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Jazz'n'Boogie

Teil 2

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Beim Weiterschreiben hat sich die Story etwas verselbstständigt. Dadurch ist sie viel länger geworden. Das heißt, dass diese Geschichte mit diesem zweiten Teil doch noch nicht abgeschlossen ist. Mehr als drei Teile werden es jedoch nicht.

Nochmals ein Dankeschön an Thomas Julian, der mir seinen „Miguel“ aus „Mit anderen Augen“ überlassen hat, und an Guido, der sich wieder die Mühe einer Erstkorrektur gemacht hat.

Am dritten Teil arbeite ich mit Hochdruck.

Viel Spaß beim Lesen und scheut Euch nicht, mir vielfach Feedback zu geben.

Miguel

Die erste Hürde war genommen. Meine Mutter musterte Raphael sehr genau und durchaus skeptisch. Diesen Prüfblick hatte er gut überstanden, denn sie reichte ihm sofort die Hand. Hätte ihre Skepsis überwogen, würde sie Raphael nur verbal begrüßt haben. Innerlich atmete ich erst mal auf.

„Habt ihr alles zusammen?“, fragte sie uns.

„Ich denke schon oder Raphael?“

„Bis auf das, was ich vergessen habe, bin ich startklar“, meinte der trocken.

Mama lachte auf.

„Ihr Humor gefällt mir. Lasst uns fahren, Jungs.“

In diesem Augenblick kam jedoch unser Direx die Treppe herunter, offensichtlich ebenfalls auf dem Nachhauseweg.

„Guten Tag Frau Hernandez“, begrüßte er meine Mutter.

„Guten Tag Herr Direktor. Wie macht sich Miguel?“

Für einen Moment hielt ich die Luft an, hoffentlich verriet er jetzt nicht, dass Raphael und ich miteinander Musik machten. Mit einem kurzen Blickkontakt zu mir und einem unmerklichen Nicken antwortete er: „Sehr gut, Frau Hernandez. Ich habe den Eindruck, dass ihm die Zusammenarbeit mit Raphael guttut. Dem übrigens auch. Ihre Leistungen können sich auf allen Gebieten sehen lassen. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Auf Wiedersehen, Frau Hernandez und grüßen Sie Ihren Mann.“

„Das hört man doch gern. Auf Wiedersehen Herr Doktor Neubert. Ihnen auch ein schönes Wochenende.“

„Vielen Dank.“ Und schon war er fort.

Warum verfügen nicht alle Lehrer über ein solches Einfühlungsvermögen, wie unser Direx, dachte ich noch. Es würde mich nicht wundern, wenn er uns nicht schon längst bezüglich unserer Zuneigung zueinander durchschaut hätte. Mama hatte er mit seiner Äußerung jedenfalls um den Finger gewickelt und uns damit – bewusst oder unbewusst – Schützenhilfe geleistet. Ich schnappte mir mein Keyboard und Raphael unsere beiden Rucksäcke. So blieb für Mama nur noch das zusammengeklappte Untergestell meines Keyboards.

In unserer Familienkutsche – einem Seat Alhambra – war das bisschen Gepäck locker untergebracht. Raphael und ich setzten uns in die zweite Reihe und schon ging es los. In flotter Fahrt waren wir ohne nennenswerten Stau nach einer knappen Stunde zu Hause.

Dort wurden wir von meinem Vater in Empfang genommen.

„Hallo Papa. Hast du auf uns gewartet?“

„Hallo Miguel, ja klar, ich habe schon Kaffee-Durst!“

„Das ist Raphael, ein Klassenkamerad. Wir müssen übers Wochenende ein Musikreferat vorbereiten“, flunkerte ich, denn so ganz gelogen war das ja nicht, schließlich sollten wir schon gemeinsam üben.

Auch Papa musterte Raphael genau, anders als Mama blieb er jedoch auf Distanz und schnappte sich gleich mein Keyboard-Untergestell.

„Guten Tag Raphael. Willkommen im Hause Hernandez“, meinte er dennoch freundlich.

„Guten Tag, Herr Hernandez. Vielen Dank, dass ich mitkommen durfte“, entgegnete Raphael.

„Hallo Miggi, wer ist das denn?“, tönte es von der Haustür herüber.

„Hallo Manu, das ist Raphael, der geht in meine Klasse.“

„Ist der schwul?“

Mein Bruder mit seinem vorlauten Mundwerk sorgte damit für zusätzlich rote Farbe bei Raphael und mir. Noch bevor ich irgendwie kontern konnte, donnerte mein Vater los: „Manuel! Verschwinde augenblicklich auf dein Zimmer!“ Der Tonfall lies weder Widerspruch noch Zuwiderhandlung zu, weshalb mein Bruder ebenso schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war.

„Raphael, Sie müssen entschuldigen, aber der vorlaute Bengel ist grade in einer schwierigen Phase“, wandte sich Mama an meinen Freund.

Raphael

„Schon gut, Frau Hernandez, in dem Alter kommt wohl manches etwas unüberlegt.“

Worauf Miguels Mutter nur mit dem Kopf nickte, das Thema aber nicht weiter vertiefte. An der kieksigen Stimme hatte ich schon gemerkt, dass sich Miguels Bruder gerade mitten in Pubertät und Stimmbruch befand.

„Wohin mit dem Keyboard?“, fragte nun Herr Hernandez.

„Erst mal in mein Zimmer, bitte. Wir brauchen es, um mit dem Computer ein Arrangement zu erstellen“, erklärte Miguel seinem erstaunt dreinblickenden Vater.

„Was anderes: Wo soll Raphael eigentlich schlafen?“, fragte Herr Hernandez.

„Ich dachte im Gästezimmer“, antwortete Miguel verwirrt.

„Da hast du anscheinend vergessen, dass wir das gerade renovieren.“

„Ach du Sch…eibenkleister. Daran hab ich nicht mehr gedacht.“

Jetzt lachte sein Vater: „Wo du immer deinen Kopf hast! Ich fürchte, du wirst unser Gästebett für ihn in deinem Zimmer aufstellen müssen. Ich nehme nicht an, dass du alternativ noch mit deinem Bruder in deinem Bett schlafen willst.“

‚Aber mit mir vielleicht‘, dachte ich gleich und bekam heiße Ohren. Ich hoffte inständig, dass das niemand bemerkte, allerdings fiel mir sehr wohl auf, dass Miguel grinste.

„Nee, ganz sicher nicht. Ich hole gleich das Gästebett. Steht es immer noch im Flur an der Seite unter der Hülle?“

„Ja, sicher“, bestätigte sein Vater im Hinausgehen.

Ich schaute mich in Miguels Zimmer um, das bis auf ein breites Bett (schätzungsweise 1,20m) unspektakulär, aber gemütlich eingerichtet war. Dass er hier eher selten war, verriet auch der etwas ältere Computer.

„Aber der tut‘s für meine, beziehungsweise unsere Zwecke“, erriet Miguel wieder einmal meine Gedanken.

Kaum hatte er das Gästebett hereingeschoben, stand schon seine Mutter mit dem Bettzeug im Zimmer. Mit wenigen Handgriffen war mein Nachtlager betriebsbereit.

„So, Jungs, kommt Kaffeetrinken. Ich habe extra einen Käsekuchen gebacken. Ich hoffe Sie mögen das, Raphael?“

„Oh, ich liebe Käsekuchen“, schwärmte ich und zauberte damit ein Lächeln in das Gesicht von Frau Hernandez.

Zur Kaffeetafel erschien dann auch Manuel wieder, der sich jedoch ein scharfes „Und du benimm dich ausnahmsweise mal“ seines Vaters anhören musste, worauf er fortan etwas finster dreinschaute. Ich verkniff mir ein Grinsen.

„Frau Hernandez, Ihr Käsekuchen schmeckt richtig lecker. Das erinnert mich an daheim“, lobte ich, „vor langer Zeit“, ergänzte ich traurig. Zum Glück fragte niemand nach, jedoch bemerkte ich einen mitleidigen Blick von Manuel. Der Kleine schien sehr wohl eine feine Ader für seine Mitmenschen zu haben, wie sein Bruder eben.

Es folgte das übliche Frage- und Antwortspiel bezüglich des Internats. Wir mussten sehr darauf achten, uns nicht zu verplappern, sollte doch unser gemeinsamer Auftritt am nächsten Tag ein ordentlicher Paukenschlag werden. Das hatten Miguel und ich im Vorfeld ausgemacht.

Es wurde ein sehr entspannter Nachmittag. Hin und wieder fragte ich mich, warum sich Miguel mit seinem Coming-out gegenüber seinen Eltern so schwertat. Die kurzweiligen Gespräche ließen die Zeit bis zum Abendessen unheimlich schnell vergehen, obwohl selbiges erst um halb neun serviert wurde.

Danach verabschiedeten sich die einzelnen Familienmitglieder, wobei Miguels Mutter alle ermahnte, pünktlich um acht am anderen Morgen zum Frühstück zu erscheinen, weil später der gesamte Küchen- und Essbereich durch die Weihnachtsbäcker belegt sein würde.

„Miguel, wie sieht es denn nun aus? Wirst du wieder mitmachen und deine berühmten Butter-S fabrizieren?“

„Wenn Raphael mir hilft“, antwortete er seiner Mutter und warf mir einen fragenden Blick zu. Ich zuckte mit den Schultern.

„Von mir aus gerne.“

„Okay“, bestätigte Miguel, „unter einer Bedingung!“

„Und die wäre?“

„Als Traditions-Film nehmen wir ‚Casablanca‘.“

„Wenn es weiter nichts ist“, zuckte jetzt Frau Hernandez mit den Schultern. Ihr Gatte hingegen nahm das erwartungsgemäß zum Anlass, sich abzumelden.

Nachdem wir schließlich allein in Miguels Zimmer waren, offenbarte ich Miguel meine Gedanken: „Also so wie der Nachmittag verlaufen ist, verstehe ich nicht, warum du Bedenken für dein Coming-out hast, dein Vater ist doch sehr nett und deine Mama sowieso.“

„Oh, lass dich nicht täuschen. Bei Mama könntest du Recht haben. Aber mein Vater hat, warum auch immer, Vorbehalte gegen dich. Anders als Mama, hat er dir ja keine Hand gegeben.“

„Stimmt, das habe ich aber gar nicht registriert.“

„Ja, er agiert da sehr überlegt. Da sind die Reaktionen meiner Eltern übrigens gleich, deshalb war ich sehr froh, als Mama gleich auf dich zugegangen ist.“

„Okay, was anderes: Dein Bruder nennt dich Miggi. Das find ich süß.“

„Ist ein Relikt aus Kindertagen. Als er sprechen gelernt hat, nannte er mich so. War wohl leichter über die Lippen zu bringen. Er ist auch der Einzige, der mich so nennen darf. Im Übrigen ist das auch so ein Punkt: Meine Eltern können das überhaupt nicht leiden, besonders Papa nicht. Das weiß natürlich mein Bruder und nennt mich deshalb erst recht so. Unsere Eltern sind sich freilich darüber bewusst, dass er sie damit provozieren will und lassen sich nichts anmerken. Glaub mir, Raphael, hier herrscht grade mehr Schein als Sein. Manchmal komme ich mir vor, wie im Irrenhaus, wenn sie sich im Theaterspielen überbieten wollen, besonders, wenn Gäste im Haus sind. Unter uns tritt mein Vater oft sehr autoritär auf und brüllt rum. Leider. Vielleicht wirke ich deshalb manchmal arrogant, wenn ich in der Schule einfach lieber ruhig bin. Ich musste mich erst an das liberale Klima dort gewöhnen. Ich bin mir auch sicher, dass mein Vater davon ausgeht, dass am JHP-Internat Zucht und Ordnung herrscht.“

„Au weia, wo bin ich da nur hineingeraten?“, gab ich nun augenzwinkernd von mir und grinste Miguel an.

„Ja, da hast du dir so eine Familie ausgesucht, mein Lieber“, erwiderte er mit einem Haifischgrinsen.

„Trotzdem sollten wir langsam ins Bett, oder?“

„Ja, komm mit, hast du deinen Kulturbeutel griffbereit?“

„Selbstverständlich.“

So machten wir uns auf den Weg zum Bad, von wo aus uns Manuel entgegenkam. Er hatte mich offensichtlich vergessen, denn er kam hüllenlos daher, wohl geradewegs aus der Dusche. Als er meiner gewahr wurde, nahm er rasch beide Hände vor seine Körpermitte und lief gleichzeitig purpurfarben an.

Für sein loses Mundwerk vom Nachmittag war noch eine Revanche fällig. So schaute ich ihn genau an und meinte dann nur grinsend: „Nett.“

Um gleich darauf mit Miguel im Bad zu verschwinden. Sehr wohl bemerkte ich, und seinem Feixen nach auch Miguel, dass Manuels Teint in Richtung kalkweiß wechselte. Ihm klappte buchstäblich der Unterkiefer nach unten. Nach dem wir die Tür zum Badezimmer geschlossen hatten, prusteten wir los.

„Du kannst ja richtig schlagfertig sein“, stellte Miguel mit einem Unterton der Bewunderung fest.

„Naja, selten genug, leider“, gab ich etwas wehmütig zu.

„Ich denke, damit haben wir vor Manuel Ruhe, denn, wenn rauskommen würde, dass er hier nackt rumläuft, wäre Polen offen.“

Das Haus hatte zwei Badezimmer, eines im obersten Stock in Nachbarschaft zum Schlafzimmer von Miguels Eltern und das andere, einen Stock tiefer, für Manuel, Miguel und das Gästezimmer. Da es mit zwei Waschbecken ausgerüstet war, konnten wir uns, ähnlich wie im Internat, bequem zu zweit die Zähne putzen. Für heute Abend sollte das genügen.

Als wir dann jeder in seinem Bett lagen, forderte der Tag mit seinen vielen, neuen Eindrücken seinen Tribut. Mir fielen sofort die Augen zu und ich glaube, Miguel ging es genauso.

Miguel

Als mein Vater vorschlug, entweder das Gästebett für Raphael aufzustellen oder alternativ nochmal wieder mit meinem Bruder in meinem Bett zu schlafen, dachte ich sofort daran, dass man sich den Aufwand sehr einfach sparen könnte, wenn Raphael an Stelle meines Brüderchens bei mir im Bett schlafen würde.

So aber lagen wir jetzt brav getrennt jeder in seinem Bett. Raphael atmete ruhig und gleichmäßig vor sich hin, er schien sofort eingeschlafen zu sein.

Ein Seufzer entwich mir. So war das halt, wenn sich zwei, im Grunde sehr schüchterne Typen, kennenlernen und sich ineinander verlieben. Jaaa, nach außen hin wirkten wir beide nicht wirklich schüchtern, aber wenn es dann so sehr persönlich wurde, war das eben eine ganz andere Hausnummer. Da waren wir uns zwar schon häufig sogar völlig nackt beim Schwimmen oder im Waschraum des Internats über den Weg gelaufen, aber das hieß ja nicht, dass wir dann bei der ersten Gelegenheit gemeinsam in der Kiste landen würden. Genau genommen war das hier ‚die erste Gelegenheit‘. Im Internat wohnten wir auf verschiedenen Zimmern mit jeweils einem anderen Klassenkameraden. Wenn ich jetzt so darüber nachdachte, wurde ich auf Carsten und Andreas ein bisschen neidisch, die sich ja von Anfang an ein Zimmer teilten. Über diesen Gedanken bin ich dann irgendwann eingeschlafen.

Um sieben Uhr war dann die Nacht vorbei. Mein Wecker riss Raphael und mich rücksichtslos aus dem Schlaf. Für einen Samstag kamen wir recht gut aus den Federn. Ohne nachzudenken gingen wir gemeinsam ins Bad, so wie im Internat auch. Während sich der eine rasierte und die Zähne putzte, sprang der andere unter die Dusche. Nach einer guten halben Stunde fanden wir uns im Wohnzimmer ein.

„Guten Morgen, ihr beiden. Gut geschlafen?“, begrüßte uns Mama.

„Guten Morgen, Frau Hernandez. Danke, ich habe geschlafen wie ein Murmeltier“, antwortete Raphael als erster und ich ergänzte: „Danke, Mama ich auch, guten Morgen.“

Mama musterte uns mit einem durchdringenden Blick.

„Ihr zwei seid mehr als nur Klassenkameraden!“

Diese direkte Ansage kam völlig überraschend und schlug bei uns ein, wie eine Bombe. Raphael und mir wich sämtliche Farbe aus den Gesichtern. Ich musste mich erst mal setzen. Raphael fand seine Sprache schneller wieder als ich. Er stellte sich hinter mich und legte mir seine Hände auf die Schultern.

„Ist das so offensichtlich?“, fragte er meine Mutter.

Die hatte uns keine Sekunde aus den Augen gelassen.

„Nicht für jeden, Raphael. Und bevor unnötige Panik aufkommt: Dein Vater, Miggi, ist schon unterwegs. Und Manuel hat er gleich mitgenommen.“

Ihr bisher eher strenger Blick wechselte in einen gütigen und leicht amüsierten. Ich sah überrascht zu ihr auf.

„Miggi? Du nennst mich Miggi? Ich dachte, du kannst das nicht leiden?“

Jetzt lachte sie laut heraus.

„Dein Vater mag es immer noch nicht besonders, aber ich hab mich längst daran gewöhnt, aber verrate es deinem Bruder nicht, der glaubt immer noch, dass er uns damit provozieren kann. Das soll erst mal so bleiben, dann hat er was, an dem er sich abarbeiten kann, ohne Schaden anzurichten. Aber ihr zwei seid mir schon solche Helden! Seit wann geht das zwischen euch?“

„Oh, Mann, Mama. Du verblüffst mich total. Aber ‚zwischen uns geht‘ eigentlich noch gar nichts. Du hast uns schon richtig durchschaut, wir sind schwul. Dass wir uns ineinander verknallt haben, wissen wir erst seit ein paar Wochen. Überhaupt bin ich mir in dieser kurzen Zeit erst darüber klar geworden, dass ich so bin. Vor drei Monaten habe ich das noch für unmöglich gehalten. Bis er hier ankam und mich fast die Treppe runtergeschubst hat“, dabei grinste ich frech zu meinem Freund, der auch erwartungsgemäß protestierte: „Moment, Miguel, es war ja wohl umgekehrt: Du bist bei meiner Einlieferung durch meinen alten Herrn die Treppe wie ein Verrückter heruntergestürmt und hast MICH fast die Treppe wieder rückwärts runtergehauen.“

Mama schüttelte nur den Kopf.

„Kommt lasst uns nebenher frühstücken, bevor die anderen Bäckerinnen hier aufschlagen. Elvira ist übrigens doch dabei, tut mir leid, Miggi. Aber jetzt erzählt mal der Reihe nach.“

Ich seufzte und schilderte unsere ersten Wochen dieses Schuljahres, meine Eifersuchtsanfälle ließ ich weg, aber meinen Kampf mit mir selber redete ich mir schon von der Seele. So manches Detail war auch für Raphael neu, der mir dann aber immer mit einer schlichten Berührung über die nächste Hürde half. Während dieser kurzen Schilderung merkte ich immer mehr, wie wichtig mir Raphael geworden war. Und mit seinen Gesten überzeugte er auch unbewusst meine Mutter, dass er genau er Richtige für mich war. Unsere gemeinsame Liebe für die Musik erwähnte ich nur am Rande. Diese Überraschung für Mama wollte ich Raphael und mir doch noch erhalten.

Auf meine Frage, wie sie denn jetzt überhaupt darauf käme, dass wir ein Paar wären, kam dann eine eher klischeemäßige Antwort: „Miguel, ich kenne dich seit siebzehn Jahren. Glaub mir, eine Mutter hat so etwas im Gefühl. Letztlich haben euch aber eure verliebten Blicke verraten.“

Nun war es an uns, abermals die Farbe zu wechseln, diesmal wieder ins Rote.

„Ist das wirklich auffällig?“

„Ich denke, nur für diejenigen, die euch länger kennen. Und wenn sie kein Brett vor dem Kopf haben mit dem sie alles, was neu und anders ist als vor hundert Jahren verdecken und daran hindern, zumindest mal überdacht zu werden.“

„Spielst du damit auf Papa an?“

„Hm, nein, ich denke nicht. Miggi, du weißt, dass wir sehr in unserem Glauben verwurzelt sind. Ich bin mir bewusst, dass wir damit für euch erst mal stockkonservativ und damit wohl homophob wirken. Davor hattet ihr die meiste Angst, oder?“

Meine Mama verblüffte mich immer mehr.

„Allerdings“, gab ich zu.

„Genau deshalb habe ich dieses Gespräch etwas provokant angestoßen“, grinste sie uns jetzt an.

„Aber zurück zu Papa: Im Moment ist er auf Distanz. Die Vorstellung, dass du schwul sein könntest, macht ihm eher Angst, als dass er damit ein persönliches Problem hätte. Lasst ihm ein wenig Zeit. Er muss merken, dass du, Raphael, ein loyaler und zugewandter Mensch bist.“

„Du hast also auch gemerkt, dass er gegenüber Raphael gewisse Vorbehalte hat?“

„Ja sicher, Miggi, ich kenne den Mann jetzt bald 25 Jahre. Da weiß man um die Reaktionen, insbesondere wenn sie immer gleich sind. Ich muss dir aber nicht sagen, dass er ein herzensguter Mensch ist, dem das Wohl seiner Familie über alles geht.“

Es klingelte an der Tür. Mama fuhr regelrecht herum.

„Ach herrje, wir haben die Zeit vollkommen vergessen. Jungs seid ihr fertig mit frühstücken? Übrigens, Raphael, bitte nenn mich künftig beim Vornamen. Ich bin ja auch einfach zum du übergegangen. Ich heiße Paola, klar?“

„Jawohl, Mam“, salutierte Raphael.

„Witzbold“, grinste sie und er grinste zurück.

„Macht hier mal bitte klar Schiff, ich lass inzwischen die Damen rein“, sagte sie und ging zu Tür.

„Raphael, ich bin total geplättet“, wunderte ich mich.

„Das lief jetzt doch optimal. Mir scheint, deine Mama ist immer für eine Überraschung gut. Ich habe mir schon vorgenommen, sie niemals mehr zu unterschätzen.“

Ich stöhnte auf: „Ja, da habe ich wohl mit meiner Angst ziemlich danebengelegen.“

„Mit welcher Angst? Hallo Miguel“, kam es überraschend von der Tür.

„Oh, hallo Maria, darf ich dir meinen Schulfreund Raphael vorstellen? Raphael, das ist Maria Sanchez, eine Sandkastenfreundin von Mama“, lenkte ich ab.

„Guten Morgen, Frau Sanchez.“

„Guten Morgen, Raphael, oh bitte, nenn mich auch beim Vornamen, das gibt hier sonst ein Chaos.“

Selbiges brach postwendend herein, als die restlichen Damen den Salon stürmten: Alma Alonso, Elvira Bäumler und Ingrid Neuhäuser.

Es wurde gegrüßt und vorgestellt. Etwas anzüglich meinte Alma Alonso: „Oho, Raphael, es ist sehr angenehm, wenn so hübsche, junge Männer bei unserer Weihnachtsbäckerei mitmachen.“ Dabei gab sie doch glatt Raphael einen Klaps auf den Po.

Raphael

Das ging ja lustig los. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich fast den Eindruck gehabt, in einer sehr frivolen Damenrunde gelandet zu sein. Verstärkt wurde dieser Eindruck, dass sich die Damen schon die ersten Gläser mit Sekt genehmigten. Das konnte noch heiter werden.

Miguel kümmerte sich derweil um die DVD. Paola nahm mich etwas aus der Schusslinie, indem sie mich die verschiedenen Backzutaten aus der Speisekammer holen ließ. Bald hatten sich die Anwesenden an verschiedene Tische verteilt, teils im Sitzen, teils im Stehen, begann nun eine jede mit ihrem Backwerk. Miguel brachte „Casablanca“ zum Laufen und machte sich mit mir an die Fabrikation der Butter-S.

„Louis, ich glaube dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.“ Schon waren anderthalb Stunden vorbei und der Film zu Ende.

Zeit für einen Snack.

Miguel und ich wurden zum Metzger um die Ecke geschickt, wo wir sieben Thüringer in Brötchen beschaffen sollten. Als wir zurückkamen, saß die Runde bereits um den großen Esstisch. Jede hatte ein Glas Sekt vor sich und wartete darauf, von uns mit Wurst und Brötchen versorgt zu werden. Miguel stellte auch noch zwei Karaffen mit Wasser und sieben Trinkgläser auf den Tisch. Für uns holte er noch eine Flasche Cola aus dem Kühlschrank.

Die Damen unterhielten sich angeregt, bis sie wieder ihr Interesse für uns Jungs entdeckten. So, wie nicht anders zu erwarten war, wurden wir fortan mit allen mehr oder weniger wichtigen Lebensfragen bombardiert. Ich bemerkte Paolas mitleidigen Blick. Unweigerlich kam dann auch die Frage nach einer Freundin auf. Paola hielt merklich die Luft an. Sie ahnte wohl, dass wir keine Skrupel hätten uns hier zu outen. Doch Miguel blieb cool und verneinte die Frage wahrheitsgemäß. Mich ritt irgendwie der Teufel und ich bejahte die Frage und erzählte ihnen im Grunde von Miguel, allerdings ließ ich sie in dem Glauben, dass es sich bei ‚Miggi‘ um ein Mädchen handeln würde.

Dann wurde beschlossen, dass wir uns in der Zeit bis zum Mittagessen den Film noch einmal anschauen wollten, allerdings in der spanischen Synchronisation.

Miguel hatte den Film entsprechend gestartet. Wir formten unterdessen unseren Teig in lauter kleine ‚S‘, die wir dann mit Eigelb bestrichen und mit Hagelzucker bestreuten.

Rechtzeitig zum Filmende -„Louis creo que este es el comienzo de una maravillosa amistad.“ - waren wir damit fertig. Miguel wurde von Paola dazu verdonnert, die Kürbissuppe aufzuwärmen, die sie am Tag zuvor vorbereitet hatte. Ich schnitt schon mal das Bauernbaguette in kleine Stücke.

Schließlich deckte Miguel den Tisch und stellte den Topf in die Mitte. Dazu Kürbiskernöl und saure Sahne. Als sich die Damen gesetzt hatten, brachte ich noch den Brotkorb und wir genossen diese vorzügliche Suppe. War sie doch ein hervorragender Kontrapunkt zu dem ganzen Süßkram, den wir schon den ganzen Vormittag backten. Plötzlich hörten wir, wie die Haustür ins Schloss fiel. Wir sahen uns fragend an. Tatsächlich kam Manuel mit seinem Vater zur Tür herein. Herr Hernandez hielt einen riesigen Blumenstrauß in der Hand und steuerte direkt auf seine Frau zu. Die war ganz erstaunt, schien aber zu ahnen, was kam.

„Meine liebe Paola Maria, du weißt, warum ich dir diesem schönen Strauß mitbringe? Heute, exakt vor 25 Jahren, haben wir uns auf dem Weihnachtsmarkt kennengelernt. Inzwischen haben wir drei tolle Kinder und ich liebe dich so sehr wie am ersten Tag“ sprach er und nahm seine Frau in den Arm. Die Runde applaudierte. Klar, dass sich Vater und Sohn auch noch an den Tisch setzten und sich an der Kürbissuppe labten.

„Drei?“, fragte ich leise Miguel.

„Ja, ich habe noch eine drei Jahre ältere Schwester“, raunte er mir zu.

Am Tisch wurde nun wild durcheinandergeredet und mit den Tellern geklappert. Wir nutzten dieses Chaos, um Miguels Keyboard zu holen und aufzubauen. Das blieb freilich nicht unbemerkt.

„Was wird das?“, war dann auch schon die neugierige Frage.

„Abwarten“, lautete Miguels kurze Antwort. Um Zeit zu gewinnen und abzulenken, gesellten wir uns einfach wieder an den Esstisch, wo inzwischen alles bis auf den letzten Krümel aufgegessen war.

„Okay, lasst uns die letzten Bleche belegen und fertigbacken“, forderte Paola ihre Freundinnen auf.

„Bist du auch so aufgeregt, wie ich?“, fragte ich Miguel ganz leise.

„Das kannst du laut sagen. Solch ein Lampenfieber hatte ich bei meinen Schulauftritten nicht!“, erwiderte Miguel.

Dann setzte er sich ans Klavier und ich ans Keyboard, neugierig von sieben Augenpaaren verfolgt. Miguels Bruder und ihr Vater setzten sich auf die Couch, nachdem sie Geschirr und Besteck in die Spülmaschine geräumt hatten.

Wie schon im Internat begann Miguel mit einigen Fingerübungen, er pausierte und ich nahm die Tonfolge auf und variierte ein wenig. Ich hatte als Klangfarbe das Vibraphon ausgewählt. Dann hielt ich inne und Miguel spielte und variierte. Dieses musikalische Ping-Pong trieben wir eine Weile und bewegten uns langsam zum ‚Maple Leaf Rag‘. Ich schloss meine Augen und fühlte mich Miguel ganz nah. Wieder verschmolzen wir förmlich und ich wusste Sekundenbruchteile im Voraus, was er spielen würde. Das zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht. Wie wir es einstudiert hatten, wechselten wir zum ‚Pine Apple Rag‘ und weiter zum ‚Entertainer‘. Diese Übergänge spielten wir so, wie wir sie geübt hatten, aber innerhalb der einzelnen Titel improvisierten wir neu. Es machte unendlichen Spaß. Die Tempi-Wechsel funktionierten inzwischen fehlerfrei. So gelangten wir zu unseren Boogie-Woogie-Stücken. Das gesampelte Vibraphon hörte sich Klasse an. Um uns herum waren sämtliche Aktivitäten zum Erliegen gekommen. Man lauschte uns gespannt. Mit einem leisen Zwischenspiel hangelten wir uns zum ‚Weihnachts-Block‘, den wir dann in einem leichten Swing-Rhythmus spielten. Da uns diese Lieder sehr geläufig waren, hatten wir uns da nicht abgesprochen. Ich begann einfach mit ‚Jingle Bells‘, bei dem die hohen Töne des Vibraphons ja fast wie Glocken klangen. Miguel setzte ein und es wurde eine richtig jazzige Version. Ich sah zu ihm und er grinste mich fröhlich an. Das nächste Stück überließ ich ihm und er kam mit ‚Rudolph, the Red Nosed Reindeer‘ daher. Ich lachte auf und auch unser Publikum löste sich aus seiner Starre. Manch einer summte mit, zumindest bis zur nächsten Improvisation. So folgten fünf oder sechs der bekanntesten Weihnachtslieder, die wir dann mit einem swingenden Ende versahen. Wir saßen einige Momente an unseren Instrumenten, als tosender Beifall einsetzte. Wir erhoben uns, verbeugten uns, dann fielen wir uns wie selbstverständlich in die Arme. Einen Augenblick dachte ich darüber nach, was wohl passieren würde, doch der Applaus wurde eher noch lauter. Dann kamen „Da capo“ und „Zugabe“-Rufe. Wir schauten uns an und fast unmerklich formte Miguel das Wort „Gershwin“. Ich nickte und wählte eine „Orchester“-Registrierung. Das war ja nun ein anderes Kaliber, mein Part war ja ein ganz anderer, als der von Miguel. Bisher hatten wir das ja nur mit Orgel und Klavier in St. Nikolaus geübt. Hier stand mir quasi nur ein Manual zur Verfügung, doch konnte ich mit einem Knopfdruck die Stimmung komplett verändern. Instinktiv spielten wir nur eine stark verkürzte, sehr frei interpretierte Version, was uns einigermaßen gut gelang. Paola hielt es dann nicht mehr auf ihrem Stuhl, sie stürzte förmlich auf ihren Sohn zu und drückte ihn dermaßen innig, dass ich fürchtete, er bekäme endgültig keine Luft mehr.

Miguel

„Mama“, röchelte ich, „ich bekomme keine Luft mehr.“

Erschrocken entließ sie mich aus der Umarmung, um sich dann auf Raphael zu stürzen.

„Jungs, das war fantastisch“, hörte ich Papa sagen, der jetzt auch bei uns stand und erst Raphael und dann mir auf die Schulter klopfte.

Langsam beruhigte sich die Stimmung. Die Backgesellschaft wollte jetzt doch noch ihr Tagwerk vollenden. Raphael und ich zogen uns auf mein Zimmer zurück. Das Keyboard nahmen wir mit. Jetzt hatte uns der Ehrgeiz gepackt und wir wollten gleich unsere Fehler besprechen und Korrekturen erarbeiten.

„Was meinst du, ob sie unsere Fehler bemerkt haben?“, fragte mich Raphael.

„Alle bestimmt nicht, vielleicht sogar die wenigsten. Aber Mama bestimmt.“

„Echt? Woraus schließt du das?“

„Naja, sie hat schließlich Musik studiert und unterrichtet Mathe und Musik am hiesigen Gymnasium.“

„Boah eh, das hast du mir gar nicht erzählt.“

„Logo, hättest du dich mit dem Wissen getraut, mit mir hier vorzuspielen?“

„Hm, eher nicht.“

„Siehst du, das war mir klar, deshalb hab ich dir das erst mal vorenthalten. Von Mama dürfte ich wohl die Liebe zur Musik geerbt haben.“

„Nur keine falsche Bescheidenheit, daher hast du auch dein zweifellos vorhandenes Talent!“

„Okay, ich wollte nur nicht wieder arrogant wirken.“

Er schaute mich fragend an. Mir wurde bewusst, wie falsch ich mich anfangs ihm gegenüber verhalten hatte. Besonders leicht hatte er es mir allerdings auch nicht gemacht. Wir bewegten uns aufeinander zu, als es unvermittelt an der Tür klopfte.

Mit einem „Ja“ forderte ich den Störenfried auf, hereinzukommen. Völlig überraschend stand Papa in der Tür.

„Jungs, habt ihr einen Moment für mich?“

„Klar, Papa, was gibt’s?“

„Hm, wollen wir uns nicht setzen?“, begann er vorsichtig. Uii, das gibt was Größeres, dachte ich noch.

„Soll ich euch alleine lassen?“, fragte Raphael unsicher.

„Nein, auf keinen Fall, das betrifft euch beide!“

Damit war er sich unserer Neugier und Aufmerksamkeit sicher. Ich setzte mich neben Raphael auf sein Bett, während mein Vater zu sprechen begann: „Ich war ja zusammen mit Manuel heute Morgen in der Stadt. Das war für mich die willkommene Gelegenheit endlich mal ausführlich mit deinem Bruder zu sprechen; ohne eure Mutter. Den Anlass hierzu hat er gestern mit seiner respektlosen Begrüßung geliefert. Das konnte ich nicht auf sich beruhen lassen – Pubertät hin oder her. Ich fragte ihn also, was das sollte. Erst hat er rumfabuliert, was denn an dieser Frage so schlimm sei. Wie einem kleinen Kind musste ich ihm allen Ernstes erklären, dass man so nicht miteinander umgehen könne. Wenn er schon unbedingt eine so persönliche Frage stellen will, soll er das am ehesten unter vier Augen tun. Ich habe ihn dann einfach gefragt, ob er denn schwul sei“, er unterbrach sich mit einem Lachen, „ihr hättet erleben müssen, wie er dann hochging. Wie eine Rakete. Was denn das jetzt soll und so weiter, und so weiter. ‚Tja‘, hab ich dann nur gesagt, ‚merkst du was?‘ Dann wurde er plötzlich ganz kleinlaut, der Groschen schien gefallen zu sein. Es wurde dann ein sehr interessantes Gespräch, bei dem wir allgemein auf Toleranz und Akzeptanz zu sprechen kamen“, wieder machte er eine Pause. Ich merkte, worauf das hinauslaufen würde und lief vorsichtshalber schon mal rot an, wie übrigens Raphael auch. Das blieb Papa freilich nicht verborgen und er begann zu schmunzeln.

„Ihr seid mehr als nur Klassenkameraden, oder?“, stellte er die Frage, die uns heute schon einmal untergekommen war. Diesmal hielt Raphael hörbar die Luft an. Ich schaute Papa lange an und bemerkte, wie meine Augen feucht wurden: „Du kennst die Antwort. Wenn du ein Gespräch so führst, wie jetzt. Es tut mir unendlich leid, dass ich dich so falsch eingeschätzt habe“, schluchzte ich jetzt. Sofort nahm mich Raphael in seine Arme. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich Papas wohlwollenden Blick.

„Papa, ich hatte eine Riesenangst, euch zu sagen, dass ich schwul bin. Zumal es mir ja auch erst in den letzten Wochen klar geworden ist. Raphael ist ein ganz toller Freund. Zwar sind wir uns körperlich noch nicht sehr nahegekommen. Jedenfalls nicht so, wie ihr euch das vielleicht vorstellt. Mama weiß übrigens Bescheid. Sie kam heute Morgen genauso auf uns zu, wie du jetzt“, dabei grinste ich meinen Vater nun verschmitzt an, dessen Gesicht wiederum einen leicht rosa Teint annahm.

„Raphael und ich haben mit der Schützenhilfe unseres Klavierlehrers über die Musik zusammengefunden. Dass wir uns menschlich mehr als sympathisch finden, haben wir zwar vorher schon gemerkt. Darüber war ich zuerst ziemlich entsetzt und hab mich Raphael gegenüber reichlich seltsam verhalten.“

Der lachte laut auf: „Seltsam ist gut. Idiotisch trifft es wohl eher. Er hat echt auf Ekelpaket gemacht“, erklärte Raphael meinem verblüfften Vater und ergänzte leise, „trotzdem habe ich mich gleich in ihn verknallt.“

„Und ich mich in ihn. Papa, wenn wir zusammen Klavier oder Klavier und Orgel spielen, tauchen wir in eine andere Welt ab. Wir sind uns dann ganz nah, wir verschmelzen regelrecht. Das Verblüffende dabei ist, dass wir dann schon vorher wissen, was der andere als nächstes spielen wird. Das führt uns zu einer einzigartigen Abstimmung, die wir nie üben mussten. Die war einfach da. Aber das habt ihr vorhin ja selbst gemerkt.“

„Miguel, Raphael, um es kurz zu machen. Mir tut es leid, dass ich mit meiner – sagen wir – konservativen Fassade so unnahbar wirke. So, dass sich selbst meine Kinder nicht von sich aus zu mir trauen, wenn sie in einer schwierigen Situation stecken. Aber seid gewiss: Ihr könnt immer mit meiner Unterstützung rechnen. Und wenn ich sage ‚immer‘, dann meine ich immer!“ Dabei schaute er uns abwechselnd in die Augen.

„Und jetzt kommt wieder mit nach unten, ich denke, der Parteitag hat sich aufgelöst“, meinte er augenzwinkernd.

„Eines noch: Raphael, bitte nenn mich ab sofort Alvaro oder Papa, wenn dir das leichter fällt, okay?“

Schmunzelnd folgten wir ihm nach unten. Dort war zwar die Bäckerei beendet worden, der ‚Parteitag‘ war jedoch bei weitem noch nicht aufgelöst, im Gegenteil: Munter schwatzend saßen die Damen um den Tisch herum und verkosteten ein Glas Sekt nach dem anderen.

„Kommt, setzt euch zu uns!“, forderte uns Paola auf. Raphael setzte sich neben sie.

„Hol deinem Schatz doch auch ein Glas!“, forderte sie mich auf, worauf schlagartig Stille am Tisch einkehrte.

„Uups, da war mein Mund wohl etwas zu schnell“, versuchte sie angeschickert zurückzurudern.

„Waaas? Sag bloß, das sind zwei Schwuchteln“, ereiferte sich Elvira Bäumler.

Zuerst sah Papa Mama ziemlich vorwurfsvoll an und wandte sich dann mit grimmigem Blick an die Haushälterin des Pfarrers: „Fräulein Bäumler, so sollten Sie in meinem Haus nicht über meinen Sohn und dessen Freund sprechen“, sagte er sehr leise, aber mit einem eisigen Unterton.

„Aber das ist widernatürlich, das steht schon in der Bibel“, rechtfertigte sich die Angesprochene.

„Das ist Ihre Interpretation und leider die vieler anderer. Da steht aber nichts dergleichen in der heiligen Schrift. Das sind nachgewiesenermaßen falsche Übersetzungen bzw. falsche Schlussfolgerungen.“

Ich habe meinen Vater wohl fast so entgeistert angeschaut wie Elvira Bäumler.

Die wurde nun richtig hysterisch: „Das ist Blasphemie! Gotteslästerung“, kreischte sie und sprang auf. „Dieses Haus ist verdammt, lasst uns hier verschwinden!“, doch die anderen rührten sich nicht.

„Die beiden sind doch ein hübsches Paarrr“, schnarrte nun Alma Alonso.

„Schade nur für die Mädels in ihrer Klasse“, ergänzte Ingrid Neuhäuser, die sich bisher den ganzen Tag zurückgehalten hatte.

„Ein Prost auf die Liebe, egal wer wen liebt!“, mit diesen Worten erhob Maria Sanchez ihr Glas.

Ich war sprachlos und beeilte mich für Papa, Raphael und mich ein Glas zu füllen. Diesen Augenblick wollten wir unbedingt genießen. Dann ritt mich wieder mal der Teufel und drückte Raphael einen Kuss auf die Lippen, was Gejohle und Applaus auslöste. Aber auch einen Schreikrampf bei Elvira Bäumler, die fluchtartig das Haus verließ. Schuldbewusst senkte Paola den Blick, wurde aber sofort von mir in den Arm genommen.

„Das war jetzt heftig, aber ehrlich. Außerdem kurz und schmerzlos. Obwohl schmerzlos?“, fragte ich mit Blick in die Runde, erkannte jedoch nur wohlmeinende Gesichter.

Dann trat Schweigen ein, entweder traute sich niemand mehr, etwas zu fragen oder es war alles gesagt. Mama wechselte das Thema: „Habt ihr eure Blechdosen dabei? Dann könnten wir die Weihnachtskekse aufteilen und verpacken.“

Damit kam Bewegung in die Truppe und auch die Gespräche setzten wieder ein.

„Miguel, holst du bitte mal die großen Blechdosen aus dem Keller?“

„Ja klar. Stehen die, wo sie immer stehen?“

„Ich denke schon, schau halt einfach.“

„Warte, ich komme mit“, bot mir mein Freund an.

Im Keller schaute ich mich suchend um.

„Hättest du jemals gedacht, dass das so abläuft?“, fragte Raphael noch immer völlig verdattert.

Ich lachte auf: „Nein, im Leben nicht. Dass ich meine Eltern so falsch eingeschätzt habe, ist einfach unglaublich. Auch die Reaktion der Freundinnen meiner Mutter. Ich kann es noch gar nicht fassen. Und ich mach mir schier in die Hosen.“

„Ich bin froh, dass es mit deinen Leuten so gut gelaufen ist. Bei mir besteht da keine Chance, deswegen bin ich ja überhaupt nur am JHP-Internat“, sinnierte Raphael und ergänzte traurig, „am liebsten will ich überhaupt nicht mehr nach Hause. Keine Akzeptanz, keine Musik, Drohungen in alle Richtungen. Das braucht doch kein Mensch.“

Ich nahm ihn fest in meine Arme, was sollte ich da noch sagen?

Inzwischen hatte ich die Dosen entdeckt und forderte Raphael auf, wieder mit nach oben zu kommen. Niedergeschlagen folgte er mir. Der erste, dem Raphaels Stimmungsumschwung auffiel, war Papa.

„Hey, Raphael, was ist passiert?“, fragte er leise, damit die Bäckerinnen es nicht mitbekamen, „Magst du mal mitkommen?“, forderte er ihn auf.

Ich kam aus dem Staunen über meinen Vater nicht heraus. Raphael schaute zuerst etwas irritiert, folgte dann aber meinem Papa in dessen Büro. Derweil teilten sich Mamas Freundinnen und sie die Weihnachtsplätzchen und ich sah zu, dass ich für Raphael und mich auch eine Dose voll erwischte, insbesondere von unseren Butter-S.

Raphael

Jetzt sahen mir schon fremde Menschen an, wenn ich traurig war. Naja, so ganz fremd war mir Miguels Vater ja gar nicht mehr. Ich fasste zu ihm irgendwie Vertrauen. Trotz aller vor unserem Besuch bestehender Vorbehalte folgte ich ihm in sein Büro.

„Raphael, was ist passiert?“, wiederholte er seine Frage.

Ich seufzte tief: „Wissen Sie, Herr Hernandez“

„Alvaro.“

„Weißt du, Alvaro, wieviel Angst Miguel davor hatte, euch zu erklären, dass er schwul ist? Allein, dass er das für sich jetzt erst realisiert hat, war für ihn ungeheuer schwer. Und jetzt reagiert ihr alle so verständnisvoll, wie man sich das nur wünschen kann. Bis auf die Haushälterin des Pfarrers. Da kommt vermutlich noch was auf euch zu“, lenkte ich erst mal ab.

„Ich weiß, dass wir Miguel immer eher strenge, als liebevolle Eltern waren. Je länger er aus dem Haus war, haben wir uns immer mehr gefragt, ob das richtig war. Als dann Manuel immer schwieriger wurde, haben wir gemerkt, dass uns Miguel niemals so gegenübergetreten ist. Im Nachhinein wurde uns klar, dass er viel sensibler ist und schon immer war, als sein Bruder. Tatsächlich hat es uns jetzt nicht mehr wirklich überrascht, dass er schwul ist. Wir haben uns ausführlich über alles unterhalten, was uns so in Erinnerung gekommen ist. An Situationen oder Gespräche, die Miguel gesucht hatte, wir aber mehr oder weniger abgewiegelt hatten. Das tut uns unendlich leid und weh, wenn wir daran denken. Deshalb stehen wir jetzt umso mehr hinter euch, das müsst ihr uns glauben. Zwar wird des Pfarrers Haushälterin eine Schlammschlacht anzetteln, das ist mir aber sowas von egal. Was sie nicht weiß ist, dass ich bereits mit unserem Pfarrer Beuerle gesprochen habe.“

Jetzt schaute ich Alvaro ganz erschrocken an, weshalb er lachen musste.

„Sorry, Raphael, nicht erschrecken, es war nur ganz allgemein, vorbeugend sozusagen. Wir wussten ja nicht, ob Miguel wirklich schwul war. Dabei stellte sich heraus, dass Pfarrer Beuerle eine sehr viel aufgeschlossenere Position vertritt, als die offizielle der Amtskirche. Er hat angedeutet, dass es selbst in unserer eher kleinen Gemeinde etliche homosexuelle Menschen gibt. Die haben sich ihm anvertraut und ein paar haben sogar gefragt, ob er wohl ihre Verbindungen segnen würde. Was er übrigens bejaht hat. Aber eigentlich wollte ich wissen, was dich so auffallend plötzlich bedrückt. Ihr habt doch so glänzend und fröhlich Klavier gespielt. War was mit Miguel?“

„Wieso mit Miguel?“, fragte ich irritiert.

„Naja, seit ihr im Keller wart, hast du so unglücklich ausgesehen.“

„Achso, nein. Mir wurde nur bewusst, dass ein Coming-out auch gut ausgehen kann. Ich hatte da nicht so viel Glück und Verständnis. Mein Herr Vater hat mich prompt auf ein Internat geschickt, um mir ‚diese Flausen auszutreiben.‘“

„Da hat er aber wohl das falsche Internat erwischt“, grinste mich Alvaro aufmunternd an.

Ich lächelte versonnen: „Ja, zum Glück. Ich fühle mich auf dem JHP-Internat so wohl, wie niemals zuvor. Ich kann nach Herzenslust musizieren, was meinem Vater auch immer ein Dorn im Auge war. Aber das schönste ist, dass ich Miguel kennengelernt habe. Über unseren schwierigen Start weißt du ja Bescheid. Im Keller vorhin kam mir nur meine Situation wieder in den Sinn und da habe ich zu Miguel gesagt, dass ich am liebsten gar nicht mehr nach Hause will.“

Jetzt schaute ich betreten zu Boden.

„Hm. Das klingt bitter. Meinst du nicht, dass es da eine Brücke zu deinem Vater gibt?“

„Nein“, antwortete ich schroff, „kann ich mir nicht vorstellen, so wie er mich bisher behandelt hat.“

„Okay. Raphael, wie auch immer: Du bist in diesem Hause immer willkommen!“

Ich hob den Kopf und sah Alvaro in die Augen. Sein gütiger Blick trieb mir wieder die Tränen in die Augen. Warum konnte mein Vater nicht so sein?

Alvaro klopfte mir leicht auf die Schulter.

„Komm, lass uns nach unten gehen. Paola hat bestimmt schon ein paar Brote zum Abschluss serviert, also nur für uns, die Frauen sind sicher schon weg.“

Diesmal saßen tatsächlich nur noch Paola, Miguel und sein Bruder um den Esstisch und warteten offensichtlich auf uns.

„Kommt, setzt euch zu uns!“, kam prompt die Aufforderung von Paola.

Tatsächlich standen da zwei Platten mit verschiedenen Schnittchen.

„Greift zu!“

Nach den ganzen süßen Weihnachtsknabbereien war es gut, etwas Herzhaftes zwischen die Zähne zu bekommen.

„Oh, lecker!“, entfuhr es mir zwischen zwei Bissen, was bei Miguel wieder zu einem Lachflash führte. Auch seine Eltern grinsten.

Es wurde wieder ein richtig schöner Abend in gelöster Atmosphäre, nur Manuel schaute mich ab und zu seltsam an. Wir redeten über Gott und die Welt, bis wir gegen Mitternacht beschlossen, doch langsam zu Bett gehen zu wollen. Frühstück sollte es dann um 10 Uhr geben.

Freilich konnten weder Miguel noch ich gleich schlafen. Wir waren wir noch viel zu aufgedreht von diesem ereignisreichen Tag, der so gänzlich anders verlief, als es gerade Miguel im Vorfeld befürchtet hatte.

Wir lagen bereits in unseren Betten, als Miguel nochmal sein Erstaunen zum Ausdruck brachte: „Raphael, ich kann es immer noch nicht fassen. Ich erkenne meine Eltern nicht wieder, ganz besonders meinen Vater nicht!“

„Miguel, ich freue mich so für dich, das heißt für uns. Es tut einfach gut, wenn man seine Eltern hinter sich weiß“, und leise ergänzte ich, „dass dein Papa gesagt hat, dass ich hier jederzeit willkommen sei, bedeutet mir sehr viel. Ich glaube, dass das hier zu meinem Rückzugsort wird, wenn du es erlaubst.“

Dabei merkte ich, wie mir schon wieder die Augen feucht wurden. Irgendwie mutierte ich in letzter Zeit zur Heulsuse par excellence.

„Raphael, magst du zu mir kommen?“, fragte Miguel vorsichtig. Er wusste sehr genau um meine Gemütslage. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und kroch zu ihm ins Bett. Er nahm mich sofort in den Arm und ein wohliges Kribbeln erfasste meinen ganzen Körper. Ich schmiegte mich an ihn.

So schliefen wir tief geborgen, aneinander gekuschelt ein.

Miguel

Als ich aus einem festen Schlaf aufwachte, musste ich mich erst orientieren.

Es dauerte einen Moment, bis ich wusste, warum es in meinem Bett so ungewohnt eng war. Grinsend schüttelte ich innerlich meinen Kopf und betrachtete Raphael, der zu mir gewandt seine rechte Hand auf meine Brust gelegt hatte und sein rechtes Bein über meines. Deutlich spürte ich seine Körpermitte an meiner Hüfte. Eigentlich wollte ich nachsehen, wie spät es war. Allerdings hätte ich mich dafür drehen müssen, was Raphael sicher geweckt hätte. Das wollte ich aber vermeiden und ihm lieber noch ein wenig beim Schlafen zuschauen.

Mein lieber Bruder sorgte dafür, dass daraus aber nichts mehr wurde. Kam er doch ohne anzuklopfen, wie die Axt im Walde in mein, vielmehr unser Zimmer gerumpelt, um, wie vom Schlag getroffen, mitten in der Bewegung innezuhalten und uns völlig entgeistert anzuschauen. Raphael fuhr erschrocken und auch desorientiert hoch, um gleich wieder auf sein Kissen zurückzufallen.

„Hau bloß ab!“, herrschte ich meinen Bruder an, der dieser Aufforderung auch unverzüglich und kommentarlos nachkam.

Dann hauchte ich meinem Freund einen Kuss auf die Wange und sagte leise: „Guten Morgen, Rafi.“

Der schlug endgültig seine Augen auf und erwiderte: „Guten Morgen, Miggi!“, zog mich an sich und küsste mich auf den Mund. Als er mein Zögern bemerkte, ließ er mich auch sofort wieder mit unsicherem Blick los.

„Raphael, ich glaube ich schmecke grad nicht besonders gut. Lass uns erst Zähne putzen.“

Daraufhin lachte er auf, derweil mein Blick auf meinen Wecker fiel.

„Oh, Mann, Raphael, es ist dreiviertel zehn.“

„WAS?“

„Los komm ins Bad, wir müssen uns beeilen.“

Jeder schnappte sich seine frische Wäsche, die wir uns tags zuvor schon hergerichtet hatten. Sekunden später standen wir im Bad. Ruckzuck hatten wir uns unserer Pyjamas entledigt und schielten jeweils grinsend zum anderen. Es war ja nicht so, dass wir uns noch nie nackt gesehen hätten, selbst im jetzigen Zustand, aber zu mehr als einer flüchtigen Berührung reichte die Zeit nicht. Während der eine kurz unter die Dusche hüpfte, putzte sich der andere die Zähne und rasierte sich.

Äußerst diszipliniert kamen wir Punkt zehn zum Frühstück.

„Guten Morgen ihr beiden, gut geschlafen?“, begrüßte uns fröhlich mein Vater mit einem schelmischen Grinsen.

„Guten Morgen, ja, wie zwei Steine!“, grinste ich zurück.

„Raphael, auch ein Ei?“, wollte meine Mutter wissen.

„Ja bitte, gute Idee.“

„Weich oder hart?“

„Weich, bitte. So wie bei Loriot.“

Mama schmunzelte

„Okay, dann viereinhalb Minuten nach Gefühl!“

„Genau“, lachte mein Freund.

„Greift schon mal zu, Kaffee und die Eier kommen gleich.“

Schließlich saßen alle um die reichhaltig gedeckte Frühstückstafel und jeder mampfte vor sich hin.

„Jungs, nochmal wegen gestern“, begann Mama, weshalb Rafi und ich merklich zusammenzuckten.

„Nein, nicht was ihr denkt. Wegen eures fantastischen Konzerts. Ich bin immer noch tief beeindruckt. Erzählt mal genau, wie das überhaupt zustande kam.“

Raphael erläuterte daraufhin ohne Umschweife die ganze Geschichte. Auch, dass sein Vater kein Verständnis für ihn hatte. Nicht für seine Neigung zum gleichen Geschlecht und nicht für seine Liebe zur Musik, die beiden entscheidenden Dinge, die im Grunde sein Leben ausmachten. Dabei schossen ihm wieder die Tränen in die Augen, weshalb ich ihn einfach festhielt. Selbst Manuel schaute uns betroffen an. Nachdem sich mein Freund wieder gefangen hatte, betonte er erneut, wie unglaublich glücklich er gerade darüber war, mich getroffen zu haben. Und noch dazu so wundervoll mit mir musizieren zu können. Dabei strahlte er mit der Sonne um die Wette, die an diesem ersten Advent die reifbedeckte Landschaft in ein tolles Licht tauchte. Mit ein wenig Schadenfreude fuhr er fort: „Damit hat mein Erzeuger sicher nicht gerechnet; der ist wohl der Meinung, dass am gemischten JHP-Internat Zucht und Ordnung herrschen. Aber was anderes: Ich bin Mal gespannt, was sich unsere Musiklehrer noch so alles ausdenken. Ich denke, da ist noch was im Busch.“

„Das kann schon sein“, pflichtete ich ihm bei.

„Womöglich sollen wir ein Konzert geben“, vermutete ich.

„Das würde mir, glaub‘ ich, sogar Spaß machen.“

„Mir auch, Rafi.“

„Das fände ich ausgesprochen wunderbar“, befand Mama, „das denkst du doch auch, Alvaro?“

„Auf jeden Fall“, pflichtete er sofort bei, „apropos Musiklehrer. Wann wolltet ihr wieder im Internat sein?“

„Haben wir uns noch keine Gedanken gemacht“, gab ich zu, „Rafi?“

„Also ich würde gerne so spät wie möglich zurückwollen“, sagte er leise.

„Gut, dann fahre ich euch nach dem Abendessen ins Internat, okay?“

„Ja prima. Danke Papa. Wäre es für euch in Ordnung, wenn wir uns bis zum Mittagessen nochmal zurückziehen?“

„Zum Ficken?“, da war es wieder, das lose Mundwerk meines Bruders.

„MANUEL!“, kam es gleichzeitig von beiden Eltern.

„Ja logisch, was hast du denn gedacht“, schoss ich augenblicklich in einem scharfen Ton zurück, was mir entgeisterte Blicke von allen Anwesenden bescherte. Dass besonders Manuel sämtliche Gesichtszüge entgleisten, registrierte ich mit Genugtuung. Genau das hatte ich bezweckt und prustete los. Tatsächlich fielen auch Raphael und meine Eltern in das Gelächter ein.

„Wir wollten noch am PC per MIDI-Verbindung zu meinem Keyboard ein Arrangement für Klavier und Orgel erstellen. Das ist eine Hausaufgabe von unserem Musiklehrer, zufrieden?“, wandte ich mich an meinen Bruder.

Raphael

Da hielten alle den Atem an, als Miguel die Provokation seines Bruders konterte. Auch ich war auf Grund der Schärfe in seinem Tonfall zuerst geschockt. Als er sich dann aber über das Gesicht seines Bruders halb totlachte und eine ernsthafte Antwort hinterher schob, entspannte sich die Situation sofort, lediglich Manuel suchte unverzüglich das Weite.

„Das war aber heftig gekontert“, meinte Alvaro unsicher, denn offensichtlich war diese Sprache im Hause Hernandez bis dato nicht üblich.

„Ist doch wahr!“, stellte Miguel fest, „anders scheint der das nicht zu kapieren!“

Alvaro seufzte und Paola bestätigte seine Vermutung: „Ja, leider. Aber Raphael, du sollst wissen, dass wir diese Art der Konversation hier nicht gewohnt sind.“

„Schon klar, Paola. Das wird hier auch gewiss nicht zur Gewohnheit. Ich bin mir sicher, dass ihr mit Manuel sehr bald wieder normal sprechen könnt.“

Abermals kam ein Seufzer von Alvaro: „Deine Worte in Gottes Gehörgang, Raphael.“

Ich nickte den Eltern von Miguel aufmunternd zu, als sie mich mit einer Spur der Resignation ansahen.

„Wollen wir uns auf etwa zwei Uhr zum Mittagessen verabreden?“, fragte nun Paola.

„Ja gut“, antwortete Miguel und zog mich mit sich nach oben.

„Der spinnt doch“, meinte er dann hinsichtlich seines Bruders.

„Naja, du weißt ja nicht, wie es bei ihm in der Schule zugeht. Vielleicht steht er da unter zusätzlichem Druck. Ich bin mir sehr sicher, dass er sehr wohl ein einfühlsamer Mensch ist, so wie er mir gegenüber schon manchmal reagiert hat.“

„Hoffentlich hast du damit Recht und er setzt sich damit auch durch. Lass uns Mal an das Arrangement für die Rhapsody gehen“, sprach er und schaltete den PC an. Jetzt liefen allerdings erst mal eine Reihe von Updates. Ich hatte mich hinter ihn gestellt und meine Hände über seine Schultern auf seine Brust gelegt. So lehnte er sich zurück, griff nach meinen Händen.

„Ich liebe dich“, sagte er unvermittelt und erhob sich aus seinem Bürostuhl, drehte sich zu mir und zog meinen Kopf zu sich. Es folgte ein unendlich langer Kuss, der sämtliche schönen Gefühle in Wallung brachte. Nicht nur bei mir. Er schob mich in Richtung seines Bettes. Auf diesem kurzen Weg kamen uns sämtliche Kleidungsstücke abhanden. Einen Sekundenbruchteil später lag er auf mir und bedeckte meinen ganzen Körper mit seinen Küssen. Es kribbelte überall und ich konnte von ihm nicht genug kriegen. Meine Hände gingen auf Wanderschaft, wie seine im Übrigen auch. Viel zu schnell waren wir auf einem sensationellen Höhenflug, von dem wir, schwer atmend, rücklings auf Miguels Bett landeten. Nur kurze Zeit später zog ich ihn auf mich, ich wollte ihn weiter spüren, auch wenn eigentlich zuerst eine Dusche fällig gewesen wäre. Ich zog die Decke über uns und hielt ihn einfach fest.

„Ich liebe dich auch, Miguel, du bist das Beste, was mir je passiert ist.“

„Danke, gleichfalls.“

Und wieder versanken wir in einen tiefen Kuss.

„Hast du eigentlich die Tür abgeschlossen?“, fragte ich eher beiläufig.

„Ach du Sch… nein“, wie von der Tarantel gestochen fuhr er hoch, was ich so allerdings nicht beabsichtigt hatte und sprang zur Tür, um den Schlüssel zu drehen.

Freilich war damit die Stimmung erst mal im Eimer. Er kam zurück und kuschelte sich trotzdem rasch an mich, denn es war doch relativ kalt.

„Wir sollten uns wieder anziehen“, schlug er nach kurzer Zeit vor und reichte mir ein paar Papiertaschentücher, „wenn wir jetzt nochmal duschen, verraten wir uns. Das möchte ich meinen Eltern nicht zumuten, jedenfalls noch nicht.“

So säuberten wir uns notdürftig, schlüpften wieder in unsere Klamotten, machten das Bett und kämmten uns - in Ermangelung eines Spiegels - gegenseitig die Haare. Mit einem kurzer Rundumblick und einem kurzen gegenseitigen Nicken befanden wir die Situation als bereinigt. Keine Sekunde zu früh drehte Miguel den Schlüssel im Schloss und schon stand Manuel im Zimmer, wiederum ohne anzuklopfen.

„Boa eh, hier stinkt’s ja wie im Tigerkäfig“, rief er aus.

„Nun mach mal halblang, wir haben heute ja noch nicht gelüftet“, fauchte Miguel seinen Bruder an.

„Ja, is ja gut. Die Elternschaft lässt fragen, ob ihr was dagegen hättet, Essen zu gehen. Mama hat wohl keine Lust zu kochen. Papa hat schon beim Italiener für zwei Uhr einen Tisch reserviert.“

„Klar, auch gut. Wie spät ist es denn?“

„12 Uhr“, antwortete ich.

„Okay, dann können wir hier noch ein bisschen weitermachen. Abmarsch dann um dreiviertelzwei, wie gewohnt, oder?“, fragte Miguel seinen Bruder.

„Okay, ich sag unten Bescheid“, und schon war er wieder weg.

„Puh, das war knapp“, grinste ich Miguel an. Der nickte bloß und setzte sich an seinen PC. Tatsächlich gelang es uns, konzentriert zu arbeiten und das gewünschte Arrangement zu erstellen. Pünktlich um dreiviertelzwei gingen wir nach unten, wo uns der Rest der Familie schon erwartete. Es war das Lieblingsrestaurant der Familie und sie waren dort entsprechend bekannt, ich wurde etwas neugierig betrachtet, jedoch keineswegs aufdringlich.

Es schmeckte vorzüglich.

Nach einem Verdauungsspaziergang einigten wir uns auf Kaffee mit ein paar „Versucherlein“ aus der Weihnachtsbäckerei vom Vortag. Freilich streng rationiert, schließlich war das alles ja für Weihnachten gedacht.

Wir unterhielten uns angeregt und vergaßen fast die Zeit. Nach ein paar Schnittchen zum Abendbrot verluden wir unser Gepäck samt Keyboard und Alvaro lieferte uns pünktlich um neun Uhr abends wieder im JHP-Internat ab, oder sollte ich sagen ‚ein‘? Nein, denn anders als es sich mein Erzeuger mit mir gedacht hatte, war Miguel in vollem, gegenseitigem Einvernehmen hier. Paola hatte mich zum Abschied sogar umarmt und mir nochmals versichert, dass ich jederzeit willkommen sei. Auch Alvaro bekräftigte das noch einmal bei seinem Abschied am Internat.

Ich half Miguel noch, sein Keyboard in sein Zimmer zu verfrachten, wo Fabian bereits im Bett lag und zu schlafen schien. Wir schlichen noch einmal hinaus auf den Flur und verabschiedeten uns mit mehreren Umarmungen und Küssen, als ob wir uns jetzt ein halbes Jahr nicht mehr sehen würden.

„Danke, Miguel, für dieses schöne Wochenende. Ich liebe dich.“

„Es war super schön, dass du das Wochenende bei mir warst. Ich liebe dich auch“, kam von ihm zurück.

„Schlaf gut und träum was Schönes.“

„Mach ich. Von Dir. Gute Nacht.“

Bei mir auf der Bude begrüßte mich KF freundlich und fragte ohne Häme, wie denn das Wochenende bei den Schwiegereltern war. Ich konnte ihm nur mit glasigen Augen antworten: „Mit einem Wort: ‚Fantastisch‘.“

Kurze Zeit später lagen auch wir in unseren Betten und wünschten uns eine gute Nacht.

Miguel

Der Montag begann mit einer Überraschung.

Raphael und ich waren gerade auf dem Weg vom Frühstück zum Unterricht, als uns Herr Kramer entgegenkam: „Guten Morgen ihr beiden, gut, dass ich euch treffe“, begann er und schien dann nicht recht zu wissen, wie er uns sein Anliegen näherbringen sollte. Entsprechend neugierig sahen wir ihn an.

„Am Samstag vor dem vierten Advent sollte ein Weihnachtskonzert in der St.-Nikolaus-Kirche stattfinden. Der Gast-Organist hatte gestern einen Unfall, von dem er sich zwar wieder erholen wird, nicht aber bis in drei Wochen. Oliver dachte dann sofort an euch, ob ihr nicht stattdessen spielen wollt.“

Erwartungsvoll schaute er in unsere betroffenen Gesichter.

Raphael sah kurz zu mir und wusste, dass ich zustimmen würde, wandte sich an unseren Lehrer und sagte: „Jawohl, Herr Kramer, Sie können mit uns rechnen. Wollen wir das heute Nachmittag besprechen?“

Ein Strahlen huschte über Herrn Kramers Gesicht.

„Freut mich sehr, vielen Dank. Ich sage Oliver, dass er dazu kommt, das hat jetzt absolute Priorität. Es geht dabei nämlich um einen guten Zweck, es soll für die Einrichtung eines Kinderhospizes gesammelt werden.“

„Da sind wir dabei“, betonte jetzt auch ich.

Eine gewisse Hochstimmung, aber auch Nervosität machte sich bei mir breit. Nur mit Mühe konnte ich dem Unterricht folgen. Auch Raphael beteiligte sich, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, nicht von sich aus am Unterricht und wurde, wie ich immer wieder von unseren Lehrern aufgerufen. Lediglich Dr. Neubert hielt sich sehr zurück und kam dafür nach der Doppelstunde Mathematik direkt auf uns zu.

„Es ist mir zu Ohren gekommen, dass ihr beiden das JHP-Internat mit einem Konzert in der Kirche St. Nikolaus vertreten wollt.“

Ich schluckte schwer, so hatten wir das noch gar nicht betrachtet, wie ich mit einem Seitenblick auf Raphael bemerkte.

„Ich freue mich, dass ihr euch dazu, ohne zu zögern, bereit erklärt habt“, fuhr der Direx fort, „dafür werden wir von der Lehrerschaft euch den Rücken so weit wie möglich freihalten. Herr Kramer hat euch ja schon erklärt, worum es geht.“

Völlig verdattert schauten wir uns an und bedankten uns bei Herrn Neubert, der sich mit einem Schmunzeln von uns verabschiedete. Raphaels Klavierstunde bei Herrn Kramer begann ja um 16 Uhr im Anschluss an meinen Unterricht bei Carsten. So wartete ich also auf die beiden, die auch pünktlich erschienen, kaum dass Carsten das Musikkabinett verlassen hatte.

„Schön, meine Herren“, begann Herr Kramer und erläuterte den ursprünglich geplanten Programmablauf am vierten Advent.

„Mir ist klar, dass das so für euch nicht in Frage kommt. Hättet ihr vielleicht eine Idee?“

„Vorstellbar ist vieles“, meinte Raphael, „wir hatten jetzt am Wochenende bei Miguel zuhause einen guten Erfolg mit folgendem Ablauf: Zuerst ein wenig Ragtime mit Übergang zu Boogie-Woogie und dann ein Weihnachts-Medley. Als Zugabe eine verkürzte Version der ‚Rhapsody in Blue‘.“

Herr Kramer überlegte.

„Nicht gerade ein typisches Adventskonzert. Ich denke, wir müssen euch ganz anders ankündigen. Vorgesehen war ja ein reines Orgelkonzert. Dass ihr mit der Kombination Orgel und Klavier auftreten wollt und sollt, ist ja einigermaßen neu und ungewöhnlich. Also etwa so: ‚Ein Konzert der besonderen Art. Lassen Sie sich von zwei Schülern des Johann-Heinrich-Pestalozzi-Internats an Orgel und Klavier verzaubern!‘ So müssten es nicht unbedingt Weihnachtslieder sein. Was haltet ihr von folgender Idee: Beginnt mit Beethovens Fünfter, das könnt ihr schon richtig gut. Danach die Rhapsody, aber in der Langversion, also etwa 18 Minuten. Zum Ende vielleicht ein Medley mit bekannten Weihnachtsmelodien. Anmoderieren ist in einer Kirche schwierig, aber man könnte ein kleines Programm drucken. Allerdings sollte dazwischen noch ein weiteres, längeres Stück kommen.“

Es entstand eine längere Pause.

Plötzlich meldete sich Raphael leise zu Wort: „Was wäre von Bachs Toccata und Fuge in d-Moll zu halten? Soweit ich weiß, hat Miguel die in einer Klavierversion schon gespielt und ich sollte sie auf der Orgel draufhaben. Ist zwar schon länger her, aber dieses populäre Stück hat mir immer viel Spaß auf der Orgel gemacht. Im Arrangement für beide Instrumente im Duett müsste man freilich den strengen Bach-Zyklus etwas auflösen, aber das würde ich uns zutrauen, was meinen Sie, Herr Kramer?“

Herr Kramer sah lange zu Raphael und erwiderte dann: „Raphael, das ist eine grandiose Idee. Ehrlich gesagt fehlt mir ein wenig die Vorstellung, aber einen Versuch ist es wert. Möglicherweise müsste man es etwas vereinfachen, Miguel?“

„Wenn wir etwas freier interpretieren dürfen, bin ich bei Raphael. Das sollten wir gleich heute Abend ausprobieren und mit Oliver absprechen.“

„Gut, dann spielt es gleich Mal hier auf den Klavieren, damit schon mal die Partitur sitzt.“

Gesagt, getan. Wir besprachen gleich möglich erscheinende Übergänge zwischen Orgel und Klavier. Wieder verging die Zeit im Nu und Herr Kramer musste uns echt einbremsen.

Raphael

Noch vor dem Abendessen telefonierte ich mit Oliver und schilderte unser Vorhaben. Er meinte sogar, dass er ein Arrangement haben müsste und versprach, es gleich noch auf den Flügel in der Kirche zu legen. Er müsse für heute Abend leider absagen. Am morgigen Dienstag wollte er etwa um 15 Uhr vorbeischauen. Wir konnten es kaum erwarten, in die Kirche zu kommen. Noch im Abräumen kauten wir die letzten Bissen unseres Abendessens.

Diese abendliche Übungsstunde sorgte noch für Gänsehaut-Feeling.

Nachdem wir Olivers Partitur durchgesehen und besprochen hatten, klappte unsere Abstimmung erneut fast wie von selbst. Für einige Stellen entwickelten wir eigene Vorstellungen. Dass wir an unserer Spieltechnik weiter feilen mussten, wurde schnell klar. Der Ablauf mit all den Veränderungen fiel uns leicht und wir waren mit dem Ergebnis sehr zufrieden.

Meine montäglichen Klavierstunden bei Herrn Kramer verlegten wir zusätzlich als Orgel- und Klavierstunden mit Miguel in die Kirche St. Nikolaus.

Doch auch ohne unsere Musiklehrer verbrachten Miguel und ich fortan jede freie Minute in dieser Kirche. Ich brauche wohl nicht extra betonen, dass dies die intensivste Zeit meines bisherigen Lebens war.

Hinzu kam, dass Miguel und ich quasi zum Ausgleich auch noch fast täglich auf den beiden Flügeln im Musikkabinett des Internats um die Wette spielten. Dort war dann ausschließlich Ragtime und Boogie-Woogie angesagt. Oft blödelten wir da musikalisch herum und entwickelten „en passant“ ein Jazz-Programm vom Feinsten. Mehr als einmal musste uns Herr Kramer kopfschüttelnd aus dem Musikkabinett verjagen. Sicherheitshalber wurden wir vom allgemeinen Schulsport befreit, zu groß schien das Risiko, dass wir uns Hände oder Finger verstauchten.

Am darauffolgenden Mittwoch überraschte Miguel uns alle mit einem perfekten Programmvorschlag, den er sehr überlegt begründete. Zuerst die Toccata und Fuge in d-Moll, denn, so seine Argumentation, die Leute würden ein Orgelkonzert erwarten, also sollten wir mit einem typischen Orgelstück beginnen. Dann „Variationen aus Beethovens fünfter Symphonie“, da sie weder für Klavier noch für Orgel komponiert war und wir sie daher völlig anders arrangiert zum Vortrag brachten. An dritter Stelle die ‚Rhapsody in Blue‘, deren Klavierpart Miguel mit den jazz-üblichen Improvisationen fast im Original spielen würde und die Orgel mit den notwendigen Anpassungen das Orchester ersetzte. Zum Abschluss dann eine spielerische Einstimmung auf den nahen Heiligen Abend mit einem Medley aus verschiedenen, bekannten Weihnachtsliedern.

Diese Auswahl und die Reihenfolge traf auf die uneingeschränkte Zustimmung unserer Musikpädagogen.

Die Musikstücke an sich waren sowohl Miguel als auch mir bestens bekannt, so dass wir uns beim Üben voll auf unser Zusammenspiel konzentrieren konnten.

Keine Ahnung, wo wir beide diese Ruhe hernahmen, mit der wir trotz allem problemlos auch dem täglichen Unterricht folgen konnten.

So machte Lernen echt Spaß.

Am Dienstag vor dem dritten Advent gelang es uns wieder einmal, Oliver nicht nur zu begeistern, sondern mit ausgesprochen gut gespielten Passagen regelrecht zu verblüffen. Das Ganze wurde mir fast schon unheimlich, weil alles so glatt lief. Zu glatt.

Was ich durch diese intensiven Aktivitäten völlig verdrängte, war das bestehende Unverständnis meines Vaters, der das alles, wenn er davon erführe, mit einem Streich zunichtemachen würde. Er hätte keine Skrupel, mich unverzüglich von diesem Internat zu holen. Von meiner Freundschaft zu Miguel ganz abgesehen.

Hin und wieder jedoch blockierten mich diese Gedanken so stark, dass ich glaubte, verrückt zu werden. Es kam vor, dass ich dann weder ein noch aus wusste. An diesem Abend war es so extrem, dass ich einfach fortrannte. Raus aus dem Internat, an das Ufer des Sees. Der war im Sommer ein beliebter Badesee. Jetzt aber lag er zugefroren und friedlich da, der Vollmond spiegelte sich auf dem Eis. Ich ließ mich auf die einsame Bank sinken und begann hemmungslos zu weinen. So bemerkte ich nicht, dass mir Bernd gefolgt war und mit ihm seine beiden Trabanten Herrmann und Heinrich. Die drei waren in der Klasse ziemlich isoliert, denn sämtliche Homophobie vereinigte sich in diesen Gestalten.

„Ach sieh mal an, da ist ja unsere Pussy.“ Der Tonfall, mit dem er diese provozierenden Worte an mich richtete, ließ mir mein Blut gefrieren.

„Ganz allein hier am See. Jetzt bist du fällig, du schwule Sau.“

Voller Panik sprang ich auf und sah eine Faust auf mich zukommen, der ich gerade noch ausweichen konnte. Statt in meinem Gesicht, landete die Faust bei Herrmann, der einen Schrei losließ, der einem Mark und Bein erschüttern ließ. Doch dieser fehlgeleitete Schlag steigerte nur dessen Wut, mit der er jetzt auf mich losging. Inzwischen hatte mich Heinrich gepackt und hielt mich fest. Schon trafen mich zwei Schläge in den Magen. Ich krümmte mich im Schmerz nach vorn. Aus dem Augenwinkel sah ich noch wie Bernd mit einem armdicken Ast auf mich zukam. Dann ging das Licht aus.

Miguel

An diesem Dienstagabend vor dem dritten Advent machte ich mich auf den Weg zur Kirche. Raphael war wohl schon vorausgegangen, denn ich hatte mich etwas verspätet, wollte aber noch rasch etwas essen, bevor die Mensa schloss und dann nachkommen. Doch die Kirche war verschlossen, kein Raphael weit und breit. Ich wunderte mich etwas. Klar war es schon spät, aber das war es in den letzten Tagen immer. Ich war mir sicher, dass Raphael noch kommen würde, also wartete ich. In der Ferne hörte ich das typische Geräusch des Martinshorns, doch dachte ich mir nichts weiter dabei. Ich beschloss, bei Oliver zu klingeln. Noch bevor ich das Haus des Kantors erreichte, kam dieser aus der Tür gestürzt. Als er mich sah, heulte er los: „Miguel, Raphael wurde zusammengeschlagen. Er ist nicht bei Bewusstsein. Eben kam der Anruf vom Internat. Sie bringen ihn ins Kreiskrankenhaus. Ich fahr da jetzt hin. Willst du mit?“

„Das ist ja furchtbar. Klar fahr ich mit“, antwortete ich fast wie in Trance. Wieso wurde Raphael zusammengeschlagen, wer macht denn sowas? Wie schlimm ist er verletzt? Wird er wieder gesund? Diese und noch viel mehr Fragen schwirrten mir durch den Kopf und ich wurde immer unruhiger.

Im Krankenhaus trafen wir auf Dr. Neubert und Herrn Kramer. Auch Kevin, Fabian und KF waren da. Schweigend saßen sie im Wartebereich vor der Intensivstation. Ich tigerte auf und ab, bis mich Fabian in den Arm nahm. Dann brachen alle Dämme: Ich heulte wie ein Schlosshund, nichts und niemand konnte mir jetzt helfen. Erst als die Tür aufging und ein Arzt mit ernster Miene auf uns zukam, gelang es mir, mich für einen Augenblick zusammenzureißen.

„Herr Doktor Neubert, meine Herren. Raphael schläft jetzt. Innere Organe wurden zum Glück nicht geschädigt. Allerdings wissen wir noch nichts über seinen psychisch-neurologischen Zustand, wir müssen warten, bis er aufwacht. Das wird frühestens in zehn Stunden der Fall sein. Bitte gehen Sie jetzt nach Hause. Wir haben seine Mutter erreichen können, sie kommt morgen um die Mittagszeit. Der Vater ist wohl in Amerika. Gute Nacht.“

So fuhren wir zurück. Wie selbstverständlich nahm mich Dr. Neubert mit sich. Kevin, Fabian und KF fuhren mit Herrn Kramer. Auch Oliver verabschiedete sich mit einem Gute-Nacht-Gruß.

Auf der halbstündigen Fahrt unterrichtete mich Herr Neubert über den Tathergang. Dass KF und Fabian mitbekamen, wie Raphael davongerannt sei und sie bemerkten, dass ihm Bernd, Herrmann und Heinrich folgten. Sofort hätten sie sich zusammen mit Kevin auf den Weg gemacht. Zum Glück hatte KF eines dieser neuartigen Mobiltelefone und einen Notruf abgesetzt, als sie sahen was passierte. Durch ihr Eingreifen wurde wohl schlimmeres verhindert.

„Wobei ja noch nicht klar ist, wie schlimm es wirklich ist“, ergänzte Herr Neubert zurückhaltend.

Ich schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte: „Wissen Sie Herr Neubert, Raphael ist mehr als ein Freund für mich. Noch nie habe ich mich einem Menschen so nah gefühlt. Oft wissen wir schon im Voraus, was der andere im nächsten Moment tun wird. Und das auch oder gerade, wenn wir Musik machen. Es ist einfach unbeschreiblich schön. Ohne ihn kann ich mir mein Leben gar nicht mehr vorstellen.“ So gestand ich unserem Direx meine Liebe zu Raphael.

Inzwischen waren wir gleichzeitig mit den anderen am Internat angekommen. Als wir alle ausgestiegen waren, taxierte mich Herr Neubert sehr genau.

„Miguel, kommst du klar? Fabian wird sich gegebenenfalls um dich kümmern, nicht wahr, Fabian?“

„Ja sicher, Herr Neubert, ich weiß Bescheid“, bestätigte der sofort.

Der Direx nahm mich noch kurz beiseite. „Wenn du willst, komm morgen nach der großen Pause zu mir ins Rektorat. Dann fahren wir gemeinsam ins Krankenhaus, in Ordnung?“

„Ja, Danke, Herr Neubert. Ich würde gerne mitkommen.“

„Okay, meine Herren, dann trotzdem noch eine gute Nacht. Bis Morgen“, verabschiedete sich unser Direktor.

Nachdem wir uns noch reihum eine gute Nacht gewünscht hatten, trottete ich einfach hinter Fabian her auf unser Zimmer. Kurz darauf lagen wir auch schon in unseren Betten.

„Schlaf gut, Miguel“, kam leise von Fabian.

„Danke, du auch.“

Trotz einer sehr unruhigen Nacht war ich wohl doch noch eingeschlafen. Fabian weckte mich vorsichtig.

„Guten Morgen, Miguel“

„Guten Morgen, Fabian“, antwortete ich verschlafen. Er hatte sich zu mir gebeugt und zog mich behutsam in die Senkrechte.

„Komm, lass uns duschen gehen.“

Wieder schlurfte ich einfach hinter meinem Zimmergenossen her.

Auch zum Frühstück gingen wir gemeinsam. Ich merkte wohl, dass sich alle zurückhielten. Später verriet mir Fabian, dass KF, Kevin und er unsere Mitschüler nachdrücklich gebrieft hatten. Inzwischen war auch durchgedrungen, dass die drei Gewalttäter, obwohl minderjährig, in Untersuchungshaft saßen.

Die ersten drei Stunden zogen wie im Nebel an mir vorüber. Als ein Versuch Dr. Gabriels, mich in seinen Unterricht zu integrieren an der Ratlosigkeit meinerseits scheiterte, gab es nicht einmal hämische Blicke oder gar Bemerkungen, wie sonst. In dem Moment war ich einfach dankbar, dass man offenbar abgesprochen hatte, mich in Ruhe zu lassen. Um 10:30 Uhr traf ich mich, wie verabredet, mit unserem Direx.

„Guten Morgen, Miguel. Konntest du einigermaßen schlafen?“

Ich zuckte nur mit den Schultern.

„Okay, lass uns fahren“, meinte Herr Neubert nur und ging voran.

Raphael

Als ich wieder aufwachte, fühlte ich mich, wie in Watte gepackt. Dumpf brummte mir der Schädel und ganz entfernt hörte ich Pieptöne, wie in einem Krankenhaus. Es dauerte einige Momente, bis ich registrierte, dass ich wohl auf der Intensivstation eines Krankenhauses gelandet war.

„Er kommt zu sich“, hörte ich weit entfernt eine männliche Stimme.

„Herr Hausner, können Sie mich hören?“, fragte eine andere, nähere Stimme.

Ich versuchte zu antworten, was mir aber nicht gelang, also versuchte ich zu nicken, was auch nur eine marginale Bewegung gewesen sein konnte.

„Gut, drücken Sie einfach meine Hand. Einmal für ja, zweimal für nein. Das dürfte weniger anstrengend für Ihren Schädel sein, okay?“

Ich drückte einmal.

„Das funktioniert schon mal vielversprechend. Herr Hausner, Sie haben Glück gehabt und keine inneren Verletzungen. Lediglich eine massive Platzwunde über dem linken Auge und eine satte Gehirnerschütterung, von der wir noch nicht genau wissen, wie schwer sie ist. Sie haben recht starke Schmerzmittel bekommen, die Sie wahrscheinlich alles wie durch Watte wahrnehmen lassen. Außerdem werden Sie gleich wieder einschlafen, aber das ist gut so. Vermeiden Sie starke Bewegungen, okay?“

Wieder drückte ich einmal.

„Dann, bis später“, verabschiedete sich die Zweitstimme. Nach einer Weile meldete sich die Erststimme erneut zu Wort: „Raphael, du musst wahrscheinlich pinkeln, oder? Ich habe hier eine Urinflasche.“

Obwohl mir das oberpeinlich war, hatte ich wohl keine Wahl. Ich drückte ihm also einmal die Hand, dann merkte ich, wie mir jemand meinen Pimmel irgendwo reinfädelte, wohl in diese Flasche.

„Jetzt lass laufen“, forderte mich die Stimme auf, was ich dann eben tat.

Tatsächlich dämmerte ich wieder weg.

Als ich wieder aufwachte, war es auffallend ruhig um mich herum.

Es war wohl später Vormittag, als plötzlich meine Mutter im Zimmer stand und mich leise ansprach: „Hallo, mein Schatz. Was machst du nur für Sachen?“

Da es mir schwer fiel zu sprechen, schüttelte ich zunächst nur den Kopf.

Ich schloss meine Augen wieder. Plötzlich bildete ich mir ein, dass ich jetzt sowieso nichts mehr zu verlieren hatte und krächzte unter Aufbietung aller Kräfte: „Mama, man hat mich zusammengeschlagen, weil ich schwul bin. Ich habe im Internat einen tollen Freund kennengelernt, war er denn noch nicht da?“

„Raphael, es tut mir weh, dich hier so liegen zu sehen. Ich habe diesen unsäglichen Umgang deines Vaters mit dir nie verstanden, ich hoffe, du weißt das. Umso mehr freut es mich zu hören, dass du hier eigentlich sehr glücklich zu sein scheinst, auch wenn es schönere Umstände sein sollten, unter denen du mir von deinem Glück erzählen könntest. Ich kann dir nur versichern, dass ich auf deiner Seite stehe, jetzt wäre es aber wahrscheinlich besser, noch etwas auszuruhen oder was meinst du?“

Ich konnte nur schwach nicken und schon war ich wieder im Land der Träume.

Miguel

Schweigend erreichten wir das Krankenhaus. Als wir uns an der Rezeption meldeten, teilte man uns zu unserer Überraschung mit, dass Raphael bereits auf eine Normalstation verlegt worden war. Allein diese Info weckte meine Lebensgeister und ich stürmte ungeduldig voran. ‚Raphael Hausner‘ stand von Hand auf einen Streifen Heftpflaster geschrieben der provisorisch auf das Türschild geklebt war. Ich klopfte an die Tür, die ich gleichzeitig schon öffnete. Da lag mein Liebling mit einem schauerlich anzusehenden Kopfverband in seinem Bett. Das zweite Bett war unbelegt. Er schien zu schlafen. Auf einem Stuhl an seiner linken Seite saß eine kleine Frau Anfang vierzig, die offensichtlich geweint hatte. Als wir näher traten hob sie den Kopf.

„Frau Hausner nehme ich an“, sprach sie unser Direx an, „guten Tag. Ich bin der Direktor des Internats. Das ist Miguel, ein guter Freund Ihres Sohnes.“

„Guten Tag Herr Doktor Neubert, hallo Miguel“, ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht, „er hat vorhin schon nach dir gefragt, jetzt ist er nur wieder eingeschlafen.“

„Ich bin wach“, kam es mit krächzender Stimme von Raphael, der eben seine Augen öffnete.

„Mensch, Raphael, bin ich froh, dass du lebst; wie geht es dir; hast du Schmerzen?“, bestürmte ich meinen Freund. Ich konnte mich nicht zurückhalten und drückte ihm einen Kuss auf den Mund.

„Schön, dass du da bist. Unkraut vergeht nicht“, witzelte er mit einem sehr schiefen Grinsen, „allerdings hantiert irgendwer mit einem Presslufthammer in meinem Kopf herum.“ Vorsichtig legte ich ihm meine rechte Hand auf die Wange, die er wiederum mit seiner linken ergriff. Jetzt schloss er seine Augen wieder, sprach aber weiter: „Mit geschlossenen Augen ist es nicht ganz so schlimm.“ Nach einer Weile schielte er zu seiner Mutter: „Mama, das ist er“, sagte er nur. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich mich durch mein ungestümes Verhalten zwangsweise geoutet hatte und lief rot an. Allerdings dachte ich nicht im Traum daran, mich von Raphael zu lösen.

„Das ist unübersehbar, mein Sohn. Und wenn die Situation nicht so bedrückend wäre, würde ich sagen: Du hast einen guten Geschmack.“

Damit lockerte Frau Hausner die Stimmung etwas auf. Ich sah nun zu ihr hoch, konnte aber nur ein freundliches Gesicht erkennen. So erhob ich mich und stellte mich noch einmal selbst vor, so wie ich es gelernt hatte: „Guten Tag, Frau Hausner, mein Name ist Miguel Hernandez.“

Dabei ergriff ich die dargebotene Hand und machte eine leichte Verbeugung.

„Miguel, ich freue mich ehrlich, dich kennenzulernen, auch unter diesen widrigen Umständen. Du bist also der, der meinem Jungen den Kopf verdreht hat?“, fragte sie nun schmunzelnd, was mir wieder etwas Farbe ins Gesicht trieb. Ich senkte meinen Kopf.

„Kein Grund, sich zu genieren, Miguel. Ein schöner Name übrigens, wie der ganze Mann“, lachte sie nun.

Nun glühte mein Kopf. Auch Raphael grinste jetzt, wenn auch sehr gequält, wie ich mit einem Seitenblick feststellen konnte. Na toll. Zum Glück sprang mir jetzt Herr Neubert zur Seite.

„Raphael, hat man dir schon näheres gesagt?“

„Ja, Herr Neubert. Außer einer Platzwunde, habe ich eine Gehirnerschütterung davongetragen. Mir brummt einfach der Schädel noch schlimmer als bei einer quadratischen Gleichung.“

„Schön, dass du schon wieder Witze machst“, schmunzelte er, „ich werte das mal als gutes Zeichen.“

Im nächsten Moment klopfte es und es traten zwei Polizeibeamte ins Zimmer.

Raphael

Das nächste Mal wurde ich wach, als ich die Stimme von Dr. Neubert vernahm, der sich und Miguel meiner Mutter vorstellte. Als mich Miguel küsste und meine Wange berührte, sah ich meine Mutter lächeln, mehr noch, sie machte Miguel ein Kompliment nach dem anderen und ihn damit völlig verlegen. Unser Direx sah sich wohl veranlasst, den Armen etwas zu entlasten, in dem er mit mir ein Gespräch begann.

Kurz darauf betraten zwei Polizisten das Zimmer, die sich als Polizeiobermeister Schulze und Polizeimeister Hendrichs vorstellten. Sie erkundigten sich, ob sie mir schon ein paar Fragen zum Tathergang stellen dürften, was ich bejahte, solange mein Freund, meine Mutter und mein Direktor im Raum bleiben durften.

„Kein Problem“, versicherte POM Schulze und begann mit meiner Befragung. Ich sollte den Hergang aus meiner Sicht schildern, was ich dann leise und mit etlichen Sprechpausen tat.

„Interessant. Die drei Herren stellen das etwas anders dar. Demnach hätten Sie die drei aufs Übelste beschimpft und wären auf einen von ihnen losgegangen.“

Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus: „Warum hätte ich das tun sollen? Bin ich lebensmüde und lege mich mit drei schulbekannten Schlägern an?“

„Kein Grund zur Beunruhigung“, beschwichtigte PM Hendrichs, „zum Glück gibt es Zeugen, die Ihre Version bestätigen.“

„Was geschieht mit den dreien jetzt?“, wollte Herr Neubert wissen, „sind die Eltern benachrichtigt?“

„Ja, die Eltern wurden informiert. Von zweien sind sie auf dem Weg hierher. Der Vater dieses Bernd Holzners hat sehr seltsam reagiert: Er lachte nur und meinte, wegen so einer Lappalie nicht extra herfahren zu können, da müsse sein Herr Sohn jetzt alleine durch. Danach hat er einfach aufgelegt.“

Dr. Neubert schüttelte sein weißes Haupt: „Ich weiß nicht, wie es diese drei auf unser Internat geschafft haben. Jedenfalls waren sie es die längste Zeit. Heute Nachmittag werden die Lehrerkonferenz und der Stiftungsrat den Ausschluss dieser Schüler beschließen. Ich bin mir sicher, dass dies jeweils einstimmig und mit sofortiger Wirkung erfolgt. Die Zeugenaussagen eurer drei, sehr umsichtigen, Klassenkameraden sind eindeutig. Zudem sind sie ermittlungsrelevant erfasst, wie ich eben erfahren habe. Da gibt es keinen Ermessungsspielraum. Jetzt sollte ich jedoch wieder ins Internat zurück. Miguel, soll ich dich mitnehmen?“

„Ich kann dich auch zurückbringen, Miguel, wenn du einverstanden bist? Oder Herr Doktor?“, schlug Mama vor.

„Wenn es geht, würde ich gerne noch bleiben“, meinte Miguel leise.

„In Ordnung. Dann auf Wiedersehen Frau Hausner, Miguel. Und dir Raphael: Gute und schnelle Besserung.“

„Vielen Dank Herr Neubert. Ich werde mich bemühen. Hoffentlich bis bald“, parierte ich.

„Ihr seid mir so zwei Helden“, seufzte Mama, als unser Direx gegangen war. Miguel betrachtete seine Schuhe.

„Dein Vater kommt übrigens erst in der Woche vor Weihnachten aus den USA zurück, er wird dich also hier nicht besuchen können.“

„Danke, da besteht auch kein Bedarf“, erwiderte ich scharf, „dem bin ich doch sowieso egal. Hauptsache, ich übernehme seine Kack-Firma, außerdem will ich hier so schnell wie möglich wieder raus, ich gebe nämlich mit Miguel am vierten Advent ein Konzert in der Sankt-Nikolaus-Kirche“, stellte ich trotzig klar, auch wenn es sich derzeit überhaupt nicht so anfühlte, solange mein Schädel derart brummte. Doch dieses Ziel nahm fest ins Visier.

Prompt meinte Miguel mit skeptischem Unterton: „Glaubst du denn, dass du das schaffst?“

„So ist er, Miguel, da hat den gleichen Dickschädel, wie sein Vater“, erklärte Mama meinem Freund und lächelte optimistisch. Der wiederum nickte leicht mit seinem süßen Kopf und die schwarzen Locken, die er inzwischen bekommen hatte, wippten hin und her. Ich glaubte fest daran, dass dieser Typ durch seine pure Anwesenheit meinen Genesungsprozess beschleunigen würde. Das formulierte ich jetzt auch, was ihn zwar wieder in ziemliche Verlegenheit aber meine Mutter zum Strahlen brachte. Ich wurde allerdings plötzlich wieder richtig müde, was den beiden freilich nicht verborgen blieb.

„Miguel, komm mit in die Cafeteria und erzähl mir bitte von dir und euch“, forderte Mutter meinen Freund auf.

‚Armer Miguel‘, dachte ich noch, war mir aber sicher, dass er das mütterliche Verhör gut überstehen würde. Ich war so froh, dass wenigstens sie auf meiner Seite stand. So driftete ich abermals ins Land der Träume.

Miguel

Da schleppte mich Raphaels Mutter jetzt zum Verhör in die Cafeteria. Dort würde sie mich wohl mit allerlei Leckereien bestechen, um auch noch die letzten Informationen aus mir heraus zu pressen. Doch war ich froh, dass sie sich darin nicht von meiner Mama unterschied. Zum Glück scheinen Raphael und ich sie wohl auf unserer Seite zu haben, um gegen seinen Vater zu bestehen.

„Miguel, bitte nimm, nach was dir der Sinn steht, es ist ja schon Mittag. Ich nehme an, dass du noch nichts gegessen hast.“

„Das stimmt, Frau Hausner.“

„Oh bitte, Miguel, sei so gut und nenn mich beim Vornamen. Ich heiße Sylvia.“

„Okay, Sylvia. Magst du denn nichts essen?“, fragte ich mit Blick auf ihr fast leeres Tablet.

„Eigentlich hast du Recht, was hast du da bestellt?“

„Einen Schinken-Käse-Toast.“

„Klingt gut“, stellte sie fest und wandte sich an das Mädel hinter der Theke: „Wenn Sie mir bitte auch so einen Toast machen würden.“ Dabei deutete sie auf mein Essen. An der Getränkeauslage holte ich mir eine Apfelsaftschorle, während sich Sylvia ein stilles Wasser angelte.

‚Wie meine Mama‘, stellte ich insgeheim einmal mehr fest.

Sylvia ließ keinen Widerspruch zu, als sie alles bezahlen wollte. Wir suchten uns eine stille Ecke und aßen schweigend unseren Mittagssnack, mehr war es ja nicht.

„Auch einen Kaffee?“, fragte ich dann.

„Gute Idee, ja bitte. Einfach schwarz.“

Ich spurtete nochmal zur Theke und bediente mich an der Maschine. Einen Kaffee für Sylvia und einen Cappuccino für mich. Damit begab ich mich, selbstverständlich nachdem ich bezahlt hatte, zurück zu unserem Platz. Nach einem Schluck begann ich ‚unsere‘ Geschichte zu erzählen. Pikante Details ließ ich freilich aus. Alles müssen Mütter doch nicht wissen. Sylvia unterbrach mich nicht einmal und fragte auch nicht dazwischen, wenn ich Mal einen Schluck zwischendurch trank. Am Ende entstand eine kleine Verarbeitungspause in der sie mich wohlwollend musterte.

„Miguel, du weißt, warum Heribert, also mein Mann, Raphael so Knall auf Fall ins Internat gesteckt hat?“

Ich nickte.

„Ich bin richtig froh, dass er hier offensichtlich so richtig aufblüht. Nicht zuletzt dank dir. Sein Vater hat leider kein Gespür für Kunst, das hat mir schon zu Beginn unserer Beziehung wehgetan. Immerhin hatte und habe ich immer den Freiraum gehabt mit meinen Freunden und Freundinnen Kunst, Theater und Konzerte aller Art zu besuchen. Mit viel Überredungskunst konnte ich durchsetzen, dass ein Klavier für Raphael angeschafft wurde. Hauptargument gegenüber Heribert war ‚du bist ja eh selten da‘“, Sylvia grinste schief. „Für meinen Mann war das dann ein Gegenstand, um angeben zu können, weshalb es am Ende kein billiges Instrument sein durfte. Mir war es Recht und Raphael spielte fleißig und immer von sich aus. Nie musste ich ihn ermahnen, doch zu üben. Es machte ihm sichtlich Spaß. Vielleicht auch deshalb, weil er sich damit von seinem Vater abgrenzen konnte, der ja keinen Sinn dafür hatte. Freilich bekam er von ihm auch nie ein Lob oder eine Anerkennung. Das muss ihn schon geschmerzt haben. Dafür war ich umso begeisterter. Erst recht als er dann zusätzlich noch Orgel spielen wollte und bei unserem Kantor damit offene Türen einrannte. Miguel, was ist?“ Offensichtlich hatte sie mein schmerzverzehrtes Gesicht bemerkt, als die Sprache auf den Kantor kam.

„Ach nichts. Es ist nur die Sache mit dem Kantor hier, die bei uns die Situation ziemlich verkompliziert hatte.“

„Oh, Entschuldigung, ich wollte da keine Wunden aufreißen, du hattest das ja ausführlich erzählt.“

„Schon gut Sylvia. Die Situation ist ja geklärt, aber halt noch nicht sehr lange her.“

„Ich konnte ja noch nicht sehr viel mit Raphael sprechen, seit er von zuhause fortmusste. Vorhin war er einfach noch zu schwach. Das, was du mir jetzt erzählt hast, zeigt mir, dass Raphael hier sehr glücklich ist. Das lässt er sich auch von solchen Ereignissen, wie gestern Abend, nicht nehmen. Du hast ja gehört, wie wichtig ihm dieses Konzert mit dir ist, auch wenn ihn das vorhin richtig Kraft gekostet hat. Ich kann euch nur von ganzem Herzen wünschen, dass er rechtzeitig wieder gesund wird. In gewisser Weise ist es mir auch eine Genugtuung, dass diese überhastete und diktatorische Entscheidung meines Gatten, Raphael hier unterzubringen, genau das Gegenteil von dem bewirkt hat, was er sich vorgestellt hat. Wollen wir wieder nach Raphael sehen?“

„Ja sicher. Warte, ich bring unsere Tabletts weg.“

Schon hatte ich mir das ihre geschnappt und mit meinem zusammengestellt.

Als wir oben ankamen, verließ gerade der Stationsarzt Raphaels Zimmer.

„Ah, Frau Hausner. Gut, dass ich Sie treffe. Ihr Sohn hatte schon großes Glück im Unglück. Seine Gehirnerschütterung ist nur leicht bis mittelschwer. Er musste sich nicht übergeben, konnte sich weitgehend an die Vorkommnisse erinnern, allerdings war er länger bewusstlos. Deshalb mussten wir zunächst von einem schwereren Fall eines Schädel-Hirn-Traumas ausgehen. Wir würden ihn noch zwei, drei Tage hierbehalten, solange jedenfalls, wie seine Kopfschmerzen anhalten. Hier hat er die notwendige Ruhe.“

„Gut, Herr Doktor Steinle. Behalten Sie ihn lieber noch einen Tag länger hier. Ich fürchte, er könnte sich überfordern, bei dem Tatendrang und den Aufgaben, denen er sich gegenübersieht. Bitte Miguel, achte du noch mehr als sonst auf ihn, er kann ein echt sturer Hund sein.“

Der Doktor lachte auf, versprach Sylvia dann, dass er ebenfalls ein Auge auf Raphael haben würde.

Raphael

Kaum war der Doc wieder verschwunden, kamen Mama und Miguel zurück.

„In zwei Tagen komm ich hier raus“, verkündete ich frohen Mutes, wenn auch nicht restlos überzeugt.

„Uns hat der Doc was von mindestens drei Tagen erzählt“, verlängerte Mama meine Aussage, „mindestens so lange, bis dein Kopf nicht mehr weh tut.“

Ich grummelte vor mich hin. Das hätte ich mir ja denken können, dass sie da genau nachgefragt hat.

„Immerhin doch sehr viel schneller, als das ursprünglich ausgesehen hat“, relativierte Miguel die genannten Zeiten.

„Ja das stimmt“, gab ich zu.

Miguel nannte meine Mama inzwischen beim Vornamen – ein gutes Zeichen. Die beiden unterhielten sich bestens und banden mich mit Fragen ein, die sich einfach mit ja oder nein beantworten ließen. So war das Dröhnen in meinem Kopf einigermaßen erträglich. Trotzdem knackte ich öfters weg.

Bislang hatte ich erstaunlicherweise noch keinen Hunger verspürt, auch die Frage von Sascha, dem Pfleger, ob ich etwas zu Abend essen wollte, verneinte ich. Stattdessen leerte ich schon die vierte Kanne Tee. Das bewirkte schließlich einen nicht mehr zu unterdrückenden Harndrang. An Aufstehen war aber noch nicht zu denken. Miguel bemerkte meine Unruhe und fragte nach.

„Ich muss dringend pinkeln, trau mich aber noch nicht aufzustehen. Da muss auf der Toilette so eine Urinflasche stehen.“

„Warte, ich schau mal.“

Wenige Augenblicke später kam er mit dem Ding in der Hand zurück. Mama grinste zu mir und genoss förmlich meinen leidenden Blick.

„Ich schau mal nach etwas zu trinken“, meinte sie schlussendlich und verließ das Zimmer.

„Und? Wie geht das jetzt?“, fragte Miguel.

„Du musst ihn da einfädeln“, antwortete ich ergeben. Es war mir selbst meinem Freund gegenüber peinlich. Ihm anscheinend überhaupt nicht. Zwar war er etwas unsicher, aber auch ein wenig amüsiert. Jedenfalls war das mein Eindruck. Augen zu und durch.

„Komm, mach“, forderte ich ihn auf. So hob er die Decke und mein Krankenhauskostüm, platzierte die Flasche und fummelte meinen Pimmel in die Flasche. Jetzt bloß keine Erektion, dachte ich noch.

„Sorry, Rafi, aber so wird das nix. Denk an faule Eier oder an kaltes Wasser.“

Irgendwie gelang es Miguel nicht für normale Verhältnisse zu sorgen. Erst als meine Mutter zurückkam, schrumpelte das Ding schlagartig auf vernünftige Größe zusammen.

„MAMA!“, rief ich noch, was ich jedoch sofort bereute, setzten doch die Zwerge in meinem Schädel ihre Sprengarbeiten unverzüglich fort. Sie blieb freundlicherweise an der Tür stehen. So konnte ich endlich den Druck von meiner Blase ablassen. Es dauerte eine ganze Weile. Ich schloss meine Augen. Jetzt war es schon egal, ob meine Mutter was sah oder nicht. Eigentlich wusste sie ja, wie ich ohne Klamotten aussah, allerdings war das Jahre her.

Miguel redete beruhigend auf mich ein, zog die Flasche ab und deckte mich rasch wieder zu. Mit der Flasche verschwand er im Bad. Mama kam unterdessen an mein Bett und streichelte meine linke Wange.

„Raphael, denk dir doch nichts. Oder haben wir dich so genant erzogen?“, versuchte sie mich zu beruhigen, „wie geht es denn inzwischen deinem Kopf?“

„Keine Ahnung.“ Ich versuchte in mich hineinzuhören. „Noch nicht wirklich besser. Ich weiß ja auch nicht, welchen Anteil die Medikamente haben“, fuhr ich unsicher fort.

„Raphael, ich denke, wir lassen dich jetzt in Ruhe und fahren nach Hause. Beziehungsweise in meinem Fall ins Hotel. Schlaf dich gesund, Sohnemann!“

Miguel, der inzwischen aus dem Bad zurück war, meinte dazu: „Rafi schlaf gut. Streng deinen schönen Kopf nicht so sehr an. Morgen kommen wir so bald wie möglich wieder, okay?“

Zum Abschied gab er mir noch einen flüchtigen Kuss, mehr trauten wir uns in Anwesenheit meiner Mutter nicht.

„Ja gut. Dann bis morgen. Es war schön, dass ihr da wart. Kommt gut heim.“

Kaum waren die beiden aus der Tür, übermannte mich wieder der Schlaf. Ich fragte mich noch, wie man so viel schlafen konnte.

Miguel

Sylvia, Raphaels Mutter lieferte mich am Internat ab und verabschiedete sich bis zum nächsten Tag.

Es war schon sechs Uhr durch, weshalb ich mich in den Speisesaal begab. Inzwischen hatte ich mächtig Hunger. Ich belud mein Tablett noch voller als sonst. Es gab wie immer Brot mit allerlei Wurst und Käsesorten. Unser Koch Daniel hatte wohl mitbekommen, dass ich zum Mittagessen fehlte. Daher fragte er mich, ob ich noch von der Suppe vom Mittag etwas wollte, was ich erfreut dankend bejahte. Ich setzte mich zu Fabian und KF an den Tisch.

„Wie geht es Raphael?“, wollte KF nach einer Weile wissen.

„Er hat halt starke Kopfschmerzen. Sonst hat er, dank eurer schnellen Hilfe, keine inneren Verletzungen erlitten. Eine Platzwunde über dem linken Auge und eine Gehirnerschütterung. Ansonsten ist er ganz optimistisch, dass er zum Wochenende schon wieder entlassen wird.“

Dabei bemerkte ich die ehrliche Sorge in KFs, wie auch in Fabians Augen.

„Danke, dass ihr uns so zur Seite steht“, sagte ich leise, worauf mir Fabian nur die Hand auf die Schulter legte.

Nach dem Abendessen wollte ich noch ein wenig lernen und die Hausaufgaben erledigen, die mir Fabian aufgeschrieben hatte. Doch war ich schlicht zu aufgewühlt, um auch nur einen vernünftigen Satz zu Papier zu bringen, geschweige denn eine Matheaufgabe zu lösen.

So begab ich mich zum Musikkabinett, welches zu diesem Zeitpunkt frei war. Ich setzte mich an ‚meinen‘ der beiden Flügel. Gedankenverloren, vielmehr mit den Gedanken bei Raphael, begann ich den ‚Maple Leaf Rag‘ zu spielen. Zuerst leise und sanft zurückhaltend, als wollte ich vorsichtig gegen Rafis Kopfschmerzen anspielen. Doch dann packte mich ein Gefühl von Ohnmacht und Wut gegenüber solchen kaltherzigen und brutalen Schlägern. Ich hämmerte förmlich mit harten Akkorden auf das Instrument ein, um dann doch sehr schnell wieder bei einer sanften Melodie zu landen. Ich glaubte, Raphael zu spüren, der jetzt eigentlich hier, mir gegenüber, an dem zweiten Flügel sitzen sollte. Ich weiß nicht, wie lange ich gespielt hatte, bis ich bemerkte, dass ich plötzlich etliche Zuhörer hatte. Und das auch erst, als mir Max, Carstens Blindenführhündin, ihre Pfote auf den Oberschenkel legte. Verwirrt sah ich mich um und registrierte die vielen Menschen nur schemenhaft durch die Tränen, die mir schon einige Zeit in den Augen standen. Der Applaus, der nun einsetzte, tat mir unendlich gut, denn er trug mich über die trüben Gedanken.

Plötzlich stand Carsten hinter mir, beugte sich zu mir und flüsterte mir ins Ohr: „Das war der hinreißendste und längste ‚Maple Leaf Rag‘ den ich je gehört habe. Jetzt geht es dir besser, oder?“

„Danke, Carsten. Genauso ist es“, lächelte ich und drückte mit meiner linken seine rechte Hand, die er mir auf meine Schulter gelegt hatte. Dann wandte ich mich an mein Publikum: „Vielen Dank für eure Unterstützung, ich wünsche euch eine gute Nacht.“

„Danke gleichfalls“, kam es vielstimmig zurück.

Die Versammlung löste sich nur langsam auf, denn offensichtlich hatte mein Spiel sehr viele angelockt. Am Ende waren noch Herr Kramer, Fabian, Andreas und Carsten geblieben. Herr Kramer beendete das eingetretene Schweigen: „Miguel, das war eben große Klasse. Mir kam Beethoven in den Sinn, wie er wohl das Rondo ‚Die Wut über den verlorenen Groschen‘ komponiert haben mag.“

Ich war nicht der Einzige, der nun Herrn Kramer verblüfft anschaute. Der lächelte nur aufmunternd: „Ich freue mich darauf, von euch hier, und natürlich Raphael, noch viel Musik in diesem Hause zu hören. Doch nun sollten wir uns alle zur Ruhe begeben, gute Nacht.“

„Gute Nacht, Herr Professor“, wurde sein Gruß einstimmig erwidert.

Fabian nickte mir zu und gemeinsam machten wir uns auf den Weg in unser Zimmer.

Raphael

Die Nacht verlief einigermaßen ruhig und erholsam. Der Radau in meinem Schädel hatte tatsächlich nachgelassen und allmählich machte sich dort wieder Musik breit. Miguel kam mir in den Sinn, wie wir eine Langversion des ‚Maple Leaf Rag‘ spielten. Am folgenden Morgen wurde ich bereits um sieben Uhr geweckt. Nach der Prozedur des Fieber- und Blutdruckmessens verspürte ich plötzlich wieder so etwas wie Appetit, der durch heftiges Knurren meines Magens unterstrichen wurde. Marcel, der Pfleger von der Frühschicht lachte und versprach nachzufragen, ob ich denn schon was essen dürfte. Kurze Zeit später tauchte er mit einem vergleichsweise übersichtlich beladenen Tablet wieder auf. Zwei Scheiben Brot, ein wenig Margarine, Marmelade und die obligatorische Tasse Pfefferminztee mussten fürs erste genügen. Zur Visite erschienen die üblichen Verdächtigen: Chefärztin, Oberarzt, Stationsärzte und Pflegekräfte.

„Was machen Ihre Kopfschmerzen?“, war denn auch die erste Frage der Chefärztin.

„Viel besser“, gab ich wahrheitsgemäß zur Antwort.

„Wann hat er das letzte Schmerzmittel bekommen?“, wollte sie dann von Marcel wissen.

„Moment. Tatsächlich schon gestern Abend per Infusion.“

„Heute Nacht nichts mehr?“, fragte sie nach.

„Nein“, war die eindeutige Antwort.

„Gut. Herr Hausner, bitte melden Sie sich unbedingt, sollten die Schmerzen wieder stärker werden!“, wandte sie sich nachdrücklich an mich, „der Verband kann dann übrigens ab!“, wies sie Marcel an und zeigte auf meine Kopfverkleidung.

Schätzungsweise eine Stunde später tauchte er wieder auf, um meine Birne von dem Verband zu befreien. Die genähte Platzwunde wurde dann mit einem einfachen, wenn auch recht großen Pflaster überklebt.

Ab etwa zehn Uhr, ich war zwischenzeitlich nochmal eingenickt, saß meine Frau Mama wieder an meinem Bett.

„Konntest du einigermaßen schlafen?“, fragte sie mich, als ich die Augen aufschlug.

„Recht gut sogar. Die Kobolde in meinem Kopf haben ihre Arbeit mit schwerem Gerät weitgehend eingestellt.“

„Das klingt doch ganz erfreulich“, meinte sie dann und ergänzte: „Ich würde dann wieder nach Hause fahren, wenn es für dich in Ordnung ist? Miguel kommt dich nach dem Unterricht besuchen.“

„Ja, das ist schon okay. Ich bin ja so froh, dass du wenigstens auf unserer Seite stehst. Wirst du deinem Mann etwas von uns erzählen?“

„Nein, Raphael, keine Sorge. Abgesehen davon fürchte ich, dass du ihn im Augenblick nicht sehr interessierst. Der steckt voll in seiner Tretmühle. Gerade zum Jahresende muss er alles und jeden kontrollieren. Dich wähnt er ja in einer Art Besserungsanstalt, so dass er sich da gerade nicht gefordert sieht. Das sollten wir dabei belassen, auch wenn es eigentlich ziemlich traurig und bitter ist.“

„Ehrlich gesagt, Mama, ist mir das sehr Recht. Sag ihm, dass ich dieses Jahr an Weihnachten nicht zu Hause sein werde, sondern erst wieder zu meinem Geburtstag am 19. Januar.“

„Das finde ich sehr schade, aber ich kann dich verstehen. Ich weiß sowieso nicht genau, wann er gedenkt, aus den USA wieder aufzutauchen. Jetzt erhole dich vor allem gut. Und mach‘ bitte langsam.“

„Okay, okay, versprochen“, schob ich sofort dazwischen, damit sie einigermaßen beruhigt sein konnte.

„Gut, dann ciao bello und grüß Miguel von mir!“

„Mach‘ ich, Mama, gute Fahrt. Wir telefonieren“, versprach ich ihr noch. Dann drückte sie mir noch einen vorsichtigen Kuss auf die ramponierte Stirn und rauschte von hinnen.

Zu Mittag schob ich schon richtig Kohldampf, was ich Marcel auch sagte und tatsächlich gelang es ihm, eine zweite dieser Miniportionen zu organisieren, so dass ich einigermaßen satt wurde. Ich wurde immer unruhiger, weil Miguel einfach nicht auftauchte. Dann schließlich klopfte es um kurz vor vier Uhr an der Tür und im nächsten Moment stürmte mein Freund schon auf mich zu.

„Hallo Rafi, sorry, es ging nicht früher, ich musste mit dem Bus fahren.“

„Macht doch nichts, Miggi“, log ich, „Hauptsache, du …“ Zu mehr kam ich nicht, weil mir Miguel meinen Mund mit dem seinen verschloss. Und das ziemlich lange. Es begann wieder überall zu kribbeln. Wie sehr hatte mir das, hatte mir dieser Mensch gefehlt.

Ein unüberhörbares Räuspern ließ uns auseinanderfahren. In der Tür stand ein grinsender Sascha, der wieder Spätdienst hatte.

„Lasst euch bloß nicht von Schwester Edeltraud erwischen!“, warnte er, „die kommt so gegen sechs“, informierte er uns weiter.

„Da muss ich sowieso wieder los“, meinte Miguel geknickt, „danach fährt kein Bus mehr.“

„Braucht ihr irgendwas? Kondome, oder so?“

Wir haben wohl derart erschrocken geschaut, dass sich Sascha schier wegwarf vor Lachen. „Nein, Spaß, irgendwas zu trinken vielleicht?“

„Boa eh. Mann!“, reagierte Miguel immer noch geschockt.

„Vielleicht eine Kanne Tee, wenn es geht und eine zweite Tasse bitte“, beantwortete ich die Frage des Pflegers.

Kaum hatte der den Raum wieder verlassen, fragte Miguel ziemlich ungehalten: „Was ist das denn für ein Vogel?“

„Ein ziemlich vorlauter, so wie dein Bruder, nur zehn Jahre älter“, antwortete ich.

„Wie geht es dir eigentlich, Rafi, du machst schon wieder einen ganz munteren Eindruck“, wechselte Miguel das Thema.

„Erstaunlich gut. Wirklich. Die Kopfschmerzen sind fast weg. Ich glaube, ich will morgen nach Hause.“

Wieder ging die Tür auf und Sascha brachte eine große Kanne Tee und eine Tasse. Er stellte sie auf meinem Nachttisch ab, nickte uns zu und war gleich wieder weg.

„Und wie läuft’s im Unterricht?“, wollte ich von Miguel wissen.

„Soweit ganz gut. Ich habe das Gefühl, dass mich Lehrer wie Schüler so ziemlich in Ruhe lassen.“

„Miggi, ich sollte mal pinkeln.“

„So wie gestern?“ fragte mein Freund sogleich.

„Du willst doch bloß wieder rumfummeln“, bezichtigte ich ihn.

„Klar, warum nicht?“, grinste er frech.

„Hm“, machte ich, „tatsächlich konnte ich heute Morgen schon wieder aufstehen.“

„Schade.“ So ein schlimmer Finger aber auch. Ich schwang meine Beine aus dem Bett und schlurfte vorsichtig Richtung Bad, da spürte ich eine sanfte Berührung über meinen nackten Rücken und Po, die mich erschaudern ließ. Ich drehte mich um und sah in Miguels hübsches Gesicht. Wir näherten uns zu einem sehr sinnlichen Kuss, dessen Wirkung schon fast dramatisch zu nennen war, denn nur mit diesem dünnen, nach hinten offenen Krankenhausnachthemd bekleidet, gab es nicht die geringste Chance auch nur kleinste Regungen zu verbergen. Miguel lächelte mich nur liebevoll an. Trotz seiner normalen Straßenkleidung war auch sein Zustand sehr eindeutig erkennbar. Schweren Herzens löste ich mich von ihm, denn der Druck auf meiner Blase war kaum noch auszuhalten. Wieder zurück im Bett, kamen wir von Hundertsten ins Tausendste. Prompt vergaßen wir völlig die Zeit. Erst als Schwester Edeltraud ins Zimmer schwebte, wie der Erzengel Michael mit seinem Schwert, gingen unsere Blicke gleichzeitig zur Uhr.

„Heilige Maria! Jetzt ist mein Bus weg“, entfuhr es Miguel völlig erschrocken.

„Ich bin nur Schwester Edeltraud“, kam es trocken von ihr.

Die Frau hatte ja Humor, unweigerlich mussten wir lachen.

„Was soll ich denn jetzt machen?“, war Miguel fast am Verzweifeln.

„Keine Sorge, mein Junge, wir werden eine Lösung finden!“, meinte der Erzengel fürsorglich und verließ vorerst das Zimmer.

„Da bin ich aber gespannt“, meinte Miguel, „eigentlich könnte ich ja hier bei dir schlafen.“

„Huh? Na, ich hätte nichts dagegen, das Bett wäre breit genug für uns beide“, stellte ich belustigt fest.

Miguel lachte auf: „Auch keine schlechte Idee, aber ich meinte eigentlich das freie Bett hier.“

„Achso“, fiel es mir, fast ein wenig enttäuscht, ebenfalls auf.

Schon kam Schwester Edeltraud zurück und eröffnete meinem Freund folgendes Angebot: „Miguel, es ist zur Zeit nicht viel los, so dass wir dir ausnahmsweise das zweite Bett hier herrichten könnten, dann wärst du bei deinem Freund, einverstanden? Jetzt schau nicht, wie ein Frosch, wenn’s blitzt. Für wie altmodisch und verschroben hältst du mich? Ich habe einen Neffen, der etwas älter ist als ihr zwei. Er ist schwul und hat einen ganz lieben Freund. Wo ist das Problem? Und so liebevoll, wie ihr miteinander umgeht, merkt man, dass ihr mehr als einfache Schulkameraden seid. Allein deine Sorge, Miguel, die du vorgestern gezeigt hast, hat Bände gesprochen.“

Jetzt war es an Miguel die Farbe zu wechseln. Verlegen sah er zu Boden. Schwester Edeltraud legte ihm vorsichtig eine Hand auf die Schulter: „Komm mit, ich gebe dir die Bettwäsche.“

Miguel kam mit einem Stapel Wäsche zurück und machte sich schweigend daran, das zweite Bett zu beziehen. Wenig später kam Edeltraud, wie wir sie fortan der Einfachheit halber nennen sollten, zurück.

„Raphael, brauchst du noch etwas?“

Ich verneinte.

„Miguel, du?“

„Nein, ganz herzlichen Dank Edeltraud.“

Doch die winkte nur ab. „Musst du noch jemandem Bescheid geben?“

„Oh Mist, das hätte ich bald vergessen. Ich sollte im Internat anrufen. Danke für die Erinnerung.“

„Im Schwesternzimmer vorne kannst du telefonieren.“

Nach kurzer Zeit war er zurück.

„So erledigt. Ich bin bis morgen entschuldigt.“

So nahmen wir unsere Gespräche wieder auf. Um halb elf schaute Edeltraud auf ihrer Stationsrunde nochmal nach uns: „Wollt ihr nicht auch langsam ans Schlafen denken?“

„Warum, wie spät ist es denn?“, fragte ich völlig verwirrt.

„Halb elf durch“

„Echt? Schon?“

„Na, dann gute Nacht, ihr beiden! Schlaft gut!“, verabschiedete sich Edeltraud milde lächelnd.

Miguel hatte sich am Abend noch ein Mini-Wasch-Set am Krankenhauskiosk gekauft und verschwand damit im Bad. Wieder zurück, zog er sich aus. Irgendwie schien er unsicher zu sein, wie weit er sich seiner Klamotten entledigen sollte. Letztlich behielt er seine Boxershorts an, was zwar unter diesen Umständen selbstverständlich war. Ich bedauerte es trotzdem, denn der Strip, den er da zwangsläufig vor meinen Augen hinlegte, machte mich ziemlich an. Immerhin kam er nochmal zu mir herüber und gab mir einen ausführlichen Gute-Nacht-Kuss mit sämtlichen Risiken und Nebenwirkungen.

„Raphael, ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde, wenn du nicht mehr da wärst“, sagte er leise zu mir mit Tränen in den Augen. Ich zog ihn einfach zu mir und hielt ihn fest. Dabei lag er freilich halb bei mir im Bett. Nach einer gefühlte Ewigkeit lösten wir uns voneinander.

„Schlaf gut, mein Engel.“

„Du auch, Miguel, ich liebe dich.“

„Ich dich noch viel mehr.“

Letztlich gelang es Miguel doch noch sein eigenes Bett aufzusuchen. Wir wollten das Entgegenkommen des Pflegepersonals ja nicht über Gebühr strapazieren.

An diesem Abend schlief ich sehr glücklich ein und ich denke Raphael auch.

Marcel hatte Frühdienst, weckte uns und unterzog mich der Fieber- und Blutdruckmess-Prozedur.

„Was machen deine Kopfschmerzen?“

Verblüfft schaute ich ihn an.

„Die habe ich total vergessen! Wie weggeblasen. Ehrlich!“, stammelte ich überrascht, vorauf er etwas flapsig reagierte: „Okay, dann gebe ich das mal weiter, vielleicht schmeißen wir dich dann heute noch raus.“

Ob dieser Formulierung schaute ich ihn belustigt an.

„Das könnte mir gefallen“, gab ich frech zurück.

„Ja, mal sehen, was die hohen Herrschaften dazu meinen. Jetzt gibt es erst mal Frühstück.“

Inzwischen hatte sich Miguel auf den Rand seines Bettes gesetzt. Etwas umständlich angelte er sich seine restlichen Klamotten, wie ich aus den Augenwinkeln beobachten konnte. Als er kurz aufstand, wusste ich warum. Rasch zog er sich an und ließ verlauten: „Ich hol‘ mir dann was aus der Cafeteria, wenn das okay ist.“ Dabei schaute er Marcel fragend an.

„Ist zwar unüblich. Aber klar, zumal wir ja für dich gar nichts haben.“

„Bin gleich wieder da“, verkündete Miguel und verschwand.

Miguel

Mit einem gut beladenen Tablett war ich wieder zurück, als auch meinem Freund sein Frühstück serviert wurde. Was für ein Unterschied! Da wir alleine waren, setzten wir uns gemeinsam an den Tisch, auch wenn das schicke Nachtgewand Raphaels Körper nur sehr unzureichend zu verhüllen vermochte. Sein Frühstück umfasste zwei Mini-Brötchen und außer Butter und Marmelade, sogar ein Rädchen Wurst und eine Scheibe Käse. Und den unvermeidlichen Pfefferminztee.

„Hm, gar nicht mal so gut“, brummte er und stibitzte mir ein Croissant, was ich mit gespielter Empörung quittierte. Wir grinsten uns an.

„Ach Rafi, das habe ich extra für dich mitgebracht, oder glaubst du wirklich, dass ich zum Frühstück drei Croissants und obendrein zwei Brötchen esse?“

„Bei dir weiß man nie“, neckte er mich, „aber danke, dass du an mich gedacht hast.“

Das bisschen Frühstück war schnell verdrückt und Raphael machte sich auf ins Bad. Dabei konnte ich wieder meine Hände nicht stillhalten und streichelte ihm über seine blanke Kehrseite, über die Auswirkungen brauche ich jetzt kein Wort mehr zu verlieren. Gerade noch rechtzeitig schaffte er es wieder in sein Bett, bevor die Chefärztin mit ihrem Hofstaat das Zimmer bevölkerte.

„Guten Moren Herr Hausner, wie geht es uns heute?“

„Guten Morgen, Frau Doktor, wie es Ihnen geht, weiß ich nicht. MIR geht es recht gut.“

Auch wenn das etwas vorlaut war, aber diesen kleinen Konter auf diese häufige Ansprache konnte er sich wohl nicht verkneifen. Sie grinste und sagte: „Wenn Sie schon wieder so schlagfertig sind, scheint es tatsächlich gut zu sein.“

Dann drückte sie ein wenig auf seinem Kopf herum.

„Tut das weh?“, wollte sie wissen.

„Ganz leicht“, gab er zu.

„Alles andere wäre entweder weiterhin bedenklich gewesen oder gelogen“, stellte sie fest, „ich werde gleich noch mit Ihrem Schulleiter telefonieren, wenn Sie gestatten. Wenn er dafür sorgen kann, dass Sie einigermaßen Ruhe haben, würde ich Sie heute Nachmittag gehen lassen.“

„Wenn Sie wollen“, schob sie noch hinterher.

Raphael nickte heftig, worauf er zusammenzuckte.

Ein „vielen Dank, Frau Doktor“, brachte er dennoch zustande. Sie merkte freilich sofort, was los war: „Solche hektischen Bewegungen sollten Sie tunlichst in den nächsten acht Tagen noch vermeiden, aber das haben Sie eben selbst gemerkt“, ermahnte sie meinen Freund mit einem strengen Blick. „Sie wollen doch sicher nicht Ihr weiteres Leben mit ständigen Kopfschmerzen verbringen, oder?“

„Nein, sicher nicht“, entgegnete er kleinlaut mit gesenktem Kopf.

„Alles Weitere wird Herr Doktor Steinle mit Ihnen klären, auf Wiedersehen und alles Gute.“

„Vielen Dank, auf Wiedersehen, Frau Doktor.“

Von mir hatte die Truppe anscheinend keine Notiz genommen, außer Marcel, der mir in einem unbeobachteten Moment freundlich zunickte.

Nun hieß es wieder warten.

Gerade hatten wir uns doch tatsächlich über das Adventskonzert unterhalten. Raphael hatte damit angefangen und keinen Zweifel aufkommen lassen, dass er dieses Konzert unbedingt spielen wollte. Es klopfte und Dr. Steinle trat ein, mit Marcel im Schlepptau. Ohne Umschweife richtete er sich an uns: „So, meine Herren, Doktor Neubert hat erklärt, dass er durch eine neue Zimmereinteilung die nötige Ruhe für dich, Raphael, sicherstellen könne. Hier ist dein Entlassungsschreiben, das du bitte dem Hausarzt eures Internats vorlegen möchtest. Bitte jetzt übers Wochenende noch eine absolute Bettruhe einhalten, keinerlei Aktivitäten, hörst du! Und dann langsam anfangen! Ach ja, ihr werdet mit einem Krankenwagen zurückgebracht, es ist einfach wichtig, dass du so wenig wie möglich stehst oder sitzt. Alles Gute und auf Wiedersehen, aber möglichst nicht hier!“

Damit verabschiedete sich Dr. Steinle, was wir mit einem „Wiedersehen, Herr Doktor“, gleichzeitig beantworteten.

„Und vielen Dank für alles“, rief Raphael noch dem davoneilenden Stationsarzt hinterher.

„Scheiße, das war zu laut“, sagte er leise zu mir.

„Du merkst, dass sich mit solchen Aktionen immer wieder dein Kopf zu Wort meldet. Also: Ruhe bewahren. In des Wortes engster Bedeutung.“

„Ich wird es beherzigen“, stöhnte Raphael, worauf Marcel mit dem Kopf nickte.

„Dann macht’s gut. Alles Gute“, mit diesen Worten verabschiedete sich Marcel, denn schon standen zwei Sanis im Raum, die Raphael auf eine Liege packten

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