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Ende und Anfang

Part I / II

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Inhaltsverzeichnis

Part I

Thorsten schaute aus dem Fenster auf die langsam dunkler werdende Straße.

Die Schatten wurden länger und bedeckten das Licht des Tages.

Ewigkeiten starben in diesem Moment.

Ein wahnsinniger Tag ging zu Ende. Er war so wahnsinnig gewesen, dass Thorsten glaubte, alles wäre nur ein besonders schlechter Scherz seiner Kollegen gewesen. Auf der Arbeit war es wie immer frustrierend, alle mieden ihn und schnitten ihn, wo es ging. So war es heute auch wieder gewesen, und er hatte sich schon morgens, als er seinen Wagen auf dem Firmenparkplatz abgestellt hatte, auf den Feierabend gefreut.

Endlich diesem immer fortwährenden Drama zu entfliehen wenigstens für die Stunden, wenn er zu Hause war.

Was ist Zuhause?

Bis jetzt hatte er es nie gebraucht. Zuhause war, um zu schlafen. Nicht mehr und nicht weniger.

Als er damals eingestellt wurde, freute er sich auf jeden Arbeitstag und machte freiwillig Überstunden, bis er fast umfiel. Er stieg somit sehr schnell im Unternehmen auf und wurde bald darauf vom einfachen Einkauf in den internationalen Großeinkauf versetzt. Er liebte den Stress, er bemerkte die Zeit nicht. Sie spielte ja auch keine Rolle. Die Uhren laufen anders im internationalen Geschäft.

Hier wollte er immer hin, und nun hatte er es geschafft, er hatte es allen gezeigt. Allen, die ihn verspottet hatten, die in ausgrenzen wollten. Seit den Tagen in seiner Kindheit, wo ein Teil von ihm verloren ging, arbeitete er gegen alles, er verdrängte erst die Zeit, dann sein Leben. Bis zu diesem schicksalhaften Tag.

Timat wechselte von einer Zweigstelle in die Hauptzentrale in Thorstens Abteilung. Dies war für Thorsten der Anfang des Endes gewesen. Ein Blitzschlag in seine Welt.

Timat, ein großer weißer Wolf.

Thorsten fiel innerlich in ein tiefes schwarzes Loch, als er ihn erblickte

Gepflegtes Fell, freudige wache Augen. Am Anfang verstanden sie sich auch sehr gut. Beide arbeiteten zusammen in einem Team. Sie arbeiteten an besonders schweren Aufträgen. Spielten sich die Bälle perfekt zu.

Thorsten war glücklich. Doch schon bald merkte er, dass er sich immer stärker zu Timat hingezogen fühlte. Irgendwann hielt er den Druck in seiner Brust nicht mehr aus.

Ein Schmerz, der anders war als alles andere.

Er machte ihn süchtig, er genoss ihn, und dennoch war er nicht zum aushalten. Er zerfraß Thorsten langsam Stück um Stück, bis er es nicht mehr aushielt. Er schlief Nächte lang nicht. Er stellte seine eh schon spärliche Nahrungsaufnahme für Tage ein. Dann folgte der Tag des endgültigen Endes.

Thorsten war vollkommen aufgewühlt. Sein Verstand warnte ihn vor dem Riff, auf das er zuhielt, doch das hinterhältige Biest der Liebe gab Vollgas und blockierte das Ruder.

Thorsten sprach Timat in einer ruhigen Minute an. Doch Timat knurrte ihn nur an, was er für eine perverse abnormale Kreatur er sei. Und schlimmer, er erzählte es überall in der Abteilung. Machte Stimmung gegen ihn, unterschlug ihm Unterlagen, um Thorsten schlecht zu machen.

Thorsten zerschlug es am Riff. Seine Welt begann langsam aber vorwiegend zu kollabieren. Die Reiter der Apokalypse sattelten ihre Pferde.

Seitdem mieden ihn seine Kollegen, denn für Männer, die Männer liebten, war hier kein Platz. Thorsten zog sich zurück, arbeitete nur noch im Team, wenn es nötig war, und erledigte seine Arbeit so gut es ging.

Sicherlich er machte keine schlechte Arbeit und durch die Kontakte, die er für die Firma aufgebaut hatte, wurden mehrere hunderttausend Euros eingespart. Doch das zählte jetzt alles nicht mehr, er war anderes, er war ein Störfaktor im Fluss der Zeit, ihm wurden plötzlich Projekte entzogen, die er mit Herzblut und unter vollem gesundheitlichem Einsatz aufgebaut hatte.

Und heute war es dann soweit gewesen. Auf einmal war sein Vorgesetzter ins Büro gekommen, hatte ihm einen Brief auf den Schreibtisch geknallt und war dann sofort wieder gegangen. Thorsten hatte sich total erschreckt, und das, was er sofort befürchtet hatte, stand nun schwarz auf weiß vor ihm.

Ihm wurde einfach gekündigt nach 5 Jahren, in denen er für die Firma alles getan hatte. Einfach gekündigt. Für den Rest seiner gesetzlichen Frist wurde er freigestellt mit sofortiger Wirkung. Seine Pfoten zitterten, als er den Brief zu ende gelesen hatte. Apokalypse in seiner Welt. Das Licht der grausamen Wahrheit hatte ihn wie ein Blitz getroffen und verteilte nun seinen emotionalen Körper über die Wände seines Seins.

Eine Viertelstunde hatte er so da gesessen, den Tränen nahe.

Er wurde einfach auf den Müll geworfen. Innerlich kollabierte sein Verstand. Äußerlich fasste er sich, er rief seine Geschäftsfreunde an. Freundschaften, die er innerhalb der letzen Jahre aufgebaut hatte. Er bedankte sich für die gute Zusammenarbeit.

Alle waren erschreckt, und verstanden auch nicht, warum man ihm einfach so gekündigt hatte. Sie wünschten ihm viel Glück und drückten ihre Hoffnung aus, ihn bald wieder in einer anderen Firma zu sehen.

Dann packte er seine Sachen in den gleichen Karton, mit dem er damals dieses Büro bezogen hatte. Er musste sich setzten, alles schwankte um ihn herum.

Und dann zum ersten Mal seit fünf Jahren schaltete er sein Dienst-Handy aus.

Das Piepsen des Handys durchdrang seine brennende Welt wie eine Schockwelle nach einer Atombombe. Er nahm sich einen DIN-A4 Umschlag, seufzte und legte seinen treuen Begleiter dort hinein. Schnell schrieb er noch seinen Namen auf den Umschlag, dann verließ er sein Büro. Er drehte sich in der Tür noch mal um und schloss dann ab. Den Schlüssel legte er auch in den Briefumschlag, dann verließ er das Gebäude.

Der Pförtner, der von allem nichts zu wissen schien, schaute ihn verwundert an, als er ihm den Umschlag in die Hand drückte.

»Sie verlassen uns?«

»Ja leider! Ich hab eben meine Kündigung mit Freistellung erhalten«.

Der Pförtner schüttelte nur den Kopf und wünschte ihm viel Glück. Er holte seinen Autoschlüssel aus der Tasche und setzte sich in seinen Wagen. Er hätte so los heulen können, aber diese Blöße wollte er sich nicht geben. Nicht hier.

Er verließ das Gelände zum letzten Mal. In ihm zerfiel seine Welt zu Staub.

Tränen liefen an seiner Schnauze herunter, als er wehmütig an die vergangenen Jahre dachte und seinen Kopf an die Fensterscheibe lehnte. Jahre voller Stress, ein Leben am Rande der Belastbarkeit. Er bemerkte nicht, dass ein neuer Wagen vor seinem Haus, in dem er eine Wohnung gekauft hatte, stand. Wie hätte er auch wissen können, dass dieser Wagen dem neuen Eigentümer der leer stehenden Wohnung neben seiner gehörte.

Meistens war er nur zum Schlafen zu Hause und um seine Wäsche zu waschen. Er wendete sich vom Fenster ab schaute auf die Uhr: 20 Uhr. Normalerweise würde ich jetzt noch in der Firma sein dachte er bei sich. Wieder rannen Tränen an seiner Schnauze gen Boden und durchnässten sein schwarzes Fell. Er war ein Silberfuchs Während sein Körper grau silbrig war, waren seine Schnauze, Beine, Arme, die Pfoten sowie seine kurzen Haare schwarz.

Erschreckt fuhr er zusammen, als es klingelte.

Er hatte noch nie Besuch bekommen. Von wem auch? Seine Internet- und Geschäftsfreunde wohnten alle extrem weit weg. Viele auch in Amerika oder China. Verwundert öffnete er die Tür. Vor ihm stand ein junger Husky mit weiß- schwarzem Fell und langen braunen Haaren. Er trug eine extrem knappe blaue Jeans und ein knappes schwarzes T-Shirt, welches seinen muskulösen Oberkörper unterstrich. Der Husky lächelte freundlich.

»Hallo, ich bin der neue Nachbar. Ich bin gestern nebenan eingezogen, und wollte mal kurz Hallo sagen.«

Thorsten war total verwirrt und konnte nur noch stammeln.

»Ähem, hallo, schön, Sie kennen zu lernen, kommen Sie doch rein.«

Bilder aus längst vergessener Zeit tauchten unverkennbar vor seinem inneren Auge auf. Erinnerungen erschlugen ihn fast und dennoch wusste er nicht, was geschah. Erst langsam erlangte er seine Fassung wieder. Er trat einen Schritt beiseite, und sein neuer Nachbar kam dankend herein. Der Husky streifte Thorsten leicht, als er eintrat. Thorstens kurz wieder gewonnen Fassung drohte wieder zu bröckeln. Er führte den Husky in sein kaum genutztes Wohnzimmer.

»Kann ich Ihnen was zu trinken anbieten«.

»Danke, eine Cola würde jetzt gut tun.«

Thorsten nickte lächelnd, nahm zwei Gläser aus einem Schrank, und stellte sie auf den Tisch, um dann die Cola aus dem Kühlschrank in der Küche zu holen. Er spürte die Blicke des Huskys wie brennendes Eis auf seinem Körper. Er errötete leicht.

Dieser Husky war so verdammt heiß, dachte sich Thorsten. In seinem Inneren fing es wieder an zu brodeln. Tot geglaubte Erinnerungen streckten ihre Fühler nach Thorsten aus.

Aber sicherlich wird er nur auf Frauen stehen.

Seine Gedanken begannen wie Blitze in einem Käfig zu zucken, mal hier, mal dort und immer doch woanders. Er nahm die Cola aus dem Kühlschrank und ging wieder ins Wohnzimmer. Als er zurückkam, saß der Husky breitbeinig auf der Couch und lächelte, als Thorsten wieder rein kam.

Thorsten schüttete die Cola ein und setzte sich gegenüber in einen Sessel.

Beide schauten sich musternd an. Es war nur noch das Atmen beider zu hören. Beide Blicke wanderten über den jeweiligen andern Körper. Bis sich ihre Blicke trafen. Die Welt um sie herum schien für die Ewigkeit des Moments still zu stehen. Sie hörte auf, hier und jetzt in diesem Raum zu existieren.

Die Welt bestand nur noch aus einem Husky und einem Silberfuchs. Es schienen Ewigkeiten zu sterben, bevor Thorsten aufstand und ans Fenster ging. Tränen liefen an seiner Schnauze herunter, als er den Kopf ans Fenster legte. Der Husky stand selbst mit den Gefühlen ringend von der Couch auf. Er war einen Kopf größer als Thorsten. Vorsichtig stellte er sich hinter ihn, umarmte ihn vorsichtig von hinten und drückt seine Brust an Thorstens Rücken.

Thorsten lehnte sich zurück und spürte und genoss die Wärme. Eruption der Gefühle. Die Wände brachen, die Erinnerungen kamen zurück. Dann drehte er sich langsam um, umarmte den Husky und vergrub seine Schnauze in dessen Brust. Die Pfoten des Huskys wanderten langsam und vorsichtig über Thorstens Rücken. Sie umarmten sich. Bilder der Vergangenheit holten sie ein. Schmerzen durchzogen ihre Körper.

Demütigungen lebten für kurze Zeit wieder auf. Beide hielten sich fest, konnten es nicht glauben, und doch war es wahr in diesem Moment und wenn sie wollten, für die Ewigkeit.

Part II

Lange konnten beide ihre Zweisamkeit nicht genießen. Denn das Diensthandy des Huskys klingelte. Laut und erbarmungslos klingelte und rappelte es. Der Husky knurrte leicht, als er aus der Trance erwachte

»Warum jetzt, zur Hölle«

Er streichelte sanft über den Kopf von Thorsten und löste sich dann von ihm.

Thorsten, der mittlerweile auch wieder erwacht war, blinzelte und lächelte.

»Timo hier, was gibt's?!« knurrte er ins Telefon.

»Hi Timo, Tina hier, wir haben hier ein Problem, die haben es irgendwie geschafft, unsern Cisco Router zu hacken und nun steht die ganze Produktion still. Die Chefs toben schon. Du musst so schnell wie möglich in die Firma kommen.«

»Verdammt, ich habe befürchtet, dass so was geschieht, nachdem ich die Exploits gelesen habe ist mir ja schon schlecht geworden. Fuck! Ich beeile mich. Gebt mir ne viertel Stunde, dann bin ich da«

»Super, Heinrich müsste auch jeden Augenblick da sein, bis gleich.«

Timo legte auf.

»Mist warum gerade jetzt«

Thorsten, der sich mittlerweile wieder auf das Sofa gesetzt hatte, beobachtete Timo und stellte den Kopf schief

»Was ist los?«

»Ach, die haben unseren Router in der Firma geknackt, und jetzt muss ich mal wieder die Karre aus dem Dreck ziehen.»

Er umarmte Thorsten.

»Ich bin bald für dich wieder da.«

Er drückte Thorsten schnell noch einen Kuss auf und eilte dann zu seinem Auto. Thorsten seufzte und schloss die Tür hinter Timo. Er ging ins Wohnzimmer und sah aus dem Fenster. Er sah noch, wie Timo aus der Packlücke heraus fuhr, um dann mit Vollgas zu verschwinden. Thorsten winkte den immer kleiner werdenden Rücklichtern hinterher.

Dann legte er sich auf die Couch und schloss die Augen. Der vergehende Tag zog an ihm vorüber. Er hatte seinen Job verloren und gedacht, dass dieser Tag vollkommen daneben war, und dann kam Timo seit zig grausamen Jahren endlich zurück in sein Leben.

Der schwere Motor donnerte unter der Haube, als Timo das Gaspedal weiter durchtrat. 372 bissige PS zogen an der Antriebswelle und katapultierten den M5 auf 100. Doch er hatte keine Augen für den Tacho.

In Gedanken war er immer noch bei Thorsten und kuschelte sich an ihn.

Warum mussten sie ihn jetzt stören. Es war so schön gewesen.

Der schwere Wagen bog auf die Autobahnauffahrt und das bläuliche Glühen der Lichter erhellte für Bruchteile von Sekunden den Asphalt. Der M5 heulte auf, als er abermals getreten wurde. Unbewusst drückte Timo auf den Powerknopf, die vollen 507 PS standen nun zur Verfügung. Er wurde in die Sitze gepresst. Die Tachonadel bewegte sich auf die 300 zu, wie ein Donnervogel flog der Wagen über die Autobahn, da musste Timo schon wieder abbremsen. Ausfahrt Gewerbepark.

Langsam holte ihn das Bevorstehende ein. Er seufzte. Wie oft hatte er gesagt, dass dieser Router nix taugte und zu leicht zu hacken sei - er hätte ins Lenkrad beißen können – und doch wurde der Router angeschafft, weil er ja so herrlich günstig war und vom Brachenführer kam. Er bog in die Strasse zum Firmengelände ein. Am Ende der Straße sah er schon das Leuchten der Produktionshalle. Der Fuchs am Tor grüßte ihn und öffnete schnell das Tor.

»Guten Abend, Timo, der Rest ist schon da.«

»Danke, Franz«.

Er fuhr auf das Firmengelände und stellte seinen Wagen einfach vor dem Haupteingang ab, wo bereits die beiden andern M5 von Tina und Heinrich standen. Er schlug die Fahrertür hinter sich zu und eilte in die EDV Abteilung. Fast alle Büros waren leer und dunkel. Nur die Nachtschicht, die den Betrieb überwachte, stand im Aufenthaltsraum zusammen und diskutierte über den Vorfall. Timo ging sofort durch zum Serverraum, wo er Heinrich und Tina fand.

»Da bin ich«.

Heinrich blickte kurz auf, winkte »Hey!» und hackte dann weiter auf der Tastatur rum. Tina schaute von einem Laptop hoch - »Ah da bist du ja. Hast ja lange gebraucht. Weg nicht gefunden?«

Er stellte den Kopf schief. Sie stand auf und umarmte ihn zur Begrüßung. Sie zog die Luft durch die Nase.

»Wie heißt er?«

Timo lächelte: »Dir kann man nichts verheimlichen. Thorsten, mein neuer Nachbar«

»Thorsten, Thorsten?«

Sie grübelte »Der Thorsten?«

Sie knuffte ihn

»Japp«

»Wow, das ist aber echt Zufall. Dann wollen wir uns mal beeilen, dass du schnell wieder zu ihm zurückkommst«

»Habt ihr schon raus, wo sie rein gekommen sind?«

»Yeha, schaut mal hier!«

Heinrich deutete auf den TFT Monitor vor sich.

»Wunderschön, wie im letzten Exploit von Darkness. Ich hatte euch den Artikel gegeben?«

Tina und Timo nickten.

»Japp«

»Narf, warum hören die von der Chef Etage bloß nicht auf ihre EDV Abteilung?« knurrte Timo.

»Ach, du kennst doch Herrn Holster. Keine Ahnung, aber einen auf Dickehose machen.«

Tina knuffte ihn in die Seite.

»Yeah, du sagst es Tina. Also ich schlage vor, Tina, du schaust mal die Protokolle 3, 4 und 5 nach. Du, Timo, schaust mal drüben im Serverblock 2 nach, ob sich da was regt, und ich schau mir 1 und 6 an«

»Klingt gut«

Timo schnappte sich eine blaue Keycard aus einem Wandtresor und ging rüber zum Serverblock 2, dem Herzstück der Produktionsrechner.

Leise surrend öffnete sich die Glastür. Die LEDs der Server blinkten und zeigten die Zugriffe auf die Server. Timo zog aus einem Schacht den Überwachungsport und checkte ein paar Routinen.

Thorstens Träume brachten ihn zurück in eine Zeit, die er längst verdrängt hatte, aber niemals vollkommen vergessen konnte. Eine Zeit, in der er noch selber Schüler gewesen war. Bilder formten sich vor seinem inneren Auge, erst langsam und unscharf, dann schneller und schärfer. Die Erinnerung erwachte.

Flashback

Es war Herbst. Es war eine Woche, wie sie im Bilderbuch beschrieben wurde.

Sonnig, aber nicht zu warm. Ein beständiger Wind wehte und brachte das Laub ein letztes Mal in Bewegung, bevor die endgültige Verwesung begann. Die Natur bereitete sich auf den Winter vor und die ersten Vorboten kamen bereits in der Nacht.

Es war Abend. Thorsten war auf einer Klassenfahrt und war unsterblich in einen Husky aus seiner Klasse verliebt.

Doch er traute sich nicht, ihn anzusprechen. Denn in seiner Klasse war anders sein verpönt. Wer nicht mitschwamm, war draußen, und bekam dieses sehr deutlich zu spüren. Abgesehen davon war der Husky der heimliche Schwarm fast aller Mädchen in der Jahrgangsstufe. Er hatte eine sportliche Figur, war Notenmäßig erfolgreich, und jeder mochte ihn. Er war immer freundlich, aber bestimmt, was ihm sehr schnell den Posten als Stufensprecher einbrachte. Aber er hielt sich auch immer im Hintergrund. Es wurden ihm immer wieder neue Affären mit einem der Mädchen nach gesagt, doch nie konnte man herausfinden, was Fiktion war und was der Realität entsprach.

Thorsten hatte sich von den geselligen Abendrunden geschlichen, er hielt es einfach nicht mehr aus - der Husky so nah und doch soweit. Sein Herz wollte förmlich zerspringen, so zog es ihn runter zum See. Er wollte alleine sein.

Der Tag lag bereits im Sterben, und nur noch gedämpftes Licht drang durch den Wald am Ufer. Thorsten setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm und schaute aufs Wasser hinaus. Seine Hand glitt automatisch zu seiner Hosentasche, und er zog eine Schachtel mit Zigaretten heraus. Er steckte sich eine Zigarette an und schaute dem Rauch hinterher, der vom Wind auf den See getrieben wurde.

Sein Kopf war leer und schwer. Er merkte nicht, wie es dunkel wurde, und der Wind merklich auffrischte. Wolken, dunkel und grau, zogen am Himmel vorbei und verdeckten kurz die Sicht auf die Sterne, um schon wieder weiter zu reisen. Doch von der Hast oben am Himmel bekam Thorsten nichts mit.

Tief in die Leere seines Kopfes versunken saß er auf dem Baumstamm und verrauchte langsam seine Packung Zigaretten.

Soviel hatte er seit dem letzten Referat nicht mehr geraucht. Sicherlich, rauchen war verboten auf der Klassenfahrt, aber hier draußen weit weg von den anderen würden sie eh nichts sagen.

Seine Gedanken trieben ihn in die tiefsten Tiefen seines Bewusstseins und ließen alles, was außerhalb seines Kopfes vor sich ging, in einem grauen Dunst in der Ferne verblassen. Er bemerkte nicht, wie es hinter ihm knackte, und sich jemand neben ihn auf dem Stamm setzte und sich selber auch eine Zigarette anzündete.

Der Wind drehte ein wenig und blies kalte Luft vom See auf die beiden glühenden Punkte am Ufer zu. Das Leben der Nacht erwachte langsam und eroberte sich für die Zeit der schützenden Dunkelheit die Welt zurück. Sekunden wurden zu Minuten, und Minuten zu Ewigkeiten, die starben und in sich selber neu geboren wurden.

Thorsten griff nach einer weiteren Zigarette und sucht nach seinem Feuerzeug, als vor ihm eine kleine Flamme auftauchte. Er erschrak, zuckte zusammen und fiel fast vom Baumstamm. Dann sprang er auf und drehte sich, suchte in der Dunkelheit, wer ihn so erschreckt hatte.

Das Feuerzeug fiel dem Husky aus der Hand und die Flamme erlosch. Dass sich Thorsten erschrecken würde, damit hatte er gerechnet, aber so heftig? Er musste wirklich tief in seine Gedanken abgetaucht sein.

Schnell fing sich der Husky wieder.

»Was machst du hier draußen so alleine?«

Thorsten wurde rot und setzt sich auf den Baumstamm.

»Auch wenn es mir keiner zutraut, Nachdenken«.

Der Husky nickte nur und die Stille kehrte zurück. Kleine Wellen schlugen ans Ufer und beide schauten in die Ferne. Thorsten nahm seine auf den Boden gefallene Zigarette hoch. Dieses Mal erschrak er nicht, als ihm der Husky Feuer anbot. Er nickte dankend und zog den Rauch tief ein, um ihn dann langsam entweichen zu lassen. In seinem Kopf war ein Sturm entbrannt, der ihn an den Rand des Abgrunds zum Wahnsinn brachte. Ein kleines Wörtchen, besser gesagt: ein kleines Sätzchen brachte ihn vollkommen durcheinander.

-Warum war der Husky hier?-

Gedanken kreisten, wie Herden trampelten sie die kleine ruhige Welt in seinem Kopf nieder und legten alles, was dort stand, in Schutt und Asche.

-Will er sich über mich lustig machen? Hat er etwas gemerkt, war ich unaufmerksam? -

Vorsichtig beobachtete der Husky Thorsten, ihn ihm brannte ebenfalls ein Kampf der Gedanken. Wahrheit oder ewige Lüge mit Schmerz. Er rückte näher an Thorsten. Was Thorsten nicht mitbekam, da er längst wieder in seine Gedanken versunken war.

Beide saßen da, folgten ihren Gedanken in die Tiefe und hofften insgeheim, dass etwas geschehen würde.

Die letzte Boote auf dem See kehrten zurück in den sichern Hafen, und nur noch das Leben der Nacht verursachte hier und da kleine Geräusche, die aber schnell in der absoluten Ruhe untergingen. Selbst der Schrei des Todes einer kleinen Maus, die von einem Raubtier gerissen wurde, verstummte nicht wahrgenommen in der Nacht.

Irgendwann in der Ewigkeit des Moments gewann eine Seite im Kopf des Huskys die Schlacht. So viele Möglichkeiten und so wenig Zeit. Was bedeutet die Ewigkeit, wenn man im hier und jetzt Entscheiden muss.

»Sag mal Thorsten, was ist los mit dir? Du hängst hier seit Stunden draußen und starrst auf den See hinaus.«

Thorsten zuckte kurz zusammen und ließ langsam den Rauch entweichen.

»So vieles ist mir noch schleierhaft, und dennoch habe ich Angst vor der Wahrheit. Wobei ich auf der Jagd nach dieser bin.«

Der Husky schaute ihn an und nickte dann langsam.

»So drastisch hab ich das bisher noch nicht gesehen aber ich kann nachvollziehen, was du meinst«.

Und wieder schluckte die Dunkelheit das Gespräch, und beide saßen still rauchend auf dem Baumstamm. Wie ein Mantel des Schutzes legte sie sich über sie. Plötzlich legte der Husky einen Arm um ihn.

»Wovor hast du Angst, Thorsten?«

Thorsten war wie elektrisiert, Hitze- und Kältewogen durchzogen seinen Körper. Er zuckte zusammen und konnte gar nichts mehr sagen. Eruption der Gefühle. Erdbeben. Apokalypse.

Er zog den Geruch des Huskys ein. Der Husky schaute ihn an, -tiefe und vollkommene Ehrlichkeit - Thorsten meinte, die Augen in der Nacht funkeln zu sehen.

»Hat es etwas mit mir zu tun?«.

Thorsten zuckte noch stärker zusammen. Er fühlte sich ertappt, es gab keinen Weg mehr zurück. Er nickte vorsichtig.

»Bitte sag es mir! Ich will nicht, dass jemand wegen mir Kummer hat. Hab ich dich irgendwie verletzt?«

Thorsten schüttelte leicht den Kopf.

»Was ist es dann?«

Der Husky streichelte Thorsten über die Wange. Die letzten Barrieren in Thorsten brachen. Tränen rannen ihm die Wangen herunter. In ihm brodelte es und dann kochte es über.

»Verdammt, ich bin etwas, das alle nur abstoßend finden. Ja, ich bin verliebt in einen Jungen. Fuck ja, ich bin schwul«.

Thorsten wollte aufstehen und wegrennen. Doch der Husky drückte ihn runter.

»Na und? Ich sehe nichts Abstoßendes an dir«

Er zog Thorsten zu sich und ließ ihn an seiner Brust weinen. Legte seine Arme um ihn und streichelte ihm über den Rücken.

»Ist ja gut Thorsten, ich bin doch bei dir«

Thorsten löste sich ein wenig und schaute ihn mit verweinten Augen an. Der Husky konnte nicht mehr anders und küsste Thorsten. Thorsten war wie elektrisiert. Er öffnete leicht seine Schnauze und hieß die Zunge vom Husky willkommen. Der Husky zog Thorsten zu sich hoch und beide umarmten sich innig.

Sie lösten sich kurz voneinander, um sich in die Augen zu sehen. Um sich dann in einem weiteren Kuss zu verlieren.

Die Welt verschwand hinter dem Schleier der Liebe. Sie durchschwebten einen dunklen Raum voller Wärme und Schutz.

Thorsten hörte ein entferntes Klingen wie eine Türschelle.

Er schreckte hoch. Er schaute sich um und war total verwirt. Da es klingelte wieder -Seine Haustür. Der Traum starb in sich zusammen und verpuffte, nicht ohne Spuren in Thorsten zu hinterlassen.

Noch schlaftrunken und verwirt durch seinen Traum wankte er zur Tür, um diese zu öffnen.

»Hallo Thorsten…« zu mehr kam Timo nicht mehr Thorsten war ihm an den Hals gesprungen und küsste ihn. Timo hob Thorsten hoch und trug ihn ins Wohnzimmer.

»Hat bei mir leider was länger gedauert, saß verdammt tief drin, das Mistvieh«.

Dann küsste er Timo sanft auf die Stirn und legte ihn auf der Couch ab. Sie sahen sich tief in die Augen und beide fingen an zu weinen.

Flashback

Ein kleiner Kombi voll gepackt mit Koffern und Kartons, davor ein Lkw. Der Wagen seiner Eltern. Er erkannte ihn. Wie lange hatte er diesen schon nicht mehr gesehen. Er sah sich auf der Rückbank, völlig verschreckt und verängstigt. Sein Vater schaute ihn böse im Rückspiegel an.

Stechender Schmerz.

Er hatte Schläge bezogen.

Sie verstanden ihn nicht und verboten den Kontakt mit ihm. Die Erinnerung kam wie ein Schnellzug und umfuhr ihn. Thorsten. Seine erste und einzige große Liebe.

Der Wald, der See. Die Bilder drehten sich immer schneller, immer grausamer wurde die Erinnerung.

Beide saßen sie dort, rauchten und küssten sich, und dann.....

Er wollte schreien »neiiiinn«.

Sie wurden entdeckt. Brutal auseinander gerissen und nach Hause geschickt.

Die Augen des kleinen verängstigten Silberfuchses. Sie flehten: 'Verlass mich nicht.'

Doch es war zu spät.

Seitdem hatte er ihn nie wieder gesehen. Erst bekam er eine Tracht Prügel von seinem Vater und dann verboten sie ihm den Umgang. Bis sie schließlich weg zogen.


Sie küssten sich innig. Sie vergaßen die Zeit. Sie lebten in einander auf.

Die emotionalen Körper vereinigten sich im Tanz der Gefühle zu einem Wesen, welches nie mehr getrennt werden durfte.

Lichter in der Nacht

Stimmen, grausam und aggressiv

Schmerzen, jemand zerrte an ihnen

Sie wurden getrennt – ihre Eltern benachrichtigt, Prügel, Schmerzen –

Umgangsverbot, Einsamkeit

Eine halbe Stunde lang lagen sich beide weinend in den Armen. Bis Timo langsam zur Ruhe kam. Er strich Thorsten, der immer noch schluchzend auf seiner Brust lag, über den Kopf, küsste ihn, um ihm dann tief in die Augen zu sehen.

»Thorsten«

»Timo«

Beide schauten sich mit verweinten Augen an, küssten sich. So wie damals. Nein, viel intensiver. Sie wollten sich nicht mehr von einander lösen, bis sie keine Luft mehr bekamen.

»Endlich hab ich dich wieder«

Thorsten rannen Tränen über die Wangen.

»Niemand wird uns je wieder trennen können« auch Timo rannen die Tränen über die Wangen.

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