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Hürdenlauf

14. Kapitel

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Inhaltsverzeichnis

 

„Was zum Teufel tust du da?!“

Dennis steht neben der geöffneten Toilette, neben ihm auf dem Boden liegen seine Pillenschachteln. Er wird doch nicht...?

„Ich schmeiß die Scheiße weg, die du mir angedreht hast!“, keift er mich an. „Du hast mich angelogen, du kranker Wichser!“

Ich hab ihn angelogen? Ich hab ihm was angedreht? Verwirrt starre ich ihn an, verstehe die Welt nicht mehr.

„Was ist denn los?“, bringe ich krächzend hervor, meine Stimme versagt total.

„Es gibt kein HIV!“, brüllt Dennis wütend und wirft eine seiner Schachteln nach mir. Ich spüre eine warme Hand auf der Schulter, drehe mich um und sehe in ein ernstes Gesicht.

„Siehst du, er braucht dich nicht mehr“, sagt Mario und schenkt mir ein kaltes Lächeln. „Und jetzt geh nach Hause. Hier glaubt keiner an deine HIV-Märchen.“

„HIV-Märchen?“ Ich greife mir an den Kopf. Das darf doch nicht wahr sein! So einer ist das also?

Ich sammle Dennis’ Medikamente auf, reiße ihm die Schachtel weg, die er noch in der Hand hält.

„Wie viel hast du schon weggespült?“, frage ich erbost.

„Das geht dich gar nichts an!“, fährt Dennis mich an. Ich sehe die Schachteln durch. Wenn er hiervon 2x täglich 2 und hiervon auch... Zahlen jagen durch meinen Kopf. Mit Kopfrechnen habe ich eigentlich kein Problem, aber ich fühle mich unter Zeitdruck. Dennis versucht, mir die Schachteln abzunehmen.

„Gib das her, los! Du hast nicht das Recht dazu! Es ist mein Leben, also lass mich den Dreck wegschmeißen. Ich will mich nicht vergiften!“

„Vergiften? Spinnst du total, Mann? Die Scheiße hier ist wichtig für dich!“ Ich werfe die Medikamente in die Dusche und schließe die Kabine. „Was hat dein toller bester Freund dir für eine Scheiße erzählt?“

„Die Wahrheit“, schaltet Mario sich dazwischen, er bekommt von mir den bösesten Blick, den ich auf Lager habe. Doch dann lächle ich mild.

„Die Wahrheit?“ Ich lege den Kopf schief und ziehe eine Augenbraue hoch. „Nun... dann klär mich bitte über diese ‚Wahrheit’ auf, ich bin sehr offen für deine Weisheiten.“

„Verarschen kann ich mich alleine.“ Mario greift mich wieder am Arm und zerrt an mir, diesmal noch fester.

„Wenn du handgreiflich wirst und mich rausschmeißt, nur, weil du Angst hast, dir könnten die Argumente ausgehen, dann ist das nicht sehr erwachsen von dir. Und schon gar nicht glaubwürdig. Hast du Angst, ich überzeuge dich doch?“

Es fällt mir schwer, ruhig zu bleiben. Vor allem, weil er mir weh tut. Wenn er noch länger so zudrückt, läuft mein Arm blau an.

Er hat Dennis also irgendeinen Schwachsinn erzählt, der ihn dazu gebracht hat, seine Pillen wegwerfen zu wollen. Mir ist es ja egal, was Mario denkt und welchen Geistern er hinterherläuft. Aber Dennis so zu beeinflussen ist einfach mies. Er sollte ihn unterstützen und ihm den Rücken stärken und ihm nicht das sagen, was er jetzt am liebsten hören will: Es gibt kein HIV, es gibt kein Aids, es gibt keinen Grund für dich, dir Sorgen zu machen und die Pillen, die dir Bauchschmerzen und Durchfall und Übelkeit machen, musst du auch nicht mehr nehmen. Willkommen in Marios Märchenstunde.

Mario reißt so fest an mir, dass ich aus dem Raum in den Flur stolpere. Er schubst mich Richtung Wohnungstür.

„Besorg dir mal ein gutes Buch, dann vergehen dir die Argumente!“ Er öffnet die Tür. „Du bist ’ne arme Sau, die einem weltweiten Schwindel auf den Leim gegangen ist. Dennis wird nicht so ein Opfer werden wie du, ich hab ihn nämlich aufgeklärt. Und jetzt verschwinde endlich!“

„Warum nimmst du Dennis die Entscheidung ab, seinen Weg selbst zu wählen?! Warum enthältst du ihm die wichtigsten Fakten vor?!“ Es ist mir scheißegal, ob gleich die Nachbarn in den Flur gelaufen kommen und mich ankeifen, was mir denn einfällt, um diese Uhrzeit hier so rumzubrüllen. Wenn Mario es in Ruhe nicht versteht, muss ich eben laut werden!

„Weil es deine Fakten nicht gibt!“, behauptet Mario und wird schon wieder handgreiflich. Gleich fängt er sich eine! „Glaubst du wirklich, dass es eine Krankheit gibt, die man einfach nicht geheilt kriegt, obwohl man angeblich schon so viele Jahre daran herum forscht, etliche Gelder investiert, und alles, was sie einem liefern ist, dass dieses ominöse Virus blöderweise ständig mutiert und deswegen nicht totzukriegen ist? Das ist doch lächerlich!“

„Bloß, weil du Schiss vor etwas hast, was du nicht verstehst, heißt es noch lange nicht, dass es nicht existiert.“ Ich verschränke die Arme vor der Brust. Mittlerweile ist Dennis dazugekommen, setzt sich im Korridor auf den Boden und schließt die Arme um seine angewinkelten Beine.

„Soll das dein Argument sein?“ Mario lacht verächtlich auf.

„Es gibt etliche andere unheilbare Krankheiten. Gibt es die alle auch nicht?“ Gleich platze ich! Ich beiße mir auf die Unterlippe. So ein dahergelaufener Freak hat nicht das Recht, zu behaupten, ich würde einem Gespenst hinterherlaufen!

„Andere Krankheiten lassen sich ja auch nachweisen.“

„HIV lässt sich auch nachweisen!“

„Mit was? Diesem lustigen Test, der auf ungefähr alles anschlägt, was so herumschwirrt? Du hast dir wahrscheinlich irgendeinen Bazillus eingefangen, auf den der Test angeschlagen ist, dann haben sie dir Medikamente verpasst, um das ‚große böse HIV’ zu besänftigen. Jetzt fühlst du dich gut, du schluckst weiter fleißig deine Chemie und die macht dich krank. Es ist bewiesen, dass die Medikamente auf lange Zeit eingenommen krank machen, und wenn du lesen kannst, solltest du mal deine Packungsbeilagen anschauen. Da stehen genau die Sachen drin, die du als Aids verstehst! Also, was macht nun Aids? Deine Chemie, was bewiesen ist, oder dein Virus, der nicht bewiesen ist?“

„Du hast keine Ahnung, wie lange ich sehr gut ohne Medikamente ausgekommen bin. Dann ging es mir schlechter, und seit ich die Medikamente nehme, geht es mir besser! Komisch, oder? Und komisch auch, dass die Leute schneller an Aids erkranken, die keine Medikamente nehmen!“

„Es ist bewiesen, dass die Medikamente krank-“

„Deine Beweise stammen irgendwann aus den 80ern! Das AZT, was du wohl meinst, übrigens Zidovudin oder auch Azidothymidin und, wie der Name schon sagt, ein Analogon von Thymin, wurde damals noch viel höher dosiert als jetzt.“ Ja, ich bin ein Klugscheißer. Aber immerhin will ich, dass er mich ernst nimmt. Und ich hab mich schließlich nicht umsonst mit dem Zeug auseinandergesetzt. Um zu verstehen, was in mir vorgeht, muss ich alles darüber wissen, und dazu gehören nun mal auch die verschiedenen Medikamente.

„Überall waren plötzlich Menschen HIV positiv, erkrankten an Aids, es wurde nach einem Heilmittel gesucht“, fahre ich mit meinem kleinen Vortrag fort. „Dann findet man AZT, den Lichtblick, und man dachte sich, bevor man noch mehr Menschen verliert, versucht man es einfach! Wenn du weißt, dass du sterben musst, dass du ganz sicher sterben musst und die einzige Möglichkeit, dich vielleicht eventuell zu retten ist ein Sprung durch einen brennenden Reifen, was dich aber vielleicht auch umbringt, was machst du dann? Bleibst du sitzen und wartest, bis du stirbst oder ergreifst du deine einzige Chance, auch, wenn sie nicht sicher ist? Jedes Medikament ist ab einer gewissen Dosierung giftig. Es kommt auf die Menge an, und darüber wusste man damals eben noch nicht Bescheid. Darauf seine kruden Theorien zu stützen, ist mehr als dumm. Mittlerweile wird AZT geringer dosiert, es gibt mehr, andere Wirkstoffe, die nachweislich helfen, man hat dazugelernt. Und so ein Prozess dauert nun mal! Und bevor dich so eine Medikamentenkombi krank macht, hast du die Möglichkeit, dich umstellen zu lassen. Ich bin jedenfalls froh, dass es diese Medikamente gibt. Ohne die wär ich längst nicht mehr so putzmunter wie ich jetzt bin!“

„Du hast ja sogar deine Vokabeln gelernt.“ Mario grinst mich an. „Herrje. Da haben sie das richtige Opfer gefunden. Und du glaubst alles, was dir dein Arzt und die Aidshilfe erzählen, oder?“

„Ich vertrau meinem Arzt, ja. Der wird wissen, was er tut. Immerhin hat er sich nicht umsonst auf HIV Patienten spezialisiert.“

„Er hat sich auf HIV Patienten spezialisiert, weil er für jeden HIV Fall, den er behandelt, Extrazuschüsse bekommt!“

„Deine ‚Spezialisten’, die unbedingt die ‚Wahrheit’ ans Licht bringen wollen, kassieren auch Unmengen an Geldern und suchen nach Wegen, um an Aufmerksamkeit und Fördergelder zu kommen! Und denkst du, mein Arzt und alle in seiner Praxis bescheißen bewusst Patienten, seit Jahren, genauso wie jeder andere Schwerpunktarzt, wie jede andere Klinik, die Aidshilfe?“

„Für Geld tun die Leute so einiges. Du hast ja keine Ahnung, was da für Fördergelder fließen! Dafür, dass irgendwelche Möchtegernforscher in ein bisschen Blut rumrühren, sich Theorien aus den Fingern saugen und sich von den Zuschüssen ein schönes Leben machen. Die Menschheit steht nun mal auf Mysterien, da kann man so einen HIV-Aids-Mythos leicht aufrechterhalten. Und die, die die Wahrheit herausgefunden haben, haben wenigstens Beweise und stecken das Geld nicht in irgendwelche Villen!“

Dennis hält sich die Ohren zu. Er muss total fertig sein mit den Nerven.

„Natürlich. Die sind die Guten und die anderen die Bösen. Du hast sie ja nicht alle. Ich glaube an das, was ich sehe, was ich fühle, was ich erlebe. Ich war früher so gut wie nie krank, ich war nie anfällig für irgendwelche Krankheiten. Mies ging es mir erst, nachdem ich mich mit HIV infiziert habe. Soll das Zufall sein, dass nur die Menschen krank werden, die HIV positiv getestet wurden? Wie willst du dir das erklären? Mit Psychosomatik? Warum kriegt niemand Aids, der nicht positiv ist? Hm?“

„Weil ihr irgendwas anderes habt, aber definitiv kein HIV und auch kein Aids. Der Test hat darauf reagiert und nicht auf irgendwelche HIV Antikörper. Und die Medikamente sollen euch lange genug am Leben halten, damit ihr sie schön ein Leben lang nehmt und ihr brav euer Leben lang für den teuren Scheiß bezahlt, der euch am Ende auch noch das Leben kostet. Ich an deiner Stelle würde die Medikamente entsorgen, glaub mir, danach wird sich nur ändern, dass du dich besser fühlst und du ein normales Leben führst.“

Es reicht! Ich trete einen Schritt vor, greife Mario am Kragen und ziehe ihn zu mir heran. Unsere Nasenspitzen berühren sich fast, ich sehe ihm fest in die Augen.

„Du bist nicht in der Position, mir zu sagen, was ich zu tun und zu lassen habe, und schon gar nicht hast du das Recht, mir ärztliche Ratschläge zu geben, die zudem noch völlig haltlos sind! Was habe ich, wenn es kein HIV ist? Warum hat es keinen Namen, wenn es doch so einfach sein soll? Warum kann man das nicht in meinem Blut nachweisen? Und woher willst du wissen, ob es mir schlecht geht?!“

Mario drückt mich von sich weg, zieht sein T-Shirt gerade. Er legt seinen Zeigefinger auf meine Brust.

„Wahrscheinlich bist du ein Junkie, der mit Chemie seinen Körper so zerschossen hat, dass er krank geworden ist. Du nimmst Poppers, hm?“

„Du widersprichst dir.“ Ich lächle ihn an, halte ihn aber immer noch mit beiden Augen fixiert.

„Tu ich nicht.“

„Tust du doch. Erst sind es die Medikamente, dann irgendwas, und jetzt Drogen. Entscheide dich mal.“

„Hör mal, hinter meinen Fakten stehen große Wissenschaftler, das sind Menschen, die mehr im Kopf haben als du. Dein ‚Aids’ kann zig Ursachen haben und es ist nun mal nachgewiesen, dass die meisten Positiven Drogenerfahrung haben!“

„Das ist Schwachsinn, und das weißt du!“

„Ach ja? Nimmst du Drogen oder nicht?“

„Ich habe. Aber nicht in dem Maße, dass ich mich damit völlig hätte kaputt machen können! Und es gibt genug Positive, die nie Drogen angefasst haben und genauso Drogensüchtige, die negativ sind! Schau dir Dennis an. Dennis, Süßer, der Test, den Nico gemacht hat, wie war das Ergebnis?“

Dennis hebt den Kopf. Ganz blass ist er und wirkt furchtbar schwach. Am liebsten würde ich mich zu ihm setzen und ihn in den Arm nehmen, aber Mario steht mir im Weg.

„Negativ“, sagt er leise, seine Stimme ist belegt.

„Siehst du, Dennis ist negativ. Und er kokst, und das bestimmt nicht erst seit einer Woche. Und er ist nicht krank!“

„Wer weiß. Spätfolgen, in ein paar Jahren... und wenn er die Scheiße schluckt, die dein toller Überdoktor ihm angedreht hat, vergiftet er sich auf jeden Fall!“

„Er hat sich vielleicht eventuell unter Umständen infiziert, die Wahrscheinlichkeit ist scheiß gering und die PEP ist eine Postexpositionsprophylaxe. Prophylaxe! Es ist eine Chance, falls da was ist, das kaputt zu kriegen, bevor es sich ausbreitet. Lass ihm doch die paar Wochen seine Medikamente, verdammt. Ihr seid doch Freunde!“

„Genau deswegen will ich ihn vor der Lüge beschützen!“ Mario ist ganz rot im Gesicht und mir ist auch schon richtig warm. Er macht mich aggressiv.

„Du stellst dich ihm in den Weg!“

„Ich zeige ihm den richtigen Weg!“

„Du bist ein verdammter Sturkopf!“

„Opferschlampe!“

„Dissidentenarsch!“

„HALTET DOCH MAL DIE FRESSE, ALLE BEIDE!!!“

Ich sehe auf. Dennis steht im Korridor, die Hände zu Fäusten geballt. Seine Haare sind zerzaust und seine Augen rot geschwollen, seine Nase läuft, aber das scheint ihn nicht zu stören.

„Verschwindet, ich will keinen von euch mehr sehen!“

„Aber Dennis-“, will ich ihn besänftigen, aber er schneidet mir das Wort mit einem einzigen Blick ab. Verdammt, es tut mir Leid!

Dennis schiebt Mario und mich aus der Wohnung, knallt die Tür zu. Mario klopft gegen die Tür, drückt die Klingel durch, doch Dennis reagiert nicht. Wenig später dringen die Rolling Stones dumpf in den Hausflur.

„Das hast du super hingekriegt“, raune ich Mario an, der reißt die Augen auf.

„Ich? Du hast ihm den Floh ins Ohr gesetzt und ihm den Scheiß angedreht!“

„Halt die Klappe.“ Ich schiebe meine Hände in meine Hosentaschen, gehe ein paar Stufen die Treppe hinunter, dann bleibe ich stehen, drehe mich um und schaue, ob Mario mir folgt. Der sitzt auf der obersten Stufe und hat die Augen geschlossen. Was soll’s, mir ist jetzt alles egal. Der Streit war anstrengend und ich will nach Hause. Dennis kann ich jetzt sowieso nicht mehr helfen.

An meiner Wohnungstür klebt ein Zettel. „Wo steckst du? Ich erreich dich nicht. Melde dich! André“

Auf meinem Handy sind 3 Anrufe in Abwesenheit. Alle von André. Richtig, er wollte meine neuen Blutwerte haben... Und er ist noch gar nicht auf dem neusten Stand. Will ich ihm davon erzählen?

Ich schicke ihm meine aktuellen Werte per SMS, nehme meine Medikamente und lege mich ins Bett.

Sinneswandel

Ich kriege Dennis einfach nicht aus meinem Kopf. Die ganze Zeit frage ich mich, ob er Mario noch mal rein gelassen hat, was er mit seinen Medikamenten gemacht hat, ob er sich beruhigt hat. Ich kann nichts mehr für ihn tun. Er vertraut mir nicht mehr. Und dabei wäre es so wichtig für ihn!

Ich weiß nicht mal, warum ich mir so sehr den Kopf zerbreche. Dennis war ein Fick, eine Nummer, mehr nicht. Wenn er sich von seinem besten Freund einreden lassen will, dass HIV und Aids Hirngespinste geldgeiler Wissenschaftler und Ärzte sind, dann ist das sein Problem, nicht meins. Ich weiß es besser und damit sollte es gut sein.

Ist es aber nicht.

Es wurmt mich, dass ich Mario nicht vom Gegenteil hab überzeugen können. Wer von uns hatte die besseren Argumente? Und ist das überhaupt von Bedeutung?

Zudem ärgere ich mich, dass ich ausfallend geworden bin, dass ich ihn angebrüllt und dann auch noch angefasst habe. Das war absolut unreif!

Im Nachhinein fallen mir Millionen Dinge ein, die ich ihm hätte sagen können. Aber ändern kann ich es jetzt eh nicht mehr. Ich muss mich mehr auf mich konzentrieren, auf meine Baustellen. Was bei anderen Leuten abgeht hat mich nicht zu belasten.


„Mutter? Hast du einen Moment Zeit für mich? Ich muss dir was sagen...“ Meine Mutter schaute auf, stellte das Bügeleisen zur Seite. Ich war nervös. Ich wollte das jetzt durchziehen, das hatte ich mir fest vorgenommen. Irgendwann mussten sie es einfach erfahren, das war nur fair. Und was sollte schon passieren? Sie waren meine Eltern, sie würden mich schon nicht verstoßen.

„Muss das jetzt sein?“, fragte meine Mutter und zog das frisch gebügelte Oberhemd meines Vaters auf einen Kleiderbügel. „Du siehst doch, dass ich zutun hab.“

„Es ist wichtig... wirklich“, bat ich mit gesenktem Kopf. „Nur fünf Minuten... dann lass ich dich auch wieder in Ruhe.“

„Na gut“, seufzte sie. „Was gibt es denn so wichtiges zu sagen?“ Sie kam zu mir herüber, sah mir direkt ins Gesicht.

„Mutter, ich...“ Ich suchte nach Worten, starrte auf meine Füße, kratzte mich im Nacken. Ich konnte es ihr nicht sagen, sie würde mich hassen, sie würde mich rauswerfen, sie würde es nicht verstehen! Aber ich konnte jetzt nicht mehr weg. Ich schloss die Augen, holte tief Luft.

„Ich bin schwul. Und HIV positiv. Ich hoffe, das ist kein Problem für euch.“

Ich traute mich gar nicht, sie anzusehen. Ich wartete, dass sie etwas sagte, doch alles, was ich hörte, war das Ticken der Wohnzimmeruhr. Und dann, endlich: „Ist gut.“

Sie drehte sich um, ließ mich stehen, nahm das Bügeleisen wieder in die Hand und zog ein neues Hemd aus dem Wäschekorb.

Mutter ging mir aus dem Weg. Sie sprach kaum noch mit mir, wirkte kühl, verrichtete mechanisch die Hausarbeiten. Und Vater schenkte mir verständnislose, fragende Blicke. Aber er fragte nicht. Er schaute bloß. War ich hier überhaupt noch willkommen? Waren sie wütend auf mich, weil ich es ihnen verschwiegen hatte? Hatten sie gar keine Fragen?

Ich hatte Fragen... Viele sogar. Aber ich traute mich nicht, sie zu stellen. Ich wusste ja nicht mal, woran ich war! Offenbar hatte meine Mutter meinem Vater erzählt, was mit mir los war. Und jetzt fühlte ich mich am Abendbrottisch wie ein Sonderling auf dem Präsentierteller.

Das ging eine ganze Weile so. Nicht mal mehr mein Kätzchen hatte ich, um mich trösten zu lassen. Minka war beim Klettern vom Bücherregal gefallen, auf das ich sie gesetzt hatte, während ich mein Zimmer gesaugt hatte. Sie war genau auf dem Staubsauger gelandet, seitlich, hatte sich einige Rippen und das Hinterbein gebrochen und musste eingeschläfert werden. Ich war nicht nur unfähig, auf meine eigene Gesundheit zu achten, nein, ich brachte auch noch andere Lebewesen in Gefahr!

Meiner Mutter war Minkas Tod nur Recht gewesen. Sie hatte sowieso schon immer etwas gegen Tiere in der Wohnung. Nun war ich also wieder allein... und hatte nicht mal eine Familie, in der ich mich wohl und geborgen fühlen konnte.

„Mutter... es tut mir Leid, ich hätte eher etwas sagen sollen...“ Ich musste einfach das Gespräch mit ihr suchen. Sollten wir uns etwa die nächsten Jahre nur noch anschweigen? Es war doch eh schon so still in der Wohnung.

„Jonathan, ich will nicht darüber reden“, sagte sie genauso kühl, wie sie mich in den letzten Tagen behandelt hatte.

„Du sollst einfach wissen, dass es nicht ansteckend ist. Ich kann euch nicht anstecken, nur, weil wir zusammenwohnen, ihr müsst keine Angst haben vor mir.“

„Wenn du normal wärst, wärst du auch nicht krank!“ Ein einziger Blick in meine Augen. Wut. Hass. Enttäuschung. Verzweiflung. Trauer? Ich ließ den Kopf hängen. Hier hatte ich wohl nichts mehr zu suchen.

Am nächsten Morgen, als meine Mutter auf der Arbeit und mein Vater unterwegs war, einige Besorgungen zu machen, packte ich meine Sachen in meinen Koffer, die Reisetasche, den Rucksack, die Umhängetasche. Alles, was ich unterbringen konnte, verstaute ich, stopfte Plastiktüten und Kartons voll und lud alles in meinen Wagen. Ich schrieb einen Zettel, klebte ihn an meine Zimmertür:

„Ich bin hier nicht mehr erwünscht. Offenbar könnt ihr nicht akzeptieren, dass ich bin, wie ich bin. Es ist mir nicht leicht gefallen, es dir zu sagen, Mutter, aber ich hätte wohl doch lieber den Mund gehalten. Ich komme nicht zurück, ich suche mir meine eigene Bleibe. Jonathan“

Dann fuhr ich zu André, klingelte Sturm, bis er mir öffnete. Verwundert sah er erst mich, dann meinen Gepäckberg an.

„Was ist los? Willst du verreisen?“, fragte er, ich schüttelte den Kopf.

„Zu Hause gab es Probleme... kann ich ein paar Tage bei dir bleiben?“

„Probleme? Klar, man, komm doch erst mal rein!“

Er machte uns einen Tee, hörte sich an, was ich zu erzählen hatte und bot mir dann einen Schlafplatz an, bis ich eine eigene Wohnung finden würde.

„Mir ist doch egal, ob du positiv bist oder nicht“, flüsterte er mir ins Ohr, als er mich im Arm hielt und meinen Rücken streichelte. „Ich werd immer auf dich aufpassen, verlass dich drauf...“


„Hast du deine Medikamente genommen?“

„Ja doch.“

„Wann?“

„Vorhin.“

„Loki, ehrlich, du solltest sie viel regelmäßiger nehmen. Mal morgens, mal mittags, das kann so nicht in Ordnung sein.“

„Es ist egal, wann ich sie nehme, wichtig ist bloß, dass ich sie überhaupt nehme.“

„Alle 12 Stunden heißt alle 12 Stunden und nicht ‚im Abstand von 9 und 15 Stunden’!“

„Niemand verlangt, dass ich mit einem Wecker in der Tasche herumlaufe, André!“

André seufzt tief, nickt, schließt das Fenster. Er wischt mit dem feuchten Putzschwamm einmal über die Arbeitsfläche, dann legt er mir beide Hände auf die Schultern.

„Es ist okay. Du hast Recht. Es tut mir Leid.“ Ich spüre, wie er seine Lippen auf meine Haare drückt und mich von hinten umarmt. Ich küsse seine rechte Hand, schließe die Augen und genieße den Moment. Niemand kann mir mit einer einzigen Geste so viel Geborgenheit geben wie André.

„Wir müssen langsam los“, nuschele ich in seine Haut. „Sonst verpassen wir die Parade.“

Wir treffen Micha und Alex am Nollendorfplatz. Micha trägt eine pinke Hotpants und ein bauchfreies, weißes Oberteil. Seine Augen sind geschminkt und seine Füße stecken in Flipflops. Und so traut der sich auf die Straße?

Beim Anblick der ganzen Homosexualität um mich herum bekomme ich gleich ganz andere Laune. Ich spüre vertrautes Kribbeln, ich fühle mich super, ich bin genau da, wo ich hingehöre! Das bemerken auch meine Freunde.

„Loki ist zurück!“, lacht Micha und fällt mir um den Hals. Hoffentlich macht er mir keine Make-up-Flecken aufs T-Shirt. „Wie geht’s dir, Chéri? Du bist mit einem interessanten Sahnestück verschwunden letzte Woche.“ Danke, du Idiot. Gerade hatte ich Dennis so schön aus meinem Kopf verdrängt! Ich glaube, ich brauche dringend Alkohol.

„Er war ein Fick. Aber das hab ich gebraucht“, grinse ich meine Anspannung weg. „Und, was ist der Plan?“

„Wenn der Zug kommt, laufen wir mit bis runter zur Siegessäule“, erklärt Alex, der mal wieder an Andrés Hand klebt. Ich freu mich, dass die beiden so glücklich sind, wirklich. Und doch frage ich mich, wie so viel Glück überhaupt sein kann. Können zwei Männer sich über so einen langen Zeitraum so treu sein, sich immer noch über alles lieben und sich noch gegenseitig interessant finden? Wenn ich überlege, wie schnell Dani mir langweilig geworden ist... Liebe ist nichts für mich. Ich bin mir selbst der nächste, ich hab genug damit zutun, mich selbst befriedigt zu kriegen. Ich kann auf einen anderen Kerl einfach keine Rücksicht nehmen. Ich brauche meine Freiheit, meine Abenteuer, meine Partys. Ein Partner ist da nur ein Klotz am Bein.

Zum Glück hat es gestern aufgehört zu Regnen. Die schönste Sommersonne strahlt über dem bunten, schwul-lesbischen Treiben. Ich habe ein paar Bekannte getroffen, Micha, Alex und André habe ich hinter mir gelassen, und laufe mit Pat, Tommy und Markus vor dem Wagen des Bangaluu auf der Straße. Tommy hat eine Flasche Sekt dabei, die zwar pisswarm ist, dafür aber die Stimmung enorm lockert. Da ist kein Dennis mehr in meinem Kopf, nicht mal ansatzweise. Es gibt nur noch mich, die Musik und die große Party um mich herum!

„Du gehörst auf so ’nen Wagen!“, brüllt Markus, als Pat und ich uns tanzend aneinander reiben. „Lass mal gucken, was auf dem GMF-Wagen los ist!“

Die Hitze sorgt dafür, dass der wenige Alkohol ganz schöne Wirkung erzielt. Irgendjemand hat mir einen „aktiv“-Aufkleber auf den Arm gepappt, Pat zeigt lachend darauf, als wir vier den Zug entlanglaufen auf der Suche nach dem GMF-Wagen. Schnell werden wir fündig. Und genauso schnell werde ich gefunden.

„LOKI!“, schreit jemand gegen die laute Musik an, ich entdecke Tristan auf dem Wagen. Neben ihm steht meine Seebegegnung Nils. Na großartig. „Komm rauf!“

Tristan streckt mir seinen Arm entgegen. Ich klettere unter der Absperrleine durch, einer der Securitys hält mich fest.

„Gehst du bitte hinter die Absperrung“, weist er mich an, aber ich denke gar nicht dran.

„Das ist okay, das ist Loki, der gehört zu mir!“ Tristan nimmt meine Hand und zieht mich hoch.

„Tja, Pech gehabt“, grinse ich den Security an und schwinge mich zu den tanzenden, feiernden Kerlen auf den Wagen.

„Besorg mir ’nen Caipi, ich bleib ne Weile hier!“, rufe ich Pat zu, der nickt, winkt.

„Du bist der geilste, Loki!“ Ich verstehe ihn kaum noch, die Musik ist einfach zu laut. Der Bass wummert in meinem Bauch, Tristan fällt mir um den Hals. Jetzt weiß ich auch wieder, warum ich den eigentlich nicht leiden kann. Aber wenigstens hat er mir hier rauf verholfen, was schon mehr als geil ist.

„Komm mit hoch!“ Tristan zerrt mich hinter sich her eine Etage höher. Von hier hat man einen sehr guten Überblick über die Party um uns herum. Hier oben bin ich der König der Welt!

Ich pelle mich aus meinem T-Shirt, stecke es an einer Gürtelschlaufe meiner Jeans fest. Der Tag gehört mir!


Vor der Siegessäule steht eine Bühne, auf der sich Redner und Musik Acts die Klinke in die Hand geben. Ich werde von hinten von einem halbnackten jungen Mann umarmt, der mir genüsslich im Nacken herumleckt. Ich vermische mit meinem Strohhalm Eiswürfelschmelzwasser mit braunem Zucker, trinke einen Schluck von der süßen Brühe und werfe dann meinen Plastikbecher auf den Boden. Der fünfte oder sechste für heute, ich hab nicht mitgezählt.

„Da ist gar kein Alkohol mehr drin“, murmele ich vor mich hin und merke, dass ich völlig betrunken bin.

„Soll ich uns noch was holen?“, fragt der Kerl hinter mir, seine Hände streichen über meine nackte Brust.

„Warte... ich komm mit“, fasele ich mir zusammen. Ich bin nicht sicher, ob ich noch geradeaus laufen kann. „Ich muss mal pissen.“

Ich weiß nicht, wie er heißt. Haben wir uns einander vorgestellt? Aber er folgt mir in die Büsche des Tiergartens, lutscht weiter in meinem Nacken herum, während ich mich an einem Baum erleichtere.

Irgendwas fehlt... wo ist mein T-Shirt? Hatte ich nicht ein T-Shirt mit? Ich war auf dem Wagen... Hab ich mich da nicht ausgezogen, oder war ich schon nackt? Ich hab getanzt und Bier getrunken. Pat, der Idiot, hat mir meinen versprochenen Caipi gar nicht gebracht! Dann war der Zug zu Ende, Tristan und ich sind vom Wagen gestiegen... und Nils war auch dabei. Der junge Mann, der sich jetzt an mir zu schaffen macht, ist mir gefolgt. Der war wenigstens anständig genug, mir einen vernünftigen Drink zu besorgen! Wir haben getrunken und getanzt und heiße Blicke getauscht, und dann...

Ich spüre zwei warme Lippen auf meinen, die mir mittlerweile schon sehr vertraut sind. Eine weiche Zunge, die meine streichelt, eine Hand auf meinem Hintern, der, weil die offene Hose ein ganzes Stück heruntergerutscht ist, blank liegt.

„Mein T-Shirt ist weg“, lalle ich und muss mich am Baum stützen.

„Du brauchst doch auch kein T-Shirt“, sagt mein gegenüber und küsst meine Brust. Seine Hand wandert von meinem Hintern zu meinen Eiern und massiert sie.

„Kann uns hier nicht jeder sehen?“, frage ich und schaue mich um. Durch die Zweige hindurch kann ich Menschen sehen. Es ist schon spät, die untergehende Sonne taucht alles in ein orange-rotes Licht.

Der Namenlose dreht mich um, lehnt mich mit dem Rücken an den Baum.

„Soll uns doch jeder sehen“, flüstert er, saugt an meinem Hals. Macht der mir etwa einen Knutschfleck? Irgendwie finde ich die Vorstellung, dass uns jeder, der will, zuschauen kann, ziemlich antörnend.

„Darf ich dich ficken?“ Ich grinse dreckig, er kichert. Mindestens genauso verrucht.

Meine Hose rutscht auf den Boden, Namenlos zerrt meine Unterhose herunter bis zu meinen Knien, während er tiefer geht, sich hinhockt, sich hinkniet, meine Eier lutscht und schließlich meinen Schwanz in den Mund nimmt. Eine Antwort gibt er mir nicht. Doch die brauche ich auch nicht.

Ich schließe die Augen, lege den Kopf an den Baumstamm. Das Schwarz vor meinen Augen dreht sich, aber ich genieße, wie er bläst, und das Gefühl überwiegt eindeutig. Die geile Sau! Meine Finger wühlen sich durch seine Haare und führen seinen Kopf. Meine Hüfte schiebt sich vor und drückt meinen Schwanz bis in seinen Hals. Seine Hände kneten meinen Arsch.

Eine kleine, heiße Ewigkeit nuckelt er an mir herum, die Geräusche um uns herum verblassen in meinem Kopf. Alles, was ich spüre, sind mein Schwanz und die Lippen und Zunge von Namenlos. Ganz kurz wird mir kalt an meinem besten Stück, dann legt sich eine warme Hand fest um meine feuchte Haut. Meinen Hintern hat er losgelassen, meine eigenen Hände liegen mittlerweile auf der rauen Rinde des Baumes in meinem Rücken und suchen nach Halt.

Ich komme kurz und heftig, stöhne einmal gedrungen auf, als ich den Höhepunkt erreiche. Die laute Musik kehrt zurück in meinen Kopf, ich spüre meinen Herzschlag und entspanntes Kribbeln im ganzen Körper, besonders im Unterleib. Mein namenloser Bläser zieht sich die Hose hoch. Wann hat er die denn ausgezogen? Sein halbsteifer Schwanz glänzt feucht. Er wischt sich die nassen Finger an der Jeans ab, küsst mich. Er schmeckt nach Pimmel und Orgasmus.

„Willst du dich nicht anziehen?“, fragt er, ich grinse ihn debil an und versuche dann, meine Unterhose hochzuziehen. Ich kriege meine Hände nicht wirklich koordiniert, schaffe es aber doch, mich anzuziehen und meine frisch geleckten Genitalien ordentlich zu verstauen. Aber wo ist bloß mein T-Shirt hin?

„Mein T-Shirt ist immer noch weg...“, brabbele ich, Namenlos legt einen Arm um mich und zieht mich mit sich.

„Wir besorgen uns jetzt was zu trinken“, sagt er, seine Hand schiebt sich in die Gesäßtasche meiner Hose.

„Du hast es mir doch grad besorgt“, giggele ich, er lacht.

„Hat’s dir gefallen?“

Ich nicke, kriege das bescheuerte Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht.

Zehn Minuten später fließt kalter Caipirinha durch meine Speiseröhre. Wir haben uns an den Straßenrand auf den Bürgersteig gesetzt. Ich vermisse eine Rückenlehne... In meinen Ohren fängt es immer mehr an zu rauschen.

„Hier steckst du!“ Plötzlich haut mir jemand gegen die Schulter. Wer ist das denn? Ach, André!

„André! Setz dich doch!“, biete ich ihm an und klopfe mit der freien Hand neben mich auf den warmen Asphalt. „Wo hast du Alex gelassen?“

„Ich will mich nicht setzen.“ Ich glaube, er ist sauer. Jedenfalls sieht er sauer aus. Er sollte feiern, es ist CSD! „Alex und ich haben uns aufgeteilt, wir haben dich überall gesucht! Was machst du hier? Will ich wissen, wer das ist?“ Er deutet auf meinen namenlosen.

„Ich weiß es ja selbst nicht!“ Der Bläser und ich sehen uns an und brechen gleichzeitig in albernes Gekicher aus.

„Also, ich bin Daniel“, stellt er sich vor und reicht mir die Hand.

„Und ich bin Loki.“ Wir schütteln uns die Hände, lachen. „Ich war mal mit ’nem Daniel zusammen. Aber du kannst eindeutig besser blasen! Siehst du André, das ist Daniel, und wir zwei sind bloß ein bisschen betrunken. Wir waren da hinten im Gebüsch und-“

„Du bist völlig besoffen!“ André reißt mir den Becher aus der Hand, gießt sich den Cocktail durch die Finger und fängt die Eisstücke auf.

„Hey, das ist meiner!“, protestiere ich. André reibt das Eis kurz zwischen seinen Handflächen, dann wischt er mir Eiswasser ins Gesicht und zieht mich am Arm hoch.

„Du kommst jetzt mit“, befiehlt er. „Sag tschüs zu deinem Daniel, du hast genug gehabt für heute.“

„Ist das dein Freund?“, fragt Daniel und zeigt auf André.

„Das?“ Ich schüttle den Kopf. „Das ist mein André. Ich glaub, ich muss jetzt gehen.“

„Komm.“ André legt sich meinen linken Arm über die Schultern, hält mich mit seinem rechten Arm fest und stützt mich beim Laufen. Mein Gesicht fühlt sich klebrig an und der Geruch von Limetten hängt mir in der Nase.

„Warum hast du meinen Cocktail weggeschüttet? Das war gemein von dir...“, schmolle ich. „Du weißt genau, wie sehr ich auf Caipis stehe... Und wo gehen wir hin? Guck mal, die Party ist noch gar nicht vorbei! Der DSC... GS... der Christopher... C...SD ist nur einmal im Jahr!“ Das Reden fällt mir immer schwerer. Dabei sind die Worte doch ganz klar in meinem Kopf!

„Loki, halt die Klappe, du laberst Unsinn.“ Er schleppt mich vom Bürgersteig wieder auf die Straße.

„Gehen wir jetzt doch wieder Party machen?“, frage ich begeistert. Auf meinen André ist Verlass! Der steht auf große Partys! „Krieg ich einen neuen Caipi?“

André ignoriert mich. Er steuert eine Würstchenbude an.

„Du isst doch gar keine Würstchen“, rede ich weiter. „Wenn du ein Würstchen willst, hab ich auch eins für dich...!“

„Du hast genug für heute. Halt dich da fest.“ Er platziert meine Hand an einem der Stehtische vor dem Wurstwagen. „Ich brauch irgendwas ohne Alkohol. Habt ihr ’ne Cola da oder besser noch Wasser? Und könnte ich ’ne Schrippe haben? Ohne Wurst?“

Was will André denn ohne Alkohol und mit einer Schrippe?

„Du bist langweilig, André!“, rufe ich ihm zu. „Seit du mit Alex zusammen bist, bist du so langweilig! Mit ohne Alkohol kann man gar keine Party machen!“

„Ist gut Loki, komm, hier, trink das.“ Er drückt mir eine offene Plastikflasche in die Hand. Brav nehme ich einen Schluck; beim Trinken bekleckere ich meinen Oberkörper mit Mineralwasser.

„So ist gut. Und jetzt gehen wir zwei schön weiter. Du gehörst nach Hause.“

„Ich will nicht nach Hause! Ich will mein T-Shirt und meinen Caipi zurück und Party machen!“

André steckt mir ein Stück Brötchen in den Mund.

„Kauen, nicht reden. Du brauchst was im Bauch. Die Party ist vorbei für heute. Und dein T-Shirt kriegst du ja auch wieder.“

Wir laufen ewig. Mir tun die Füße weh. Je weiter wir laufen, desto weniger Menschen sind um uns. Er bringt mich wirklich weg von der Party!

Zwischendurch telefoniert er mit Alex. Zum U-Bahnhof Hansaplatz soll er kommen. Was sollen wir denn am Hansaplatz?

Wenigstens finde ich am U-Bahnhof eine Bank zum Draufsetzen und Rücken anlehnen. Meinen schweren Kopf parke ich an Andrés Schulter. Er hat mir den Rest Mineralwasser über den Kopf geschüttet, meine nassen Haare hinterlassen einen feuchten Abdruck auf seinem Shirt.

Irgendwann ist Alex da. Mein T-Shirt hat er aber nicht dabei. André hat doch gesagt, ich kriege es wieder!

Wir fahren ein Stück mit der U-Bahn. Gerade hab ich mich so schön an das angenehme Fahrgefühl gewöhnt, da muss ich auch schon wieder aufstehen und laufen, sogar Treppen steigen. André schließt die Haustür auf, er und Alex helfen mir bis in die Wohnung.

„Du brauchst ’ne Dusche“, murmelt André, während er mir Schuhe, Socken und Hose auszieht.

„Was machst du denn da?“, frage ich ihn. All die Jahre hab ich versucht, ihn rumzukriegen, und jetzt zieht er mich einfach so aus?

„Wir bringen dich jetzt schön ins Bad und da wäschst du dich“, erklärt er und zerrt mich wieder auf die Füße. Dabei hab ich so gemütlich gesessen... „Schaffst du das alleine, oder soll ich dir helfen?“

Er wartet gar keine Antwort ab. Alex veranstaltet irgendwas in meiner Küche, André schiebt mich ins Bad unter die Dusche, dreht das Wasser auf. Eiskalt regnet es auf mich herab, nur langsam wird es warm. André hat die Duschkabine offen gelassen, greift nach meinem Duschgel, seift mich ein, schmiert mir Shampoo in die Haare, nimmt die Duschbrause aus der Halterung und spült mir den Schaum ab. Dann rubbelt er mir die Haare trocken, wickelt mich in ein großes, flauschiges Handtuch. Im Schlafzimmer zieht er mir eine neue Unterhose an und bringt mich anschließend in die Küche.

„So richtig?“, fragt Alex, André zählt die Pillen durch, die auf dem Tisch liegen. War Alex da etwa dran?

„Gut, danke“, nickt André und zitiert mich auf einen Stuhl. „Mach den Mund auf.“ Eine Pille nach der anderen wirft er mir in den Mund, wartet, bis ich jede einzelne mit Wasser heruntergespült habe. Ein Brot soll ich noch essen, bevor er mich zum Zähneputzen schickt, was ich alleine hinbekomme, und mich ins Bett bringt.

„Schlaf gut.“ Er streichelt mir den Kopf. „Ich schau morgen nach dir. Schlaf deinen Rausch aus. Ich hab dich lieb.“

Weiche Dunkelheit hüllt mich ein, als ich die Augen schließe. Es dreht sich immer noch alles... Hoffentlich finde ich bald Schlaf, ich bin plötzlich furchtbar müde...


Langsam öffne ich ein Auge. In meinem Bauch grummelt es. Wie bin ich hier her gekommen? Warum bin ich zu Hause und nicht mehr auf dem CSD?

Ich will mich aufsetzen, doch mein Kopf ist viel zu schwer und schmerzt bei jeder Bewegung. Mir ist furchtbar übel, aber wenigstens dreht sich nicht mehr alles in meinem Schädel.

Ganz vorsichtig schiebe ich meine Beine aus dem Bett, schaffe es, mich hinzusetzen, reibe mir mit der flachen Hand den Schlaf aus den Augen. Auf wackeligen Beinen wanke ich aus dem Schlafzimmer. Warum hab ich eigentlich nichts an außer einer Unterhose? Ich brauche einen Kaffee...

„Guten Morgen!“

Scheiße! Erschrocken zucke ich zusammen. André sitzt in der Küche, vor ihm auf dem Tisch steht ein Glas Milch. Er legt sein Buch zur Seite und setzt die Brille ab.

„Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken“, entschuldigt er sich. „Bist du also auch schon wach. In einer halben Stunde hätte ich nachgeschaut, ob du noch lebst. Es ist gleich zwölf!“

„Morgen...“, brummle ich, taumle zur Kaffeemaschine. „Warst du die ganze Nacht hier?“ Ich ziehe den alten Kaffeefilter heraus und werfe ihn in die Spüle, wo er mit einem matschigen Klatschen landet und lauter kleine schwarze Punkte auf dem silbrigen Edelstahl hinterlässt.

„Nein“, antwortet André. „Ich weiß nicht, woran du dich erinnerst, aber ich habe dich gestern betrunken am Straßenrand gefunden mit deinem neusten Spielzeug, das wohl schon gebraucht war. Lass mich das machen.“ Er schiebt mich zur Seite, holt einen frischen Kaffeefilter aus dem Schrank, füllt ihn mit Kaffeepulver.

„Stimmt...“ Ich kratze mich am Hinterkopf, mein Gedächtnis wirft mir ein paar Bildfetzen vor die Füße. „Daniel... der Bläser.“

„Alex und ich haben dich nach Hause und ins Bett gebracht“, berichtet er weiter, während er Wasser in die Maschine gießt. „Als du eingeschlafen bist, sind wir gegangen und ich bin seit etwa einer Stunde hier, um zu sehen, ob bei dir alles in Ordnung ist. Wie geht’s dir?“

„Mir tut der Kopf weh... und der Bauch.“ Ich setze mich an den Tisch, lege den Kopf auf die Platte und lausche dem gleichmäßigen Röcheln der Kaffeemaschine.

André läuft durch die Küche, öffnet Schubladen, Schränke, den Kühlschrank. Ich höre ihm beim Räumen zu. Mir ist egal, was er da veranstaltet, Hauptsache, er macht mir keine Vorwürfe.

„Hier.“ Ich hebe den Kopf, blinzle ihn müde an. „Gegen die Kopfschmerzen, gegen die Bauchschmerzen, zum wach werden und den Rest, weil du musst.“ Nacheinander schiebt er mir eine Aspirin, einen Teller mit zwei Käsebroten, einen Becher Kaffee, ein großes Glas Wasser und meine Pillen hin.

„Du bist so gut zu mir...“

Nach dem Frühstück und einer langen, warmen Dusche fühle ich mich schon ein wenig klarer. André hat die Küche aufgeräumt und den Frettchen ihre Geschirre angelegt. Zusammen mit den Tieren gehen wir in den Schillerpark. Ich hänge mir die Leinen um die Handgelenke, vergrabe meine Hände in den Hosentaschen und nuckle an meiner Zigarette. So muss ich wenigstens nicht reden. André schweigt eine ganze Weile und ich weiß, dass er das nur tut, weil er weiß, dass ich nicht reden will. Ich hasse es, dass er mich in- und auswendig kennt.

„Ich bin echt enttäuscht“, meint er dann doch. Und ich fühle mich sofort getroffen. „Was ist los mit dir? Ich meine, ich weiß, dass du nicht der verantwortungsbewussteste Mensch der Welt bist, aber mit deinen Medikamenten hast du dich immer einigermaßen vernünftig verhalten. Du weißt doch, wie wichtig das für dich ist.“

Ich nehme einen letzten Zug von meiner Zigarette, dann werfe ich den Stummel auf den Boden und trete die Glut aus.

„Es gab ein paar Dinge zu verdrängen“, seufze ich, kicke einen Stein zur Seite. „Der Alkohol hat mir gestern geholfen und das war es, was für mich gezählt hat. Die Pillen kommen auch mal einen Tag ohne mich aus.“

„Idiot!“ André bleibt stehen, greift mich am Arm und dreht mich zu sich. „Was ist los mit dir? Du warst früher nicht so! Ist es die Trennung von Daniel?“

„Mit Daniel hat das gar nichts zu tun“, gebe ich zurück. Er soll aufhören, mich so anzusehen, das kann ich nicht leiden! Ich senke den Kopf, schließe für einen Moment die Augen. Ich kann seine Blicke spüren, fühle mich beobachtet. Ich will seine Moralpredigt nicht, ich will nicht hören, dass ich einen Fehler gemacht habe. Aber es muss raus. André ist mein bester Freund. Der einzige, dem ich vertrauen kann...

Ich schieße noch einen Stein ins Gebüsch, hole tief Luft.

„Ich hatte Sex.“ Mein Herz klopft. „Ungeschützt.“

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