus. Wahrscheinlich fühlt er sich auch genau so...

„Komm... rein“, schluchzt er, zieht mich am T-Shirt ins Bad und schließt die Tür hinter uns. Vor wem will er uns verschließen?

„Warum... hast du... nichts... ge... sagt?“, stammelt er, wischt sich mit beiden Händen die Tränen aus dem Gesicht. Er rupft ein paar Blatt Klopapier ab, schnäuzt sich, wirft das Papier in die Toilette.

„Normalerweise verhüte ich beim Sex...“ Endlich kann auch ich mir die Nase putzen. „Ich wollte nicht so viel trinken... Ich hatte eine scheiß Zeit, ich hab mich von meinem Freund getrennt und es ging mir beschissen, ich wollte nur vergessen, und meine Freunde haben mich halt auf diese Party geschleift...“, fasele ich vor mich hin. „Du machst einen Test, und... ich lass dir meine Nummer und meine Adresse da... falls du zur Polizei willst, wenn du wirklich was hast...“

„Und... du... sagst denen dann... dass... ich... kok... se.“ Er schluchzt immer noch ziemlich heftig. Ich greife seinen Zahnputzbecher, der auf dem Waschbeckenrand steht, kippe die darin stehende Zahnbürste in die Dusche, spüle den Becher aus und fülle ihn mit frischem Wasser.

„Trink erst mal... Und beruhig dich. Schau mal... Die Wahrscheinlichkeit, dass du dich bei mir angesteckt hast, ist total gering.“

Dennis nimmt einen Schluck. Ich muss ihn aufbauen, dazu muss ich selbst erst mal runterkommen. Das Risiko, dass er was hat, ist wirklich klein, ich sollte nicht durchdrehen und ihn nicht gleich für tot erklären.

„Ich nehm Medikamente, deswegen ist meine Viruslast soooooooo klein.“ Ich presse Daumen und Zeigefinger aufeinander, bringe so etwas wie ein Lächeln zustande. „Zudem... wenn ich mich richtig erinnere, war ich passiv. Mit meinem Sperma hatten also nur deine Laken was zutun, und vom Küssen wird man nicht positiv.“

„Toll... und jetzt... soll ich... wochenlang... warten, bis ich... den Test machen kann?“

Vorsichtig lege ich den Arm um seine Schultern, seine Augen fixieren den gelben Plastikbecher in seinen Händen. Stimmt, bis er den Test machen kann, sind noch so viele Wochen Zeit... 12 Wochen Ungewissheit, das hält er doch nicht aus, und ich noch viel weniger! Geringes Risiko hin oder her, ich hab eine scheiß Angst.

„Meinst du, es hilft, wenn ich mich noch mal gründlich wasche... vielleicht mit Alkohol?“, fragt Dennis mit traurigen Augen und schnieft. „Es ist doch noch nicht lange her, dass wir Sex hatten, vielleicht-“

„Ich hab’s!“, unterbreche ich ihn. Wenn jetzt noch jemand helfen kann, dann Nico. Und wenn ich Glück habe, erreiche ich in der Praxis sogar noch jemanden. „Ich muss mal kurz telefonieren.“

Im Flur hole ich mein Handy aus der Hosentasche, mein Herz hämmert schon wieder vor Aufregung. Ich will eine Zigarette...

Nach drei Freizeichen meldet sich endlich eine männliche Stimme.

„Benny? Hier ist Jonathan... Ist... Nico heute da? Ich hab da nämlich ein Problem...“

Und dann: Abwarten...

Der süße, knallrote Ford Fiesta passt total zu Dennis. Der Wagen ist zwar gebraucht, aber gut gepflegt, Dennis scheint viel an dem Auto zu liegen.

Er hat mir den Schlüssel gegeben. Dass er jetzt nicht fahren kann, ist mir klar; er ist angetrunken und total fertig mit den Nerven.

Als ich den Motor starte, dröhnt laut Trance aus allen Boxen, mein Beifahrer und ich zucken gleichzeitig erschrocken zusammen. Schnell drückt Dennis einen Knopf und würgt damit die Musik ab.

„Hey, du magst nicht nur die Stones, sondern auch Tiësto!“, grinse ich ihn an, er lächelt müde. Die Stimmung krieg ich wohl nicht aufgelockert... Wenigstens fühlt mein Kopf sich schon viel klarer an. Klar genug, dass ich mich mit dem Auto auf die Straße traue.

„Erklärst du mir jetzt, warum wir zum Arzt fahren?“ Er putzt sich die Nase, öffnet kurz das Fenster, um sein Taschentuch rauszuwerfen und umklammert dann seinen linken Oberarm mit der rechten Hand.

„Pass auf... Wenn du in den Wald gehst, und da beißt dich ein tollwütiger Fuchs, dann gehst du möglichst zeitnah zum Arzt und kriegst da eine Impfung, damit die Tollwut nicht ausbricht. Das nennt sich Postexpositionsprophylaxe, kurz einfach PEP.“ Beim Reden schaue ich auf die Straße. Beruhigt mich irgendwie, und Beruhigung kann ich sehr gut gebrauchen. „Und so was gibt es eben auch für HIV. Du bekommst Medikamente, über 4 Wochen...“

„Und dann krieg ich’s nicht?“

„So genau kann man das nicht sagen, weißt du, die Wahrscheinlichkeit, dass du dich bei mir angesteckt hast, ist sehr gering, vielleicht hast du’s gar nicht. Dann bist du nach der PEP gesund, aber eben nicht wegen der PEP.“

„Und warum soll ich das dann machen?“

„Weil es eben sein kann, dass du dich doch infiziert hast.“

„Das kann man jetzt nicht testen?“

„Nein.“

„Verstehe... glaub ich...“ Er kratzt sich am Ellenbogen, dann an der Stirn. „Aber gesund bin ich danach auf jeden Fall?“

„Zu 100% garantieren kann dir das keiner... Es gibt Fälle, in denen Menschen auch nach einer PEP positiv getestet wurden. Das sind aber nicht viele, und wie gesagt... das Risiko, dass du es hast, ist wirklich gering...“

„Toll, und warum machen das nicht alle, wenn’s so einfach ist?“ Dennis verschränkt die Arme vor der Brust.

„Weil es Nebenwirkungen haben kann, die nicht schön sind, weil jede Einwirkung von Chemie auf den Körper Spuren hinterlassen kann. Es ist keine Alternative zum Poppen mit Gummi. Außerdem kostet es eine Stange Geld...“

„Wie viel?“ Dennis’ Stimme ist plötzlich sehr laut und sehr gefestigt, ich spüre seine Blicke auf mir kleben.

„Irgendwas um die 1500 Euro...“

„1500 Euro? So viel Geld hab ich nicht! Weißt du, wie lange ich für so was sparen muss? Ich bin Student!“

„Ganz ruhig...“ Ich lege ihm meine Hand aufs Knie. „Ich zahl das schon, keine Sorge...“ Ich glaube, das bin ich ihm schuldig...

Dennis öffnet das Handschuhfach und wühlt in einem Stapel gebrannter CDs. Wonach sucht er denn nun? Wir sind gleich da, jetzt noch Musik einzulegen ist Unsinn.

„Machst du das öfter?“, fragt er, während er sich durch die CD-Sammlung gräbt. Wahrscheinlich will er sich bloß mit irgendwas ablenken.

„Was mach ich öfter?“ Ich halte an einer roten Ampel, setze den Blinker rechts.

„Das hier. Leute zum Arzt schleppen wegen dieser PEP-Geschichte.“

„Spinnst du? Wie kommst du auf so einen Unsinn? Ich mach das zum ersten Mal, ich bin kein Arschloch, das sich blind auf Medizin und Schicksal verlässt!“

„Ich mein nur, weil du so viel weißt...“ Ein zickiger Unterton schwingt in seiner Stimme mit. Klar, er muss auch irgendwie damit umgehen, ich kann ihm nicht übel nehmen, dass er so reagiert, mich vielleicht sogar hasst...

„Man informiert sich, wenn man in meiner Situation ist, das ist alles.“ Die Ampel springt um auf grün, ich lenke den Wagen in die Seitenstraße, suche einen Parkplatz. „Ein Experte bin ich sicher nicht, deswegen fahren wir ja zu Nico. Vor dem musst du auch keine Angst haben, der ist lieb. Wir schaffen das schon.“

Ich brauche eklig lange, bis ich den Wagen endlich rückwärts in die kleine Parklücke gefummelt habe. Ein wenig stehe ich immer noch neben mir...


Dennis zittert, als er mit Kugelschreiber den Patientenbogen ausfüllt. Wenigstens hat er aufgehört zu weinen. Wieder bringe ich ihm Wasser, diesmal aus dem Wasserspender, aber er lehnt ab. Nervös gehe ich im Raum auf und ab, nehme mir eine Zeitschrift, schlage sie auf, klappe sie wieder zu, lasse sie zurück auf den Haufen fallen.

„Setz dich doch mal hin, du machst mich ganz bescheuert.“

„Tut mir Leid...“ Der Fußboden knarzt. Und trotz der leisen Musik ist es viel zu still hier drin.

„Jetzt pflanz dich schon. Ich bin derjenige, der Angst haben muss und nicht du... Für dich ist das doch schon normal.“

„Normal?“ Das flaue Gefühl in meinem Magen schlägt um auf wütendes Grummeln. „Normal ist es für mich bestimmt nicht, jeden Tag Medikamente einwerfen zu müssen, die Nebenwirkungen haben und pünktlich eingenommen werden müssen! Das bestimmt meinen ganzen Tag! Wenn alles so easy wäre, wären wir jetzt nicht hier, um dir das alles zu ersparen...“

„Du hast gesagt, ich krieg auch Medikamente.“ Jetzt wird er trotzig. Und sieht dabei aus wie ein kleiner Junge.

„Ja, für vier Wochen...“ Gedankenverloren trete ich ans Fenster, schiebe die Gardinen zur Seite.

„Ja, und du hast gesagt, es ist nicht mal sicher, ob die auch wirken! “ Wird er etwa auch noch hysterisch? Hoffentlich kann Nico ihn beruhigen.

„Süßer, das ist eine PEP und kein Wunderheilmittel...“

Dennis lässt den Kopf hängen. Seine Haare sind ganz zerzaust und er hat fürchterliche Augenringe. Könnte ich ihm doch nur mehr Mut machen... Ich hab Bauchschmerzen.

„Muss ich das Ding da wieder abgeben?“ Er hält mir den ausgefüllten Patientenbogen hin, ich nehme ihn ihm ab.

„Ich bring’s schon vor, bleib sitzen.“ Ich gehe aus dem Wartezimmer und reiche Benjamin den Bogen über den Tresen.

„Du siehst echt scheiße aus“, bemerkt der leise und zieht eine Augenbraue hoch. „Ist das dein neuer Freund?“

„Ach was, Freund...“ Ich stütze beide Ellenbogen auf den Tresen und meinen Kopf in die Hände. „Den hab ich letzte Nacht aufgegriffen... Und nach zu viel Alkohol sind wir in der Kiste gelandet... Wir waren beide total zugekokst, und als ich wach wurde, durfte ich mir anhören, wir haben nicht verhütet.“

„Ach du Scheiße...“ Benny fährt sich durch die Haare. „Na, Nico hat gleich Zeit für euch. Gehst du mit rein?“

„Weiß noch nicht... Vielleicht will er das gar nicht. Mann, ich hab so Schiss, dass er was hat... Was mach ich denn dann? Nico reißt mir den Arsch auf!“

„Jetzt beruhig dich mal.“ Benny nimmt meine Hand. „Es ist gut, dass du ihn hergebracht hast.“

„Wenn ihr nicht am Wochenende auf hättet, wäre ich mit ihm ins Krankenhaus gefahren.“ Er hat eine warme, weiche Hand, am liebsten würde ich ihn in den Arm nehmen. Mich in den Arm nehmen lassen. Den Kopf anlehnen...

Ein junger Mann läuft an uns vorbei ins Wartezimmer, zieht die einzelne dünne Jacke vom Kleiderständer.

„Tschüs!“, ruft er Benny zu, der lässt meine Hand los, lächelt, winkt.

„Tschüs!“, verabschiedet er ihn laut, dann wendet er sich wieder mir zu, mit gedämpfter Stimme. „Er kann jetzt gleich rein, willst du ihn fragen, ob du mitkommen sollst?“

„Ja, mach ich...“, seufze ich, schleppe mich zu Dennis. Mein Kopf fühlt sich unglaublich leer an.

„Dennis...“ Er hat sich eine Zeitschrift genommen, schreckt hoch. „Du kannst gleich zum Doktor rein. Willst du... alleine, oder soll ich mit?“

„Würdest du mitkommen?“ Genauso schüchtern habe ich ihn aus der Schlange vorm RAZZMATAZZ in Erinnerung. Er legt sein Heft auf den Stuhl neben sich und steht auf.

„Klar komm ich mit“, lächle ich, lege meinen Arm um ihn. Ich will ihn halten und stützen. Nach allem, was ich ihm angetan habe, bin ich ihm das doch schuldig...

Nico ist gar nicht wütend. Erst hat er tief geseufzt, dann hat er uns gebeten, uns zu setzen und angefangen, sich mit Dennis zu unterhalten. Eigentlich habe ich damit gerechnet, von ihm die volle Breitseite an Vorwürfen zu bekommen, doch er lässt mich einfach links liegen und widmet sich nur Dennis. Wie ein Häufchen Elend sitze ich jetzt neben meinem Aufriss, weiß nicht recht, wohin mit meinen Armen. Dennis schaut immer wieder zu mir herüber, als wolle er prüfen, ob ich noch da bin.

„Und wie... sicher... ist diese Post... Post...“ Hilfe suchend sieht Dennis mich an.

„Postexpositionsprophylaxe“, sage ich, Nico nickt zustimmend und schiebt seine Brille zurecht.

„Ich versuch mal, dir das so einfach wie möglich zu erklären“, beginnt Nico, ich schließe die Augen. Ich habe nie an einen Gott geglaubt, aber jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, um mit dem Beten anzufangen. „Wenn ich dich richtig verstanden habe, warst du der aktive Part bei eurer Zusammenkunft.“

„Mh-hm“, bestätigt Dennis. Ich muss wirklich ziemlich zu gewesen sein. So leicht lasse ich mich eigentlich nicht von einem Aufriss flachlegen.

„Das Risiko, dass du dich bei Jonathan angesteckt hast, liegt bei unter einem Prozent. Er in einer HAART, das bedeutet, seine Virenkonzentration ist unter der Nachweisgrenze und nicht so hoch wie zum Beispiel bei einem frisch Infizierten. Trotzdem ist es sinnvoll, bei dir die PEP einzusetzen, da immer noch ein Restrisiko besteht. Die Therapie ist leider oft mit Nebenwirkungen verbunden. Das kann Durchfall sein, Übelkeit, Erbrechen, Veränderung der Leber- oder Nierenwerte. Aber du musst keine Angst haben, wenn du etwas Ungewöhnliches an dir oder deinem Körper feststellst, kannst du jederzeit herkommen, dann gehen wir dem auf den Grund.“

Er erklärt Dennis, was NRTIs und PIs sind; die komplizierten Worte nukleosidaler Reverse-Transkriptase-Inhibitor und Protease-Inhibitor müssen ziemliches Chaos in Dennis’ hübschem Kopf anrichten. Ob er die ganzen Abkürzungen und Ausdrücke zu Hause noch weiß? Bei mir hat es eine Ewigkeit gedauert, bis ich die ganze Informationslawine halbwegs auf die Reihe bekommen und verarbeitet habe.

Nico schenkt Dennis ein warmes Lächeln, legt ihm eine Hand auf die Schulter. „Das ist sehr viel auf einmal, hm?“ Ich sehe, wie Dennis Tränen über die Wangen laufen. Er tut mir so Leid...

„Kann ich was...“, melde ich mich zaghaft zu Wort, Nico schüttelt den Kopf.

„Geh du mal raus und lass uns bitte allein“, bittet er mich. „Alles weitere würde ich gern mit Dennis unter vier Augen besprechen.“ Ich verabschiede mich und verlasse schweren Herzens den Raum. Jetzt kann ich nur noch abwarten...


„Mann, was der alles von mir wissen wollte...“ Dennis lässt sich in den Beifahrersitz sinken, wirft die Apothekentüte auf den Rücksitz. „Wie hältst du das bloß aus? Da blickt doch keiner durch...“ Er ist immer noch ziemlich weiß im Gesicht, und die vielen Tränen haben Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Doch er wirkt jetzt um einiges gefasster. „Und was ich alles beachten soll... Keine Drogen, kein Alkohol, nur Safer Sex, pünktlich die Pillen nehmen... Guck dir an, was ich alles schlucken soll! In zwei Wochen hab ich wieder einen Termin, dann will er noch mal Blut von mir haben. Und er hat es jetzt über die Krankenkasse abgerechnet. Weil du nachweislich positiv bist, zahlt die Kasse eventuell, oder so ähnlich... Die melden sich vielleicht noch bei mir, wenn sie doch Geld haben wollen...“

„Dann rufst du mich an.“ Ich ziehe die Fahrertür zu und schnalle mich an. 5 Zigaretten habe ich vor der Tür geraucht, während ich auf Dennis gewartet habe. Ob es am Nikotin liegt oder daran, dass Dennis sich endlich beruhigt hat, dass ich mich jetzt ruhiger fühle, kann ich nicht sagen. Es geht immer weiter...

Ich drehe den Schlüssel rum.


Zufrieden schließe ich das Wohnzimmerfenster. Das hat die Wohnung nötig gehabt, es musste längst mal ordentlich durchgelüftet werden. Am Abendhimmel ballen sich die ersten dunklen Wolken zusammen. Das heiß ersehnte Sommergewitter lässt wohl wirklich nicht mehr allzu lang auf sich warten.

Ich verknote den großen, vollen Müllbeutel, bringe den Stapel zusammengelegte Wäsche in Dennis’ Schlafzimmer und schiebe ihn so leise ich kann in den Kleiderschrank. Dennis liegt in seinem viel zu weichen, viel zu großen Bett, fest eingedreht in seine Hertha-Bettdecke und den Kopf versunken in zwei blau-weiß bezogenen Kissen. Seine Medikamente haben wir abgeholt, sind zu ihm gefahren. Lange hat er vor seinen Pillen gesessen und sie dann doch genommen. Auch das kann ich nachvollziehen... Ich brauchte ein paar Tage, bis ich mich endlich dazu durchringen konnte, mit der Therapie anzufangen. Jeden Tag Medikamente nehmen, abhängig sein von der Chemie, sie zum Leben brauchen, das ist schon eine enorme Belastung für die Psyche. Ich hab meine Medikamente seit gestern nicht genommen... Dennis gegenüber hab ich deswegen fast ein schlechtes Gewissen.

Ein Brot hab ich ihm gemacht, mit viel Nutella, davon hat er die Hälfte gegessen und ist dann ins Bett gegangen. Der Tag hat ihn wohl sehr geschlaucht. Weil ich ihn nicht allein lassen wollte, hab ich seine Wohnung aufgeräumt, habe seine geliebten Rolling Stones angestellt und höre mir an, was der alte Mick Jagger zu erzählen hat, während ich in Dennis’ Schlafzimmer im Fensterrahmen des geöffneten Fensters sitze, eine Zigarette rauche und beobachte, wie die ersten Tropfen vom Himmel fallen.

„Angie, don’t you weep. All your kisses still taste sweet. I hate that sadness in your eyes...“

Der Regen kommt.

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