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Noah

Kapitel 2

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Informationen

  • Story: Noah
  • Autor: Manou
  • Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama

 

Donnerstag, 15.11.2007

Unruhig schaue ich auf die Uhr; zum fünften Mal in drei Minuten. Mittlerweile ist es zwanzig nach drei und Noah ist noch nicht da.

Regentropfen prasseln gegen mein Fenster. Ich liebe dieses Geräusch! Draußen ist es nass und ungemütlich, hier in meinem Nest dagegen warm und kuschelig. Ich ziehe den Teebeutel aus meiner Tasse, wringe ihn mithilfe der Schnur aus und versuche ihn aus einigen Metern Entfernung in den Müll zu werfen.


Es hätte klappen können.

Mein Papierkorb ist einfach zu klein.

Seufzend erhebe ich mich um den kleinen Falschparker endgültig zu entsorgen.

Ein kurzer Blick auf die Uhr...toll, schon 15:22 Uhr. Die Zeit rennt.

Gerade habe ich mich auf der Fensterbank niedergelassen, die Tasse zwischen den Fingern und "Die Mitte der Welt" aufgeschlagen, da klingelt mein Handy.

"Wo bist denn du?", schalt es mir aus dem Hörer entgegen.

"Na daheim! Ich warte auf dich, du Held!"

"Ich war pünktlich,..."

"Tatsächlich!", unterbreche ich ihn trocken.

"Ja, tatsächlich!" Ich höre ihn förmlich grinsen. "Du bist hier diejenige, die anscheinend keine Klingel besitzt. Deinetwegen friere ich mir hier seit über zwanzig Minuten den Arsch ab!"

"Kälte ist gut gegen Cellulite!"

"Männer kriegen keine Cellulite und schwule Männer schon gar nicht... und überhaupt..."

Schon während unseres Schlagabtausches habe ich mir meine Schlüssel geschnappt und mich auf den Weg nach unten, Richtung Haustür begeben.

Ein Glück, dass ich im ersten Obergeschoss untergekommen bin und nicht im vierten. Diese ständige Hoch- und Runterrennerei wäre höchstwahrscheinlich irgendwann anstrengend geworden. Natürlich könnte man den Lift benutzen, aber...ich hänge nun mal an meinem Leben. Sehr sogar – und ich habe immer das dumpfe Gefühl, als wolle der Lift meine Pläne von einem langen Leben durchkreuzen.

Kurz gesagt: Ich traue dem Lift nicht.

"In welchem Stock wohnst du denn?", fragt Noah, als wir später gemeinsam die erste Treppe erklimmen.

"Im ersten!"

"Gott sei Dank, also erst ganz hoch und nachher wieder ganz runter – das wäre mir echt zu anstrengend!"

"Hey, wir haben hier einen Lift!"

"Das alte Ding? Da kriegen mich doch keine zehn heißen Typen rein. Der ist doch lebensgefährlich!"

Dazu sage ich jetzt besser nichts.

Als wir vor meiner Zimmertür stehen, ist Noah bereits restlos begeistert. Ich bin mir nicht sicher, was ihn bisher am meisten beeindruckt hat.

Die Küche, in deren Spüle sich Geschirr und Töpfe stapeln und deren Herd unter einer zentimeterdicken Schicht 'Was-auch-immer-Hauptsache-eklig' begraben liegt?

Der Raum mit Klos und Waschbecken, in dem neulich erst ein Zettel mit der Bitte 'hin und wieder mal die Bürste zu benutzen' angeklebt wurde, oder die Duschen, in dessen Abflüssen sich Dinge tummeln, die ich jetzt hier sicher nicht aufzählen werde?

"Es ist cool.", sagt er. "Abgefucked - aber cool!"

"Falls du mit abgefucked: eklig, dreckig und äußerst peinlich meinst, hast du Recht."

Das Chaos ist mir wirklich peinlich, aber mittlerweile habe ich es aufgegeben hinter meinen Mitbewohnern her zu räumen. Ich habe mir Putzhandschuhe, Desinfektionsmittel und verschiedene Putzschwämme gekauft, und alles, was ich benutze, wird vorher einmal abgewischt. Nicht, dass ich die Ordnung in Person bin, aber manche Dinge überschreiten einfach selbst die weiträumigsten Grenzen.

"Auf jeden Fall merkt man, dass hier sehr viele junge Leute leben und das schon seit sehr langer Zeit", meint Noah diplomatisch.

Endlich kriege ich meine Zimmertür auf. Dieses störrische Ding und ich haben schon etliche Zweikämpfe ausgetragen, für heute bleibe ich jedoch Siegerin.

"So, darf ich vorstellen: Meine eigenen vier Wände!", sage ich und hänge meinen Schlüssel an den Haken.

Noah sieht sich neugierig um.

Viel zu gucken gibt es auf vierzehn Quadratmetern nicht: Bett, Schrank, Tisch, Stuhl, Sessel, Waschbecken – alles schon älter und abgenutzt, dafür tut es keinem weh, wenn hier und da noch eine Schramme dazukommt- ein fairer Kompromiss.

"Du hast ja tatsächlich orange Vorhänge!"

"Ja klar! Aber die sind nicht von mir, die waren - wie die Möbel - vorher schon da!"

Er dreht sich um.

"Mir gefällt's!", meint er und lässt sich in meinen Sessel fallen. "Ahh, warte! Ich hab dir ja noch was mitgebracht!"

Er kramt in seiner Tasche herum und Lebkuchen, sowie eine ASP-CD hervor. Beides wird mir entgegen gestreckt.

"Ist ja wie Weihnachten...soll ich lieber Apfel-Zimt-Tee aufsetzen?"

"Hast du denn welchen da?"

"Fast!"

"Also nicht!"

"Ich hätte welchen geholt, wenn ich gewusst hätte, dass du Lebkuchen mitbringst."

"Aber wenn du gewusst hättest, dass ich Lebkuchen mitbringe, wäre es ja keine Überraschung mehr gewesen. Und jetzt nimm mir die Sachen ab oder soll mir der Arm abfallen?"

Keine fünf Minuten später hocken wir auf meinem Bett und trinken Tee.

Noah verputzt einen Lebkuchen nach dem anderen. Dabei fällt mir auf, dass er jeden Lebkuchen auf eine andere Art isst.

Lebkuchen kennen wir ja alle. Die, von denen ich rede, gibt es meist ab September in allen möglichen Läden, die irgendetwas mit Lebensmitteln zu tun haben. Es gibt sie mit Vollmilch- oder Zartbitterüberzug und in drei Formen: Brezeln, Sterne und Herzen.

Wenn man heiße Milch da hat, kann man die Lebkuchen super in die heiße Milch tunken, dann schmilzt die Schokolade nämlich ganz leicht an und kriegt diesen besonderen Geschmack.

Wir brauchen keine Milch. Ich habe momentan sowieso keinen Hunger und Noah inszeniert auch ohne weitere Hilfsmittel ein Fest des genussvollen Lebkuchenessens.

Für alle, die Interesse an einem Schnellkurs haben:

Die Brezel.

Um eine Lebkuchenbrezel richtig genießen zu können, entfernen wir im ersten Schritt das gesamte Innenleben und lassen nur den äußeren Brezelrand übrig.

Lassen Sie sich Zeit, denn das Herauslösen der vielen, miteinander verbundenen Teile erfordert eine gehörige Portion Fingerspitzengefühl - gerade weil man die Stabilität der Brezel erhalten will.

Die herausgetrennten Stücke werden nun mundgerecht zerkleinert und einzeln gegessen.

Der übrig gebliebene Rand wird ebenso liebevoll zerlegt, die Anzahl der hier entstehenden Teile variiert je nach Laune und Kreativität zwischen zwei und zwanzig.

Der Stern.

Der Lebkuchenstern bringt beim genussvollen Verzehr wohl den meisten Spaß. Wir fassen den Stern mit zwei, wahlweise auch drei Fingern, indem wir jene durch das runde Loch in der Mitte des Sternes stecken. Durch Abspreizen der Finger wird der Stern nun angehoben.

Sichern Sie diese Halteposition!!

Nun knabbern Sie nach und nach jede einzelne Sternecke ab.

Wenn aus dem einst stolzen Stern ein kümmerlicher, deformierter Kreis geworden ist, zerbrechen Sie diesen in vier Stücke und lassen sich auch die Reste schmecken.

Das Herz

Mit dem Herzen ist es eine schwierige Sache. Einmal zerbrochen findet es nur schwer wieder zur alten Stärke zurück.

Wir nehmen das Herz in beide Hände und zerreißen es genau in der Mitte. Schauen Sie sich die beiden Herzhälften genau an, versuchen Sie, sie noch einmal zusammenzukitten. Dann teilen Sie es brüderlich mit jemanden, der gerade in ihrer Nähe ist. Falls jene Person ablehnt, essen Sie die beiden Stücke so schnell wie möglich auf.

Ganz wichtig: Krümeln Sie ruhig alles voll. Zeigen Sie dabei Ihre persönliche Individualität und machen Sie sich keine Sorgen: Krümeln gehört zum genussvollen Essen von Lebkuchen einfach dazu. Sollten Sie die Lebkuchen im Bett einer Freundin essen, sagen Sie auf keinen Fall:

"Oh, habe ich dein Bett so voll gekrümelt?" Noah schaut auf meine mit Krumen übersäte Bettdecke.

"Nein", erwidere ich trocken. "Die waren sicher vorher schon da!"

"Dann solltest du sie aber schleunigst entfernen. Nicht, dass ich nachher noch Flecken auf der Jeans habe. Schokolade geht doch so schwer raus." Er grinst, steht dann aber auf und schnappt sich die Kehrschaufel, die unter meinem Waschbecken steht.

"Schüttel' mal deine Decken aus, Frau Holle!"

Ich schüttele vorsichtig, um die Krümel nicht im ganzen Zimmer zu verbreiten.

"Das ist aber sehr sozial von dir, dass du vor mir auf Knien rutscht!", stelle ich fest, als Noah - tatsächlich auf Knien - die Krümel zusammenkehrt.

Er sieht hoch, macht eine theatralische Geste und tönt: "Ein Mann muss tun, was ein Mann eben tun muss."

"Wo hast du DAS denn her?"

"Aus den Dr.-Sommer-Seiten der Bravo!"

"Natürlich!"

"Thema war: 'Meine Freundin (16) will unbedingt mit mir schlafen. Für mich (16) geht das alles viel zu schnell. Was soll ich nun tun?'"

"Auch mal interessant, dass es dem Jungen zu schnell geht!"

"Wer hat gesagt, dass es ein Junge geschrieben hat?"

"Niemand, das hat sich meine Fantasie so überlegt!"

"Typisch Hete!"

"Ja, Hete! Aber ich lasse mich nicht diskriminieren. Ich bin stolz darauf", grinse ich.

"Nee, ist ok. Du bist ja deswegen kein anderer Mensch."

Er macht eine bedeutungsvolle Pause. "Und absurde Vorlieben hat ja nun jeder."

Ich klatsche ihm mein Kissen ins Gesicht.

"Ich geb' dir gleich 'absurde Vorlieben'. Du stehst doch selber auf Männer!"

"Ja-ha, aber für mich ist das normal!"

Für einen Moment fällt mir keine Erwiderung ein.

"Spiel – Satz - Sieg!", verkündet Noah. "Ich spendiere dir dennoch einen Tee!"

"Ungemein großzügig! Ist ja nur mein eigener..."

Ich weiß nicht genau, woran es liegt, dass mit Noah die Zeit immer doppelt so schnell zu vergehen scheint. Aber es gefällt mir.

Irgendwie stellt sich bei mir das Gefühl ein ihn schon ewig zu kennen.

Wir sitzen auf der Fensterbank. Noah schmust mit meinem schwarz-weißen Kuschelkissen.

"Wo hast du das eigentlich her?", fragt er.

"Meine Schwester hat's mir geschenkt. Ich glaube an irgendeinem Geburtstag."

Noah' s Blick wandert zu der Fotocollage an meinem Schrank. Er hat sie die ganze Zeit schon angestarrt, bisher aber kein Wort darüber verloren.

"Ist sie da drauf?"

Ich nicke. "Oben rechts, die, die so am Strahlen ist!"

"Neben ihr, ihr Freund?"

"Mein Schwager in spe."

"Hübsches Pärchen!"

Er steht auf, geht zu der Collage hin und beginnt jedes einzelne Bild zu mustern.

"Familie und Freunde, hm?"

"Alle, die mir wichtig sind!"

Er lacht plötzlich leise.

"Sind die beiden der Grund, warum du so relaxt auf das Schwul-Sein reagiert hast?"

Er hält mir mein Lieblingsbild hin.

"Kann sein!", grinse ich.

"Lass mich raten...einer davon ist dein bester Freund?"

"Mein bester Freund und sein Mann! Lex ist der rechte."

"Wahnsinnsaufnahme!"

Das stimmt.

Es zeigt die beiden von der Seite und mit nackten Oberkörpern. Sie stehen sich mit minimalen Abstand gegenüber und sind kurz davor sich zu küssen. Die Augen sind schon halb geschlossen, die Lippen leicht geöffnet und Lex beißt sich, wie üblich, leicht lasziv auf die Unterlippe.

Seine Hände ruhen auf der Brust seines Mannes. Man sieht deutlich den Ring am Finger.

Auch bei Qilaq, dessen Finger sich knapp unterhalb der Hintertaschen in Lex' Jeans gekrallt haben.

Das Bild ist in schwarz-weiß und unterstreicht die unterschiedlichen Hauttypen der beiden. Lex - typisch europäisch zwar, aber nicht zu weiß. Qilaq mit der einzigartigen Hautfarbe der Inuit. Beide sind groß, beide schwanken zwischen einem teilweise schlanken und einem athletischen Körperbau und alle beide haben diesen Wahnsinnshintern.

"Meine Fresse, also wenn das nicht nach Sex schreit. Das ist mal'n richtig heißes Paar", Noah fährt langsam die Shilouhette der beiden nach. "Sehen die in echt auch so aus?"

"Nur dann eben in Farbe!"

"Was du nicht sagst...!"

Er unterbricht sich selbst. Sein Finger ist am Bund von Lex' Jeans angekommen und dort, an einer der leeren Gürtelschlaufen, baumelt ein kleines, rotes Red Ribbon. Der einzige Farbtupfer des Bildes, und doch sieht man es erst auf den zweiten Blick.

"Hat er es etwa?", fragt er nach einer Weile.

Ich schüttele den Kopf.

"Das war ein Geschenk für einen Freund von ihnen. Der hat sich solche Bilder gewünscht um sie in seiner HIV-Beratungsstelle aufhängen zu können."

"Solidarität zeigen, Safe Sex und so weiter?"

"Genau, da haben noch viele andere mitgemacht. Sind einige richtig schöne Bilder drunter und das von den beiden hat mir einfach total gut gefallen. Es sagt für jeden etwas anderes aus."

Er sieht sich das Bild noch lange an, bevor er es zurückhängt.

"Es ist komisch", meint er dann. "Da steh ich hier rum. HIV-positiv und habe definitiv Gewissheit, dass ich nicht an Aids oder dessen Folgen sterben werde. Noch nicht mal ansatzweise. Irgendwie krank, findest du nicht?"

Er schüttelt verwirrt den Kopf, widmet sich wieder meiner Collage und zieht noch ein Bild heraus; das meiner Eltern.

Meine Mutter ist, wie so oft, schallend am Lachen und mein Vater sitzt neben ihr und lächelt.

Er hat die Gabe, mit einem Lächeln die gleiche Freude zeigen zu können. Deshalb müsste er eigentlich auch nie lachen, es reicht, wenn er lächelt.

"Sie sehen glücklich aus!", kommentiert Noah.

Ich nicke stolz.

"Ich denke, dass sind sie auch – im Großen und Ganzen. Mein Dad hat schon lange Probleme mit dem Rücken und meine Mutter bräuchte sozusagen jemanden, der ihr beibringt, auch mal 'Nein' zu sagen, wenn wieder jemand was von ihr will. Aber ansonsten ist alles soweit im Rahmen und das Lachen haben sie sich immer bewahrt."

"Wie lange sind sie verheiratet?"

"Im September waren es 26 Jahre."

Noah hängt das Bild zurück, wendet sich ab und setzt sich wieder auf die Fensterbank.

Er schaut mir zu, wie ich das Bild wieder anhänge und beginnt zu erzählen.


Es ist Herbst.

Genau genommen, der 29. September 1971.

Ein Mittwoch, an dem, in einem kleinen, aber exklusiven Restaurant in der Nähe von Bonn ein Geschäftsessen stattfindet. Nicht weiter erwähnenswert, doch bei diesem Essen lernen sich Noahs Eltern kennen.

Heide ist gerade 20 geworden und kellnert um sich etwas dazu zu verdienen. Bernd ist aus beruflichen Gründen angereist und im Lokal. Mit seinen 26 Jahren besitzt er eine eigene, kleine Firma und während des Essens will er einen neuen Kunden werben.

Seine Werbung geht auf, nicht nur bei dem Kunden, sondern wenig später auch bei Heide.

Sie verlieben sich. Ihm gefällt ihre offene und fröhliche Art, ihre Geduld und ihre wunderschöne Figur. Sie liebt seine Hartnäckigkeit und Ausdauer, die liebevolle Art, wie er mit ihr umgeht und bewundert seinen Ehrgeiz.

Sie schmieden Pläne. Zwei Kinder möchten sie später haben, ein Junge und ein Mädchen, die sie in einem kleinen Haus im Grünen aufziehen wollen. Heide würde daheim bleiben, sich um die Kinder, das Haus und den Garten kümmern und um den Hund, den sie sich kaufen werden.

Bernd hingegen wird das Geld verdienen und sich abends um die Finanzen, alles Handwerkliche und natürlich um seine Familie kümmern.

Knappe 1 œ Jahre nach ihrer ersten Begegnung heiraten die beiden. Nachwuchs ist schon unterwegs und Bernd wollte nicht, dass sein Kind unehelich zur Welt kommt.

Heide hätte sich einen etwas romantischeren Antrag gewünscht, als "Mein Kind wird kein Bastard, wir sollten so schnell wie möglich heiraten!"

Doch die Hochzeit und die anschließenden, wenn auch nur kurzen Flitterwochen lassen sie den misslungenen Antrag vergessen.

Zwei Jahre nach Carolins Geburt vervollständigt der kleine Benjamin die Familie und macht das Glück perfekt.

Die Träume der beiden werden wahr.

Sie finden ein kleines Haus in einer ruhigen Wohngegend in der Nähe von Heidelberg, kaufen sich einen kleinen Hund und genießen ihr Elterndasein.

Bernd ist ein unglaublich liebevoller Vater. Er baut Puppenhäuser und Ritterburgen, spielt mit den Kleinen im Sandkasten und hilft tatkräftig bei der Herstellung von Vogelhäusern und Holzdrachen.

Bei den Einschulungen strahlt kein Gesicht so sehr vor Stolz wie seines.

Heide freut sich, dass ihr Leben so harmonisch und friedlich verläuft. Es gibt Tage, da kann sie ihr Glück kaum fassen. Sie läuft durch das Haus und muss alles berühren, um sicher zu gehen, dass es auch wirklich kein Traum ist.

Kleine Spannungen zwischen Bernd und ihr sind meist schnell bereinigt, auch – oder vor allem - weil Heide lieber zurücksteckt, bevor der Haussegen schief hängt.

Im Dezember `84 ist die Lage für Heide klar - sie ist wieder schwanger. Die morgendliche Übelkeit bildet sie sich nicht nur ein und sie ist auch kein Zeichen von Überarbeitung oder Stress, ebenso wenig wie die ausbleibende Monatsblutung.

Ein Besuch beim Arzt soll noch einmal Gewissheit verschaffen, als der ihr gratuliert, würde sie am liebsten in Tränen ausbrechen.

"Zwei Kinder reichen!", hat Bernd immer gesagt. "Ein drittes ist völlig unnötig! Erst ein Mädchen, dann ein Junge, was will man denn noch mehr?"

Tagelang schiebt sie es vor sich her. Sie kann es Bernd nicht sagen, sie will es Bernd nicht sagen. Sie hat Angst vor seiner Reaktion.

Außerdem weiß sie selber noch nicht, ob sie das Kind überhaupt will. Gerade jetzt! Jetzt, wo die Kinder aus dem Gröbsten raus sind. Sie wollte wieder arbeiten gehen, sich wieder etwas mehr um sich kümmern.

Ende Januar ringt sie sich zu einer Entscheidung durch. Sie wird das Kind kriegen und sie wird es ihrem Mann sagen.

Um ihn von Anfang an gut zu stimmen, kocht sie sein Lieblingsessen, lässt die Kinder ihre Zimmer aufräumen und macht sich selbst so hübsch wie möglich.

Als sie nach dem Essen die Kinder zum Spielen schickt, schaut ihr Mann sie aufmerksam an.

"Heide, was ist los?"

Heide schluckt, dann holt sie tief Luft. 'Es wird schon gut gehen', sagt sie sich, 'bleib ruhig, es wird gut gehen.'

Sie schließt die Augen und sagt es ihm.

Als keine Reaktion kommt, öffnet sie die Augen wieder und sieht ihn an.

Er ist fassungslos. Stocksteif sitzt er auf seinem Stuhl und ist nicht in der Lage etwas zu sagen.

"Jetzt sag doch schon was!", fleht Heide ihn an. Sie bekommt Angst und mit jeder Sekunde wächst ihre innere Unruhe. "Du lieber Himmel, jetzt sag doch endlich etwas!"

Bernd steht auf, lässt sich dabei viel Zeit. Er stützt die Arme auf den Tisch und hebt den Blick. Seine Augen sind kalt. Seine Stimme klingt fremd.

"Ich wollte zwei Kinder haben. Zwei Kinder! Ein Mädchen und einen Jungen." Er macht eine Pause und wirft einen abschätzigen Blick auf Heides Bauch. "Du wirst es wegmachen lassen. Ich will es nicht und ich will nicht, dass du es willst. Also sorg dafür, dass es verschwindet! Und zwar so schnell wie möglich!"

Er verlässt das Zimmer, dann hört sie die Haustür ins Schloss fallen. Sie sinkt auf den Stuhl, ihre Beine wollen sie nicht mehr tragen. Die Kerzen brennen langsam herunter, beginnen zu flackern. Schließlich erlischt die Eine.

Die Andere schickt ihr Licht nach wie vor ins Zimmer. Auf den großen Holztisch und die vier Stühle, auf die Pflanzen auf der Fensterbank, auf den alten Schrank – das Erbstück der Oma, und auf die Frau, die völlig apathisch auf einem der Stühle sitzt und der die Tränen herunterlaufen.


Noah ist aufgestanden, er greift nach seinem Mantel, zieht seine Schuhe an.

"Morgen?", fragt er. "15 Uhr, bei mir?"

Er nennt mir eine Hausnummer in der Mainaustraße.

"Morgen!", sage ich.

Er geht.

Freitag, 16.11.2007

Ich werde irre!

Zum vierten Mal laufe ich jetzt die Straße auf und ab, kontrolliere die Hausnummern und bin immer noch keinen Deut weiter.

Den nächsten Menschen, den ich sehe, werde ich fragen müssen, es sei denn ich will zum Eisklotz mutieren. Doch wie üblich lässt sich niemand blicken, wenn man mal Hilfe braucht.

Dann endlich der ersehnte Helfer in der Not, ein etwas älterer Herr mit Schnauzer, sowohl im Gesicht, als auch als Hund.

Ich gehe auf ihn zu.

Höflich frage ich nach dem Weg und ernte dafür einen missbilligenden Blick.

"Sehr lustig", schnaubt er böse. "Vielleicht drehen Sie sich einfach mal um, bevor Sie hier wildfremde Leute belästigen!"

Vielen Dank, du Arsch! Wutschnaubend drehe ich mich um – und stehe tatsächlich vor der gesuchten Hausnummer. Na super!

Der Schnauzer und sein Schnauzer haben in der Zwischenzeit grummelnd das Weite gesucht.

Ist mir auch recht, aufs Bedanken hätte ich eh verzichtet.

Ich stapfe zur Tür und nach dem Klingeln, eine kleine Treppe hoch. Noah steht in einer Tür und aus der dazugehörigen Wohnung strahlt mir Wärme entgegen.

Nachdem ich mich aus den feuchten Sachen gepellt habe, darf ich die Wohnung beschnuppern. Sie ist klein, aber urgemütlich. Küche, Bad, Schlafzimmer alles recht spartanisch, aber dennoch schön eingerichtet.

Dann durch den Flur.

Dort fällt mir ein großes Plakat ins Auge. Es zeigt die Umrisse eines Mannes, der in ein großes Licht geht. Er trägt einen langen Mantel. Rings um ihn herum stehen Menschen, die ihn anlächeln. Eine Frau hält ein kleines Mädchen auf dem Arm.

Die Kleine streckt die Arme nach dem Mann aus. In der Hand hält sie ein Bild mit einer Kinderzeichnung. 'My daddy and me' steht darauf. Andere halten Kerzen in den Händen, wieder andere Bilder. 'Denn wir sterben nur, wenn wir vergessen werden!' steht auf dem Plakat und irgendwie ist es wunderschön.

Wir kommen ins Wohnzimmer und hier hat sich jemand richtig Mühe gegeben.

Die warmen Farben harmonieren mit den Holzmöbeln und Pflanzen, ein wunderschöner Teppich liegt am Boden und verschiedene Bilder hängen an der Wand. Sie zeigen Noah, umgeben von anderen Menschen.

"Freunde und Familie, alle, die mir wichtig sind", er lächelt und hat Wort für Wort meinen Satz vom Vortag geklaut.

Ich schaue mir die Bilder an und sehe einen ganz anderen Noah. Auf den Bildern wirkt er ganz anders als jetzt. Er hat eine völlig andere Ausstrahlung, eine vollkommen veränderte Aura.

Man sieht ihn einmal geschwächt und bleich in einem Krankenhausbett, dann umgeben von Freunden beim Feiern, auf einem Schulfoto seiner Abschlussklasse, einmal offensichtlich mit seinen Geschwistern, mit Opa und Omas, eins mit seiner Mutter und das letzte mit einem recht hübschen Kerl in seinem Alter.

Auf jedem Bild ein verschiedenes Gesicht. Immer Noah und doch immer anders.

Zum ersten Mal wird mir so richtig klar, was für einen Weg er wohl hinter sich haben muss und was für ein Weg noch auf ihn wartet.

Er zeigt auf das letzte Foto.

"Mein bester Freund und ich", meint er.

"Wie alt ist das Bild?"

"Knapp 2 Monate. Wir haben es Ende September gemacht. Kurz bevor er nach Amerika gegangen ist. Er macht dort ein Auslandssemester."

Die beiden wirken unglaublich vertraut und es freut mich für ihn, dass er anscheinend auch so einen Seelenverwandten hat, wie ich seit Jahren Lex.

"Er wollte erst nicht gehen. Ich hatte gerade erfahren, dass ich keine Chance mehr habe, dass nichts mehr anschlägt und er hat gemeint, dann bleibt er hier. Aber solche Chancen muss man nutzen, die kommen so schnell nicht wieder und darum hab ich ihn gezwungen." Er grinst. "Eines Tages wird er es mir danken."

"Ist doch schön, dass er die Zeit mit dir verbringen wollte!"

"Natürlich ist es schön, aber es hätte mir nicht gepasst...ich erkläre dir das wann anders... nicht jetzt, jetzt muss ich dir noch jemanden vorstellen."

Das Geräusch eines Schlüssels, der gerade ins Loch gesteckt wird, habe ich vorher schon gehört, nun sind es Schritte im Flur.

Ich drehe mich um.

Vor mir steht eine kleine, schlanke Frau um die fünfzig. Sie lächelt, wirkt aber müde und erschöpft. Noah macht uns bekannt.

Margit ist seine Tante, sie ist Krankenschwester und hat zusammen mit ihrem Mann Thomas dafür gesorgt, dass Noah hier bei ihnen im Haus eine Bleibe findet. Das Haus gehört ihnen, die Wohnung steht ansonsten zur Untermiete. Jetzt gehört sie Noah, solange er will oder eher, solange er kann.

Sie stellt ihm ein Medikamentenpäckchen hin.

"Einmal Jürgen!", lächelt sie, dann winkt sie auch schon zum Abschied. "Ich muss nach oben, ich brauche ein Bad, macht es euch noch schön!"

"Jürgen?", verdutzt schaue ich Noah an.

"Ich fand die Medikamentennamen immer so schrecklich, da dachte ich, ich benenne sie um. Jürgen ist zwar auch schrecklich, aber es klingt nicht so nach Tod!"

Ich folge ihm in die Küche, wo er die vielen kleinen, steril abgepackten 'Jürgen' in eine 'Jürgen'-Dose legt. Ich mustere die Dosenanzahl. Karl, Peter, Frederick, Konstantin, mehr will ich gar nicht sehen.

"Alles Jungennamen!", stelle ich fest.

"Ich bin ne Schwuppe, 'Annabella' geilt mich halt nun wirklich nicht sonderlich auf!"

"Aber Karl, ist klar!"

Er streckt mir seinen Mittelfinger entgegen und zieht mich dann wieder ins Wohnzimmer.

"Wollen wir uns was ansehen? Ich bin heute zu fertig um reden oder gut zuhören zu können.

Such dir was aus, ich mache Tee, denn stell dir vor, auch ich bin in Besitz eines Wasserkochers, aber im Gegensatz zu dir, habe ich noch auch Apfel-Zimt-Tee!"

Er verschwindet lachend in der Küche und ich mache mich an die Musterung seiner DVDs.

Es dauert gerade einmal dreißig Sekunden, bis ich einen Film gefunden habe. Er stand an zweiter Stelle und war wirklich nicht zu übersehen.

Als Noah aus der Küche kommt, halte ich ihm den Film hin.

"Der Weg in den Himmel kann die Hölle sein!", liest er vor. "Der Satz ist so was von wahr!"

Ich liebe Dogma, seit ich ihn vor ein paar Jahren zum ersten Mal gesehen habe.

Und seither schaue ich ihn eigentlich jedes Mal, wenn sich die Möglichkeit bietet.

Sogar auf italienisch ohne Italienisch-Kenntnisse, denn um Matt Damon zu besabbern oder den Film zu bewundern, braucht man nicht unbedingt die Sprache zu verstehen.

Also schauen wir Dogma, denn glücklicherweise schaut Noah den Film genauso gern, wenn mir auch nicht klar wird warum, denn er kann den Film praktisch auswendig.

Später interessieren uns die Kritiken, die der Film bekommen hat und wir landen vor Noahs Laptop. Er benutzt ihn selten, er kann sich nicht mehr lange genug konzentrieren. Seine Augen machen es eh nicht mehr wirklich mit, die Schrift ist deswegen schon größer gestellt. Aber schon nach kurzer Zeit verschwimmen die Texte immer vor seine Augen.

Nach den Kritiken beginnen wir einfach die Namen einzugeben und uns die Ergebnisse anzusehen. Oder sagen wir, ich sehe mir die Ergebnisse an und lese sie Noah vor.

Dann stoße ich auf eine Seite mit Geschichten, finde dort einen Link 'nickstories.de'.

Ich klicke drauf. Wühle mich ein bisschen durch und bin so fasziniert, dass ich Noah damit anstecke. Wir schauen uns die Masse an Geschichten an, scrollen runter.

"Du scheiße, dass hört ja gar nicht mehr auf!", staunt er.

Gerade bin ich wieder nach oben, als er plötzlich "Stop!" ruft.

"Geh mal 'n Stück weiter runter, noch 'n Stück, noch 'n Stück....DA", er zeigt triumphierend auf einen Namen.

Ich bin ja schon verwundert, dass er überhaupt etwas gesehen hat, was mir entgangen ist. Aber meine Verwunderung steigt noch, als ich den Namen lese, auf den er zeigt. 'Loki', steht da. Meine Augen wandern zu dem Namen der Geschichte. 'Hürdenlauf'

Ich klicke es an. Ein Prolog und 10 Kapitel reihen sich auf und ich bin baff.

"Noah!" sage ich, nachdem ich den Prolog gelesen habe. "Noah, der ist positiv!"

Ich lese es ihm vor.

"Lass uns reinlesen!", meint er nach einer kleinen Pause.

Wir setzen uns aufs Sofa. Noah kuschelt sich unter eine Decke, legt den Kopf in meinen Schoß und schließt die Augen.

Ich öffne das erste Kapitel.

Wir versinken.

Gerade als der Story-Loki erschrocken hochguckt, weil er André nicht hat kommen hören*, erschrecke ich genauso, denn Noah sagt plötzlich:

"Gott, kann der schreiben!"

Ich lese weiter vor. Noah scheint die Geschichte völlig in sich aufzusaugen. Seine Atmung hat sich verändert, sie ist unglaublich ruhig und entspannt.

Irgendwann meldet er sich wieder zu Wort.

"Wie die Möwe!", sagt er nur. "Genau wie die Möwe"

Er lächelt und schaut kurz zu mir auf.

Mir fällt seine Aktion auf der Brücke wieder ein. 'Die Möwe Jonathan' - klar.

Als Loki am Ende des Kapitels die Augen zufallen*, habe ich das Gefühl, dass Noah auch eingeschlafen ist. Ich fahre ihm vorsichtig mit der Hand über die Stirn, wische ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht.

Er öffnet die Augen.

"Liest du es noch mal?", fragt er. "Liest du es mir noch mal vor?"

Ich schaue ihn an und beginne zu nicken.

Ich scrolle nach oben.

"Irgendwo tickt eine Uhr. Gleichmäßig, nicht laut. Aber das Geräusch kratzt an meinen Nerven."*( Hürdenlauf – Jonathan Möller)

Und auf Noahs Gesicht breitet sich ein wunderschönes Lächeln aus.


* Hürdenlauf
Autor: Jonathan Möller
2006-2008
www.nickstories.de - Hürdenlauf ©Loki

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