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Michel
Weihnachtschallenge 2020
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Informationen
- Story: Michel
- Autor: Lupodicorridore
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Weihnachten, Challenge
Michel [mi’schel]
Was für ein Tag!
Lange waren wir nach der Trauerfeier noch zusammen gesessen und hatten viel geredet und auch gelacht, wie es wohl bei einem „Leichenschmaus“ Tradition ist.
Mike und Pit hatten extra für uns das „Asterix“ an ihrem Ruhetag geöffnet. Es tat mir gut, die vielen Freunde um mich herum zu spüren. Besonders schön war, dass Michel nicht mehr von meiner Seite weichen wollte, nachdem er quasi aus dem Nichts wieder aufgetaucht war. Ungewohnt schüchtern fragte er, ob er wohl sein Zimmer noch einmal benutzen dürfte.
Ich dachte schon er würde nie fragen.
Selbstverständlich sagte ich ohne Zögern zu, zumal wir wohl beide noch Gesprächsbedarf hatten; dazu war dann der Leichenschmaus doch nicht die richtige Bühne.
Wir hatten Michels Zimmer im Grunde unverändert gelassen, schon weil wir Platz genug und sowieso ein Gästezimmer hatten.
Wir verabredeten, dass wir uns anderntags in Ruhe aussprechen wollten, für heute war bei uns beiden die Luft raus, sodass wir relativ zeitig zu Bett gingen. Unruhig drehte ich mich von einer Seite auf die andere.
Plötzlich stand Michel in der Tür. „Papa“, sprach er mich leise an. „Papa, ich kann nicht schlafen. Darf ich zu dir kommen?“ „Bist du sicher?“, fragte ich zurück.
Noch ehe er sein „Ja, bitte“ formuliert hatte, lag er schon neben mir. Dass wir beide wegen der Hitze nichts an hatten, störte ihn nicht.
Sekunden später war er eingeschlafen – mit dem Kopf auf meiner Brust.
Doch dann schienen ihn meine Brusthaare in der Nase zu kitzeln, jedenfalls rückte er etwas ab und lag dann mit seinem Kopf auf meinem rechten Arm. Im hellen Licht des Vollmondes erkannte ich, dass seine Gesichtszüge kantiger geworden waren. Keineswegs hart: Sie waren nach wie vor sehr fein, nur eben nicht mehr so kindlich. Naja, er war ja inzwischen zwanzig Jahre alt, d.h. fünf Jahre waren vergangen, seit er zu uns gekommen war.
Unsere Geschichte war mir sofort wieder präsent:
Nachdem es seit 2017 möglich war, auch gleichgeschlechtlich zu heiraten, als Bundeskanzlerin Merkel mit einer überraschenden, fraktionsübergreifenden Abstimmung das Thema aus dem Wahlkampf nahm, haben auch Nicolas und ich uns das Jawort gegeben. Das hatte niemand zu träumen gewagt, als die damalige Justizministerin Hertha Däubler-Gmelin um die Jahrtausendwende im schwul-lesbischen Zentrum „Weissenburg“ in Stuttgart ihren Entwurf für die „eingetragene Partnerschaft“ vorstellte. Dabei hielt sie einen mehrere Zentimeter dicken Papierstapel in die Luft und bahnte sich mit den Worten „des isch er“ den Weg durch die johlende und applaudierende Menge. So ändern sich die Zeiten...
Doch inzwischen schien plötzlich alles möglich, vielleicht sogar eine Kindes-Adoption in gleichgeschlechtliche Ehen. Zwar waren unsere Chancen auf Grund meines Alters und überhaupt unserer Lebensumstände eher gleich Null, aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Zu Anfang hatte Nicolas es eher indirekt formuliert, aber der Wunsch nach Kindern war immer deutlich zu spüren. Umso mehr, je näher ich ihn kennenlernte. Damit sprach er mir ja aus dem Herzen. Nach langen Gesprächen und noch viel längeren Behörden-Touren haben wir schließlich damit abgeschlossen. Nach Wochen auf den verschiedenen Ämtern kamen wir reichlich desillusioniert und völlig geplättet nach Hause.
Plötzlich sagte Nicolas:
„Sebi, jetzt lade ich dich zu unserem Lieblings-Italiener ein! Diesen Bürokratie-Terror sollten wir mit einem guten Essen für uns abschließen!“
Das machte mich erstmal sprachlos, weshalb Nicolas nachfragte:
„Was ist?“
„Nicolas, das ist eine grandiose Idee. Deine Einladung nehme ich gerne an.“
Trotz anders lautender Vorsätze dominierte das Adoptionsthema den Abend. Insbesondere kamen wir über die letzte Äußerung der für uns zuständigen Mitarbeiterin des Jugendamtes nicht hinweg, die da lautete:
„Wissen Sie“, erklärte Frau Miriam Morgenstern „es ist leider so, dass fast alle Träger der entsprechenden Heime und Einrichtungen immer noch große Vorbehalte und Ressentiments gegen eine Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare haben. Und das trifft beileibe nicht nur auf die kirchlichen Institutionen zu. Deshalb sollten Sie sich keine großen Hoffnungen machen. Tut mir leid.“
Wie wir es auch drehten und wendeten, hier waren wir auf Gedeih und Verderb den Führungsetagen dieser Heime ausgeliefert; ohne Chance, das irgendwie beeinflussen zu können. Wie ich solche Ohnmachtssituationen hasste! Nicolas war fast der Verzweiflung nahe, war er die Sache doch so engagiert angegangen. Schließlich lag er wieder einmal schluchzend in meinen Armen, was mir schier das Herz zerriss. Wenn ich jedoch auf eine Eigenschaft stolz bin, dann darauf, im besten Sinne ein guter Seelentröster zu sein, so war es mir bisher immer gelungen meinen Nicolas verhältnismäßig rasch aus seinen seelischen Tiefs zu holen.
Nach gut zwei Monaten waren wir wohl so leidlich darüber hinweg, dass unsere Zweierfamilie wohl doch keinen Zuwachs mehr bekommen würde.
Jedenfalls verlor keiner mehr ein Wort darüber.
Helle Aufregung kam deshalb auf, als uns eines Sonntagnachmittags folgender Anruf aufschreckte:
„Sebastian Klein“
„Hier ist Miriam Morgenstern vom Jugendamt. Hallo Herr Klein, erinnern Sie sich an mich? Entschuldigen Sie bitte die sonntägliche Störung, aber es ist wichtig!“
„Natürlich erinnern wir uns an Sie. Darf ich Sie auf Lautsprecher stellen, damit Nicolas mithören kann?“
„Ja sicher Herr Klein. Hallo Herr Morlaix.“
„Guten Tag Frau Morgenstern.“
„Folgendes ist passiert: Eben erhielt ich einen dringenden Anruf vom Kinderheim der AWO, der Arbeiterwohlfahrt. Dort ist letzte Woche ein junger Mann, was sage ich, ein fünfzehnjähriger Jugendlicher gelandet, der das ganze Heim aufmischt. Er ist wohl – äh – schwul, weshalb ihn sein leiblicher Vater buchstäblich aus dem Haus geprügelt hat.“
Erschrocken sah ich Nicolas an und wusste sofort, was in ihm vorging. Schon trieb es ihm die Tränen in die Augen.
„Moment, Frau Morgenstern, darf ich Sie bitte gleich zurückrufen? Unter der angezeigten Nummer?“
„Oh, was ist passiert? Selbstverständlich.“
„Danke, bis gleich“, beendete ich die Verbindung und es gelang mir gerade noch, Nicolas am fortlaufen zu hindern.
„Hey, Nico, bitte komm her“, sagte ich und zog ihn wortlos an mich.
Ich weiß nicht, wie lange wir so dasaßen, sonderlich bequem war es jedenfalls nicht. Immer wieder streichelte ich über den Kopf meines Liebsten, bis er sich endlich zu beruhigen schien. Dass ihn so etwas derart aus der Bahn warf, war nur zu verständlich: War das doch genau auch seine Geschichte.
„Geht‘s wieder, Kleiner?“
„Ja, vielen Dank“, schniefte er, doch in seinen Augen blitzte ein kurzes Lächeln auf. „Ich bin nicht klein, Herr Klein“, setzte er nach, worauf sich das verschmitzte Grinsen in seinem Gesicht zeigte, das ich so sehr an ihm mochte.
„Soll ich Frau Morgenstern zurückrufen?“
„Ja, mach“, erwiderte er gefasst, also wählte ich.
„Hallo Herr Klein, danke für den Rückruf. Alles in Ordnung bei Ihnen?“
Ich sah zu Nicolas hinüber. Der nickte kurz, schien aber seine Sprache noch nicht wieder so richtig gefunden zu haben.
„Ja, soweit Frau Morgenstern, aber weshalb denn nun Ihr Anruf?“
„Sie werden es nicht glauben. Vor allem nicht nachdem, was ich Ihnen seinerzeit zuletzt gesagt hatte.“
Oha, dachte ich, das hat sie sich also gemerkt.
„Der Charly von der AWO hat mich direkt gefragt, ob ich nicht ein schwules Pärchen wüsste, das vielleicht, eventuell diesen Burschen aufnehmen würde. Da die rechtlichen Verhältnisse allerdings überhaupt noch nicht geklärt seien, wäre es erst einmal eine „Pflege auf Probe“ sozusagen.“
Nicolas‘ Enttäuschung war ihm ins Gesicht geschrieben. Traurig zuckte er nur mit den Schultern.
„Hm, Frau Morgenstern, ich weiß nicht so Recht; wie sähe so etwas denn aus?“
„Herr Klein, ich wusste, dass ich auf Sie zählen kann.“
„Moment“, unterbrach ich ihre Euphorie, „ich weiß nicht, ob wir das leisten können.“
„Ja, schon gut, Herr Klein. Können Sie und Ihr Partner morgen zu mir ins Büro kommen? Dann könnten wir alles in Ruhe besprechen und gegebenenfalls auch gleich nach Feuerbach fahren.“
„Nach Feuerbach?“
„Ja, Herr Klein, dort ist besagtes AWO-Heim. Ist neun Uhr okay für Sie?“
Man, hatte die es aber eilig. So wie sie uns vor einigen Wochen noch regelrecht abgewiegelt hatte, musste da jetzt echt Feuer unterm Dach sein. Von Nicolas kam keine Reaktion.
„Also gut, Frau Morgenstern. Aber wirklich nur unter Vorbehalt!“
„Ja klar, Herr Klein. Es müssen ja sowieso alle Beteiligten zustimmen. Bis morgen früh dann um neun. Ich danke Ihnen, guten Abend.“
„Okay, bis Morgen. Auf Wiederhören, Frau Morgenstern.“
Aber da hatte sie schon aufgelegt. Etwas ratlos hielt ich den tutenden Hörer in der Hand und schaute in Nicolas‘ blaue Augen. Der hielt meinem Blick stand und rutschte abermals zu mir herüber. Dann versanken wir in einen endlosen Kuss.
Lange saßen wir noch „Têtê-à-Tête“ und jeder musste für sich seine Gedanken sortieren. Den Unterschied zwischen Pflege und Adoption hatten wir bei unserem Ämter-Marathon bestimmt hundertmal durchgekaut und wir waren uns einig, dass eine Pflege nicht in Frage kam und zwar deshalb, weil die Gefahr besteht, dass ein solches Verhältnis durch eine Vielzahl, von uns nicht beeinflussbaren Ereignissen von außen plötzlich beendet werden könnte. Was dann, wenn inzwischen eine starke emotionale Bindung entstanden ist, umso größere Wunden reißen würde. Das wollten weder Nicolas noch ich riskieren.
„Was meint sie mit ‚Pflege auf Probe‘?“, mit dieser Frage brach Nicolas das Schweigen.
„Das versuche ich auch schon die ganze Zeit herauszufinden“, erwiderte ich wenig ermutigend.
„Eine gewisse Probezeit wäre wohl schon sinnvoll, aber dann? Ich finde die Perspektive sollte in jedem Fall eine Adoption sein oder Sebi?“
„Das sehe ich auch so, aber da werden wir uns bis Morgen gedulden müssen um das zu klären.“
„Schon, wir sollten uns aber absprechen und klar machen, wo unsere Grenzen sind.“
„Okay, Nico, wo ist deine rote Linie?“
„Die ist eigentlich klar: Wenn die Chance auf eine Adoption nach dieser Probezeit bei weniger als 90% liegt, möchte ich mich nicht darauf einlassen. Ich würde es einfach nicht durchstehen, wenn sich alles positiv entwickelt und nach einem halben Jahr müsste er mir nichts, dir nichts wieder weg. Am Ende noch, obwohl weder er noch wir das wollen.“
„Okay, da sind wir uns völlig einig, vielleicht würde ich sogar auf fast 100% gehen, so dass die Unsicherheit nur noch durch etwas Unvorhersehbares gegeben ist. Freilich wird es eine totale Sicherheit nie geben, das ist mir schon klar.“
In diesem wichtigen Punkt bestand also Einigkeit, trotzdem diskutierten wir noch bis spät in die Nacht. Immer wieder schweiften wir ab und richteten unter dem Synonym ‚Michel‘ in Gedanken und mit zum Teil verrückten Ideen sogar schon sein Zimmer ein. Allerdings war das einzige, was wir bis dato von ihm wussten, dass ihn sein leiblicher Vater aus dem Haus geprügelt hatte. Wir kannten keinen Namen und kein Bild, doch halt, eines noch: Er war 15 Jahre alt.
Nach maximal drei Stunden Schlaf schrillte um sieben Uhr Nicolas alter Aufziehwecker mit den beiden schräg oben angebrachten Blechglocken. Ein unmögliches Gerät, das mir wohl irgendwann den Herztod bescheren würde, wenn ich es nicht rechtzeitig irgendwie würde zur Seite schaffen können.
Duschen, Anziehen und Frühstück verliefen reibungslos, wenn auch weitgehend schweigend. Selbstverständlich waren wir beide ziemlich nervös; meine Rolle als ‚ruhender Pol‘ fiel mir einigermaßen schwer.
Punkt neun standen wir vor dem morgenstern‘schen Büro.
Beherzt klopfte ich an der Tür.
Gleichzeitig mit dem „Herein“ standen Nicolas und ich schon im Raum.
„Guten Morgen die Herren“, begrüßte uns Frau Morgenstern. „Schön, dass Sie es einrichten konnten.“
„Guten Morgen Frau Morgenstern“, grüßten wir fast zeitgleich zurück.
„Bitte nehmen Sie Platz.“
Noch einmal erzählte Miriam Morgenstern die Geschichte des jungen Mannes, diesmal in der Langversion. So erfuhren wir, dass es sich um den Sohn aus einer deutsch-französischen Ehe handelte, wobei der Vater aus Le Mans und die Mutter aus Köln stammte. Und er hieß Michel, was Nicolas den Anflug eines Lächelns ins Gesicht zauberte, hatten wir doch am Abend zuvor spaßeshalber die ganze Zeit von ‚Michel‘ gesprochen. Nun hieß der tatsächlich so. Ich beschloss, das als gutes Omen zu betrachten.
Schließlich beendete sie ihre Schilderung mit Michels völlig verunglückten „Coming out“ gegenüber seinen Eltern, die wohl sehr christlich-konservativ geprägt waren. Allerdings in ziemlich übler Ausprägung, denn die „Nächstenliebe“ zu einem schwulen Sohn war vollkommen ausgeschlossen. Im Gegenteil: In einem beispiellosen Hass- und Wutausbruch hätte der Vater seinen Sohn wohl erschlagen, wenn diesem nicht die Flucht gelungen wäre. In wieweit eine Anzeige Michels gegen seinen Erzeuger erfolgreich sein könnte, war mehr als fraglich, denn seine Mutter stand bedingungslos zu ihrem Mann. Als das Jugendamt die Heimunterbringung von Michel bekannt gab, hatte der Vater nur lachend erwidert, dass das jetzt die gerechte Strafe – wofür auch immer – für seinen ehemaligen Sohn wäre. Auch hatten sie schon unaufgefordert die wenigen Habseligkeiten Michels zusammengepackt. Lediglich der Verzicht auf das Sorgerecht und die Vormundschaft waren bislang noch nicht unterschrieben.
In der kurzen Zeit, die Michel jetzt im Heim war, zeigte er sich nur aggressiv Pflegern und Mitbewohnern gegenüber. Jegliche Gesprächsversuche würgte er bisher bereits im Ansatz ab. Die Heimleitung wollte ihn am liebsten so schnell wie möglich wieder los haben.
„Nun“, beendete Miriam Morgenstern ihre Schilderung, „ganz einfach wird es wohl nicht, schon weil dieser Michel, bisher jedenfalls, jegliches Gespräch verweigert.“
„Puh“, stöhnte Nicolas etwas ratlos, „also wenn wir uns dennoch darauf einlassen würden, wie stünden dann am Ende die Chancen auf eine Adoption?“
„Mit letzter Sicherheit kann ich Ihnen das leider nicht sagen, Herr Morlaix. Doch den Schilderungen von Charly nach zu urteilen, war die Ablehnung der Eltern gegenüber Michel ziemlich eindeutig und endgültig. Warum sie jedoch die Abtretung von Sorgerecht und Vormundschaft noch nicht unterschrieben haben erscheint nicht klar. Obwohl, sie haben das Anschreiben ja erst seit ein paar Tagen. Herr Villeneuve, so heißt er übrigens, ist Manager und wird das wohl juristisch prüfen lassen. Letztlich weiß ich es dennoch nicht.“
„Dann lassen Sie uns doch erstmal hinfahren, vielleicht sperrt sich dieser Michel ja vollkommen gegen eine ‚Pflegefamilie‘, dann hat sich das ja eh gleich erledigt“.
Völlig erstaunt sah ich in das plötzlich so entschlossene Gesicht von Nicolas. Der grinste mich nur an. Ich konnte mich darüber nur wundern. Mehr als ein „Okay“ brachte ich nicht zustande.
Eine halbe Stunde später standen wir vor der Tür des „Kinder- und Waisenhauses“ der AWO in Feuerbach. Kurze Zeit später streckte ein typischer Alt-68er seinen Kopf zu besagter Tür heraus. Seine zunächst etwas mürrische Miene hellte sich aber im nächsten Moment auf, als er uns sah.
„Hallo Miri, schön dass ihr hier seid“, begrüßte er Frau Morgenstern und uns.
„Hallo Charly“, grüßte Miri Morgenstern freudig zurück.
„Kommt rein“.
Nicolas und ich wurden sodann eindringlich von ihm gemustert. Er schien sehr wohl zu wissen, wer wir waren. Da hatte „Miri“ schon entsprechende Vorabinfo gegeben. Nach einer kurzen Vorstellung wiederholte Nicolas seinen bereits geäußerten Verdacht, dass sich Michel ja wahrscheinlich gegen eine „Pflegefamilie“ sträuben würde.
„Das denke ich nicht“, kam die überraschende Antwort von Charly.
„Wie das?“, wollte ich jetzt genauer wissen.
„Ganz einfach: Eigentlich ist er ja gar nicht vernünftig ansprechbar, aber als von einer Familie die Rede war, bei der seine Homosexualität überhaupt keine Rolle spielen würde, hat er plötzlich sehr interessiert zugehört. Mit seiner direkten Erfahrung schien es ihm unvorstellbar, dass eine Familie so etwas akzeptieren könnte. Freilich war dann ein weiteres Gespräch wieder unmöglich, so dass er nicht weiß, dass es sich um ein verheiratetes, schwules Paar handelt. Wollen wir einfach mal nach hinten in den Garten gehen. Die Jungs spielen gerade ein bisschen Fußball.“
Gut zwei Handvoll Jugendliche von etwa 14 – 16 Jahren hetzten hinter dem Ball her. Es herrschte eine gedämpfte, aber durchaus fröhliche Stimmung. So war jedenfalls mein Eindruck. Dann gab es ein Foul in Form einer eher leichten Rempelei, wobei der gefoulte mit wüsten Beschimpfungen reagierte und seinen Gegenüber sofort tätlich angriff. Zumindest war das eindeutig sein Vorhaben. Er hielt jedoch sofort inne, als er unsere kleine Zuschauertruppe bemerkte. Nun beschwerte sich einer seiner Mitspieler lauthals:
„Mensch, Michel, warum musst du immer gleich ausflippen, bloß weil dir mal einer zu nahe kommt? So macht das echt keinen Spaß.“
„Ja, genau, das ist echt Scheiße!“, fiel ein anderer mit ein.
Offensichtlich hatte Michels Reaktion das Fass zum Überlaufen gebracht, denn plötzlich stand er alleine auf dem Rasen. Die anderen waren urplötzlich verschwunden.
Genervt wollte auch Michel das Feld räumen, als ihn Charly vergleichsweise harsch anrief, er möge doch mal rüberkommen. Etwas widerwillig tat er, wie ihm geheißen.
„Michel, das hier sind Nicolas Morlaix und Sebastian Klein.“
„Ja, und?“, fragte er trotzig zurück.
„Michel, das sind die beiden, die dich gerne bei sich aufnehmen würden.“
„Hä? Wieso das denn?“, kam es sichtlich verwirrt vom Angesprochenen.
„Die beiden sind verheiratet und könnten sich vorstellen, dich in ihre Familie aufzunehmen. Wir haben doch gestern davon gesprochen!“
Völlig perplex musterte uns Michel; er scannte uns regelrecht. Dann sprudelte es aus ihm heraus:
„Also nö, die suchen doch bloß einen Haussklaven als Sexspielzeug .“
Okay, damit hatte ich genug gehört, ich machte auf dem Absatz kehrt und begab mich nach vorne. Was glaubte dieser Rotzaffe eigentlich? So ein blödes Geschwätz musste ich mir beim besten Willen nicht anhören. Der hatte wohl zu viele falsche Filme gesehen. Als ich mich noch weiter in diese Sache hineinsteigerte, wie ich überhaupt auf diese absurde Idee gekommen war, so einen Halbstarken adoptieren zu wollen, bemerkte ich, dass mir Nicolas nicht gefolgt war. Ich wandte mich um und registrierte erstaunt, dass er sich diesen Michel kurzerhand gegriffen hatte und ihn regelrecht verbal zusammenfaltete. So kannte ich meinen Nicolas überhaupt nicht. Ich verstand die Worte nicht, die er Michel an den Kopf warf, doch schienen es klare solche zu sein. Darüber war ich doch sehr verwundert. Als ich noch darüber grübelte, was er ihm wohl zu sagen hatte, stand Nicolas plötzlich neben mir. Er schenkte mir ein, der Situation entsprechendes, schiefes, nein, eher souveränes Lächeln. Dafür musste ich ihn einfach küssen.
Einmal mehr wusste er genau, was ich dachte und beantwortete die nonverbal gestellte Frage:
„Ich habe ihn direkt gefragt, was er sich da für einen Bullshit zusammengereimt hat, hab‘ ihm in ganz knappen Worten erklärt, wie wir uns kennengelernt haben und was du für ein wundervoller Mensch bist.“
Oje, ich mochte es überhaupt nicht, wenn man mich so auf ein nicht vorhandenes Podest hebt und protestierte: „Ach Nico, das ist doch völlig übertrieben.“
„So? Für mich nicht, Sebi. du bist für mich ein absoluter Lottogewinn, ein unbezahlbarer Glücksfall.“
„Jetzt hör aber auf, Mann. Wenn überhaupt, ist es allenfalls umgedreht!“
„Ich liebe dich, Sebi.“
„Ich liebe dich auch, Nico.“
„Und jetzt?“
„Keine Ahnung, er hat mich nur mit immer größeren und traurigeren Augen angesehen.“
„Aber eigentlich war es das dann wohl, oder?“, fragte ich zunehmend verunsichert, doch mein Mann schien die Sache noch nicht abgeschlossen zu haben.
Etwas ratlos wandten wir uns um und wie aus heiterem Himmel stand dieser Michel vor uns. Er wirkte absolut kleinlaut.
„Herr Klein, es tut mir leid. Ich glaube, ich hab‘ da was ganz Dummes gesagt.“
„Aha, einfach so oder was?“ Ich war froh, dass ich das einigermaßen angepisst heraus brachte, denn so ganz ungeschoren wollte ich ihn nicht von der Angel lassen, obwohl mir sofort klar war, dass dieser Rabauke im Grunde eine verletzte Seele war, der glaubte, sich durch sein aggressives Verhalten selbst schützen zu können.
Michel senkte den Blick und es schien, als würde er seine Felle davon schwimmen sehen.
„Herr Klein, bitte verzeihen Sie mir“, flüsterte er mit gebrochener Stimme und rannte davon.
Jetzt war es an mir, erst einmal tief durch zu atmen. Zum Glück standen wir an einer Parkbank, auf die ich mich kraftlos sinken ließ. Nicolas setzte sich unverzüglich neben mich und nahm mich in den Arm. ‚Verkehrte Welt‘, dachte ich noch, das ist eigentlich meine Rolle. So saßen wir da ziemlich verloren und ratlos, als plötzlich Miriam Morgenstern und dieser Charly heran gestürmt kamen und uns aufgebracht fragten:
„Was um Himmels Willen haben Sie mit Michel gemacht? Der sitzt in der Ecke und flennt wie ein Schlosshund.“
Erschrocken sahen Nicolas und ich uns an. Nicolas schilderte mit kurzen Worten, was vorgefallen war. Damit erntete er jedoch nur die Verblüffung der beiden Pädagogen.
„Und jetzt?“, fragten Frau Morgenstern und ich gleichzeitig.
„Ich würde Michel fragen, ob er zum Mittagessen mitkommen würde!“, meinte Nicolas, wobei mir seine Entschlossenheit schon fast unheimlich war. Mehr als ein Kopfnicken brachte ich nicht zustande.
„Wäre das denn in Ordnung?“, wandte sich Nicolas an Charly.
„Auf jeden Fall!“, beeilte sich dieser zu antworten.
Zielstrebig ging Nicolas ins Haus.
Nach verhältnismäßig kurzer Zeit kam er mit Michel im Schlepptau zurück.
Michel schien sich beruhigt zu haben. Mir schien es, als würde er sich unsicher zurückhalten.
„Können wir?“ Nicolas‘ forsche Frage richtete sich sowohl an mich als auch an die beiden Sozialarbeiter.
„Wollen wir eine Zeit vereinbaren?“, fragte Charly zurück.
„Ist das notwendig?“, wollte ich nun wissen.
„Machen wir es doch so: Bringen Sie Michel doch zum Abendessen bis spätestens sieben Uhr zurück. Für den Fall, dass Sie auch noch den Abend zusammen verbringen möchten, rufen Sie mich einfach an, hier ist meine Karte“, schlug Charly vor und streckte mir seine Visitenkarte entgegen.
„In Ordnung“, sagte ich und nahm die Karte an mich. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich Michel, wurde freilich aus seiner Mimik nicht recht schlau. Eine gewisse hoffnungsvolle Freude meinte ich allerdings schon zu spüren, wie übrigens auch bei Nicolas.
Inzwischen hatte offensichtlich nicht nur ich Hunger, so drängte es unsere kleine Gruppe zur nächstgelegenen, einigermaßen akzeptablen Futterkrippe. Ich kannte Feuerbach von meiner Lehrzeit, die freilich schon etliche Jahrzehnte zurücklag. Hier um die Ecke gab es einen guten Italiener, vor Jahren jedenfalls. Vielleicht gab es den ja noch.
Es gab ihn noch! Als wir eintraten kam sofort ein Kellner auf uns zu:
„Sie sind zu dritt?“, auf unser Nicken hin sah er sich kurz um und fragte:
„Wäre der Tisch dort hinten in der Ecke in Ordnung?“
„Perfekt“, meinte Nicolas und brachte damit das Gesicht des kleinen Italieners zum Strahlen.
Fast gleichzeitig mit uns stand er an besagtem Tisch und wartet geduldig, bis wir uns gesetzt hatten, um dann jedem eine Karte zu reichen.
„Bitte schaut nicht auf den Preis, sondern sucht euch was aus, auf das wirklich Lust habt“, forderte uns Nicolas auf. Dieser Mensch erstaunte mich immer wieder. Schon sprudelte es weiter aus ihm heraus und er erzählte die Geschichte, wie er sich mich quasi geangelt habe, seinerzeit in Strasbourg anlässlich der Dampfzugfahrt zur Adventszeit, als er mir heimlich in die Altstadt gefolgt war, nur um mit mir Mittagessen zu können. Sprachlos folgte ich Nicolas Ausführungen, war ich bislang davon ausgegangen, dass wir uns zufällig in dieser Crêperie getroffen hatten. Munter plapperte der weiter und es gelang ihm wohl, was er damit bezweckte: Die Stimmung wurde immer lockerer und Michel hörte ihm fasziniert zu. Auch ich staunte über meinen Mann, der regelrecht über sich hinaus wuchs. Eine Anekdote jagte die andere und bald ließ Michel ein markantes, helles und kicherndes Lachen vernehmen. Auch wenn es meist auf meine Kosten ging, sparte Nicolas nicht mit seiner Selbstironie. Wie liebe ich diesen Mann! Schoss es mir ein ums andere Mal durch den Kopf.
Essen und Getränke wurden sehr schnell gebracht und es schmeckte allen ganz vorzüglich.
Nicolas hatte inzwischen den Bogen zu seiner eigenen Geschichte gespannt und berichtete von den ständigen Prügeln die er seit dem Tod seiner Mutter von seinem Vater über sich ergehen lassen musste, nur weil er aus dessen Sicht „kein richtiger Mann“, sondern schwul war. Mehrmals rang Nicolas mit seiner Fassung. Michel sah erschrocken in Nicolas‘ schmerzverzehrtes Gesicht und griff instinktiv nach seiner Hand. Schließlich verkürzte der seine Schilderung auf ein paar Eckdaten und verriet Michel, wie überglücklich er sei, mich kennengelernt und sich trotz des Altersunterschieds von 28 Jahren Hals über Kopf in mich verliebt zu haben.
Ganz entgegen seiner sonst eher zurückhaltenden Art hatte Nicolas geschickt verschiedene
Episoden aus seinem oder unserem Leben zum Besten gegeben, um damit Michel zu ermutigen, ebenfalls ein wenig über sich zu erzählen.
Diese Situation, mit uns beim Essen zu sitzen, musste ihn ziemlich verunsichern, ging es doch um nichts weniger als die Möglichkeiten auszuloten, unter denen er einen ganz neuen Lebensabschnitt beginnen könnte. Und tatsächlich ließ er sich durch Nicolas’ offene Art aus der Reserve locken.
Zunächst etwas zögerlich begann er zu erzählen.
Bis vor zwei Wochen sei er ein glückliches Einzelkind gewesen, dem es an nichts fehlte. Dabei vermied er es strikt von Vater, Mutter oder Eltern zu sprechen. Vor etwa einem Jahr habe er festgestellt, dass irgendetwas bei ihm anders war als bei anderen. In seiner Klasse galt er seiner eigenen Einschätzung nach als Weiberheld; hatte er doch mit seinen vierzehn Jahren einen recht hohen Durchsatz an Mädels. Die freilich hätten sich um ihn gerissen. Er ergänzte leise, dass er schließlich bekanntermaßen in einem wohlhabenden Haushalt lebte. Als er dann vor etwa zwei Monaten – wieder einmal – mit Sally im Bett lag, ging plötzlich gar nichts mehr. Er kannte Sally im Grunde seit dem Kindergarten und sie war ihm eine wirkliche Freundin. Dass sie manchmal in der Kiste landeten, sei irgendwie „normal“ gewesen, auch wenn das von ihrer Freundschaft in seltsamer Weise unabhängig gewesen sei. Sally hätte ihr bestes versucht. Am Ende saß er an die Wand gelehnt und gestand ihr unter Tränen, dass er wohl schwul sei. Zunächst habe sie gelacht und gefragt „Was? Du?“ „Ja! Ich!“ Er hätte sie nur lange angesehen, bis ihr klar wurde, dass dies die Wahrheit war. Sie war die erste, der er sich anvertraut hatte. Sie hätte ihn daraufhin in den Arm genommen und er hätte schier nicht mehr aufgehört zu heulen. Sie versprach zu ihm zu halten, was immer auch passieren würde. Kurz darauf ergab sich im Gemeinschaftskunde-Unterricht eine unverhoffte Gelegenheit, dass er sich in seiner Klasse eher beiläufig outete. Seine Klassenkameraden fassten es zunächst ebenfalls als Scherz auf, schließlich aber schien fast keiner ein Problem damit zu haben, wahrscheinlich wären sie eher froh darüber, einen Konkurrenten weniger zu haben..
Meinte Michel mit einem schiefen Grinsen.
Freilich gab es auch zwei Idioten, die meinten ihn runtermachen zu müssen. Doch die Klassengemeinschaft ließ sie schnell verstummen, waren sie schon bisher immer die Außenseiter gewesen, die nun eine Chance witterten diese Position an Michel abgeben zu können. So ermutigt hatte er es dann seinen „Erzeugern“ eröffnet – mit der bekannten Reaktion. Damit hatte er überhaupt nicht gerechnet. An diesem Punkt war es dann um Michels Fassung geschehen, er begann hemmungslos zu weinen. Nicolas stand sofort auf und nahm in den Arm, was Michel sichtlich genoss. Tatsächlich beruhigte er sich relativ schnell.
Inzwischen waren mehr als vier Stunden vergangen.
„Wie wäre es mit einer Tasse Kaffee oder sowas?“, fragte ich in die Runde.
„Oh, gute Idee!“ ließ Nicolas vernehmen
„Aber lieber eine Schokolade und vielleicht ein Stück Obstkuchen!“
„Da würde ich mich gerne anschließen, wenn ich darf“, kam es vorsichtig von Michel.
„Klar doch. So eine Erdbeerschnitte?“, fragte ich nach.
„Au ja“, kam es wie aus einem Munde.
Also orderte ich drei heiße Schokoladen und drei Erdbeerschnitten, was ziemlich rasch serviert wurde. Die Stille am Tisch währte nur kurz, denn in nullkommanichts war alles verputzt.
Dann erzählte ich, wie ich Nicolas kennen und lieben gelernt hatte.
„Du bist Dampflokführer?“, fragte Michel erstaunt und bekam leuchtende Augen, was auch Nicolas nicht entging.
„Ist er. Der liebste und sexieste obendrein“, versicherte Nicolas und erntete dafür von Michel einen ungläubigen Blick und von mir ein eher unwohliges Grummeln. Mein Nicolas wieder. Heute lief er zur Höchstform auf.
So folgten abwechselnd noch etliche Geschichten aus allen Lebenslagen.
Die Stimmungen wechselten von heiter bis wolkig, von traurig bis erstaunt.
Plötzlich war es 19 Uhr und fast schon wie selbstverständlich wollten wir auch noch gemeinsam zu Abendessen. Eine Kleinigkeit wenigstens oder auch etwas mehr, denn unsere Aussprache machte einigermaßen hungrig.
Zuvor rief ich jedoch bei Charly an, dass es etwa Neun würde, bis wir Michel wieder zum Heim bringen würden. Dem stimmte er ohne weiteres zu, hatte er wohl ein ähnlich gutes Gefühl wie ich.
Als wir pünktlich vor dem AWO-Heim auftauchten, wurden wir schon von Charly erwartet. Es entstand dann eine beklemmende Situation, als Michel zum Abschied ganz leise fragte:
„Wann kommt Ihr mich abholen?“
Weder Nicolas noch ich waren auf diese Frage vorbereitet. Noch bevor wir etwas zusammenstottern konnten, sprang Charly in die Bresche:
„Jetzt solltet ihr alle erstmal darüber schlafen oder was meinst du, Michel?“
„Okay“, war alles, was dieser herausbrachte und fluchtartig davonrannte.
Ratlos sahen Nicolas und ich ihm hinterher.
„Gute Nacht, schlaf gut, Michel“, rief Nicolas noch, bevor ein fast schon euphorischer Charly meinte:
„Also, das ist nach meiner Erfahrung ziemlich eindeutig: Michel hat sich entschieden. Ich weiß zwar nicht, was ihr ihm alles versprochen habt, aber er würde wohl gerne zu euch ziehen. Wenn es für euch in Ordnung wäre, natürlich.“
„Wir haben ihm gar nichts versprochen. Wir haben uns nur gegenseitig unsere Lebensgeschichten erzählt. Noch nicht einmal über unsere Wohnsituation wurde geredet.“
„Umso eindeutiger scheint mir Michels Wunsch, mit euch zusammen kommen zu wollen. Fahrt jetzt einfach nach Hause und schlaft darüber. Nur eine Bitte hätte ich: Meldet euch so bald wie möglich.“
„Machen wir, Charly, und gute Nacht“
„Danke gleichfalls. Und gute Fahrt. Bis bald“, sprach’s und verschwand in der Tür.
Jetzt musste ich erst einmal Luft holen und es war wieder Nicolas der mich in seine Arme schloss.
Lange standen wir schweigend so da, bevor wir uns lösten. Ich warf Nicolas den Autoschlüssel zu und er brachte uns schnell und sicher nach Hause.
Dort angekommen merkten wir beide, dass wir einigermaßen geschafft waren.
Nach minimalistischer Körperpflege lagen wir binnen kurzer Zeit im Bett.
Dass die Nacht trotzdem noch ziemlich lang wurde lag freilich daran, dass uns das Thema ziemlich beschäftigte. Schließlich sind wir doch noch eingeschlafen, denn wir waren uns einig geworden, dass wir diese „Pflege auf Probe“ machen würden, denn der Bursche war uns an diesem Nachmittag schon ans Herz gewachsen. D.h. wenn ER es denn auch morgen noch wollte.
Um neun Uhr, also zu nachtschlafender Zeit, wurden wir unsanft geweckt, nicht etwa durch Nicolas‘ Herztod-Maschine, sondern weil der mp3-Dampflokpfiff meines Handy die Stille mit der gleichen Vehemenz zerriss, wie besagter Wecker.
Noch bevor ich mich melden konnte erklang schon ein fröhliches „Guten Morgen, Sebastian, kommt ihr mich gleich abholen?“
„Guten Morgen, Michel, woher hast du meine Telefonnummer?“
„Ich habe deine Visitenkarte bei Charly auf dem Schreibtisch gefunden, die ist ziemlich auffällig, weißt du?“
Trotz der Hergottsfrühe musste ich unweigerlich schmunzeln, denn da hatte er wohl Recht, die Dampflok auf der Karte war nicht zu übersehen.
„Die Dampflok da drauf ist nicht zu übersehen!“, kam es zusätzlich aus dem Hörer.
„Ja, ist ja gut. Wir schlafen aber noch.“
„Oh, Scheiße, ich wollte euch nicht stören!“
Entschuldigte sich Michel nach einer kurzen Pause.
„Schon okay, Michel, es ist ja schon neun Uhr durch. Bist ein Frühaufsteher, oder wie?“
„Nein eigentlich überhaupt nicht…. aber ich konnte nicht mehr schlafen“, beeilte er sich zu antworten.
„Weißt Du was? Wir kommen gleich zum Frühstück. Gib uns eine Stunde.“
Schlug ich ihm spontan vor, wobei ich über meinen Schnellschuss staunte.
„Das ist eine Superidee, ich freu mich und sag Charly Bescheid! Bis gleich!“
Sprang Michel auf meine Idee an. Ehe ich etwas erwidern konnte, hatte er schon aufgelegt.
Auch Nicolas, der inzwischen mitbekommen hatte, wer uns da gestört hatte, zeigte mir Daumen nach oben.
Nach einer gemeinsamen, für unsere Verhältnisse SEHR kurzen Dusche, kamen wir zügig los. Nicolas fuhr und ich informierte Miriam Morgenstern und Charly über unser Vorhaben. Beide zeigten sich sehr erfreut. Ich hatte wieder das Gefühl, dass sie bereits miteinander telefoniert hatten. Charly bot an, dass wir uns in ihrer Cafeteria treffen könnten, allerdings seien die Brötchen schon restlos weggeputzt. So kündigte ich ihm an, dass wir was mitbringen würden.
Nicht mehr darüber erstaunt war ich, dass uns sowohl Michel als auch Charly und Miriam Morgenstern am AWO-Heim erwarteten. Michel war völlig aufgedreht und zog uns förmlich zur Cafeteria. Als ich dann die frischen Backwaren auf den Tisch stellte, bekam Michel leuchtende Augen:
„Croissants! Ich liebe Croissants.“
Nachdem Charly noch für ausreichend Kaffee (für sich), Tee (Miriam Morgenstern) und heiße Schokolade (für uns restlichen) gesorgt hatte, begann ein gemütliches Frühstück bei munterem Geschnatter.
„Wir würden Michel heute gerne unser Zuhause zeigen. Denn dort müsste er sich schließlich auch wohlfühlen. Geht das?“
„Wenn er das will, geht das selbstverständlich.“
Kam prompt von Charly die Antwort.
„Ja, das möchte ich mir bitte unbedingt anschauen. Wo ist das überhaupt?“
„In Nürtingen!“, antwortete Nicolas.
So fuhren wir mit durchaus gemischten Gefühlen nach Hause. Wenn er allerdings deswegen nicht zu uns kommen wollte, dann hätte das sowieso keinen Sinn. An mangelndem Platz in einem eigenen Zimmer könnte es – neutral betrachtet – sicher nicht liegen. Michel unterbrach das lange Schweigen mit dem Satz:
„Ich weiß, dass es mir bei euch gefallen wird.“
Durch den Rückspiegel grinste er mich an.
Als wir am Bahnhof vorbei fuhren, bekam Michel große Augen, waren doch unsere Kollegen gerade damit beschäftigt unsere Schnellzugdampflok nach einer kleineren Reparatur für eine Probefahrt vorzubereiten und anzuheizen.
„Oh, ist das deine Lok?“, kam die kindliche Frage.
„Also meine Lok ist das ja nun nicht, die gehört einem Mäzen, der sie dem Verein zur Verfügung stellt. Richtig ist, dass ich sie oft fahre. Niclas organisiert dann meist den Speisewagen.“
„Oh, können wir da noch zuschauen?“
Einen solchen Wunsch konnten weder Nicolas noch ich negativ bescheiden und so standen wir nach einer kurzen Parkplatzsuche auf unserem Vereinsgelände. Wir begrüßten die Kollegen und verwiesen in Bezug auf Michel darauf, dass wir einem jungen Eisenbahnfreund halt unser Schmuckstück zeigen wollten. Ich beobachtete „den jungen Eisenbahnfreund“ genau. Der kam aus dem Staunen nicht heraus. So aus der Nähe betrachtet machte die eigentlich verhältnismäßig zierliche Lok mit ihren 2-Meter Rädern schon einen gewaltigen Eindruck.
Dann verblüffte uns Michel gleichzeitig mit fundiertem Fachwissen und vielen Fragen:
„Die stand doch mal in Kirchheim vor der Berufsschule, oder? Bringt die heute auch noch ihre 1980 PSi? Das waren doch 298 Maschinen, wenn ich es richtig weiß und die hat vorne schon die größeren Laufräder mit einem Meter Durchmesser, warum eigentlich?“
Paul, unser technischer Leiter und heutiger Lokführer freute sich über Michels Interesse und beantwortete gerne seine Fragen:
„Aber hallo, ihre Leistung bringt sie selbstverständlich auch heute noch, freilich braucht es einen guten Heizer! Naja, durch die größeren Laufräder sind die Lagerdrehzahlen nicht so hoch, deshalb gab es dann weniger Heißläufer. Im heutigen Museumsbetrieb ist das aber nicht mehr relevant. Willst du nicht bei uns anfangen?“ fragte er halb im Spaß nach.
„Mal sehen. Lust hätte ich schon. Wie alt muss man denn sein?“
„Achtzehn.“ War die sichtlich enttäuschende Antwort. „Aber mitarbeiten und lernen kannst du schon viel früher, wenn es deine Eltern erlauben.“
Das war natürlich ein schlechtes Stichwort, schlagartig verfinsterte sich Michels Gesicht. Der arme Paul konnte ja nicht wissen, dass er da einen wunden Punkt getroffen hatte.
Trotzdem schlich Michel mehrmals ehrfürchtig um die Maschine, bevor wir wieder zum Aufbruch riefen.
Zu Hause angekommen, betrat Michel super vorsichtig, ja fast ängstlich die Wohnung. Neugierig sah er sich um. Unaufgefordert zog er sich die Schuhe aus. Im Grunde standen wir schon im Wohnzimmer das an einer Seite mit einer Art Bar an die Küche grenzte.
Ungewöhnlich für einen Jungen in seinem Alter blieb er an der Bibliothek hängen. Bestand die doch aus mehreren hundert Eisenbahnbüchern. Bei dem eben am Bahnhof erlebten war es vielleicht doch nicht so erstaunlich.
Nach einer mittleren Weile fragte Nicolas:
„Michel, soll ich dir nicht den Rest der Wohnung zeigen?“
„Hm?“, kam es geistesabwesend zurück
„Ob du nicht auch die anderen Räume sehen willst, hab‘ ich gefragt“
„Oh ja.“
„Dann komm‘“
Nach den ersten Beschreibungen, die wir von Michel und seinem Verhalten erhalten hatten, war es nicht zu glauben, wie zurückhaltend der sich gerade verhielt. Fast würde ich ihn als verträumt bezeichnen.
„Das hier ist unser Badezimmer mit großer Dusche und Whirlpool! Gegenüber das Schlafzimmer. Die übrigen drei Zimmer sind in etwa gleich groß oder klein. Wie auch immer du 17 qm empfindest. Eines wird als Büro genutzt, schau!“
„Oh, da gibt es ja viele Modelle! Oh und eine Modelleisenbahn!“ ,rief Michel entzückt und wurde ganz hibbelig.
Ich musste sehr an mich halten, nicht laut heraus zu lachen. Aber nicht um mich über Michel lustig zu machen, sondern weil ich mich sehr über seine offensichtliche Begeisterung freute.
„Naja, über die Jahre ist einiges zusammengekommen. Und mit dem Modell eines Bahnbetriebswerkes mit Drehscheibe kommen all die Loks halt am besten zur Geltung.“
Michel strahlte mich an, dass mir ganz warm ums Herz wurde.
„Hallo, ich bin auch noch da“, beschwerte sich Nicolas nicht ganz ernst gemeint.
Erschrocken wandte sich Michel um und schaute in Nicolas‘ grinsendes Gesicht.
„Puh“, meinte er erleichtert und zeigte nun ebenfalls ein knitzes Grinsen.
„Tja, die anderen beiden Zimmer sind unsere Gästezimmer, von denen gegebenenfalls eines dein Zimmer werden würde“, beendete Nicolas die „Schlossführung“, wie er es immer nannte.
„Ja, würdet Ihr mich denn aufnehmen?“, kam es kaum hörbar und unsicher von Michel.
„Michel“, erwiderte Nicolas nach einer kleinen Pause mit ernstem Tonfall
„Wir würden uns sehr freuen, wenn dies dein neues Zuhause werden würde. Zwangsläufig wäre es zwar zunächst auf Probe, doch wenn es die Umstände erlauben, würden wir dich am liebsten adoptieren.“
Stille
Mit einem herzzerreißenden Schluchzen fiel Michel meinem Mann um den Hals.
Er war kaum zu beruhigen. Langsam näherte ich mich den beiden und legte jedem eine Hand auf die Schulter, was dazu führte, dass Michel nun uns beide eng umschlang.
Ich griff zum Telefon und teilte Miriam Morgenstern und Charly vorab unseren Entschluss mit. Das veranlasste die Jugendamtsangestellte für 14h einen Termin bei sich im Büro auszumachen. Nach einem schnellen Mittagessen trafen wir voller Erwartung dort ein. Verhältnismäßig schnell war die Bürokratie erledigt, nicht ohne den mehrmaligen Hinweis, dass trotzdem alles nur unter dem Vorbehalt der Einverständniserklärung von Michels leiblichen Eltern ablaufen könnte.
Michels persönliche Habe war schnell zusammengesucht.
Am Abend saßen wir fröhlich um unseren Küchentisch zum Abendessen. Wie sich herausstellte, gab es unserer aller Leibgericht: „Spaghetti Bolognese“. Wenn Nicolas seine legendäre „Bolo“ zubereitete, kochte er immer auf Vorrat, so dass wir für diesen Abend nur die entsprechenden Portionen auftauen mussten. Die Spaghetti und ein Salat waren schnell gemacht.
Die erste Zeit wohnte Michel im Gästezimmer, während wir uns mit großem Eifer an die Renovierung und Ausstattung seines zukünftigen Reiches machten. Ein Besuch beim nordischen Möbelhändler sorgte auf Anhieb für die gesamte Inneneinrichtung.
Dass alles wie eine Seifenblase zerplatzen könnte, verdrängte Michel völlig. Ich ließ es einfach so laufen, auch wenn es mir sehr wohl schlaflose Nächte bereitete. Nicolas jedoch schlief zu dieser Zeit ausgesprochen gut und fest, das zeigte mir, dass er nicht mehr an ein mögliches Scheitern dachte.
Nach vier Wochen kam die erlösende Nachricht, dass Michels Erzeuger unwiderruflich auf Sorgerecht und Vormundschaft verzichteten. Das hatte nicht etwa deshalb so lange gedauert, weil ihnen etwa Zweifel an ihrem Handeln gekommen wären, sondern deshalb, weil Herr Villeneuve nur hundertprozentig sicherstellen wollte, dass Michel keinerlei Erbrecht behielt.
Über diese Nachricht führte Michel einen regelrechten Freudentanz auf.
So war Michel zu uns gekommen.
Ein Jahr später haben wir ihn adoptiert. Es war der glücklichste Moment in unserem gemeinsamen Leben.
Dass er an seinem 18. Geburtstag ziemlich überraschend ausgezogen ist und sich bis zu Nicolas‘ Beerdigung nicht mehr gemeldet hatte, hat uns sehr wehgetan. Wir hatten dann schnell „einen anderen Kerl“ als Ursache vermutet. Nicolas hat diese Formulierung verwendet, als er seiner Enttäuschung wieder einmal Luft verschaffen musste. Dann aber haben wir beide doch darüber gelacht und „der andere Kerl“ wurde zum geflügelten Wort.
Tja und jetzt liegt er hier ganz vertraut neben mir, als sei nichts gewesen.
Im Übrigen kam er äußerst selten zu uns ins Bett. Doch er suchte schon ab und zu unsere körperliche Nähe, meist wenn ihn die Prügelattacke seines Erzeugers einholte. Allerdings auch einfach nur so einmal. Zum Beispiel an einem Sonntagmorgen, wenn wir für gewöhnlich etwas länger schlafen wollten:
Plötzlich erwachte ich durch heftige Bewegungen neben mir. Hatte Nicolas wieder einmal schlecht geträumt? Noch immer holte ihn seine Vergangenheit im Schlaf ein, sehr viel seltener zwar, doch wenn, dann sehr heftig. Doch mitnichten! Gerade als ich Nicolas beruhigen wollte, bemerkte ich, dass es Michel war, der sich zwischen uns drängte. Wie ein kleines Kind, das unbedingt im Bett der Eltern schlafen wollte. Erst war ich etwas genervt, musste dann aber schmunzeln: Dieser inzwischen 16-jährige Teenager war immer für eine Überraschung gut. Michel schmiegte sich abwechselnd an Nicolas und an mich. So stellte ich mich weiter schlafend. Dann hielt Michel verdächtig lang inne und begann zu kichern. Er vollführte eine lüftende Bewegung mit unserer 2,40m breiten Bettdecke und eine Wolke erhob sich.
„Och nee!“, entfuhr es Nicolas und mir gleichzeitig.
„Hast du gepupst?“, fragte Nicolas entrüstet das offensichtliche.
Nicolas und ich drehten uns jeweils nach außen.
Michels Kichern erweiterte sich zu einem Lachen.
„Das ist ja unerhört“, gab ich gespielt vorwurfsvoll von mir
„Erst drückt er hier herein, wie die Kälte und dann stellt er einen Koffer ab.“
Jetzt gab es für Michel kein Halten mehr. Dieses unverschämte und so freie Lachen zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht und ich wusste, dass es Nicolas genauso ging. In dem Moment prustete Nicolas los und Michel kriegte sich nicht mehr ein. Nicolas startet eine Kitzelattacke gegen Michel, was dessen Lachflash noch verstärkte. Allerdings wusste sich dieser zu wehren: War Nicolas doch ebenso kitzelig wie er. Zudem fühlte er sich im Vorteil, weil er im Gegensatz zu Nicolas mit einer Boxershort bekleidet war. Tatsächlich gewann Michel die Oberhand; was half es also? Ich sah mich veranlasst meinem Mann zum Zwecke der Zwergen-Abwehr zu Hilfe zu eilen. Und ich bin NICHT kitzelig (zum Leidwesen meiner Mitbewohner). So war es mir ein Leichtes Michel in Schach zu halten, zumal ich ihn damit ärgerte, dass ich ihn hin und wieder an seinem Hosenbund zupfte, wodurch er immer glaubte seine Hose festhalten zu müssen. Als sich dann auch noch Nicolas auf Michel stürzte, empfand ich das wiederum unfair und begann daher auch ihn zu kitzeln. Die beiden quietschen um die Wette, was mir ein herzhaftes Lachen entlockte. Da lagen sie nun wie die Maikäfer auf dem Rücken und schnappten nach Luft. Längst hatten sie jegliche Gegenwehr eingestellt; dafür war in Michels Schlappershorts eine deutliche Reaktion zu erkennen, wie er plötzlich selbst bemerkte. Blitzschnell rollte er sich zu Nicolas hin zusammen. Der hatte seinen linken Arm unter Michels Nacken gefädelt und warf mir einen halb fragenden – halb hilflosen Blick zu. Ein Blick auf Nicolas Zeitanzeigegerät verriet, dass es Sonntagmorgen um sieben Uhr war. So schüttelte ich nur den Kopf, deckte alle Beteiligten ordentlich zu und drehte mich nach außen. Schnell waren wir alle noch einmal eingeschlafen. Ich erwachte erst wieder, als sich Michel an meinen Rücken drückte und mir schlafenderweise ins Genick pustete. Auf dem Wecker direkt vor meiner Nase erkannte ich, dass es inzwischen zehn Uhr durch war. Ich lauschte einen Moment und hörte auch Nicolas leise vor sich hin ruseln. Vorsichtig schälte ich mich aus dem Bett.
Als ich nach einer ausführlichen Dusche immer noch nichts von den beiden hörte, zog ich mich an und begab mich in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten. Naja, es würde wohl eher in einen Brunch ausarten. Kaum hatte ich die Kaffeemaschine angestellt, erschien auch schon Nicolas in der Küche. So wie es aussah kam er direkt aus dem Bett.
„Gibt es schon Kaffee?“
„Dauert noch einen Moment, Menne. Hast schon noch Zeit, dir was anzuziehen, bevor unser Herr Sohn auch aufkreuzt.“
„Was ist mit mir?“ Schon stand auch Michel in der Küche, nach wie vor nur mit seiner Boxer bekleidet und gähnte herzhaft.
„Auf geht’s, anziehen! Gleich gibt’s Frühstück. Auch eine heiße Schoki, Michel?“
„Au ja, bitte.“
„Okay, Jungs! Bis gleich“ Mit einem Schmunzeln beobachtete ich, wie sich die beiden trollten.
Michel drehte sich mit dem Rücken zu mir und rutschte näher an mich heran. In dieser Löffel-Stellung lag sein Kopf zwar auf seinem Kissen, aber mein Arm war immer noch unter seinem Hals hindurchgefädelt. Reflexartig winkelte ich meinen Arm an und hielt Michel nun mit meiner Hand auf seiner Brust fest. Sofort legte er seine linke Hand auf die meine. Sein ruhiger Atem verriet mir, dass auch das ein Reflex war und er tief und fest zu schlafen schien. Wieder fiel mir der erwähnte Sonntag ein, an dem der Brunch außerdem dazu diente, unseren ersten gemeinsamen Urlaub zu planen:
Urlaubsziel sollte Usedom sein und zwar mit dem Zug, darüber herrschte Einigkeit in der Familie. Es erhob sich nur die Frage nach der Unterkunft: Hotel oder Ferienhaus?
Michel ließ die Schultern hängen.
„Ich war schon ganz lange nicht mehr in den Ferien weg. Als ich ganz klein war zum letzten Mal, aber daran erinnere ich mich nicht mehr“, sagte er mit traurigem Unterton.
„Na dann wird’s höchste Zeit!“, versuchte ihn Nicolas aufzumuntern,
„Vorteil einer Ferienwohnung wäre sicher, dass wir unter uns wären, allerdings müssten wir uns selbst versorgen.“
„Ich bin für ein Hotel, schließlich brauchen wir alle Urlaub. Da könnten wir uns einfach Mal verwöhnen lassen“, meinte ich schließlich.
„Aber was das kostet!“, warf Nicolas ein.
„So teuer ist das auch wieder nicht, das könnten wir uns schon gönnen.“
„Wenn du meinst, von mir aus gerne. Michel?“
„Oh, Hauptsache wir fahren mal weg!“, strahlte er.
„Gut. Also ein Doppelzimmer für uns und ein Einzel für Michel“, stellte ich fest, „dann lasst uns Mal das Netz befragen.“
Im Augenwinkel bemerkte ich, wie mich Michel jetzt wieder traurig ansah.
„Hey, was ist?“, fragte ich ihn erstaunt.
Unsicher schaute er zwischen Nicolas und mir hin und her. Leise erwiderte er:
„Ich mag aber nicht alleine schlafen.“
„Aber du hast doch hier auch dein eigenes Zimmer.“
„Ja schon, aber da bin ich zuhause.“
Es war schon erstaunlich, dass dieser 16-jährige kein eigenes Zimmer haben wollte, wie wohl alle sonst in seinem Alter.
„Das heißt, du hättest gerne ein Dreibettzimmer mit Nicolas und mir?“, fragte ich direkt nach.
„Ja bitte!“, kam es unverzüglich von unserem Sohn.
Die kurze Zeit, die er jetzt bei uns war, reichte offensichtlich noch nicht aus, ihm das Grundvertrauen zurückzugeben, das ihm auf so brutale Art genommen wurde. Immerhin schien er sich so sicher und geborgen zu fühlen, dass er unsere Nähe der Einsamkeit vorzog, in die er sich einige Zeit geradezu verschanzt hatte. Das wiederum gab mir ein Gefühl von Stolz und das Bewusstsein, doch alles oder zumindest das meiste richtig gemacht zu haben; und Nicolas dürfte es ähnlich empfunden haben, wie ich ihn kannte.
Am 26.Juli würden die großen Ferien beginnen. Wir einigten uns darauf, in der zweiten oder dritten Woche für 14 Tage fahren zu wollen.
Jetzt, Anfang Januar waren wir noch einigermaßen zeitig dran. Die große Touristikmesse „CMT“ war ja erst Ende des Monats. Schon mit der zweiten Anfrage hatten wir Glück und konnten im Strandhotel Karlshagen ein großzügiges Maisonette-Appartement reservieren.
Wir würden mit der Bahn fahren, weil keiner Lust auf nervige Urlaubs-Staus hatte. Ungewöhnlicherweise sollte die Anreise am Dienstag und die Abreise am Montag erfolgen. Das versprach immerhin nicht ganz so volle Züge. Die Verbindungen, die die Deutsche Bahn zu bieten hatte, reichten von dreimal bis zu sechsmal umsteigen. Erstaunlicherweise sollte die Reisezeit umso kürzer sein, je öfter man bereit wäre umzusteigen. Leider kann man sich heutzutage bei der DB AG nicht mehr darauf verlassen, dass alle Umstiege zuverlässig funktionieren. So wählte ich eine Verbindung mit nur wenigen, wenn auch vergleichsweise langen Umsteigezeiten. Über Stuttgart – Berlin – Züssow – Zinnowitz würden wir unser Ziel Karlshagen in gut zehneinhalb Stunden erreichen. Sollte die Bordverpflegung im ICE nicht funktionieren, würden wir uns in Berlin mit etwas Essbarem versorgen können.
Als alter FKK-Fan war ich gespannt, wie sich Michel wohl verhalten würde. Bevor wir unseren ersten Tag am Strand verbrachten, versicherten wir Michel, dass er sich nicht komplett würde ausziehen müssen, wenn er nicht wollte, das wäre hier am Strand von Karlshagen nicht mehr so „hardcore“ wie früher. Als er jedoch nach seinem x-ten Sprung ins kühle Nass eine trockene Hose anziehen wollte, hielt er kurz inne und rannte fortan ebenfalls nur noch nackig herum. Nicolas und ich hatten fast den Eindruck, als ob er überhaupt nie wieder etwas anziehen wollte, selbst nicht, wenn er für sich oder uns an dem Strandbuggy Eis oder Getränke kaufen ging. Wir beiden waren uns allerdings auch einig, dass er sich in keinster Weise zu verstecken brauchte.
Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass dieser Urlaub zu einer noch tieferen Vertrautheit in unserer kleinen Familie führte. Michel schien zu verinnerlichen, dass er absolut nichts zu befürchten hatte.
Doch auch die schönsten Ferien gingen einmal zu Ende.
Schneller als uns allen lieb war, hatte uns der Alltag wieder voll im Griff.
Buchstäblich mit Feuereifer engagierte sich Michel zum Ausgleich dafür nun ebenfalls bei den Nürtinger Eisenbahnfreunden: Keine Arbeit war ihm zu viel oder zu schmutzig. Oft stand er eine halbe Stunde unter der Dusche im Lokschuppen bis er wieder seine normale Hautfarbe hatte und Paul lobte seinen Einsatz in den höchsten Tönen. Es erfüllte mich mit Stolz, dass „unser Sohn“ nach so kurzer Zeit so konzentriert bei der Sache war und es war mir eine große Freude zu sehen, dass er nicht nur neue Freunde gefunden hatte, sondern auch echte Anerkennung erfuhr. Bald würde er siebzehn und es wäre dann nur noch ein Jahr, zu dessen Ende er seinen Dampflokheizer würde machen können. Fleißig lernte er neben der Praxis auch die notwendige Theorie.
Er ließ fast keine Sonderfahrt aus, bei der er nicht als „Heizerstift“ mitarbeitete, auch wenn Nicolas oder ich mal nicht dabei waren.
Auch seine Leistungen in der Schule konnten sich sehen lassen.
A propos Schule:
Eines Donnerstagnachmittags läutete unser Festnetztelefon, was zwischenzeitlich sehr selten vorkam.
‚Wird wohl wieder so ein unangenehmer Werbeanruf sein‘, dachte ich noch. Entsprechend „vorgespannt“ nahm ich das Mobilteil in die Hand und erkannte die hiesige Vorwahl.
„Sebastian Klein“
„Äh – hier spricht Dr. Zwanziger. Ich bin der Direktor an der Schule Ihres – äh Sohnes.“
‚Der Mann hat einen Stock verschluckt, das hört man schon am Telefon‘, dachte ich etwas amüsiert bei mir.
„Herr Zwanziger, ich weiß wer Sie sind. Was verschafft mir die Ehre Ihres Anrufes?“
„Äh – ja, ich muss Sie bitten vorbei zu kommen und Ihren Herrn Sohn abzuholen.“
„Was ist passiert, Herr Zwanziger? Kann er nicht einfach nach Hause kommen, wie sonst auch?“, fragte ich ihn mit einem etwas mulmigen Gefühl im Bauch.
„Äh – es ist so: Es gab eine Schlägerei und er hat sich ein blaues Auge eingehandelt.“
„Eine Schlägerei? Wieso das denn?“
„Äh, naja, er hat sich mit einem Klassenkameraden geprügelt. Ich würde die Umstände gerne in Ihrer und der Anwesenheit der Eltern des Gegenübers persönlich klären.“
„Okay, Herr Zwanziger“, seufzte ich, „bin in zwanzig Minuten da“
„Gut, Herr Klein, dann bis äh – gleich.“
Kopfschüttelnd steckte ich das Telefon zurück in die Ladestation und machte mich auf den Weg zur Schule.
Vorher schrieb ich Nicolas noch eine WhatsApp wo ich wäre und dass es evtl. später werden könnte.
Als ich das Schulhaus und wenig später das Rektorat betrat, musste ich sehr an mich halten um nicht los zu lachen: Da saßen die beiden Kontrahenten einträchtig und lädiert neben einander. Des einen linkes und des anderen rechtes Auge waren blau und zugeschwollen.
Stumm sah ich vom einen zum anderen und zog instinktiv meine rechte Augenbraue nach oben.
Mit einem „guten Tag Herr Klein“ riss mich der Direx aus meiner Bildbetrachtung.
„Guten Tag, Herr Direktor“, erwiderte ich und drehte mich zu ihm.
„Einen Moment noch, Herr von Derschau müsste auch gleich da sein.“
Im selben Moment wurde die Tür aufgerissen und ein Herr mittleren Alters polterte völlig unadelig ins Zimmer.
„Was ist denn hier los?“, schnaubte er unwirsch.
Als er meiner gewahr wurde, stutzte er und blieb mit offenem Mund stehen.
„Guten Tag, Herr von Derschau“, nutzte der Direx die entstandene Pause.
„Darf ich vorstellen: Das ist Herr Klein. Herr von Derschau“
„Guten Tag Herr Dr. Zwanziger, guten Tag Herr Klein.“
Herr von Derschau schien seine Fassung wieder gefunden zu haben. Zögernd streckte er mir seine Hand entgegen. Grinsend ergriff ich sie.
„Hallo Herr von Derschau.“
„Sie – äh – sie sehen so normal aus“, fabulierte er blödsinnig. Wieder zog ich meine Augenbraue nach oben.
„Was haben Sie denn erwartet?“, tat ich unwissend und drückte seine Hand bewusst noch fester als sonst. Er starrte geistesabwesend auf unsere Hände.
„Naja“, stammelte er weiter, „nachdem was mir mein Sohn von Ihnen erzählt hat…“
„Was hat er denn erzählt?“, ließ ich ihn zappeln.
„ Na, dass… also ich weiß auch nicht. Na dass Sie homosexuell sind!“
„Ach, hat er das?“, tat ich verwundert, „und jetzt haben Sie gedacht, dass ich hier im rosa Tütü erscheine? Das habe ich heute zuhause gelassen. Nein, Scherz beiseite, Herr Dr. Zwanziger?“, wandte ich mich nun betont förmlich an den Direktor.
„Mir scheint, dass hier erhebliche Vorurteile im Spiele sind. Aber weshalb sollten wir beide“ – dabei deutete ich zwischen Herrn von Derschau und mir hin und her – „denn unbedingt hier erscheinen?“
„Äh, nun ja, Ihre Söhne haben sich geprügelt, wie Sie sehen!“
Herr von Derschau fuhr herum, denn die beiden Verursacher dieser Zusammenkunft saßen bislang in seinem Rücken. Kurz stutzte er, dann prustete er los und schien sich gar nicht mehr beruhigen zu wollen. Auch ich musste jetzt schmunzeln.
„Lach nicht so blöd, das tut ganz schön weh!“, motzte jetzt Florian von Derschau seinen Vater an. „Der hat angefangen“, fuhr er weinerlich fort.
Es war ganz gut, dass jetzt nicht Michel als das Weichei dastand. Herr von Derschau gluckste zwar noch vor sich hin, schien aber auch wütend zu sein und herrschte Michel an:
„Und wieso?“
Der blieb ganz ruhig und sah seinem Gegenüber direkt in die Augen. Zufrieden dachte ich bei mir, dass er das sehr gut machte, allerdings war ich jetzt nicht minder neugierig, was wohl diese Aktion ausgelöst hatte, war Michel doch seit geraumer Zeit sehr ausgeglichen und längst nicht mehr so aufbrausend wie an manchen Anfangstagen bei uns. Mit fester Stimme beantwortete er mit einem vorwurfsvollen Unterton die an ihn gerichtete Frage, ohne jedoch Herrn von Derschau aus den Augen zu lassen.
„Flo hat meine Eltern als Schwuletten und Schwanzlutscher bezeichnet. Da ist mir die Hand ausgerutscht“
Ich erstarrte einen Moment, wie auch mein Gegenüber.
„Stimmt das, Florian?“, wollte nun der Schulleiter wissen.
Der angesprochene trat die Flucht nach vorne an:
„Ja, ist doch wahr. Mein Vater sagt immer, dass das verboten gehört und er es nicht versteht, dass diese Schwulen jetzt auch noch heiraten dürfen und Kinder adoptieren.“
Dr. Zwanziger atmete hörbar aus.
„Nun ist’s aber gut! In welchem Jahrhundert leben wir eigentlich? Mir scheint, ich muss mir mit meinen Kollegen etwas einfallen lassen.“
Letzteres sagte er mehr zu sich selbst.
Herr von Derschau funkelte die Anwesenden böse, aber auch verunsichert an. Es war deutlich zu spüren, dass sein bisheriges Weltbild gehörig ins Wanken geraten war. Direktor Zwanziger fand schnell zu seiner Contenance zurück.
„Nun, mir scheinen Ursache und Wirkung geklärt. Über Konsequenzen wird das Kollegium entscheiden. Dabei wird auch das übrige Verhalten von Florian und Michel bei anderen Gelegenheiten beleuchtet und in die Entscheidungen mit einfließen. Ich danke Ihnen, meine Herren, für Ihr unverzügliches Erscheinen. Und jetzt raus hier aus meinem Büro!“
Fast meinte ich, das ihm eigene Augenzwinkern zu entdecken, das mir schon bei unserer ersten Begegnung aufgefallen war, als Nicolas und ich Michel an seiner Schule angemeldet hatten.
Nichtsdestotrotz wollte auch ich jetzt so rasch wie möglich nach Hause und war schon im Begriff das Rektorat gerade mit einem allgemeinen Gruß zu verlassen, als ich bemerkte, dass Michel Florian leicht, fast freundschaftlich auf den Oberarm boxte und umgekehrt. Lag da nicht ein verhaltenes Grinsen auf den Gesichtern der beiden Hallodris?
Bevor ich das weiter analysieren konnte, trat mir Florian gegenüber und verabschiedete sich mit niedergeschlagenen Augen und einem Handschlag:
„Es tut mir leid, auf Wiedersehen“, brachte er gerade noch so hervor. Nun immerhin…
Von Derschau sen. indes nickte mir konsterniert zu, verabschiedete sich schnellstens von Direktor Zwanziger und schob von Derschau jun. zur Tür hinaus.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, meinte Dr. Zwanziger und sah mich dabei etwas ratlos an, allerdings verriet sein Blick, dass er bereits an einer umfassenden Reaktion arbeitete.
„Ich dachte, wir hätten derlei Probleme an dieser Lehranstalt längst ad acta gelegt. Es tut mir leid, Herr Klein. Bitte richten Sie Nicolas einen schönen Gruß von mir aus.“
Michels fragendes Gesicht in Verbindung mit seinem Veilchen ließ mich grinsen.
„Ach, du wusstest nicht, dass Nicolas auch an diesem Institut war?“, wandte sich der Direx an Michel noch bevor ich reagieren konnte.
„Leider hat er keine allzu guten Erinnerungen daran. Gute Nacht“, setzte er noch nach, öffnete die Tür und verabschiedete sich endgültig für heute.
Fast anderthalb Jahre wohnt Michel jetzt wieder hier bei mir. Wir sind wieder das, was Nicolas und ich von Anfang an für und mit Michel sein wollten: Eine Familie. Und doch ist etwas anders als zu Beginn: Natürlich: Nicolas ist nicht mehr da. Dafür kommt Paul sehr regelmäßig zu uns. Nein, nicht ‚dafür‘, das klingt wie ein Ersatz. Nicolas ist für mich nicht zu ersetzen. Und nach etwas ‚Neuem‘ ist mir nicht mehr zumute. Ich weiß nicht warum; vielleicht weil ich das Gefühl hätte, Nicolas zu betrügen?
Auch scheint sich zwischen Michel und Paul etwas anzubahnen. Doch Michel schläft sehr häufig bei mir (nicht „mit“, nur zur Klarstellung) und scheint seinem neuen Freund auch klar gemacht zu haben, dass er nicht vorhabe, das sein zu lassen. Das wiederum akzeptiert Paul ohne den geringsten Anflug von Eifersucht; dabei könnte er doppelt eifersüchtig sein, hatte er doch auch einmal ein Auge auf mich geworfen.
Stattdessen haben wir so manche Nacht zu dritt in einem Bett verbracht. Dabei stand immer die schlichte körperliche Nähe im Mittelpunkt. Irgendwie hat das allen Beteiligten enorm viel Geborgenheit und Ruhe gegeben, sodass wir immer tief und fest schlafen konnten. Den Anteil Erotik zu bemessen, überlasse ich hier dem geneigten Leser.
Oft habe ich schon darüber nachgedacht, wie denn unser ‚Verhältnis‘ am besten zu beschreiben wäre und komme immer wieder darauf, dass ‚Familie‘ das treffendste ist. Eben das, was für Michel das wichtigste war und ist. Inzwischen hat mir Michel tränenreich gestanden, warum er mit 18 einfach verschwunden ist. Wie Nicolas vermutet hatte, war es „ein anderer Kerl“, der unseren Michel jedoch regelrecht manipuliert hatte. Er wollte nicht als Freund bei uns vorgestellt werden und hat ihm letztlich gar den Umgang mit uns verboten. Die Nachricht von Nicolas` Tod hat Michel dann auf sehr schmerzhafte Weise aus dieser Abhängigkeit gerissen. Seither gewöhnt sich Michel nur ganz allmählich wieder daran, beispielsweise alleine in seinem Zimmer zu schlafen. Zugegebenermaßen tut es mir gut, wenn ich merke, dass Michel in meinen Armen völlig entspannt zur Ruhe kommt, egal was am Tage vorgefallen sein mag. Ähnlich wie damals bei Nicolas, stelle ich mit Genugtuung fest, dass er in dieser Konstellation geradezu aufblüht.
Wir hatten alle drei schon immer diese besondere Verbundenheit zur ‚Dampfeisenbahn‘, etwas was es eigentlich gar nicht mehr gibt und schon gar nicht dem Mainstream entspricht, wie es Paul früher einmal festgestellt hat. Anders als Nicolas hat Michel aber ein sehr geschicktes, praktisches Händchen für diese alte Technik, weshalb er inzwischen endlich zum Heizer geprüft werden will.
Die alljährliche Nikolausfahrt mit unserer stolzen Schnellzugdampflokomotive 03 188 führt diesmal über die „Gäubahn“ nach Konstanz am Bodensee und soll seine Prüfungsfahrt werden.
Zwar haben wir schon den 14. Dezember, doch hat sich der Begriff „Nikolausfahrt“ für dieses jährliche Dampfzug-Sonderfahrten-Programm etabliert.
Am frühen Morgen sind wir bei herrlichem Sonnenschein gestartet. Unser Marketing-Ausschuss im Verein hat ganze Arbeit geleistet: Der Zug ist restlos ausverkauft. Acht Wagen einschließlich Speisewagen bedeuten ordentlich Arbeit für unser Zugpferd und vor allem für den Heizer. Gleichwohl ist Michel körperlich fit und mental gut vorbereitet.
Die Hinfahrt zum Konstanzer Winterzauber dient Michel gewissermaßen als „Generalprobe“ für die auf der Rückfahrt ab Singen angesetzte Prüfungsfahrt. Soweit hat alles bestens funktioniert. Nur einmal hat er ein paar Schaufeln Kohlen zu viel hintereinander verfeuert, so dass die „Ackermänner“ (Sicherheitsventile) aufgemacht haben und der hart erarbeitete Dampf ungenutzt gen Himmel gezischt ist. Doch das war nicht seine Schuld, denn die Verzögerung bei der Abfahrt war nicht vorherzusehen. Aber etwas muss ja bei einer Generalprobe schiefgehen. Von daher ist alles im grünen Bereich.
Paul und ich haben dann den ganzen Tag versucht den Jungen etwas abzulenken.
Es ist ja einiges geboten:
Das einzigartige Weihnachtsschiff mit 360° Panorama „Ice-Bar“, 100.000 Lichter, rund 150 zauberhafte Hütten in denen regionale Produkte aus der Vierländerregion Bodensee angeboten werden. Vom Hafen mit den traditionellen Hütten bis in die mit Sternen geschmückte historische Altstadt erstreckt sich dieser Weihnachtsmarkt am See mit seinem romantischen Lichtermeer und lädt zum gemütlichen Flanieren ein. Besondere Genussmomente, die obligatorische Weihnachtsmusik, duftende Leckereien wie „Dünnele“ und unzählige Geschenkideen erzeugen in Konstanz ein Fest für alle Sinne. Und das direkt am Bodensee.
Das Lichtermeer können wir gar nicht richtig genießen, müssen wir doch unsere Lokomotive rechtzeitig für die Rückfahrt vorbereiten.
So einfach wie mit einer Ellok von heute ist das ja nicht.
Auf der Hinfahrt habe ich mich mit Paul am Regler abgewechselt und der hat Michel bei seiner Tätigkeit nochmal „gecoacht“, was aber nicht mehr wirklich notwendig war. Michel hat auch darauf bestanden, die gesamte Fahrt den harten Job komplett selbst zu machen.
Nun auf der Rückfahrt beschränkt sich meine Aufgabe auf die des „Beisitzers der Prüfungskommission“.
Prüfer ist Franz Ölschläger, hart in der Sache, aber menschlich äußerst angenehm.
Er hat Michel gleich von vorneherein die Nervosität genommen, indem er ihn in ein lockeres, bisweilen heiteres Gespräch verwickelt hat. Dabei hat Michel gar nicht bemerkt, dass er schon mitten in seiner Heizerprüfung steckt. Routiniert hat er alle Schmierstellen mit Öl versorgt. Fünf Tonnen Steinkohle wurden schon am Mittag nach unserer Ankunft in Konstanz geliefert. Auch der 34 Kubikmeter fassende Wasserbehälter des Tenders ist randvoll. So sind wir für die Heimfahrt gerüstet.
Es ist Nacht draußen. Winterliche Kühle wabert durch die offenen Fenster herein. In den Ecken vor mir stehen Paul und Michel; Paul rechts, Michel links.
Es riecht nach Stahl, heißem Öl und Kohlenstaub. An einer undichten Rohrverbindung hängt ein im Dunkeln funkelnder Wassertropfen. Das leise Summen der Lichtmaschine ist zu hören. „Tscht“, zischend zerplatzt der herunter gefallene Tropfen auf der heißen Feuertür. Draußen brennt ein rot leuchtender Punkt in der nächtlichen Schwärze. Das Wasser in den beiden Kontrollröhren schaukelt etwas, Manometer, Tachometer, Pyrometer, Schieberkastendruck…..der ganze „Uhrenladen“ schimmert matt beleuchtet. Ein neuer Tropfen hängt an dem Rohr, gestört durch ein kurzes, heftiges Scheppern von Blech; in die beiden Jungs kommt sofort Bewegung. Draußen brennen jetzt zwei matte Lichter, ein gelbes, ein grünes, die beiden Flügel des Signals müssen nun in Schrägstellung stehen.
Die Steuerung einkurbelnd, ruft Paul „Ausfahrt Frei, langsam!“ Michel reagiert mit einer kurzen Wiederholung der Signalansage. Die rechte Hand am Fensterrahmen, die linke am Dampfregler, stemmt Paul diesen kurz auf, reißt ihn sofort zurück, pumpt ihn wieder auf und zu, um ein Schleudern der drei Antriebsachsen zu verhindern. Hinter dem Tender hängen immerhin knapp 400 Tonnen, die es in Bewegung zu setzen gilt.
Ein langes Zischen zieht sich unter der Lok hinweg, die nächtliche Landschaft beginnt sich zu bewegen, der Stahl fängt an zu leben, das Stemmen der Stangen und die ganze Bewegung ist bis in die Beine zu spüren. „Wuff!“, die Zylinder geben die erste Ladung gepressten Dampfs frei, der donnernd durch die Esse ins Freie kracht. Eine halbe Radumdrehung ist geschafft. Der zweite Auspuffschlag erfolgt – eine Umdrehung. Immer schneller werden die Geräusche, plötzlich überschlagen sie sich und die Lok fängt an zu trampeln. Der Meister hat sie im Griff, ein kurzes Zurückreißen des Reglers vermindert den Zylinderdruck. Vorsichtig wieder öffnen, die Lok beruhigt sich und beschleunigt nun willig ihre Last.
„Schttt“, die Schippe streicht über die Schaufelbühne und sticht in die Kohlen. Das knapp vier qm messende Feuerbett ist gefräßig und will gefüttert werden. Mit jedem Aufreißen des Feuerloches, das der Lokführer für seinen Heizer macht, schlägt für Sekunden greller Lichtschein in das Führerhaus. So geht das jetzt dauernd, auf, zu, auf, zu, die Maschine arbeitet in einem sich ständig steigernden Schwerlastrhythmus. Dazwischen das heftige Zischen der Dampfstrahlpumpe, wenn Michel damit Wasser aus dem Tender in den Kessel drückt. In 4 Minuten einen guten Kubikmeter.
Längst sitzt Franz auf dem Heizersitz. Michel kommt jetzt eh nicht zum Sitzen und Franz ist aus dem Weg. Ich stehe im Winkel hinter Paul, so bin auch ich „aufgeräumt“ und die Jungs können agieren.
Von ihm unbemerkt, beobachte ich meinen Sohn und bin zugegebener Maßen einmal mehr ziemlich stolz auf ihn.
Unsere Tachonadel zittert sich langsam nach oben, geduldig, Zehnerschritt für Zehnerschritt, 100 km/h lautet der Plan. Diese muss sie mit einem Gesamtzuggewicht von 750 Tonnen noch bequem erreichen. Wir liegen 200 darunter. Die Nadel hat sich auf 100 km/h eingependelt, 130 könnte sie. Der Lokführer zieht den Regler zu, es wird plötzlich leise auf der Maschine. Nur das metallische Rollen der Räder und das Rauschen der wirbelnden Stangen sind zu hören.
Es geht in eine Linkskurve und zwei schräggestellte grüne Punkte tauchen in der Dunkelheit auf. „Vorsignal frei!“ ertönt es von Michel, der hinter Franz aus dem Fenster hängt. Franz zwinkert mir zu, von den beiden Hauptakteuren unbemerkt. Mehrere Signalbilder tauchen auf. „Einfahrt steht, Ausfahrt steht!“ „Durchfahrt frei!“, quittiert Paul, als die Signalbilder der kleinen Unterwegsstation auf seiner Seite erkennbar werden.
Wir rollen weiter durch die Nacht, unserem Heimatbahnhof entgegen.
Michel macht seine Sache sehr gut.
Fehlt noch der Nachweis, dass er als Heizer den Zug zum Stehen bringen kann.
Mit dem Anflug eines Lächelns macht Paul Michel auf der Lokführerseite Platz. Zwar hätte es genügt, wenn Michel einfach den Zug mit seinen 400t gebremst hätte. Mit Fahrgästen an Bord macht sich das "einfach so" jedoch nicht so gut, weshalb wir abgesprochen hatten, dass er den Aussteigehalt in Horb übernehmen sollte. Am Bahnsteiganfang hat unsere Eisenbahn noch über 70km/h drauf. So kommt bei mir eine leichte Anspannung auf, doch ich vertraue auf die Fähigkeiten meines Sohnes. Schon hat er die Bremsung beherzt eingeleitet. Kurz vor dem Anhalten verlegt er das Bremsventil wieder in die Lösestellung und kommt so wie ein ausgebuffter Profi exakt auf Höhe der H-Tafel fast ohne einen Ruck zum Stehen. Franz nickt anerkennend und Michel grinst halb verlegen, halb stolz.
In Tübingen steigt Franz Ölschläger ab, nicht ohne Michel zur bestandenen Prüfung zu gratulieren. Der strahlt über beide Ohren und genießt meine Umarmung.
Als wir nur noch zu dritt auf dem Führerstand sind, zieht Paul ihn an sich und gibt ihm einen innigen Kuss.
Die Anspannung hat sich gelöst.
Es riecht nach Schnee, die weihnachtlich bunten Lichter an den Häusern und in den Ortschaften fliegen vorüber. Sie zaubern eine schöne, teils besinnliche, teils fröhliche Stimmung an Bord. Alle können wir nun die restliche Fahrt durch die Nacht genießen.
Durchs obere Neckartal kommen wir pünktlich nach Hause.
Michels Urkunde hat mir Franz vorher in einem unbeobachteten Augenblick zugesteckt.
Diese überreiche ich meinem Sohn dann am Heiligen Abend in dem Bewusstsein, ihm damit eines seiner schönsten Weihnachtsgeschenke zu machen. Wobei man freilich zugeben muss, dass er sich dieses ja im Grunde selbst gemacht hat. Mit einem Fleiß und einer Beharrlichkeit, die ihm vor sechs Jahren niemand zugetraut hätte.
Ich bin mir jetzt ganz sicher, dass Michel nach seinem Abschluss als „Eisenbahner im Betriebsdienst“, also der Ausbildung zum „Eisenbahnfahrzeugführer“ bei uns in der Firma auch umgehend seine „Reglerberechtigung“ auf der Dampflok ablegen und bestehen wird. Damit wird er einer der ganz wenigen in Deutschland sein, die nicht nur moderne Diesel- und Elloks fahren dürfen, sondern auch alte Dampfloks. Aber das ist aus heutiger Sicht – so widersprüchlich es klingen mag – Zukunftsmusik.
Nachwort
Allen, die dieser Tage eine Prüfung – gleich in welchem Fach – bestanden haben „herzlichen Glückwunsch“ und Frohe Weihnachten Euch allen.
PS: Eine Adoption durch gleichgeschlechtliche Partner, wie beschrieben, ist in Deutschland (noch) nicht möglich, die Geschichte spielt also in einer fiktiven Zukunft…
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