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Hinterm Altar links

Weihnachtschallenge 2010

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„Die Ampel wechselte auf Rot und nach einer kleinen Pause senkte sich die Bahnschranke. Tom stieg vom Fahrrad, dabei behinderte ihn eine kleine Fichte, die, zusammengeschnürt, weit über den Gepäckträger hinaus ragte. Vielleicht sollte er den Drahtesel doch lieber schieben...“

Stille.

„Lies weiter, klingt super bisher!“, rufe ich aufmunternd Richtung Wohnzimmer.

„Ich hab noch nicht mehr. Ach verdammt, dass wird doch wieder nichts werden.“

Seine Stimme spiegelt erst Enttäuschung, dann Frustration wider und ich kann hören, wie er seinen Laptop zuknallt.

Ich sehe seufzend auf unseren Küchenkalender. Wir haben den 2. November. Na das kann ja wieder heiter werden.


Ich war dreizehn, als an unserer Schule die Klassen komplett neu aufgeteilt wurden. Von heute auf morgen war ich statt in der 6a, nun in der 6c und statt meines besten Freundes saβen lauter Mädels um mich herum. 26 Mädchen um genau zu sein und nur vier Jungs. Willkommen in der Sprachenklasse.

Als mir auffiel, dass Französisch nicht nur eine schöne Sprache ist, war ich fünfzehn, -bis zum Herzen kotzen und Rosen pupsen- verliebt und mir ziemlich sicher, dass Sebi und mich nichts mehr auseinander bringen würde.

Heute, acht Jahre und fünf Nickstories- Weihnachtschallenges später, kann ich mit Fug und Recht behaupten, vollkommen naiv gewesen zu sein.

Es ist egal, ob es eine Fee sein muss, die auf Blitzeis ausrutscht, ein Weihnachtsgeschichte mit Palmen und Südseefeeling oder ein (mittlerweile aus meinem Beuteschema gefallener) Sechszehnjähriger, der seiner Mutter die Geschenke hinterhertragen darf. Sebi kommt mit den Vorgaben nicht klar.

Blöd nur, dass er ohne genau so wenig klar käme und blöd nur, dass er es trotzdem alle Jahre wieder versucht und blöd nur, dass ich auch in diesen nervenaufreibenden Wochen der Schreibphase sein Freund und Partner und Lebensgefährte und Fels in der Brandung bin.

Letztes Jahr hatte ich es tatsächlich geschafft, einige meiner Freunde davon zu überzeugen, dass die Erfinder der Challenge es auf mich und meinen Seelenfrieden abgesehen haben. Wir hatten schon einen Schlachtplan entwickelt, die Anklageschrift aufgesetzt und uns ausgemalt, was wir mit dem mir zugesprochenen Schmerzensgeld alles anstellen könnten, da wurden wir leider wieder nüchtern.

Und jetzt war es wieder soweit. Mir hatten sich schon die Nackenhaare aufgestellt, als ich die Pdf- Datei zum ersten Mal auf dem Bildschirm gesehen hatte, aber Sebi war vollends begeistert und diese Begeisterung hielt sogar vier Tage am Stück an – bis zu seiner ersten Schreibblockade.


Ich lasse den Abwasch Abwasch sein und laufe die wenigen Schritte in unser Wohnzimmer. Sebi sitzt wütend und mit angezogenen Knien auf der Couch und hasst die ganze Welt.

„Scheiβverdammter Drecksmüll!“, flucht er. „Kannst du mir mal erklären, warum ich mir das jedes Jahr wieder antue? Zum Kotzen ist das doch.“

Ich liebe ihn.

Noch 28 Tage bis Einsendeschluss

Ein sorgsam gelochter, kleiner Blätterstapel wartet auf mich, als ich nachhause komme. Von Sebi ist weit und breit nichts zu sehen. Montags hockt er immer bis spät abends in der Uni. Genauso wie am Dienstag, am Mittwoch und am Donnerstag.

In der achten Klasse hatten wir in Bio Sezier-Projektwochen. Zuerst kamen die Frösche, dann die Fische, dann die Kuhaugen und schließlich wir selber an die Reihe. Seit dem Tag, an dem Sebi dem ersten Frosch das Skalpell an die kleine, grüne Brust gesetzt hat, war mir klar, dass das Auswirkungen auf unsere Zukunft haben wird. Und ich sollte Recht behalten. Zugegeben, die Fische aufzuschneiden, hatte ihn nicht so sehr interessiert, aber die Kuhaugen waren genauso ein Highlight gewesen, wie das gegenseitige Blut abzapfen am Ende. Während die meisten Mädchen irgendwann in Scharen auf der Toilette verschwanden, blieb Sebi bis zum bitteren Ende dabei und berichtete noch Wochen später mit vor Begeisterung funkelnden Augen von diesem „Wahnsinnsprojekt“.

Diese Geschichte begleitet ihn bis heute, nur sind es statt toter Tiere jetzt tote Menschen, mit denen er in Zukunft arbeiten wird. Ich will gar nicht daran denken, wo sich seine Finger jetzt gerade aufhalten und greife, um mich abzulenken, nach dem Skript auf dem Couchtisch.

Die Planung sieht vor, dass der Zug kurz nach der Bahnschranke anhalten muss und Tom sich spontan in einer der Fahrgäste verliebt. Karsten, der Fahrgast, hat keine Familie, die auf ihn wartet und so verbringt er die Nacht bei Tom. Am nächsten Morgen schmücken beide gemeinsam den Weihnachtsbaum und kommen sich dabei näher. So nahe, dass es sie nicht einmal stört, als der Baum sich mehr und mehr neigt und schlieβlich krachend zu Boden stürzt.

Diese kleine Kröte. Sebi hatte immer schon die Angewohnheit unser reales Leben und gemeinsame Erinnerungen in seine Geschichten mit einfließen zu lassen und der berühmte Baumfall ist definitiv eine seiner liebsten Geschichten. Prüfend fahre ich mir mit der linken Hand hinten in die Hose.

Er hat das damals schon urkomisch gefunden, obwohl man fairerweise sagen muss, dass er sich durchaus auch Sorgen gemacht hat. Ein paar Minuten. Vielleicht.

„Hör auf dich zu befummeln, es ist schon nach halb sieben und um halb sieben wollten wir eigentlich schon im Bad sein.“

Mein bester Freund steht samt Sporttasche in der Tür und sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich muss gar nicht erst fragen, wie er in unsere Wohnung gekommen ist. Schlösser haben Marc noch nie von irgendetwas abgehalten. Eigentlich gibt es generell nicht vieles, was Marc von dem abhalten kann, was zu tun, er sich in den Kopf gesetzt hat.

Er zieht mir das Skript aus der Hand, wirft einen kurzen Blick darauf und schmeißt mich dann von der Couch. Während ich meine Sachen zusammensuche, sehe ich ihn die Seiten durchblättern.

„Was soll das werden?“, fragt er mich grinsend. „Ein Buch über dein Hinterntrauma?“

„Mach du dich nur lustig. Das ist Sebis neustes Werk und nur zu deiner Info: Mein Hintern ist seit diesem Tag nicht mehr der alte.“

„Bist du sicher, dass das nur an der Christbaumkugel liegt, die damals drauf gefallen ist?“

Er lacht immer noch, als wir längst in den Umkleidekabinen sind. Blöder Penner.


Weihnachten 2006 hatten wir bei Sebis Eltern gefeiert. Ich hatte schon von Samstag auf Sonntag bei ihm übernachtet und da im Hause Roth traditionell erst am Vormittag des 24. Dezembers der Baum ins Haus geholt und geschmückt wird, fiel uns diese ehrenvolle Aufgabe zu. Es war die einzige Möglichkeit gewesen, einem sehr langweiligem Vormittag beim Weihnachtscafé der Kirchengemeinde zu entgehen.

Lange Rede, kurzer Sinn, der Baum war fertig und wir hatten angefangen uns die Zeit zu vertreiben. Wir gerieten in die Horizontale und der Baum folgte uns kurze Zeit später.

Das Ende vom Lied war, dass Sebi sich anziehen musste, um den Autoschlüssel bei seinen Eltern zu holen, damit er mich in die Notaufnahme bringen konnte. Sebis Eltern hatten nämlich etwas gegen elektrisches Licht am Tannenbaum. Kerzenlicht ist viel gemütlicher und darum wurden auch noch Omas alte, eiserne Baumkerzenhalter verwendet, samt äußerst spitzer Spitze und Widerhaken. Und genau so ein Teil hatte sich, als der Baum fiel, in meine linke Pobacke verguckt und gleich mal Kontakt aufgenommen. Leider zerbrach diese Verbindung dann recht schnell, aber wie das eben so ist: Etwas vom anderen bleibt eben immer zurück.

Sebi und ich verbrachten den restlichen Vormittag im Krankenhaus. Er angezogen und ich sprichwörtlich mit heruntergelassenen Hosen.


Abends im Bett kuschelt sich mein kleiner Autor an mich.

„Wie fandest du sie?“, fragt er.

„Die Story? Sie ist lustig und interessant und…“

„Ich schreibe sie nochmal um!“, unterbricht er mich.

Na das wundert mich aber jetzt.

Noch 22 Tage bis Einsendeschluss

Irgendetwas stimmt hier nicht. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch sehe ich mich unauffällig um. Sebi bekommt davon nichts mit. Die Manipulation ist dermaßen geschickt eingefädelt, dass man eher den Teufel, als den lieben Gott dahinter vermuten würde.

Wir sitzen im Pfarrhaus. Genauer gesagt, im Esszimmer des Pfarrhauses und noch genauer am Esstisch des Esszimmers des Pfarrhauses. Einem katholischen Pfarrhaus, mit einem katholischen Priester als Bewohner.

Pfarrer Paul Thaler sitzt uns lächelnd gegenüber und sieht zu, wie mein Freund ein Stück Käsesahnetorte nach dem anderen in sich rein schaufelt. Als er aufsteht, um in die Küche zu gehen, schließe ich mich ihm spontan an.

„Paul, so läuft das hier nicht. Du kannst Sebi nicht einfach so unter Drogen setzen und dann erwarten, dass ich zusehe, wie er uns alle ins Verderben stürzt.“

„Also ich finde bis jetzt läuft das sehr gut.“

Grinst der etwa?

„Das ist erzwungene Mittäterschaft, Erpressung, dafür kann ich dich verklagen.“

„Hast du denn Beweise?“

„Ich habe eine selbstgemachte Käsesahnetorte, einen Pfarrer, der sie mit Hintergedanken serviert und einen Freund, von dem bekannt ist, dass er in Bezug auf Käsesahne ein Suchtproblem hat.“

„Und?“

„Und du solltest dir gut überlegen, wen du dir da ins Boot holen willst.“

„Weil die meisten eurer Freunde schwul sind? Das macht nichts. Gott liebt alle Menschen.“

„Die Bibel sagt aber was anderes!“

„Die Bibel wurde von Menschen geschrieben und wird von Menschen ausgelegt und Menschen sind berühmt dafür Fehler zu machen. Ständig. Überall. Sogar ich.“

Ich schnappe nach Luft.

„Glaub mir Mika, das alles dient einem höheren Zweck…“, er zögert kurz. „Genauso wie das hier.“

Mit diesen Worten schubst er mich in seinen kleinen Vorratsraum und schließt die Tür von außen ab.

„Paul!“

Wütend hämmere ich gegen das alte Holz.

„Paul!“

Noch 21 Tage bis Einsendeschluss

„ER HAT WAS?“

Mein bester Freund sieht mich fassungslos an.

„Er hat Paul versprochen, dass wir mitmachen.“

„Und warum zum Teufel hast du ihn nicht daran gehindert?“

„Wie denn? Hätte ich mit einem Glas Marmelade die Tür aufstemmen sollen?“

„Ich glaube das einfach nicht!“

Noch 20 Tage bis Einsendeschluss

Ich ja auch nicht. Noch nicht einmal, als wir alle bereits in der Kirche stehen und von Paul mit einem breiten und herzlichen Lächeln willkommen geheißen werden.

Wie hoch ist eigentlich das Strafmaß für Mord im Affekt? Und ist es überhaupt noch Mord im Affekt, wenn man den Pfarrer der eigenen Gemeinde nach zwei Tagen Bedenkzeit im Taufbecken ertränkt?

Sebastian und Paul kennen sich schon ewig. Es war Paul, der Sebi getauft und gefirmt hat, bei dem Sebi seine erste heilige Kommunion hatte und es war Paul, der Sebi nach seinem Outing gesagt hat, dass Gott alle Menschen gleichermaßen liebt und dass es ihm scheißegal ist, ob sich da nun zwei Männer oder zwei Frauen lieben oder ein Mann und eine Frau.

Für Sebi war dieses Gespräch ein absoluter Wendepunkt in seinem Leben. Gleich am nächsten Tag hat er mich morgens vor der Schule abgefangen, mich auf den Schulhof gezerrt und vor versammelter Mannschaft in Grund und Boden geknutscht. Er war vierzehn, frisch geoutet, zum ersten Mal verliebt und gerade dabei fliegen zu lernen.

Sein Vertrauen, in das, was Paul ihm damals gesagt hat, ist bis heute unerschüttert und eigentlich bin ich Paul dafür auch wirklich sehr dankbar. An Tagen wie diesem allerdings wird meine Dankbarkeit auf eine harte Probe gestellt.

Seit ich Sebi und damit auch Paul kenne, liegt er uns jedes Jahr zur Weihnachtszeit mit der gleichen Bitte in den Ohren: Wir sollen unsere Freunde animieren, doch beim Krippenspiel mitzumachen. Natürlich hat er uns auch schon fest eingeplant und es wäre doch toll, wenn kleine Kinder und so gut wie Erwachsene mal gemeinsam spielen würden und überhaupt und sowieso und was weiß ich, was für gute Gründe er uns alle aufgezählt hat.

Acht Jahre lang hatte ich jegliche Teilnahme erfolgreich abblocken können und jetzt – eigentlich am Zenit meiner Durchsetzungsfähigkeit angekommen – hatte er mich überlistet. Diese Niederlage war nur schwer zu ertragen. Es lag nicht einmal daran, dass ich ab sofort zwei Abende die Woche damit zubringen würde den Josef zu perfektionieren – was ja schon schlimm genug ist. Es lag daran, dass ich all meine Freunde mit mir ins Unglück gestürzt hatte.

Na gut, nicht ich persönlich. Aber Sebi allein die Schuld zu geben, wäre unfair. Schließlich war er zu dem Zeitpunkt seiner Einverständniserklärung nicht Herr seiner Sinne und in der Vergangenheit hatte er sich immer darauf verlassen können, dass ich in solchen Momenten für ihn mitdachte. Konnte ja keiner ahnen, dass selbst bei Priestern irgendwann der Zweck die Mittel heiligt.

„Eins schwöre ich dir Sebastian.“, höre ich meinen besten Freund leise murmeln. „DAS vergesse ich dir nie.“

Gerade eben war er von der Anprobe zurückgekommen und eines war jetzt schon klar. Es würde nicht nur das wärmste Krippenspiel aller Zeiten werden, nein, die Hirten auf dem Feld würden auch noch ihr Leben lang therapeutischen Beistand brauchen, um die Begegnung mit diesem Verkündigungsengel verarbeiten zu können.

Noch 19 Tage bis Einsendeschluss

Sebi ist happy. Seine Geschichte ist fertig. Tom, der Mann mit dem Rad und einer Tanne auf dem Gepäckträger, kommt sicher an seiner Arbeitsstelle, einem Kinder- und Jugendzentrum an, baut mit den Kindern den Baum auf und feiert umgeben von glückseligen, kleinen Menschen ein wunderschönes Weihnachtsfest.

Ich traue dem Frieden nicht.

Noch 18 Tage bis Einsendeschluss

Mein Autor hat sich wieder hinter dem Laptop verkrochen.

Noch 17 Tage bis Einsendeschluss

Kleine Kinder sind unglaublich anstrengend. Entweder sie wissen nicht, wo sie hinlaufen sollen oder sie wissen nicht, was sie sagen sollen oder sie sagen nicht, dass sie aufs Klo wollen oder sie schließen und beenden schneller Freundschaften als jeder Teilnehmer an einer Reality- show.

Wer auch immer dieses Krippenspiel geschrieben hat, sein Vertrauen in die menschliche Geduld muss unerschöpflich gewesen sein. Das Stück an und für sich ist relativ schnell erklärt.

Maria, Josef und der Esel ziehen durch die Straßen (soll heißen, wir traben das Kirchenschiff rauf und runter) auf der Suche nach einer Herberge. Natürlich sind alle Zimmer belegt und keiner hat Lust einer launischen Schwangeren, ihrem vollbärtigem Begleiter und einem stinkenden Esel sein Zimmer zu überlassen. Schließlich erbarmt sich einer der Wirte und schickt das Trio zu einem alten Verschlag links hinter dem Altar. Dort bekommt Maria mit freundlicher Unterstützung von Ochs, Esel und Josef ihr Kind, was keiner mitbekommt, denn hier hat der Chor (alles Engel) seinen großen Auftritt und schmettert ein Glo- ooooo-oooo-oooo-o-ria.

Zeitgleich geht ein mit Batterien betriebener Stern über dem Bretterverschlag an und verkündet die Geburt von Jesus. Noch während die Engel singen, tauchen hinten in der Kirche drei Gestalten auf, die den Stern sehen und sofort beginnen ihre Sachen zu packen, ihre Kronen aufzusetzen und Myrrhe in kleine Säckchen abzufüllen.

Ein großes, dunkelblaues Tuch wird hereingetragen und verdeckt die gesamte bisherige Szenerie. Also alles, bis auf den Stern. Vor diesem dunklen Hintergrund, auch bekannt als Nacht, treten jetzt die Hirten auf den Plan. Umgeben von sehr vielen, sehr lauten, sehr kleinen Schafen (den Kindergarten- und Vorschulkindern) lassen sie sich auf den Stufen zum Altarraum nieder und legen sich schlafen. Kurz nachdem endlich Ruhe eingekehrt ist, hat Marc seinen denkwürdigen Auftritt.

Der Verkündigungsengel tritt zu den Hirten, der Chor gibt noch mal alles, die Schlafenden wachen auf und Marc brüllt ihnen entgegen, dass sie sich gefälligst nicht fürchten sollen, er wäre schließlich da um ihnen eine große Freude zu verkünden. Ein Scheinwerfer sorgt dafür, dass Marc im wahrsten Sinne blendend aussieht und die Hirten sich, was das Ganze natürlich unglaublich echt aussehen lässt, die Hände vor die Augen halten müssen.

Die Träger des dunklen Tuchs zotteln ab, bauen sich hinter dem Bretterverschlag wieder auf und das Stallquintett rückt wieder in den Mittelpunkt. Der glitzernde Stern weist den Hirten und den Königen den Weg, der Engelchor legt wieder los und dann kommt die Schlussszene. Ein völlig überfüllter, kleiner, windschiefer Stall. Maria, Josef, Ochs und Esel, anbetende Hirten, durchgedrehte Schafe und drei Könige, die Gold, Weihrauch und Myrrhe vor dem Kind zu Boden legen. Das Ganze umrahmt vom Gesang der Engel und angestrahlt von dem Scheinwerfer, der natürlich genau dann ausgeht, wenn die Engel die letzte Silbe gesungen haben.

Ta- da. Das Meisterwerk ist vollbracht.

Wenn jetzt noch die Proben irgendwann funktionieren, die Engel sich nicht mehr ständig in ihren Gewändern verheddern, die Schafe nicht aus der Reihe tanzen, die Hirten und Könige ihren Text können und wir zwei Dumme gefunden haben, die uns den Ochs und den Esel mimen, dann… könnte das tatsächlich noch was werden.

Noch 16 Tage bis Einsendeschluss

Langsam wird es Zeit sich um die Weihnachtsdekoration in unserer Wohnung zu kümmern. Oder besser gesagt: Es wird Zeit, dass ich mich kümmere. Sebi würde ja gerne helfen, aber wer würde dann seine Geschichte fertig schreiben?

Sebi schreibt, während ich alle Blumen in rote und grüne Weihnachtstöpfe umsetze. Er korrigiert, als ich die Fenster mit rotem Fensterklebeband verschönere. Er rauft sich die Haare, während ich in der Bude einen Tannengrünrausch erlebe und irgendwann dermaßen high von dem ganzen Goldspray bin, dass ich gar nicht weiß wohin mit mir. Er verzweifelt, als ich gerade versuche unterschiedlich große Kugeln mit unterschiedlich langen Schnüren an unserer Lampe anzubringen und löscht, was er bisher verfasst hat, während ich die letzte, getrocknete Orangenscheibe mit Golddraht an unserem Adventskranz festzurre.

„Hast du jetzt etwa ohne mich angefangen?“

Sebi schaut mich mit offenen Mund und weit aufgerissenen Augen an und irgendwie bin ich froh, als es an der Tür klingelt und Marc mich zum Schwimmen abholt.

Noch 9 Tage bis Einsendeschluss

Die erste Kerze brennt, Sebi hat sich entschuldigt und für 24 Stunden existieren weder Krippenspiele, noch Weihnachtschallenges. Ein Traum.

Noch 8 Tage bis Einsendeschluss

Der Traum ist aus

Noch 7 Tage bis Einsendeschluss

„Weißt du was? Wieso verpisst du dich nicht einfach wieder in dein Zimmer und frisst Schokolade, bis du platzt? Kann ja eh nicht mehr allzu lang dauern!“

„Wieso verschwindest du nicht wieder in deinem Sportverein und lässt dich von andern flachlegen?“

„Das nennt sich Judo, du Penner, und da wird man nur flachgelegt…“

„Niemand legt hier irgendwen flach!“, schaltet sich Paul wütend ein und trennt die beiden Streithähne.

„Euer Pfarrer sollte sich die Akteursliste noch mal genauer ansehen, dann wüsste er was für Illusionen er hier nachhängt.“, wispert mir David, einer der Hirten, ins Ohr.

Ich verkneife mir ein Grinsen und sehe zu, wie Paul die beiden Brüder runterputzt.

„Als Hirten kann ich euch nicht gebrauchen.“, stellt er gerade fest. „Nächstenliebe hat nichts damit zu tun, dass man dem anderem mit seinem Stab einen mitgibt.“

„Aber erfreulicherweise…“, mischt sich Marc in das Geschehen ein, „…haben wir für zwei Glückskinder wie euch noch zwei unglaublich tolle Rollen frei! Wer von euch beiden will denn der Ochse sein?“

Ich sehe schon, mein Stallquintett ist die Crème de la Crème der hiesigen Dorfjugend. Maria, gespielt von Maria, die wahrscheinlich auch nicht mehr sonderlich lange auf ihr erstes Kind warten muss, wenn sie so weitermacht. Tom als Ochse und sein Bruder Nico als Esel. Dazu noch das elf Monate alte Baby von unserer Messnerin, das wenn es einen guten Tag hat, auch mal fünf Minuten ohne zu schreien auskommt. Leider hat der kleine Wurm bisher, noch bei keiner Probe einen guten Tag gehabt.

Der einzigen Person, der das vielleicht mal nützen wird, ist Maria. Die lernt auf diese Weise nämlich, was man sich durch das Benutzen von Kondomen so alles ersparen kann. Ich kann diese dämliche, spätpubertierende Göre sowieso nicht leiden.

Am ersten Tag fand sie mich noch total spannend. Als Student übt man auf 18jährige nun mal einen gewissen Reiz aus. Doch dann hat sie herausgefunden, was genau ich studiere und das fand sie dann total lustig. Ich finde die Kombi Familien-, Arbeits-, Lebenspartnerschafts- und Erbrecht nicht unbedingt so zum Giggeln. Sie schon.

„Erbrecht?“, hat sie geprustet. „Ist das nicht zum Kotzen langweilig?“

Und jemand mit diesem Humor darf sich unbeschränkt fortpflanzen.

Noch 6 Tage bis Einsendeschluss

Ich lese gerade den neusten Entwurf über das Leben von Tom, dem Fahrradfahrer mit Tannenbehinderung, als Sebi in die Wohnung gestürmt kommt.

„Mika, Mika, schnell… oh mann, mach schnell!“

Es ist arschkalt draußen und wahrscheinlich werde ich erfrieren, aber das scheint meinem Freund nichts auszumachen. Bruno ist nämlich da und wenn Bruno kommt, hat man alles stehen und liegen zu lassen, denn Bruno ist der Mann, der die ganze Gemeinde mit Weihnachtstannen versorgt.

Als die Nordmanntanne bei uns auf dem Balkon liegt, spüre ich meine Finger nicht mehr. Jetzt kann ich natürlich auch Sebis Geschichte nicht mehr weiterlesen, denn in meinen Händen zittern die Blätter so sehr, dass ich nichts mehr erkennen kann. Schade, jetzt werde ich wohl nie erfahren, was es mit Toms verheißungsvollen Chat und dem kurz darauf eintreffenden Eilbrief auf sich hat.

Ein Jammer.

Noch 5 Tage bis Einsendeschluss

In unserem Haushalt muss niemand auf eine Geschichte verzichten. Wer nicht selber lesen kann, bekommt sie eben vorgelesen.

Ein Jammer.

Noch 4 Tage bis Einsendeschluss

Maria, die unsere Maria spielt, bricht sich beim Altarstufen-herunter-schreiten den Fuß. Ich habe die Ehre ihre Mutter davon in Kenntnis zu setzen und sie ins Krankenhaus zu fahren. Die gesamte Fahrt über schnieft die Dame in ihr Taschentuch und bemitleidet ihren „armen, kleinen Pups!“

Ich glaube, mir wird schlecht.

Noch 3 Tage bis Einsendeschluss

Wir haben keine Maria. Sebi hat keine Geschichte und ich langsam, aber sicher keine Nerven mehr. Ich schleppe mich müde Richtung Couch, als Sebi in den Raum kommt. Vorsichtig streicht er mir mit der Hand über den Rücken.

„Mika? Es tut mir leid, dass ich so knatschig war. Und es tut mir leid, dass das alles so gelaufen ist. Wirklich. Ich lass das mit der Story, ich muss da nicht mitmachen. Wir machen uns jetzt einfach noch ne schöne Zeit, ja?“

Er sieht traurig aus und erschöpft und ich ziehe ihn in meine Arme.

„Vergiss es!“, murmele ich. „Du schreibst deine Geschichte. Wir schicken sie ab und dann haben wir immer noch jede Menge Zeit.“

Ich kann förmlich spüren, wie er lächelt.

18 Tage nach Einsendeschluss

Die Nordmanntanne passt gerade so in unser Wohnzimmer. Etwas Lametta, ein paar rote und goldene Kugeln und vereinzelt hängende Strohsterne – schon ist er fertig.

Stück für Stück legen wir die Geschenke darunter. Es kommt ganz schön was zusammen bei zehn Leuten. Aber wir hatten es auch nicht anders gewollt. Heute Abend werden Josef, der Verkündigungsengel samt Freund, der Herbergswirt und sein Hirte, sowie die heiligen drei Könige, der Engel mit der Trompete und Sebi natürlich gemeinsam Weihnachten feiern.

Doch vor die Bescherung hat der liebe Gott das alljährliche Weihnachtsvorspiel der Zöglinge gesetzt. Die jüngsten Mitglieder des Musikvereins treffen sich, um vor einer mehr oder minder begeisterten Menge Weihnachtslieder zum Besten zu geben. Genau eine halbe Stunde lang. Danach ist Kirche. Immer um 17 Uhr. Kinderkrippenspiel.

„Das ist mal wieder der Beweis dafür, dass sich die schwule Szene und die katholische Kirche gar nicht so unähnlich sind: Immer zu den Hochfesten kommen die schlimmsten Kostüme zum Vorschein.“

Marc zwängt sich in sein Engelsgewand und ich lege meinen Bademantelverschnitt an. Paul läuft herum wie eine aufgescheuchte Henne und eines der Kinder heult, weil ein minderjähriger Hirte behauptet hat, es wäre ganz egal ob es mit oder ohne Schaffell spielt, man würde eh keinen Unterschied sehen können.

Die Glocken läuten und Paul scheucht uns von der Sakristei in die Kirche. Die Leute stehen noch hinten in den Zwischenräumen, so voll ist das Kirchenschiff. Erst als sich der Esel zu mir gesellt, weil das Krippenspiel beginnen soll, fällt mir auf, dass eine Hauptrolle fehlt. Wir haben keine Maria.

„Paul!“, zische ich. „Wer ist unsere Maria?“

Paul wird bleich.

„Hey, wieso trägst du das Kind nicht einfach selbst aus, Mika? Dann hätten wir nicht nur verschiedene Generationen, sondern auch das Leben in seiner ganzen Vielfalt.“

„Vielen Dank, Marc!“

Weder Paul, noch mir ist momentan nach Lachen zumute. Eher nach Staunen, denn neben mir ist die Maria aufgetaucht.

„Sebi? Bist du das etwa?“

Ich glaube, mein Schwein pfeift Bonanza. Mein Freund grinst mich unter seiner Perücke und der wollenen Kopftuch an.

„Los du Held.“, lacht er. „Geh mit mir ins Stroh.“

---

Wir sind mitten in der Szene des Verkündigungsengels, hinter dem Tuch abgeschirmt, für alle Kirchenbesucher unsichtbar, als mir etwas einfällt.

„Hast du eigentlich deine Geschichte abgeschickt?“

„Nein!“

„Warum nicht?“

Sebi zieht einen Zettel aus dem Umhang.

„Darum!“, wispert er leise und während der Chor voller Inbrunst loslegt, falte ich die Seite vorsichtig auseinander.

Lichtgestalten

Lichtgestalten muss man halten,

denn es gibt so viele nicht.

Lichtgestalten glühen von innen,

spenden allen and’ren Licht.

Lichtgestalten bringen Wärme

zu jeder Zeit in jedes Haus.

Lichtgestalten halten jedes

noch so schweres Problem aus.

Lichtgestalten können sehen,

was kein and’rer sehen kann.

Lichtgestalten sehen Herzen

ihre große Liebe an.

Lichtgestalten tragen Bärte,

auch mal für den guten Zweck.

Lichtgestalten spielen Josef

und stecken Schließaktionen weg.

Lichtgestalten machen glücklich,

jeden Tag ein bisschen mehr.

Lichtgestalten schenken Leben,

so etwas gibt man nicht her.

Lichtgestalten haben öfter

viel zu viel zu viel zu tun.

Lichtgestalten brauchen auch mal

Zeiten um sich auszuruh’n.

Denn

Lichtgestalten kämpfen täglich

gegen den ganzen Wahnsinn an.

Lichtgestalten ziehen sogar

Weihnachtsbäume magisch an.

Lichtgestalten sind einzigartig,

wundervoll - strahlend schön auch.

Und diese eine Lichtgestalt ist

alles, was ich im Leben brauch’.

„Du hast mir ein Gedicht geschrieben?“

Er nickt.

„Jetzt weißt du warum ich immer nur Geschichten schreibe. Gedichte klappen einfach nicht so gut…“

„Stimmt.“

„Penner!“

„Ich liebe dich!“


„Wisst ihr“, fragt Paul uns beim Zusammenräumen der Engelsflügel, „was mir dieses Jahr am allerbesten gefallen hat?“

„Das Stück?“

„Das generationsübergreifende Konzept?“

„Der Verkündigungsengel?“

Paul schüttelt den Kopf.

„Die Schlussszene. Das war mit Sicherheit der schönste Kuss der Krippenspielgeschichte.“

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