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E-Mail für Will - Der Punsch

Weihnachtschallenge 2019

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„Klong“ gongte das Smartphone.

Will rollte mit den Augen. ‚Wer ist denn das schon wieder?‘ dachte er genervt.

‚Ich sollte das Ding öfters ausschalten‘. Seit er auch seine Emails über diesen Apparat lesen konnte, gab das Teil überhaupt keine Ruhe mehr. Trotzdem zog er es aus der Hosentasche und las eine Einladung:

„Hey Bill, Du kommst doch auch zu unserer traditionellen Weihnachtsfeier am 19., oder?“

Die Signatur „H.Hensen“ sagte ihm gar nichts, auch das Adressbuch seines Smartphones kannte den Absender nicht.

Zudem hieß er ja Will und nicht Bill.

Da hatte sich wohl einer ziemlich gründlich verschrieben! Allerdings konnte man ‚vonneuenburg‘ eigentlich nicht aus Versehen eintippen, oder?

Will beschloss, die Email zu ignorieren und löschte sie aus dem Speicher seines Mobil-Telefons.

Was wollte er denn gleich nochmal?

Achso ja, die Weihnachtsgeschenke für seine beiden kleinen Schwestern. In Absprache mit ihren Eltern wollte er die sehnlichst gewünschten Barbie-Puppen besorgen, schließlich verdiente er seit vier Monaten sein eigenes Geld und wollte sich nicht lumpen lassen, musste er doch zu hause vorerst nur den symbolischen Betrag von 100 Euro abdrücken. Auch wenn sein Lehrlingsgehalt mit 770 Euro nicht gerade üppig war, so hatte er es fast komplett für sich. Seine Eltern sorgten nach wie vor für Kost und Logis, außerdem für die normalen Klamotten. Lediglich für spezielle Marken-Artikel sollte er selbst aufkommen, doch Dank seines eher konventionellen Geschmacks hatte er auch da nur selten etwas auszuhalten.

So stand er also in der Puppenabteilung des alteingesessenen Spielwarengeschäfts am Marktplatz und tat der sehr freundlichen Verkäuferin seinen Wunsch kund. Schnell hatte er sich für zwei verschiedene „Barbies“ entschieden und auch für je einen Satz zusätzlicher Anziehsachen.

Die Frage, ob man alles als Geschenk verpacken sollte verneinte er zum Erstaunen der Einzelhandels-Fachkraft. Er grinste sie nur freundlich an, kannte er sie doch schon als langjährige Mitarbeiterin in diesem Geschäft. Seine Frage nach der Modelleisenbahnabteilung wurde jedoch zu seiner Überraschung negativ beschieden.

„Wissen Sie, Herr von Neuenburg“ oha, auch sie erinnerte sich also an ihn,

„das lohnt sich leider überhaupt nicht mehr. Wir haben die Abteilung deshalb schon vor zwei Jahren aufgegeben!“

„Das ist aber Schade, Frau Hennings, da habe ich immer sehr gern vorbei geschaut. Und jetzt, wo ich mein eigenes Geld verdiene, hätte ich mir endlich wieder die ein oder andere Lok leisten können. Allerdings muss ich zugeben, dass ich diesbezüglich auch im Internet unterwegs bin!“

„Sehen Sie, da können wir preislich nicht mehr mit!“ erklärte sie ihrem jungen, aber dennoch langjährigen Kunden.

„Jedenfalls vielen Dank und alles Gute! Frohe Weihnachten!“ , damit beendete er seinen Besuch. Mit seiner Plastiktüte bewaffnet, schlenderte er noch über den abendlich bunt beleuchteten Weihnachtsmarkt.

Am Crêpes-Stand kam er freilich nicht vorbei ohne sich einen mit der berühmten Nuß-Schokocreme zu gönnen. Dazu vom Stand nebenan einen alkoholfreien Kinderpunsch und die Welt war in Ordnung.

Jaaa, einen Kin-der-punsch! ‚rede ich chinesisch, oder was‘ dachte er sich verärgert, als er in das feixende Antlitz diese aroganten Glühwein-Hiwis schaute.

‚Man sieht der vielleicht schwul aus‘ fuhr es ihm plötzlich durch den Kopf. Erschrocken über sein Vorurteil, hielt er inne und nahm mit etwas freundlicherem Gesichtsausdruck als eben das bestellte Getränk entgegen.

„Was?“ entfuhr es ihm harscher, als gewünscht, als ihn der Typ hinter der Theke nach wie vor anstierte, wenn auch nicht mehr so herablassend, wie noch gerade eben.

Der löste sich aus seiner Starre und erwiderte freundlich: „Lass es Dir schmecken, kriegst auch gleich noch einen Schluck nach, wenn Du möchtest“

Der unerwartet sonore Baß in der Stimme irritierte Will.

„Hey, schau nicht so wie ein Frosch, wenn‘s blitzt“ gackerte nun der Glühweinverkäufer, worauf sich Will eines Grinsens nicht erwehren konnte, waren ihm wohl seine durchaus feinen Gesichtszüge entgleist.

„Schon besser“ murmelte sein Gegenüber,

„Komm, gib mir Dein Glas nochmal“

Will tat, wie ihm geheißen und Bill, wie sich der Glühwein-Mann vorstellte, füllte ihm sein halbleeres Glas einfach so noch einmal auf. Als er bezahlen wollte, winkte der aber ab.

„Weißt Du, um diese Zeit wollen alle nur noch Alkohol!“

„Außer solche Zuckerschlecker, wie Du.“ setzte Bill nach.

‚Flirtet der jetzt am Ende mit mir?‘ fragte sich Will erneut verwirrt und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.

„Man, jetzt schau doch nicht so bedeppert in die Gegend, Du bist viel schöner, wenn Du lachst.“

Au weia, Zeit gründlich die Gesichtsfarbe zu wechseln. Und den Ort: Will bahnte sich rasch seinen Weg durch die dichter werdende Menschenmenge und floh regelrecht nach Hause.

Was war nur mit ihm los, dass ihn so etwas derart aus der Bahn warf?

Der war doch am Ende einfach nur nett. Aber die Stimme! Tief und überaus angenehm weich.

Will schüttelte seinen Wuschelkopf als ließen sich derartige Gedanken damit so einfach vertreiben.

Zuhause angekommen, versteckte er seinen Einkauf vor den neugierigen Blicken seiner Schwestern. Gerade noch rechtzeitig konnte er die Tüte mit dem verräterischen Aufdruck im oberen Fach seines Kleiderschranks verschwinden lassen, bevor die Zwillinge das Zimmer ihres Bruders stürmten um sich von ihm bespassen zu lassen. Die beiden konnte zwar noch nicht lesen, aber die Tüten des hiesigen Spielwarenladens waren unverwechselbar deren üblichen Inhalts zuzuordnen.

Zum gefühlt hundertsten Mal musste ihnen Will aus dem nicht mehr so ganz zeitgemäßen und politisch vollkommen inkorrekten Kinderbuch vorlesen.

Nach einer Stunde ließen sie schließlich ihren Bruder mit seinen dann wiederkehrenden, verwirrenden Gedanken alleine.

Niemals zuvor hatte ein männliches Wesen seine Gefühle derart in Wallung gebracht. Klar hatte er vor Jahren mit dem einen oder anderen seiner Klassenkameraden einen Schwanzvergleich angestellt. So richtig daran erinnern konnte er sich nicht. Doch halt: Seiner war immer ein bisschen kleiner gewesen. Plötzlich fiel ihm auch wieder ein, dass sie dann einmal sogar gemeinsam gewichst hatten und dabei war dann der Größenunterschied nicht mehr festzustellen gewesen.

Wieder schüttelte Will seinen Kopf und wieder kam ihm Bill in den Sinn, der ihm seltsam bekannt, ja regelrecht vertraut vorkam.

„Essen“ schallte es an sein Ohr.

Im Gegensatz zum morgentlichen „Aufstehen“ ließ sich Will nicht zweimal zur Nahrungsaufnahme rufen.

„Guten Abend, Will“ tönte es ihm entgegen, als er das Esszimmer betrat. Oha, die gesamte Elternfront war schon am Tisch versammelt und auch die Zwillinge saßen auf ihren erhöhten Stühlen.

Spaghetti Bolognese stand in einer außerordentlich großzügigen Menge auf dem Tisch, was Wills Augen zum Leuchten und seinen Vater zum Lachen veranlasste.

„Hallo Papa“ erwiderte er den Gruß seines Erzeugers.

„Du scheinst ein wenig hungrig zu sein“ zog der seinen Sohn auf.

„Na bei dem Essen haust Du aber auch immer ordentlich rein“ konterte Will, worauf seine Mutter laut heraus lachte und ihren Männern eine erste Portion verabreichte, die sie fast schon vertilgt hatten, bevor die beiden Mädchen überhaupt versorgt waren.

Mama von Neuenburg rollte mit den Augen und konnte sich einen tadelnden Satz an die Herren der Schöpfung über deren (Fr)essgewohnheiten nicht verkneifen. Dennoch gab sie beiden reichlich Nachschlag, bevor sie endlich selbst in den Genuss ihrer vorzüglichen „Bolo“ kam. Die Zwillinge matschten zwar ausführlich in ihren quietschbunten Plastiktellern herum, die vorsorglich mit nur sehr kleinen Portionen gefüllt waren, aber letzten Endes aßen sie alles artig auf.

Zufrieden strichen sich Vater und Sohn über die Bäuche. Wieder einmal herrschte Einigkeit darüber, dass es wohl nirgendwo auf dieser Welt eine so gute „Bolognese“ gab.

„Und, was habt Ihr heute gemacht“ wollte nun Papa von Neuenburg wissen, der sich sehr für die Ausbildung seines Sohnes interessierte.

„Naja“, meinte der „zur Zeit ist wieder Blockunterricht in der Berufsschule. Aber heute durften wir zum ersten Mal an den Fahrsimulator. Das war schon spannend. War aber nur zum Reinschnuppern, weil wir ja erst mit den ganzen Regelwerken angefangen haben und auf die Besonderheiten und Unregelmäßigkeiten können wir noch gar nicht richtig reagieren.“

„Klingt in der Tat interessant. Meinst Du ich könnte da auch Mal eine Runde fahren?“

„Ich denke schon. In zwei Wochen zum Beginn der Weihnachtsferien haben wir einen Tag der offenen Tür im Betrieb. Da haben wir ja auch so ein Ding stehen. Der wird da jedes Jahr vorgeführt und darf auch ausprobiert werden“

„Da gehen wir auf jeden Fall hin, was meinst Du, Frau?“

„ Ja sicher, wir wollen uns doch mal ansehen, wo unser Filius arbeitet bzw. lernt. Kommen da viele Eltern?“ wandte sich Frau von Neuenburg an ihren Sohn.

„Keine Ahnung. Eingeladen seid ihr jedenfalls. Unser Ausbilder hat gemeint, dass erfahrungsgemäß immer so vier, fünf Eltern auftauchen. Darf ich aufstehen?“

„Ja sicher, gehst Du noch aus heute?“

„Nein, wieso?“

„Ich dachte halt, weil Wochenende ist.“

„Ach nö. Ich bin ziemlich geschafft und geh‘ wohl zeitig ins Bett. Ich sag‘ schon Mal gute Nacht.“ sprach‘s und verzog sich auf sein Zimmer.

Seine Eltern blieben etwas ratlos zurück.

„Irgendwas stimmt nicht“ meinte Wills Vater und sprach damit aus, was seine Frau dachte.

„Er wird schon kommen, wenn er Unterstützung braucht.“

„Das denke ich auch, bringst Du die Mädels ins Bett? Dann können wir die Nachrichten gucken.“

„Kein Problem, bis gleich. So, auf geht‘s meine Damen“

Widerstandslos wackelten die beiden vor Ihrem Vater her.

Will lag inzwischen rücklings auf seinem Bett und starrte an die Decke seines Zimmers, von der die aufgeklebten Sterne und der Mond schwach ihr fluoreszierendes Licht abstrahlten. Wenn er es sich so recht überlegte, musste er sich eingestehen, dass er tatsächlich noch nie ein besonderes Interesse an den Mädchen seines Bekanntenkreises und auch allgemein hatte. Im Grunde hatte er sogar die ein oder andere Avance seitens der Weiblichkeit zwar charmant, aber bestimmt abgeblockt. Dabei verstand er sich mit einigen bisweilen besser als mit seinen Mitschülern.

Deren Prahlereien und häufigen Partnerwechseln stand er immer verständnislos gegenüber.

Sein Zimmer war gut geheizt, weshalb er zunächst seinen Pullover auszog, dabei überkam ihn das Gefühl sich ganz ausziehen zu wollen. Dem gab er nach kurzem Zögern nach. Nach einem kurzen Sprint zur Tür schloss er selbige ab und setzte sich an seinen Computer.

Nach dem die Kiste hochgefahren war, schaute er noch kurz auf seine emails.

Da war sie wieder:

„Hey Bill, Du kommst doch auch zu unserer traditionellen Weihnachtsfeier am 19., oder?“

Absender: H.Hensen.

Er wurde unsicher, ob er nicht doch antworten sollte, obwohl er offensichtlich ja nicht gemeint sein konnte. Hm…

Dann begab er sich in den Surf-Modus (immerhin über die „Inkognito“-Maske, auch wenn das nicht so diskret ist, wie einem vorgegaukelt wird)

In einem ungünstigen Moment ploppte ein kleines Fenster auf, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass er eine neue Email erhalten habe. Da die Stimmung damit eh a. A. war, wechselte er zurück ins Email-Programm.

„Hey Bill, was ist nun? Warum meldest Du Dich nicht? Von den heißen Jungs haben schon etliche zugesagt.“

Allein dieser letzte Satz heizte ihm gleich wieder ein und machte in endgültig neugierig, also schrieb er zurück:

„Sorry, ich bin Will und nicht Bill. Danke für die Einladung, aber ich bin wohl nicht gemeint :)“

Wenige Augenblicke später las Will die überraschende Antwort:

„Egal, die Einladung gilt auch für Dich :)“

Darauf hin wurde es ihm gleich noch wärmer. ‚Wie jetzt?‘

„Okaaay, aber wo ist das überhaupt?“

„Störtebeker Allee 10 in Aalsberg, 19.12.19, 19 Uhr.“ kam es knapp zurück.

Ein Donnerstag, wie ihm der Blick auf den Kalender zeigte? Supi, das war ihr letzter Schultag in diesem Jahr und da war schon Mittags Schluss! Tatsächlich fand er eine Zugverbindung ohne Umsteigen mit Abfahrt um 13:18h und Ankunft um 18:51h. Perfekt.

Da saß er nun und glotzte auf seinen Bildschirm, tausend Gedanken sausten durch seinen Kopf. ‚Eigentlich ganz schön verrückt, oder?‘ fragte sich sein spontanes Ich.

‚was heißt da eigentlich?‘ antwortete sein Ratio.

Eine Weile überlegte er noch hin und her, ob er wohl noch eine Runde surfen sollte.

Auf alle Fälle besorgte er sich online seine Fahrkarte, bevor ihn sein Ratio noch überzeugen würde, diesen Trip NICHT zu unternehmen. Gut, SuperSparpreis ohne Umtauschmöglichkeit.

Am Samstagmorgen wurde Will durch ein vorsichtiges Klopfen an seiner Zimmertür geweckt.

„Will, magst Du nicht aufstehen?“

„Mama, komm doch rein“

Die Klinke wurde gedrückt.

„Geht nicht, Du hast abgesperrt“

„Ja, Entschuldigung, warte“, ohne weiter nachzudenken stolperte er zur Tür und drehte den Schlüssel. Schon stand seine Mutter im Zinmer und bekam große Augen.

‚Oh Sch… öne Welt‘ dachte er und war blitzschnell wieder in seinem Bett verschwunden.

„Hey, Großer“ begann seine Mutter mit sanfter Stimme nachdem sie sich wieder gefasst hatte.

„es ist zwar schon eine ganze Weile her, dass ich Dich so gesehen habe, aber ehrlich, Du schaust gut aus“ betonte sie und grinste zum Bett hinüber.

Dort wechselte Ihr Sohn gerade extrem die Gesichtsfarbe.

Doch das währte nur kurz und Will schlug die Decke wieder zurück und setzte sich auf den Rand seines Bettes.

„Meinst Du wirklich?“ fragte er halb grinsend, halb unsicher.

Mama von Neuenburg schüttelte der neuerlichen Aktion wegen den Kopf und schaute Ihrem Sohn in die Augen.

„Ja sicher, warum sollte ich Dir sonst solch ein Kompliment machen?“

„Danke!“ kam es etwas verlegen zurück

„Ich komme gleich runter!“

„Aber zieh Dir vorher was an!“ scherzte seine Mutter.

Jetzt mussten sie beide lachen, was die Situation endgültig entspannte.

Es war zwar schon halb elf, dennoch saß auch Papa von Neuenburg noch mit am Früstückstisch, allerdings halb hinter seiner Zeitung versteckt.

„Guten Morgen Will“ grüßte er „hast Du was passendes zum Anziehen gefunden?“ prustete er los.

„Wilhelm!“ „Mama!“ tönte es gleichzeitig vorwurfsvoll, worauf der allerdings nur noch mehr lachen musste.

„Krieg Dich wieder ein,“

„Ist ja gut! Es war einfach eine schöne Vorstellung, okay?“

Das wiederum ließ Will zum zweiten Mal an diesem Vormittag ziemlich rot anlaufen.

„Was ist denn auf einmal los mit Euch? Nacktheit war doch in unserer Familie noch nie ein Problem. Denkt doch nur an unsere Urlaube auf Rügen und Usedom. Da wollte sich Will nach kurzer Zeit überhaupt nichts mehr anziehen. Der wäre auch noch ohne was über die Strandpromenade marschiert.“ rechtfertigte sich Wilhelm von Neuenburg.

„Papa! Das war vor ungefähr hundert Jahren!“

„Ach ja?“ gluckste der, „naja 8 Jahre oder so ist es tatsächlich her! Unglaublich, wie die Zeit vergeht. Eva, wir werden alt!“

„Jetzt übertreib‘ mal nicht, aber eigentlich könnten wir mal wieder in die Sauna gehen!“

„Ich weiß nicht.“ warf Will ein.

„War ja nur eine Idee“.

„Die ist ja auch okay.“ fuhr Will fort,

„Es ist nur so, wie soll ich sagen“ stammelte er weiter. Inzwischen hatte sein Vater die Zeitung sinken lassen und auch seine Mutter schaute ihn jetzt erwartungsvoll an.

„Ja“ kam es von beiden gleichzeitig.

„Irgendwas passiert mit mir grade, ich denke meine Pubertät ist doch eigentlich vorbei, oder?“ fragte er unsicher.

„grundsätzlich schon, aber Deine Gefühle brauchen wahrscheinlich noch eine Weile um sich zu sortieren.“ sprang ihm seine Mutter erklärend zur Seite. Etwas irritiert schaute er sie an, dann sagte er mit leiser Stimme:

„Ich glaube ich bin schwul.“

Das folgende Schweigen am Tisch veranlasste Will panisch aufzuspringen und in sein Zimmer zu flüchten. Eine Schrecksekunde später folgte ihm sein Vater. Er klopfte an die Tür seines Sohnes und trat kurz darauf unaufgefordert ins Zimmer. Will lag bäuchlings auf seinem Bett, hatte sein Gesicht in sein Kopfkissen vergraben und weinte. Vorsichtig trat sein Vater ans Bett und flüsterte

“Will, hey Junge.“ Er ging in die Hocke und streichelte seinem Ältesten sanft über den Kopf.

„Nun beruhige Dich schon, was ist denn daran so schlimm?“

Ruckartig drehte sich Will um und blinzelte mit seinen verheulten Augen.

„Ihr verstoßt mich nicht?“

„Um Himmels Willen, wie kommst Du denn auf so eine absurde Idee?“

„Na, weil ihr grade so versteinert da gesessen seid. Ich dachte, da wäre unser Band zerissen“

Wilhelm von Neuenburg konnte jetzt nicht anders als seinen Sohn fest in den Arm zu nehmen.

„Will, wie kannst Du so was auch nur ansatzweise denken?“ fragte er fassungslos.

„Ich weiß auch nicht, vielleicht, weil es mich jetzt so schlagartig überrollt!“

„Aber, wie kommst Du denn darauf, also dass Du schwul bist oder sein könntest, meine ich?“

Inzwischen stand auch Eva von Neuenburg im Zimmer ihres Sohnes und folgte dem Gespräch ihrer beiden Männer. Will hatte seine Mutter bemerkt und klopfte neben sich auf sein Bett. So saß er eingerahmt zwischen seinen Eltern und erzählte von den Vorgängen, die in den letzten 24 Stunden seine Gefühlswelt praktisch auf den Kopf gestellt hatten.

„Will, ehrlich gesagt habe ich mir das schon länger gedacht.“ bemerkte Wills Mutter

Der sah sie nicht minder überrascht an als sein Vater.

„Hä, wie das denn?“

„Naja, Du hattest noch nie so richtiges Interesse an Mädchen. Du hattest und hast immer Freundinnen gehabt, aber Du warst immer, wie soll ich das sagen? Nun, immer auf eine Art auch distanziert, hast nie überschwänglich geschwärmt. Da ist nie was gelaufen, stimmt‘s? Ich glaube fast, Du warst froh, dass Du mit Lea eine sehr gute Freundin hast ,mit der Du Dich oft stundenlang unterhalten hast und mit der Du einfach auch zusammen gelernt hast. Wer Euch nicht näher kennt, würde sagen, Ihr seid ein Paar. Aber das seid ihr nicht. So bliebt ihr beide von den Anzüglichkeiten Eurer Klassenkameraden verschont. Dass Deine Neigung jetzt so plötzlich an‘s Tageslicht kommt, ist eigentlich überfällig. Trotz allem sollten wir nach unten, damit Du was frühstücken kannst.“ munterte sie ihren Sohn auf.

„Ja, los jetzt. Ich trinke jetzt auch noch eine Tasse Kaffee“ meinte nun auch Wills Vater.

Am Frühstückstisch fragte Papa von Neuenburg unvermittelt nach:

„Diese ominöse Weihnachtsfeier? Da willst Du doch nicht wirklich hin?“

„Doch“ antwortete Will ohne zu zögern „die Fahrkarte hab ich schon. Supersparpreis. Umtausch ausgeschlossen.“

„Echt jetzt?“ fragte seine Mutter fassungslos nach.

„Ja sicher, wieso denn nicht?“

„Weil Du da offensichtlich niemanden kennst.“ schlug sie vor.

„Aber vielleicht lerne ich da jemanden kennen.“ konterte Will.

„So ein bisschen ein verrücktes Huhn warst Du schon immer“ erinnerte sich sein Vater.

„Aber sei bloß vorsichtig,“

„Ja, ja.“ antwortete Will

„Sag‘ nicht ‚ja ja‘!“ erwiderte sein Vater mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

„Außerdem sind das ja noch gut anderthalb Wochen, vielleicht krieg ich ja bis dahin noch was näheres heraus,“ beschwichtigte Will seine besorgten Eltern.

Tatsächlich herrschte jedoch Funkstille seit der letzten Email. Auch wurde diese Abenteuerreise nicht mehr thematisiert.

Schließlich hieß es am letzten Schultag vor den Ferien:

„Also, meine Herren, ich wünsche Euch ein schönes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch! Am 7.Januar sehen wir uns wieder. Und: Nicht vergessen: Wir starten dann gleich mit einer kleinen Lern-Erfolgs-Kontrolle über ‚Fahrsicherheit‘“ So verabschiedete StR Lechner seine „Erstklässler“ in die Weihnachtsferien. Allerdings erntete er dafür eher ein Gemurre als die Erwiderung seines Grußes; undankbares Schülervolk.

„Jetzt kommt, stellt Euch nicht so an, schaut einfach ab und zu in Eure Unterlagen, damit Ihr Euch wieder erinnert. Es hilft nichts, das müsst Ihr in dreißig Jahren alles auch noch wissen.“ Worauf das Murren nur noch lauter wurde. Doch StR Lechner lachte nur „Macht es gut. Bis in zweieinhalb Wochen!“ Daraufhin verließ er die Klasse.

„Na dann, das wär‘s für‘s Erste. Ich wünsche Euch schöne Ferien.“ Mit diesen Worten packte Will seinen Rucksack und eilte zur Straßenbahn, damit er rechtzeitig zu seinem Zug kam.

Für Donnerstagmittag war schon ganz schön was los am Bahnhof. Wie würde das wohl erst am darauffolgenden Freitag sein, wenn die Weihnachtsferien offiziell begannen. Zu seinem Supersparpreis hatte sich Will dann doch noch eine Platzreservierung gegönnt. So schlenderte er gelassen am Zug entlang – einem der neuen ICE 4. In diesem Zug war es der Deutschen Bahn gelungen, das Sitzplatzangebot wieder ein Stück unbequemer und enger zu machen: Die Verstellmöglichkeit der Sitze war nochmals auf ein kleineres Maß begrenzt worden. Schon beim Gedanken daran, dass er da jetzt knapp sechs Stunden sitzen sollte, schmerzte ihn sein Rücken. Zum Glück gehörte er zu den Menschen, die im Zug fast in jeder Position schlafen konnte. Nach der Anzeige zu schließen, blieb der Platz neben ihm frei. Zumindest war er nicht reserviert. So richtete er sich auf seinem Fensterplatz einigermaßen häuslich ein. Sein Tablet, auf dem er schon 273 Geschichten seiner Lieblings-Web-Site als E-Books gespeichert hatte, hängte er gleich über sein Ladekabel an die Steckdose und schaltete es ein. Der einzige Vorteil in diesem modernen Fuhrwerk war, dass es kostenloses WLAN gab, was er auch gleich nutzen wollte, noch bevor die 500 anderen Fahrgäste das Netz mit Film-Streaming so langsam machen würden, dass er selbst zum Laden einer einfachen Seite schon gefühlt zwei Stunden brauchen würde. So wollte er nur rasch nach den neuesten Stories der Weihnachts-Challenge schauen, die ja seit wenigen Tagen online sein müssten. Und tatsächlich fand er eine ganze Reihe von Geschichten. Oops, was las er da „E-Mail für Will“, das war ja witzig. Schnell lud er sich sechs Beiträge herunter. Da würde er wohl nicht zum Schlafen kommen…

13:18h, Abfahrtszeit.

Pünktlich setzte sich die Eisenbahn in Bewegung.

Vorerst würde er nur aus dem Fenster schauen und sich am herrlichen Sonnenschein und der leicht überzuckerten, rasch vorüber huschenden Landschaft erfreuen.

Was ihn auf dieser Weihnachtsfeier mit den „heißen Jungs“ wohl erwartete? Noch immer grübelte er auch darüber, wie er überhaupt zu dieser Einladung gekommen war. Ein Vertipper in der Adresse war eigentlich auf Grund seines komplizierten Namens ausgeschlossen. Dass es sich wahrscheinlich um eine schwule Party handeln würde, darüber war er sich ziemlich sicher.

Hatte da irgendwer seine Adresse abgefischt mit dem Wissen, dass er schwul war? Er konnte sich darauf keinen Reim machen, eher wurde ihm etwas mulmig zumute, je länger er darüber nachdachte. Doch jetzt war es sowieso zu spät; inzwischen war er schon auf dem Weg quer durch die Republik. Klar könnte er sofort wieder aussteigen, aber wie schon in den vergangenen Tagen überwog die Neugier.

Nach einiger Zeit übermannte ihn schließlich der Schlaf und er dämmerte weg.

„Die Fahrausweise bitte“ tönte es am Ende des Wagens und Will schreckte auf.

Er war doch tatsächlich anderthalb Stunden eingeschlafen.

Da hatte er immerhin schon zwei Halte verpennt, nicht dass das wichtig gewesen wäre, aber er wunderte sich über seinen festen Schlaf. Er holte seinen Handy hervor und streckte dem Schaffner sein Handyticket entgegen. Er erkannte an der roten Armbinde, dass er sogar den Zugführer, also den Chef ‚det Janzen‘ vor sich hatte. Er mußte grinsen, weil in der Öffentlichkeit meist vom Zugführer geredet wird, wenn eigentlich der Lokführer gemeint ist. Selbst das Management der Bahn kennt da die eigene Terminologie nicht mehr, weil die alle nur noch aus der Wirtschaft kommen und keine gelernten Eisenbahner mehr sind, wie früher.

Will verspürte nunmehr einen deutlichen Appetit und als wollte sein Magen das noch unterstreichen, knurrte dieser so laut, dass Will glaubte, der ganze Wagen hätte das gehört. Er machte sich auf den Weg in das Bordrestaurant, wo er sich eine Kleinigkeit gönnen wollte. Hoffentlich war der Speisewagen auch intakt, was ja leider überhaupt nicht mehr selbstverständlich ist. Er war es, denn seine Bestellung wurde rasch serviert. Genüsslich verdrückte er die beiden „Elsässer Flammkuchen“ und das Radler. Zufrieden bestellte er sich noch einen Kaffee.

‚Zahlen, bitte‘ bedeutete er dem schnuckeligen Kellner.

‚Was denke ich jetzt schon wieder?‘ durchfuhr es ihn, als er sich des Begriffs richtig bewusst wurde, der ihm da angesichts des nett anzusehenden Bordpersonals durch den Kopf schwirrte.

Zurück auf seinem Platz, schnappte er sich sein Tablet und öffnete die erste Story.

Der Zug eilte mit 250 Sachen über die Schienen, was ihm die Anzeige über dem Mittelgang verriet.

Inzwischen war mehr als zwei Drittel der Strecke geschafft und er musste anerkennen, dass dieses neue Gestühle doch nicht ganz so unbequem war, wie es sich im ersten Moment anfühlte.

Langsam stieg die Spannung und Will wurde immer hibbeliger. Noch etwa zwanzig Minuten und er war am Ziel. Welches Ziel? Na das der Reise erstmal.

Auf seinem Tablet hatte er noch nachgesehen, wohin er denn vom Bahnhof aus laufen musste.

Das war denkbar einfach: Geradeaus weg, zweite Querstraße rechts.

Nach wirklich wenigen Schritten stand er vor der Störtebeker Allee 10, unschlüssig, ob er tatsächlich klingeln sollte. Plötzlich öffnete sich die Tür und ein großer Blonder lächelte ihn an.

„Du mußt Bill sein, nein Will, sorry. Erinnerst Du Dich an mich?“

Unsicher musterte Will sein Gegenüber.

„Na, Usedom, vor ungefähr hundert Jahren.“ lachte ihn der Blondschopf an.

„Hinnerk, weißt Du nicht mehr?“

Will wühlte tief in seinem Gedächtnis, bis es ihm plötzlich dämmerte. Da war ja doch noch so eine Pubertäts-Episode. Je mehr er darüber nachdachte, umso roter wurde seine Rübe.

„Ha, er erinnert sich!“ rief Hinnerk erfreut. „Komm‘ erstmal rein“

Dieser Aufforderung Hinnerks leistete Will unverzüglich Folge und so stand er mitten im großzügigen Wohnzimmer, wo ihn etwa acht Augenpaare neugierig musterten.

„Das ist Will“ erklärte der Gastgeber, „Den habe ich vor vier Jahren auf Usedom kennengelernt.“

„Ach der ist das!“ entfuhr es einem etwas tuntig wirkendem Rotschopf.

„Was bin ich“ wollte Will nun genauer wissen.

Hinnerk versuchte ihn abzulenken und den anderen Gästen vorzustellen, doch schon kam es provozierend:

„Na der, der mit dem Hinnerk auf Usedom rumgemacht hat“

Will starrte den Provokateur nun mit offenem Mund an. ‚Was zum Teufel hatte Hinnerk da herumposaunt und vor allem wem?‘ Als er seinen Blick in die Runde kreisen ließ, erntete er meist ein Feixen, das ihm unmissverständlich klar machte, dass er hier vorgeführt wurde.

„hey Mann, achte nicht auf den, meistens ist seine Snuut schneller als sein Kopp.“

Noch bevor er dunkelrot anlief und Hinnerk ihn aufhalten konnte, machte er stante pede kehrt und stürmte aus dem Haus.

„Du bist ein beispielloses Arschloch!“ hörte er noch, wie Hinnerk den Typen anschrie und hinter ihm her hechtete.

„Will, warte!“

„Will, bitte“

Doch für ihn war diese Party gelaufen bevor sie angefangen hatte. Die ganze Reise entpuppte sich als ein Schuss in den Ofen. Er wusste im Augenblick nicht, worüber er sich mehr ärgern sollte:

Über sich und seine Naivität, einer so windigen Einladung blind gefolgt zu sein,

seiner flüchtigen Urlaubsbekannschaft von vor vier Jahren

oder dieser unbeschreiblichen Arschgeige mit seinem losen Mundwerk. Dabei kannte er letzteren überhaupt und Hinnerk eigentlich auch nicht.

Mit wenigen Schritten erreichte er wieder den Bahnhof und erkundigte sich am Schalter nach seinen Rückreisemöglichkeiten. Er besaß gerade nicht den Nerv, sich auf die online-Suche zu machen. Ein sehr freundlicher Service-Mitarbeiter mit einer äußerst sanften Stimme vermittelte ihm noch einen Platz im fast ausgebuchten „Nightjet“ der österreichischen Bundesbahn, die vor drei Jahren sämtliche Nachtzugverbindungen von der Deutschen Bahn übernommen hatte, nachdem diese ihre Schlafwagenzüge als unrentabel eingestellt hatte.

„Bis Würzburg bist Du alleine im Abteil, dann kommt noch jemand bis München!“ raunte der sanfte Blonde ihm mit einem Augenzwinkern zu, dass es Will ganz heiß wurde.

„Abfahrt 20:12 Uhr, Gleis 4“

‚Puh, was ist bloß mit mir los‘ dachte er sich und schaffte es gerade so, sich mit krächzender Stimme zu bedanken und schleunigst seine Beine in die Hand zu nehmen.

Diese Stimme, verbunden mit dem überaus süßen Gesicht verursachte so heftige körperliche Reaktionen, dass es ihm schwer fiel einen klaren Gedanken zu fassen.

20:12h, da hatte er ja noch über eine halbe Stunde Zeit um sich im Sandwich-Laden seines Vertrauens (dem mit dem grün-weiß-gelben Logo) ordentlich zu versorgen.

Erstaunlicherweise gab es keine Warteschlange, so dass er noch die Zeit fand, an Ort und Stelle in relativer Ruhe zu essen.

Warum war er hier nur her gefahren?

Einer vagen Hoffnung wegen, unter „süßen Jungs“ einen für sich zu finden?

Mit einem Mal erschien ihm sein Handeln total „triebgesteuert“. Er lachte auf bei diesem Gedanken. Er triebgesteuert? Dabei hatte ihn seine Mutter schon oft als ebenso sturen Kopfmenschen bezeichnet, wie seinen Vater, wenn er wieder einmal mit schlauen Erklärungen versuchte, seine Gefühle zu erkunden und zu erklären.

Doch all das funktionierte plötzlich nicht mehr.

Umso ratloser schulterte er seinen Rucksack und begab sich zum Abfahrgleis, auf dem sein Zug auch schon überpünktlich einfuhr. Rasch fand er sein „Komfort-Abteil“ mit Dusche (die günstigere Kategorie war ausgebucht). Das obere Bett war das seine und ohne sich groß Gedanken zu machen, zog er sich zuerst aus und kramte dann erst seinen Schlafanzug hervor und spulte die abendliche Toilettenroutine ab.

Kurz darauf lag er zum ersten Mal in seinem Leben in einem Schlafwagenbett.

Er löschte das Licht, zog aber die Rollos nicht zu, denn er liebte die Lichter, die in unterschiedlichen Farben und Formen über die Abteildecke reflektiert wurden. Er lauschte dem Bimmeln eines Bahnübergangs, das beim Annähern erst hell und beim darüber Hinwegfahren einen halben Ton tiefer erklang. So lies er seinen Gedanken freien Lauf. Langsam entspannte er sich einerseits, denn es wurde ihm unmissverständlich klar, dass er definitiv schwul war. Mit diesem endgültigen Eingeständnis fügten sich plötzlich die Erinnerungsfetzen zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammen. Alles, was er bislang als pubertäre Aktionen abgetan und teilweise vergessen, oder sollte er ehrlicherweise sagen “verdrängt“ hatte, kam ihm jetzt als genussvolle Erfahrung wieder in den Sinn. Und er genoss jetzt die Reaktion seines Körpers.

Zum Glück hatte er schon beim Einsteigen die Fahrkartenkontrolle hinter sich gebracht und auch schon für 6:30h ein Frühstück bestellt.

Über all diesen nun positiven empfundenen Bildern und Eindrücken schlief er ein.

Selbst als in Würzburg sein Abteil-Genosse zustieg bemerkte er davon nichts.

Dieser zog sich so leise wie möglich aus und bezog das noch freie, untere Bett. Da er sehr müde war, immerhin war es gerade halbzwei, schlief er rasch ein.

So rauschte der Railjet auf leisen Sohlen durch die Nacht.

Plötzlich erwachte Will und vernahm ein leise knurrendes Geräusch. Ruckartig fuhr er hoch und knallte mit der Stirn gegen das Wagendach. Leise fluchend drehte er sich über den Rand seines Hochbettes und schielte nach unten zur Quelle der neuerlichen Töne.

„Ach Du Scheiße“ fuhr es ihm durch den Kopf, denn unter ihm lag kein geringerer als Bill, der Glühweinverkäufer. Noch einmal schaute er nach unten, als müsse er sich dessen versichern. Dann sank er auf sein Kissen zurück und ein Lächeln umspielte seinen Mund. Jetzt wurde ihm klar, wer sein Untermann war: Es war nicht nur der Punschverkäufer vom Weihnachtsmarkt, nein es war Bill, ein ehemaliger Klassenkamerad aus der sechsten oder siebten Klasse. Sie hatten sich in der fünften angefreundet. Und – ja natürlich – oje, oje. Da war noch etwas, was ihm nun, wie Schuppen von den Augen fiel: Bill hatte ihn damals gefragt, ob er mit ihm wohl auf‘s Schulklo gehen würde, neugierig, wie Will war, hatte er zugesagt und so hatten sie sich aus dem Kunstunterricht gestohlen. Will war damals körperlich schon ziemlich weit entwickelt und hatte im Gegensatz zu Bill Haare nicht nur auf dem Kopf. Doch von seinem Körper hatte Will im Grunde keine Ahnung. Zwar hatte es zu Hause immer geheißen, dass man über alles würde reden können, aber tatsächlich war genau das nicht möglich. Tja, und da kam nun dieser schmächtige Bill und eröffnete Will eine phantastische Gefühlswelt, die er so noch nicht kannte.

Das wiederholten sie noch ein paar Mal, doch am Schuljahresende war damit Schluss, denn Bill zog mit seinen Eltern in eine andere Stadt.

Als Will jetzt so darüber nachdachte, erkannte er, dass er sich damals völlig zurückgezogen hatte und im Wesentlichen bis zum Ende der Schulzeit in seinem „Schneckenhaus“ verharrte.

Schlagartig wurde ihm auch klar, warum ihn Bill auf dem Weihnachtsmarkt so angestarrt hatte: Im Gegensatz zu ihm hatte er den Schulfreund von damals wieder erkannt. Vorsichtig lugte Will wieder über die Kante seines Bettes und genoss den Anblick seines alten Freundes, wie dieser friedlich vor sich hin ruselte. Zwar hatte er noch kein einziges Wort mit ihm gewechselt, aber für Will stand fest, dass er Bill jetzt nicht mehr einfach ziehen lassen würde.

Dieser unglaublich schräge Ablauf der letzten Tage konnte kein Zufall sein.

Das war Schicksal; daran mag man glauben, oder nicht.

Will war sich ganz sicher, dass damit auch sein Wunsch an das Christkind in Erfüllung gehen würde.

Frohe Weihnachten Euch allen!

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