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Noah

Kapitel 7

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Informationen

  • Story: Noah
  • Autor: Manou
  • Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama

 

Irgendjemand muss da sein. Noah hört leise Schritte auf dem Linoleum. Dann ein dumpfes Geräusch direkt neben seinem Bett und ein leises Schnaufen. Metallisches Sirren, als langsam ein Reißverschluss aufgezogen wird. Eine Hand legt sich auf seine Brust, hinterlässt ein warmes Gefühl, als sie sich auf den Weg seinen linken Arm hinunter macht und schließlich zärtlich seine Finger umschließt. Ein Lufthauch trifft seine Wange. Sanft legen sich für einen Moment warme Lippen auf seine. Gregor – Gregor muss hier sein. Noah versucht Gregors Hand zu drücken. Wenn er nur die Augen öffnen könnte ...

„Schlaf weiter!“, hört er Gregor leise flüstern. „Schlaf einfach weiter. Ich bin ja da.“

Und Noah verschwindet wieder, irgendwo in den Tiefen der Träume.

Gregor bleibt sitzen. Seine linke Hand hält Noahs fest, mit der rechten streicht er ihm über das Gesicht. Die Minuten vergehen. Draußen auf dem Gang hört man gedämpfte Schritte, einzelne Worte und hin und wieder ein Lachen. Im Zimmer selber ist es still. Nur Noahs Atem ist ganz leise zu hören. Die Ärzte hatten gesagt, dass er viel schlafen würde. Der Körper müsse sich erholen, müsse verarbeiten und das bräuchte Kraft - Kraft und Zeit.


Ich trete gerade von dem Gehweg auf das Grundstück von Margit und Thomas, als ich die Haustür aufgehen sehe. Qilaq erscheint auf der Schwelle; sieht mich und bleibt stehen. Er trägt seinen Mantel. Ohne den Blick von mir abzuwenden, gibt er die Türschwelle frei und man hört das leise Knacken, als das Schloss einrastet.

„Ich habe auf dich gewartet!“, sagt er. „Lass uns ein paar Schritte gehen, die beiden reden gerade so schön.“

„Ok!“

Qilaq blickt sich um.

„Wo lang?“, fragt er.

Ich zucke mit den Schultern.

„Dann nehmen wir den Weg, bei dem wir den Wind im Rücken haben", entscheidet er sich und schlägt seinen Mantelkragen nach oben.

„Aber spätestens, wenn wir nachher umdrehen, haben wir den Wind doch so oder so im Gesicht, oder?“

„Nachher?“ Qilaq überlegt kurz. „Nachher kann sich alles schon wieder geändert haben ... auch die Richtung, aus der der Wind kommt.“

Mein Poet und ich laufen also durch das Musikerviertel Richtung See, reden über seine Arbeit; meine Arbeit. Ihn hat es damals mit am meisten gefreut, als ich ihm erzählt habe, dass ich den FSJ- Platz im Altersheim ausgewählt habe. Die Älteren zu respektieren ist ihm sehr wichtig. Es gehört zu seiner Kultur. Noch heute hört er sich - vor wirklich wichtigen Entscheidungen - gerne die Meinung seiner Großeltern zu dem jeweiligen Thema an. Um sich selbst und die Standfestigkeit seiner bevorzugten Entscheidung zu testen, wie er sagt.

Paradoxerweise muss ich immer, wenn er davon erzählt, an ‚Großmutter Weide‘ aus ‚Pocahontas‘ denken. Dieser kluge, alte Baum, der nicht viel spricht, aber wenn, dann immer die richtigen Worte findet und der immer für alles eine Lösung hat. Das trifft allerdings auch auf Qilaq selbst zu, aber ich bezweifele, dass ihn dieser Vergleich glücklich machen würde.

‚Du, übrigens, du erinnerst mich an eine alte Weide aus einem Disneyfilm über Indianer.‘ - ... man muss ja nicht alles erwähnen, was einem so durch den Kopf geht.

Am See angekommen, nimmt der Wind zu. Meine Haare wirbeln wild herum. Ich kann sie gar nicht schnell genug wieder hinters Ohr schieben. Es dauert nur Sekunden, dann zieht der Wind sie wieder hervor.

„Ein aussichtsloses Kampf“, kommentiert Qilaq meine Bemühungen, nachdem er sie einige Zeit lang amüsiert beobachtet hat.

„Nicht der einzige, und sicher nicht der schlimmste!“, erwidere ich leicht genervt und versuche irgendwie meine Haare im Zaum zu halten.

Er nickt.

„Das mit Sicherheit nicht, aber der einzige, gegen den man momentan etwas tun kann.“

Er streift sich ein Band vom Handgelenk und reicht es mir.

Also doch, die ganze Zeit über wusste ich, dass er über irgendetwas reden will. Dass das höchstwahrscheinlich ein unangenehmes Gespräch werden wird, liegt förmlich in der Luft.

Ich wickele mir sein Band in die Haare und endlich bleiben meine Locken dort, wo sie hingehören. Ich bedanke mich artig und frage mich gleichzeitig, wann Qilaq wohl loslegt.

Er lässt sich Zeit. Gibt mir keine Antwort, sondern geht stattdessen in die Hocke und taucht seine Fingerspitzen in den See. Zeichnet etwas in das vom Wind aufgewühlte Wasser und schweigt.

Wie lang kann ein Mensch eigentlich in der Hocke sitzen, bevor er sich irgendwelche Blutgefäße oder Nerven abklemmt?

„Erinnerst du dich an den Zettel in deinem Briefkasten?“

‚God, grant me the serenity to accept the things I cannot change, the courage to change the things I can, and the wisdom to know the difference.‘ – wie könnte man so etwas vergessen?

Qilaq sieht mich an und wartet auf mein Nicken. Als es schließlich kommt, lächelt er sanft.

„Hast du die Bedeutung verstanden?“

„Ja, hab’ ich.“

Habe ich wirklich ... denke ich ...

„Gut", sagt er und steht auf.

Seine Aufmerksamkeit richtet sich auf eine ältere Dame, die die Promenade entlang läuft. Einen Spazierstock in der Hand. Den Riemen einer Tasche über der Schulter. Sie hinkt und mit jedem Schritt schwingt ihre Tasche rhythmisch vor und zurück.

Ich stehe leicht verwirrt neben Qilaq. War es das jetzt etwa schon?

Die Dame lässt sich stöhnend auf einer Bank nieder. Greift sich ans Herz und atmet angestrengt. Qilaq setzt sich in Bewegung und nur Momente später neben die alte Frau.

„Sie sollten sich etwas anders hinsetzen, dann fällt Ihnen das Atmen leichter. Schauen Sie, so.“

Er macht es ihr vor, sie macht es nach. Es scheint zu funktionieren, sie sieht ihn mit großen Augen an. Nach einer Weile fängt sie an in ihrer Tasche zu wühlen, zieht eine kleine Tüte hervor, öffnet sie und beginnt das darin liegende Brot den wenigen Enten hinzuwerfen, die sich gerade in der Nähe aufhalten. Innerhalb von Sekunden ist aus den paar Enten eine ganze Schar geworden. Die Möwen kommen noch dazu und für kurze Zeit befinden wir uns in einem gefiederten Tornado.

Qilaq sitzt mit einem merkwürdig zufriedenen Lächeln neben der Frau, sieht ihr und den Tieren zu. Als die Fütterung wegen Brotmangel eingestellt werden muss, ist der Feder-Tornado in Sekundenschnelle weitergezogen.

Die alte Frau bleibt allerdings.

„Es ist schön hier, nicht?“, fragt sie.

Qilaq stimmt ihr zu.

„Sehr schön sogar", sagt er.

„Wir sind nach dem Krieg hergekommen", erzählt sie. „War schlimm damals. Mit den Russen. Ja, sehr schlimm ...“

Ihre Stimme wird leiser, verliert sich in sich selbst. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht verändert sich und sie sieht uns mit einem Mal erstaunt an.

Sie lächelt freundlich und reicht Qilaq die Hand.

„Guten Tag. Ich bin die Emma. Kennen Sie mich?“

Qilaq lässt sich nichts anmerken, nimmt ihre Hand und stellt mich und sich höflich vor. Die alte Dame nickt begeistert.

„Ich bin die Emma", sagt sie, blickt um sich und meint freudestrahlend: „Es ist schön hier, nicht?“

„Sehr schön sogar", antwortet Qilaq, bevor er mir einen bedeutungsvollen Blick zuwirft und aufsteht.

„Gehen Sie denn schon?“

Emma wirkt enttäuscht.

„Möchten Sie vielleicht mitkommen? Wir könnten Sie ein Stück begleiten.“

„Ja, müssen Sie denn auch nach Küstrin?“

„Liegt genau auf unserem Weg!“, fabuliere ich.

Sie strahlt uns an. Qilaq hilft ihr aufzustehen. Als ich ihr ihren Stock reiche, fällt mir das kleine Schildchen auf, das draufgeklebt wurde. Eine Adresse. Ganz in der Nähe.

Halb auf ihren Stock, halb auf Qilaqs Arm gestützt, macht sich Emma mit uns auf den Heimweg. Es dauert nicht lange. Wir sind kaum in die Straße eingebogen, als uns eine junge Frau entgegenläuft. Sie wirkt ungemein erleichtert.

„Oma!“, ruft sie und bleibt schließlich keuchend vor uns stehen. „Oma, du sollst doch sagen, wenn du fortgehst.“

Emma strahlt die Frau an, lässt sich von ihr umarmen und fragt dann höflich: „Ich bin die Emma. Kennen Sie mich?“

Die Augen der jungen Frau schauen traurig. „Ach Oma!“, sagt sie leise.

„Gehen wir weiter?“ Emma sieht Qilaq und mich erwartungsvoll an. Ihre Enkelin scheint sie schon wieder vergessen zu haben. „Ab Einbruch der Dunkelheit gilt die Ausgangssperre und es wird schon bald dunkel.“

„Ehm, natürlich.“

Wir sind eine seltsame kleine Prozession, wie wir so durch die Straße ziehen. Emma erzählt unentwegt von den Russen.

„Alles klauen sie einem! ... Ein diebisches Volk ist das. ... Nichts dürfen wir behalten. Gar nichts. ... Und wir Frauen ... wir sind Freiwild für die.“

Die junge Frau wirft uns über die Schulter einen nervösen Blick zu und läuft schneller, biegt schließlich in eine Einfahrt und ruft nach jemandem. Eine ältere Version der jungen Frau kommt aus einem Hauseingang.

„Mutter, da bist du ja wieder! Wo bist du denn gewesen, wir haben uns schon Sorgen gemacht.“

Sie kommt auf uns zu und streckt die Hände nach der alten Dame aus. Liebevoll, aber mit Nachdruck befreit sie Qilaqs Arm aus Emmas Klammergriff und schaut uns gleichzeitig dankbar an. Gerade macht sie den Mund auf; will etwas sagen ...

Emma beginnt zu schreien, versucht ihre Tochter mit dem Spazierstock auf Abstand und von ihrer Handtasche fernzuhalten.

„Diebisches Gesindel! Lässt du mir wohl meine Tasche. Weg. Scher dich weg, sag’ ich!“

Sie kämpft noch einige Sekunden verbissen, dann steht sie plötzlich reglos da. Der Übergang ist so abrupt, als hätte jemand von jetzt auf gleich die Zeit und damit ihr Leben angehalten. Sie sieht lange auf ihre Schuhe, hebt den Kopf schließlich wieder. Ihre Augen blicken nun voller Klarheit in meine. Ein krasser Widerspruch zu dem trüben Ausdruck von vorhin. Und als ob sie sich mit einem Mal an die vorherige Szene erinnern könnte, füllen sich ihre Augen mit Tränen. Sie beginnt zu schluchzen und lässt sich widerspruchslos von ihrer Tochter zum Eingang führen.

Deren beruhigende Worte scheint sie kaum wahrzunehmen. Noch als sie bereits im Haus verschwunden sind, können wir Emma hören:

„Was ist denn nur los. Was ist denn nur los mit mir...“

Aber dann wird es still. Qilaq und ich stehen in dem fremden Vorgarten. Gerade eben haben wir noch zum Drehbuch gehört, jetzt sind wir rausgeschrieben worden. Von der einen Szene auf die andere. Wir sehen uns kurz an – sollen wir warten oder einfach gehen?

Wir machen uns auf den Rückweg. Ich habe einen bitteren Geschmack im Mund und egal wie oft ich schlucke, er hält sich hartnäckig.

Es ist nicht so, dass ich so etwas noch nie erlebt hätte. Auf meiner Station im Altersheim sind auch viele Bewohner davon betroffen. Ich kenne die plötzlichen Wechsel zwischen der Traumwelt, den Erinnerungen und der Realität und das Gefühlschaos, das solche Wechsel mit sich bringen. Die tiefe Traurigkeit, die die Leute erfasst, wenn sie merken, dass irgendetwas mit ihnen nicht stimmt, sie es aber nicht in Worte fassen können. Stille Verzweiflung - auf der Seite der Bewohner; auf der Seite der Angehörigen. Manchmal sogar so schlimm, dass man es fast schon als Segen empfindet, wenn der kurze Zustand der Klarheit sich wieder verflüchtigt.

Und ich kenne das Gefühlschaos eines 22jährigen, der damit leben muss, dass er den nächsten Sommer höchstwahrscheinlich nicht mehr erleben wird. Kenne die Stimmungen, die immer wieder in Sekundenschnelle umschwenken. Ungebremste Lebensfreude trifft auf zügellose Angstzustände, Hoffnung trifft auf Wut, Zukunftsträume auf Verzweiflung, Befreiendes auf Beklemmendes, Freudentränen auf solche, die den unglücklichen Gefühlen Luft machen sollen ... die Kombinationsmöglichkeiten sind unendlich, ständig neu variierbar. Man ist ihnen manchmal richtig ausgeliefert. Sie tauchen auf, wann und wie es ihnen gefällt, verschwinden und verändern sich so, wie es ihnen passt. Und oft steht man einfach nur daneben und weiß nicht, was man tun soll.

Aus dem bitteren Geschmack in meinem Mund ist ein salziger Geschmack auf meinen Lippen geworden. Na toll, jetzt heule ich auch noch. Wütend fahre ich mir mit dem Ärmel über die Augen. Soweit kommt es noch, dass ich mit verquollenem Gesicht durch die Straßen renne.

„Du bist wütend.“

Wie so oft eine Feststellung, keine Frage.

Und er hat recht, ich bin wütend. Verdammt wütend sogar. Nur woher die Wut auf einmal kommt, kann ich nicht wirklich greifen. Genauso wenig weiß ich, auf wen oder was ich eigentlich wütend bin.

Auf dieses Irgendwas, was da im Raum schwebt. Ständig in meinen Gedanken herumspukt. Mich immer wieder darauf hinweist, dass die Zeit so begrenzt ist. Und dass einige eben alt werden dürfen und andere nicht.

Mir fährt eine unangenehme Kälte durch den Körper.

„Freut mich. Ich war mir gestern nicht sicher. Ich dachte, du hättest nur Angst.“

Ich hoffe mal schwer, dass er darauf jetzt keine Antwort erwartet.

„Gehen wir noch mal zum See. Ich will dir etwas zeigen.“ Qilaq sieht mich nicht an, sondern zieht mich stattdessen hinter sich her.

Wieder am See bückt er sich und liest einige Steine vom Boden auf. Tritt nahe ans Ufer und dreht sich zu mir.

„Wirf!“, sagt er und deutet Richtung Wasser.

Mir wird ein Stein in die Hand gedrückt. Ein zweiter fliegt bereits weit über das Wasser.

Kurzerhand werfe ich meinen Stein hinterher. Ich bin nicht mal so schlecht, kann mit Qilaq aber nicht annähernd mithalten.

Ein weiterer Stein findet den Weg in meine Hand.

„Noch mal.“

Ich werfe wieder. Kein nennenswerter Unterschied. Ein dritter Stein schiebt sich zwischen meine Finger. Wir werfen und werfen. Es wird dunkel, meine Armmuskulatur schreit mir üble Worte ins Gesicht, aber wir hören trotzdem erst auf, als wir nicht mehr sehen können, wo die Steine landen.

Qilaq nestelt an seinem Mantel herum und zieht einen schmalen, schwarzen Gegenstand hervor. Ein leises Klicken und ich muss die Augen schließen. Grelles Licht scheint mir mitten ins Gesicht. Viel zu hell nach der langen Zeit in der immer dunkler werdenden Umgebung.

Der blendende Lichtstrahl löst sich von meinem Gesicht und ich öffne vorsichtig die Augen. Qilaqs rechter Arm hält eine Taschenlampe hoch über seinen Kopf. Ihr Licht ist noch weit draußen auf dem See als Flackern zu erkennen.

„Einmal noch", höre ich Qilaqs Stimme.

Irgendetwas bewegt sich im Wasser, es wirft den Schein der Lampe reflektierend und glitzernd zurück. Unschlüssig drehe ich den Stein in meiner Hand hin und her.

„Worauf wartest du?“

„Auf den Sinn. Ich seh’ nämlich keinen, du etwa?“

„Glaubst du ernsthaft, ich würde dich stundenlang Steine werfen lassen, wenn ich nicht einen Sinn darin sehen würde?“

Ich zucke mit den Schultern.

Er lacht. Er lacht?

„Pass auf!“, sagt er dann leise. „Mit der Wut und der Angst ist es wie mit diesem Stein, wenn du nicht lernst, sie zu lenken und in ihre Schranken zu weisen, dann landen sie wer weiß wo und richten vielleicht Schäden an, die du nie wieder gut machen kannst.“

Ok?!

„Also, was schließt du aus meiner salbungsvollen Rede?“

„Ich soll meine Wut in Bahnen lenken, die ich beherrsche?“

„Richtig!“

Mehr scheint da nicht zu kommen. Super, kriege ich jetzt einen Keks? Manchmal ist Qilaq echt anstrengend. Ihn scheint mein genervter Blick nicht zu stören. Er zieht sich in Seelenruhe aus. Moment ... er macht was?

„Ähh ... Qilaq, was zur Hölle machst du da?“

„Ich gehe die Ente da hinten retten!“, antwortet er und steigt aus seiner Hose.

„Die was?“

„Die Ente, da hinten. Sie hat sich verheddert. Die geht elendig ein.“

Ich bekomme seinen Mantel und die Taschenlampe in die Hände gedrückt. Da stehe ich nun. Es ist Mitte Dezember, es ist abartig kalt, unangenehm kalter Wind kommt auf und es ist mittlerweile stockdunkel. Und was mache ich? Ich stehe am Ufer des Bodensees, darf auf ein Kleiderbündel samt Schuhen aufpassen und dem Mann meines besten Freundes den Weg zu einer im Wasser paddelnden, verletzten Ente leuchten.

...

„Bist du eigentlich komplett bescheuert?“

In Noahs kleinem Bad herrscht Hochbetrieb. Ich habe am Waschbecken ein Date mit einem schmierigen Stück Seife, einem Waschlappen und einer Handbürste, Noah klaubt Qilaqs Sachen zusammen um sie in die Waschmaschine zu stecken und Qilaq selber hockt in der Badewanne und rubbelt sich den Schmutz vom und die Kälte aus dem Körper. Und Lex? Lex heizt den gesamten Raum. Er steht mit vor Wut geballten Fäusten vor der Badewanne und sprüht förmlich Funken vor Zorn.

Der Einzige, den das so ziemlich kalt lässt, ist Qilaq.

„Lex, das Tier wäre verreckt. Und zwar grausam. Der Draht war um den Hals und um die Latschen ...“

„Das ist mir so was von scheißegal, wo dieser scheiß Draht war. Bist du mal auf den Gedanken gekommen, dass diese gottverdammte Ente nicht die Einzige hätte sein können, die draufgeht?“

„Nein!“

„Nein, warum auch!“ Lex fährt sich entnervt durch die Haare.

Noah und ich machen das wir aus dem Bad kommen. So was lässt man die beiden am besten unter sich ausmachen. Leise schließe ich die Tür hinter uns.

„Ich bring die Sachen hoch, willst du mit?“ Noah hat den Arm voll mit Qilaqs feuchten Sachen. Sie riechen recht penetrant nach Seewasser.

Nachdem wir den Klamotten einige Minuten beim Planschen in der Seifenlauge zugesehen haben, überlassen wir sie ihrem Schicksal und steigen wieder nach unten. Noah setzt Teewasser auf und ich schlendere mit den Tassen in der Hand schon mal ins Wohnzimmer. Der Tisch ist voll mit beschriebenen Blättern.

„Noah!“, rufe ich. „Wohin mit den Papieren?“

Ein Scheppern aus der Küche. Dann rollt ein Metalldeckel in den Flur, dicht gefolgt von Noah, der wie ein Derwisch ins Zimmer gepest kommt.

„Ähh, die nehm ich.“ Hektisch schiebt er die Blätter zusammen und stopft sie in einen großen Umschlag. Als er wieder in die Küche geht, nimmt er ihn mit und sagt demonstrativ nichts mehr dazu. Mir auch recht.

Pünktlich zum Tee sind auch Lex und Qilaq mit allem fertig geworden. Nachdem wir es relativ schnell aufgegeben haben, in Noahs Sachen etwas für Qilaq zu finden, hockt der nun in alten Sachen von Thomas auf der Couch. Eine ausgeleierte Jogginghose, die vor allem dadurch besticht, dass sie knappe zehn Zentimeter über den Knöcheln endet und den dazu passenden Pullover.

Noah hat den Kopf an meiner Schulter angelehnt und sieht Qilaq an. Er zupft nachdenklich an der Decke herum. Schließlich bricht doch eine Frage aus ihm heraus.

„Was hättest du gemacht, wenn sie schwer verletzt gewesen wäre. Hättest du sie ... na ja, du weißt schon ... also ...“

Erstaunlich, dass eine kleine Ente vier erwachsene Menschen derart beschäftigen kann ...

„Ob ich sie hätte töten können? Natürlich, jeder Mensch kann töten. Aber ich nehme an, du wolltest wissen, ob ich sie getötet hätte, wenn es nötig gewesen wäre?“

Noah nickt.

„Ja, dann hätte ich sie getötet.“

„Warum?“

„Es wäre pure Grausamkeit gewesen sie langsam sterben zu lassen.“

„Weil sie irgendwann nur noch dagelegen wäre und auf den Tod hätte warten müssen?“

Qilaq neigt den Kopf und betrachtet Noah aufmerksam. Der redet weiter:

„Ich mein nur. Tun das nicht irgendwann alle? Irgendwo liegen oder sitzen und auf den Tod warten? Ist doch scheißegal, ob es die Sekunden nach nem Herzinfarkt sind oder die Wochen, die andere so vor sich hinvegetieren, bis der Körper endlich aufgibt. Alle warten irgendwann. Das Einzige, was einen dann unterscheidet, ist doch, wie lange es sich hinzieht. Jeder hofft doch, dass es schnell gehen wird. Dass man nicht noch leiden muss ..."

„Angst, dass es dir so gehen wird?“ Qilaqs Frage durchschneidet die eingetretene Stille.

Noah setzt sich auf. Ein unheimliches Lächeln ziert sein Gesicht.

„Eher Angst vor der Gewissheit, dass es mir genau so gehen wird. Ich werd’ nämlich nicht so schnell wegdriften. Ich werd’ noch ne Menge mitkriegen. Ich darf bei vollem Bewusstsein Stück für Stück die Kontrolle über meinen Körper abgeben. Bis ich wieder eingesperrt bin. Irgendwo in meinem Kopf. Wo ich niemanden mehr erreiche und wo mich niemand mehr erreichen kann ...“ Noah bricht ab, sieht uns entsetzt an. So, als hätte er viel zu viel gesagt.

Wieder breitet sich die Stille im Raum aus. Aber diesmal fühlt sie sich noch viel schlimmer an als eben. Noah kratzt sich am Kopf, zögert kurz, schweigt dann aber lieber. Qilaq nicht.

„Es muss dir nicht genauso gehen ...“

Noah unterbricht ihn, seine Augen funkeln zornig.

„Wird es aber ... und ich werd’s nicht ändern können – keiner kann das!“

„Sicher?“

Die zwei Augenpaare bohren sich ineinander.

„Du könntest dein Leben jederzeit beenden.“

Ich glaube, ich habe mich verhört. Doch noch bevor ich irgendetwas sagen kann, macht Qilaq weiter.

„Hier im Haus lässt sich sicher ein scharfes Messer finden, oder ein paar Tabletten und noch vor Sonnenaufgang wärst du fort und hättest nur Sekundenbruchteile vom Sterben mitbekommen. Es wäre überhaupt kein Problem.“

Noah zittert, aber seine Gesichtszüge wirken wie versteinert.

„Niemals", sagt er leise.

Qilaq kniet sich vor ihn. Nur wenige Zentimeter trennen die beiden noch, als ein Flüstern durch den Raum geht.

„Warum nicht?“

„Mir nimmt niemand mein Leben weg. Nicht einen einzigen gottverdammten Moment davon.“

„Nichts und niemand?“

„Nichts und niemand.“

„Dann hör auf dir selber Momente wegzunehmen. Die einzige Gewissheit, die wir haben, ist die, dass wir irgendwann geboren wurden und irgendwann sterben werden. Das ist alles, was wir wissen und alles, was wir wissen müssen. Und mit jeder Sekunde, die du mit Nachdenken über den Ablauf deines Sterbens verbringst, verschenkst du einen Moment Leben.“

„Ich will nicht sterben.“ Noahs Stimme hallt in meinem Kopf wieder. Ein unendliches Echo von Verzweiflung und Trauer. Ein Echo, das alles andere abtötet. Es gibt nichts anderes. Nur diese Stimme, die immer und immer wieder die gleichen Worte hervorbringt. Die sich mit jedem Mal tiefer gräbt. Die sich um einen legt wie ein Mantel und die einem brutal einen Wunsch entgegensetzt, den man nicht ansatzweise erfüllen kann, obwohl man sich in dieser endlosen Sekunde nichts anders wünscht, als das sich eine Lösung finden würde.

Doch so urplötzlich, wie das Echo entstanden ist, verschwindet es auch wieder. Jemand hat es vertrieben.

„Du wirst nicht sterben, Noah. Heute nicht und morgen auch nicht. Und wer weiß schon, was in zwei Tagen ist? Was zählt, ist doch jeder Moment bis dahin. Jeder gottverdammte einzelne Moment, indem du einfach nur glücklich bist.“

...

„Manou?“

Mein Name und eine sanfte Berührung am Arm wecken mich auf. Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass ich eingeschlafen war. Margit steht vor mir. Blinzelnd sehe ich sie an.

„Die Sachen von deinem Freund sind trocken", sagt sie und legt den kleinen Stapel auf den Tisch.

„Danke schön!“

Qilaq ist mir zuvorgekommen. Seine Augen blicken hellwach in das Zimmer. Der Rest seines Körpers verharrt vollkommen regungslos, um die beiden Schlafenden nicht zu wecken, die sich an ihn gekuschelt haben. Lex hat eine seiner Hände für sich beansprucht, alles andere hat er Noah überlassen. Der liegt mit seinem ganzen Gewicht auf Qilaq, das Gesicht zwischen dessen Hals und Schulter verborgen.

Vorsichtig bewegt sich Margit auf die Drei zu und streicht Noah über die Haare.

„Ich habe zu danken.“

Sie verschwindet genauso leise, wie sie wohl auch gekommen ist.

Qilaq wirft mir einen langen Blick zu. Ich schaue nicht weg und lasse ihn lesen.

„Ich hätte dich vorwarnen sollen. Was ich getan habe, hat dir wehgetan.“

Ich nicke.

„Aber du weißt, warum ich es tun musste.“

„Ich denke.“

„Es wird dir schwerfallen ihn loszulassen, wenn es soweit ist.“

„Es wird die Hölle sein.“

„Mit Sicherheit.“

„Ich hab Schiss, dass ich es nicht schaffe.“

Habe ich wirklich und es macht mir Sorgen. Ein Leben ohne Noah – ich kann es mir schon gar nicht mehr richtig vorstellen. Es fühlt sich so an, als wäre er einfach schon immer da gewesen. All das jetzt wieder aufzugeben ... es erscheint mir unmöglich.

Qilaq lächelt.

„Man kann vor allem Angst haben. Vorm Sterben, vorm Loslassen, vorm Alleinsein, vor Menschen, Tieren, Geräuschen, Krankheiten. Man kann sein ganzes Leben mit dieser Angst füllen, wenn man will. Sein gesamtes Haus damit vollstopfen. Aber davon hat man nichts - außer ein Gefühl von Verlorenheit, denn entweder man verliert sich und sein Leben in der Angst oder man stellt fest, dass man selber in seinem Haus keinen Platz mehr hat.“

„Ein guter Freund von mir hat mal gesagt, dass es immer nur um den einen Moment geht. Weil sich später immer schon wieder alles geändert haben kann.“

„Muss ja ein verdammtes Genie sein, dein guter Freund.“ Qilaq beginnt sich vorsichtig zu strecken. „Ich habe dem jedenfalls nichts hinzuzufügen.“

„Hätte mich auch gewundert.“

„Mich erst.“

„Von mir gar nicht zu reden.“ Lex ist aufgewacht und streicht sich gähnend durch die Haare.

Sein Blick fällt erst auf die Klamotten, die auf dem Tisch liegen, wandert dann zu Qilaq und schließlich nachdenklich auf seine Armbanduhr. „Halb elf. Wollen wir heim?“

Qilaq beginnt sich langsam zu befreien.

„Wollt ihr jetzt wirklich noch gehen?“, frage ich.

Beiden nicken.

„Ist besser so", sagt Lex. „Wie musst du morgen arbeiten?“

„Spät.“

„Alles klar, dann sehen wir uns morgen Abend. Bleib liegen, wir finden schon raus.“

Ich bleibe brav liegen, sehe Qilaq beim Umziehen zu und die beiden im Flur verschwinden. Augenblicke später geht die Haustür. Sie haben die Lichter gelöscht. Es ist dunkel, allein die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos werfen hin und wieder Lichtschimmer in die Wohnung. Groteske Schattenfiguren tanzen durch das Zimmer und verschwinden genauso schnell auch wieder. Ein stetes Kommen und Gehen. Wie im echten Leben.

...

Qilaq kommt vorsichtig zurück ans Ufer gewatet. In seinen großen Händen ein schwarzes, vor Erschöpfung zitterndes Federbündel. Es dauert einige Minuten, bis wir den Draht entwirrt und das Tier befreit haben. Behutsam tasten die schlanken Finger die Ente ab, die Augen suchen gleichzeitig aufmerksam nach Verletzungen und finden zum Glück nichts.

Immer noch nur in Unterwäsche bückt Qilaq sich schließlich auch wieder und setzt die Ente zurück ins Wasser. Sie paddelt langsam davon, bleibt aber dicht am Ufer.

„Weißt du, was das Problem von aussichtslosen Kämpfen anderer ist?“, fragt Qilaq. Er wartet meine Antwort gar nicht erst ab. „Man verpasst viel zu schnell die Möglichkeit für sich selbst einen inneren Schlussstrich zu ziehen. Das Loslassen zu lernen. Und wenn man diesen Moment erst mal verpasst hat, dann kommt man da selber auch nicht mehr ganz heil raus.“

Er steigt aus seinen Pants und schlüpft in seine kalten Klamotten. Aus einer Manteltasche zieht er ein kleines, dünnes Plastikpäckchen, zerrt ein Tuch daraus hervor und reibt sich die Hände damit ab. Der scharfe Geruch von Desinfektionsmittel steigt mir in die Nase.

„Wann weiß ich denn, wann es Zeit ist loszulassen?“

„Das wirst du merken.“

Tolle Antwort.

Qilaq wirft einen Blick auf die Uhr, dann einen Blick an sich herunter. Er ist praktisch durchgeweicht, und als der Wind noch auffrischt, beginnt er zu laufen.

„Lex wird durchdrehen.“, sagt er und grinst mich an.

„Zu Recht?“

„Wahrscheinlich. Aber er kennt mich, er weiß, dass ich nicht anders konnte. Er wird sich aufregen, ich werde dagegen argumentieren, ihn werden meine Argumente einen Scheiß interessieren und wir werden uns kurz anzoffen, damit wir uns schnell wieder versöhnen können. Strange, isn’t it?“

So schnell wir können laufen wir zurück zu Noahs Wohnung. Wir haben schon geklingelt, als Qilaq sich noch schnell zu mir herunterbeugt und mir etwas ins Ohr flüstert:

„Wegen vorher: Es gibt einfach Momente im Leben, in denen man ganz genau weiß, was das Richtige ist.“

Ich kann nicht mehr darauf antworten, die Tür springt auf.

...

Und hier geht das Licht an. Noah flucht leise, als er sieht, dass er mich geweckt hat, aber dann wird sein Blick prüfend.

„Alles ok?“

„Ja, wieso?“

„Du siehst verwirrt aus.“

„Ich dachte, das wäre ein Normalzustand.“

Noah grinst und verschwindet durch die Tür. Als er wiederkommt, riecht es nach Tee. Das ist doch mal was, ich setze mich auf und nehme meine Tasse in Empfang. Wirklich geschlafen habe ich nicht. Nur nachgedacht, den Tag Revue passieren lassen und versucht ihn einzuordnen. Ein Blick auf die Uhr bestätigt mir, dass heute immer noch heute ist. Die Jungs sind erst vor einer halben Stunde weg. Ich bin hellwach. Das wird sich morgen garantiert während des Spätdienstes bemerkbar machen.

„Was habt ihr heute Vormittag gemacht?“

Noah lässt sich wieder auf die Couch sinken und streckt sich. Man hört ein leises Knacken und ein erleichtertes Seufzen.

„Gott, manchmal fühl ich mich echt wie hundert. Meine Knochen krachen schlimmer als die meiner Oma – wie peinlich is’n das?“

„Willst du jetzt darauf eine ehrliche Antwort?“

„Nein, aber du wahrscheinlich. Wir haben viel gequatscht heute Morgen. Eigentlich haben wir nur gequatscht. Aber war schön ... und spannend.“

„Kann ich mir vorstellen", murmele ich trocken.

„Darf ich dich was fragen?“

„Bitte.“

„Hättest du die Ente gerettet?“

Schon wieder diese Ente.

„Ich hab nicht mal gesehen, dass da überhaupt eine Ente war. Und wenn ich sie gesehen hätte ... ganz ehrlich ... ich hätte es wohl dann versucht, wenn sie nahe am Ufer gewesen wäre. Aber ich wäre sicher nicht in den See hinausgeschwommen. Warum beschäftigt dich das so?“

Noah streicht mit den Händen über den Couchbezug, seine Stirn liegt vor lauter Gedanken in Falten.

„Heute Morgen haben wir uns darüber unterhalten. Über den Wert des Lebens. Und Qilaq meinte, dass für ihn jedes Tier den gleichen Wert hat wie ein Mensch. Das gleiche Recht auf Leben hat und das es kein Argument gäbe, was ihn dazu brächte, seine Meinung zu ändern. Ich hab mir das nicht vorstellen können und dann steigt der tatsächlich wegen einer Ente in den See. Das wäre mir nie in den Sinn gekommen. Klar, wenn es Caro gewesen wäre, Ben oder eins der Kids oder Linus, dann hätte ich sicher nicht gezögert. Aber für eine Ente hätte ich niemals mein Leben aufs Spiel gesetzt. Und jetzt frage ich mich einfach: Für was lohnt es sich zu sterben?“

Sein fragender Blick bohrt sich in meine Augen. Dann schüttelt Noah den Kopf.

„Vergiss einfach, was ich gerade gesagt habe", sagt er und legt sich wieder hin.


„Noah, jetzt komm schon, zwei Löffel noch.“

Widerwillig öffnet Noah den Mund. Essen müssen ohne essen zu wollen ist einfach zum Kotzen. Essen ist generell zum Kotzen und Krankenhausessen sowieso. Aber weder Gefluche noch Augenverdreherei können Gregor davon abhalten, ihm den Löffel in den Mund zu schieben. Wenigstens ist er ihm ein bisschen entgegen gekommen und hat vorher alles mehr oder minder kleingematscht. Jetzt schmeckt das Ganze zwar noch schlimmer als eh schon, aber dafür kann Noah einfach schlucken. Das ist der ganze Trick: Möglichst schnell schlucken und dadurch möglichst wenig schmecken. Es wäre die perfekte Lösung, käme nach dem Schlucken nicht bald wieder der nächste Löffel.

Dann ist es endlich geschafft. Sechzehn Löffel waren abgemacht. Es wird keinen siebzehnten geben und wenn Gregor sich auf den Kopf stellt. Aber der versucht es gar nicht erst. Jeder gegessene Löffel zählt als kleiner Sieg und heute gehen sechszehn davon auf Gregors Konto. Das sind zwar immer noch vier weniger als erhofft, aber dafür fünfzehn mehr als Noah eigentlich geplant hatte.

„Siehst du, es geht doch. Und jetzt trinkst du noch was und dann komm ich kuscheln!“

200 Milliliter abgestandenes, lauwarmes Mineralwasser bewegen sich in einer Schnabeltasse auf Noah zu, schieben sich zwischen dessen Lippen und machen sich von dort aus auf den Weg Richtung Speiseröhre. Ab sofort ist Trinken auch zum Kotzen.

Immerhin lässt ihn Gregor danach in Ruhe und löst sein Versprechen ein. Er kommt kuscheln. Kuscheln - Gregors wichtigste und effektivste Waffe im Kampf gegen Noahs konsequente Weigerung irgendwas zu essen und seit er das bemerkt hat, nutzt er es auch gnadenlos aus.

Heute ist ein guter Tag und diese Tage hat Gregor zu schätzen gelernt. Sie sind selten geworden. Die Bestrahlungen haben ihren Preis, oft ist Noah verwirrt, hat Sehstörungen und ständig Kopfschmerzen. Manchmal wird er von der einen Sekunde auf die nächste aggressiv und nicht selten verweigert er die Nahrungsaufnahme völlig. Umso schöner sind die Tage, an denen das für kurze Zeit in den Hintergrund rückt. Ein unverhofftes Stück Normalität, das es festzuhalten gilt, denn am nächsten Morgen kann sich alles schon wieder geändert haben.

Langsam schafft Gregor sich Platz, schlüpft dann zu Noah unter die Decke und zieht ihn zu sich. Alles ganz vorsichtig und ruhig und schon bald döst Noah in seinen Armen. Auch Gregor schließt die Augen und für eine kurze Zeit gibt es kein Krankenhaus und keinen Krebs, keine Bestrahlungen und keine Schmerzen, es ist alles wieder wie früher.


„Liest du weiter?“

„Hä?“

„Lokis Hürdenlauf.“*

Nicht, dass ich die Wahl hätte. Der Laptop steht schon auf dem Couchtisch und fährt gerade hoch. Stand der vorher schon da? Ich kann mich nicht erinnern.

Wir lesen das fünfte Kapitel noch mal und nehmen uns dann das sechste vor.

Das Kapitel beschäftigt Noah. Er liegt nicht wie sonst auf der Seite, mit dem Kopf in meinem Schoß und mit entspannt, geschlossenen Augen, sondern auf dem Rücken. Seine Augen starren an die Decke und seine Finger spielen mit den Bändeln seines Kapuzenpullis. Seine Bewegungen wirken fahrig. Es macht mich ganz nervös.

Loki nimmt seine Tabletten.* Noah fährt sich mit der Hand über den Hals.

Loki denkt einige Tage später, dass er vergessen hat, seine Medikamente zu nehmen.* Noah rutscht unruhig hin und her.

Loki hat Panik.* Noah knübelt wie wild an den Bändeln des Pullovers.

Loki trifft in einer Disco unerwartet auf seinen One- night- stand, der ihn mit HIV infiziert hat.* Noahs Finger krallen sich krampfhaft in seine Oberschenkel.

Loki will fliegen.* Noah setzt sich aufrecht hin.

Loki stellt sich auf die Balkonbrüstung.* Meine Augen nehmen eine Bewegung wahr. Ich wende meinen Kopf in die Richtung. Noah ist weg, die Couch leer. Die Balkontür steht auf. Ich glaube mein Herz bleibt stehen.

Es sind vielleicht fünf Meter bis nach draußen, aber ein Kilometer hätte mir nicht länger vorkommen können. Mein Puls rast. Ich höre, wie eine Stimme Noahs Namen ruft. Es ist meine Stimme, sie klingt panisch. Bin ich in Panik?

Noah ist es nicht. Der steht ganz ruhig auf dem Balkon, hat die Unterarme auf die Brüstung gestützt und blickt in die Nacht. Ich lehne mich rückwärts gegen die Außenwand. Vor meinen Augen tanzen kleine, schwarze Punkte. Mir ist schlecht. Und schwindlig. Und nach heulen.

Noah erschrickt, als er sich umdreht. Hat mich wohl nicht gehört. Dabei hab ich doch gerufen. Hab ich denn nicht gerufen?

„Ach du Scheiße, hast du gedacht, ich tu mir was?“

Ich tu IHM gleich was. Drecksack. Arschloch. Penner. Mein Herzschlag beruhigt sich wieder, fluchen scheint ihm gut zu tun.

„Sorry, ich hab da gar nicht drüber nachgedacht. Ich hab mir das alles nur so gut vorstellen können. Ich hab es so nachvollziehen können. Da musste ich einfach hier raus.“ Noahs Augen leuchten in der Nacht. „Aber ich wäre doch niemals hier runter gesprungen.“

Das blaue Leuchten sagt die Wahrheit. Es wäre auch unsinnig gewesen. Noah würde sich nie etwas antun. Dafür liebt er das Leben viel zu sehr. Außerdem sind wir hier im ersten Stock. Mein Gehirn war noch bei Loki in weißgottwelcher Höhe. Wütend schüttele ich den Gedanken daran ab. Ich will nicht weiter darüber nachdenken.

Muss ich auch nicht mehr. Noah zieht mich wieder nach drinnen.

„Manchmal ist sie mir unheimlich, diese ganze Geschichte.“ Noah weist auf den Laptop. „Ich hab immer das Gefühl, das alles irgendwie zu kennen. So als wäre es meine Geschichte und gleichzeitig auch wieder nicht. Ich hör dir beim Vorlesen zu und denk immer: ‚Ja genau, genau so ist es. Genau so fühlt es sich an.‘ Da sind für mich so viele Parallelen, und wenn wir dann mit einem Kapitel fertig sind, dann ist das, als wenn ein Traum zu Ende geht. Man wacht auf und fragt sich, wo man ist und wo all die anderen sind, die doch eben noch da waren. Das läuft alles so ab wie ein Film. Man sieht sie lachen, man sieht sie tanzen und küssen und scheiße, ich seh die sogar vögeln. Und dann ... ist der Film vorbei und du merkst, du warst nie dort. Das war nur in deinem Kopf, alles Illusion, alles Fantasie. Und eben wieder irgendwie auch nicht ...“

Mit einem leisen Piepen verabschiedet sich Noahs Laptop wieder in den Ruhemodus. Noah macht ihn ganz aus und wir verschwinden zum Zähneputzen im Bad. Mit Zahnbürste und Zahnpasta im Mund lässt es sich nur schwer sprechen, aber Noah versucht es trotzdem.

„Kopfkino war eigentlich immer schon eine meiner Stärken", nuschelt er und putzt weiter. „Aber leider hat es als Stärke an sich doch einige Schwächen.“

Ich setze mich auf den Badewannenrand. Zähneputzen könnte heute etwas länger dauern.


„Rego! Noah! Ihr kommt zu spät, ihr Flachpfeifen! Ich hab gesagt um vier bei mir.“

Julius hängt träge in seinem riesigen Schwimmreifen und dümpelt durch den elterlichen Pool. Der Rest von Gregors Clique liegt auf dem weitläufigen Rasen verteilt und versucht die letzten Sonnenstrahlen einzufangen. Die Mädels räkeln sich in ihren Bikinis, die Jungs geben sich cool mit Sonnenbrille, Surfershorts und eingezogenem Bauch.

Die Schule ist für dieses Jahr rum und wie immer findet das „Willkommen in den Ferien“ - Grillen bei Julius im Garten statt. Denn außer dem großen Garten an sich bietet das riesige Areal auch noch einen Pool, ein Trampolin und eine wunderschöne Grillecke.

„Du hast doch nur Schiss, dass du ohne mich den Grill nicht heiß genug kriegst.“

„Den habe ich noch jedes Mal auf Touren gekriegt. N paar Mal kräftig reingeblasen und der Hase läuft. Oder Noah, was meinst du?“

„Du bist der Experte was Blasen angeht.“, gibt Noah unschuldig zurück und die Clique brüllt los.

Julius ist hetero. Meistens jedenfalls. Hin und wieder vergisst er es. Vor allem, wenn er einen gutaussehenden Typen trifft und sich ein bisschen in dessen bestes Stück verliebt. Für den stolzen Besitzer kann er allerdings nie wirklich Gefühle aufbringen, was immer zur Folge hat, dass Julius sich relativ schnell neuorientiert. Oder sich eben wieder daran erinnert, dass er ja eigentlich hetero ist.

„Also los, Maestro, beweise er sein Können", meint Gregor und deutet auf den Grill.

...

Noah kaut angestrengt. Sein Bauch drückt unangenehm gegen den Bund seiner Jeans. Wahrscheinlich wird der Knopf demnächst abspringen. Er kann nicht mehr. Der Realität ins Auge blickend lässt er die Gabel sinken – er wird den Teller nicht mehr leer kriegen.

„Jetzt sag bloß du bist schon satt", feixt Gregor. „Fünf Schnitzel, drei Würste und zwei Schaschlik und du kannst nicht mehr?“

„Ich wüsste zu gern, wo du das alles hinsteckst", seufzt Lara.

„Na hoffentlich in den Mund", meint Julius. „So genug über die Figur gejammert. Lasst uns was spielen.“ Er schnappt sich die leere Weinflasche und grinst über das ganze Gesicht.

Gregor verdreht die Augen.

„Oh bitte. Nicht schon wieder.“

„Ach komm, solange du immer ‚Pflicht‘ nimmst, wird keiner die Wahrheit über deine Lieblingssexstellung erfahren.“

„Nicht, dass es keinen interessieren würde", fügt Marie anzüglich hinzu.

Aber es erfährt niemand. Gregor macht der 53jährigen Haushaltshilfe Avancen. Lara zieht sich Philipps Boxer an. Marie küsst Simon. Julius springt nackt in den Pool. David gibt zu auf Füße zu stehen. Seine Freundin gesteht, dass sie manchmal ins Schwimmbadbecken pinkelt und Nadja, dass sie regelmäßig Liebesbriefe an Angelo Kelly geschrieben hat. Das Spiel dauert ewig und erst ganz zum Schluss erwischt es Noah.

„Also schön Noah, Wahrheit oder Pflicht?“, fragt Julius und strahlt dabei in freudiger Erwartung.

Noah weiß, dass er am Ende ist. Er ist immer noch viel zu vollgefressen um irgendeiner ‚Pflicht‘ nachkommen zu können. Es gibt keinen Ausweg.

„Wahrheit", seufzt er und versucht Julius’ Grinsen nicht zu beachten.

„Ok. Wo und wann wolltest du immer schon mal Sex haben?“


„So, ich bin fertig.“

Noah nimmt ein Schluck Wasser aus dem Becher und spült sich in Seelenruhe den Mund aus.

Ich glaub es nicht. Boah, ist das ...

„Noah, das ist fies.“

„Hä? Was? Ich weiß nicht, wovon du redest.“

„Das ist total gemein.“

„Kann ich das Licht ausmachen oder putzt du noch weiter.“

Ich ersteche ihn gleich mit meiner Zahnbürste.

„Du kannst doch jetzt nicht einfach mit erzählen aufhören.“

Er kann nicht nur. Er macht es auch. Es dauert keine fünf Minuten, dann pennt er wie ein Stein.

Donnerstag, 20.12.2007

Die Sonne geht auf.

Margit und Thomas sind schon weg. Noah und ich hocken in Daunendecken gewickelt auf ihrem Balkon und sehen der Sonne beim Ankommen zu.

Wir müssen nicht reden. Direkt vor unseren Augen spielt sich eines der schönsten Wunder der Natur ab. Die warmen Farben verscheuchen das Dunkel der Nacht. Sie lassen sich Zeit, haben es nicht eilig. Ich frage mich, wie viele Sonnenaufgänge ich schon gesehen habe. Ich kann die Zahl nicht schätzen, aber sicher ist, dass keiner wie der andere ausgesehen hat.

„Wann findest du sie schöner, wenn sie aufgeht oder wenn sie untergeht?“, frage ich Noah schließlich.

„Kommt immer darauf an!“

„Worauf?“

„Auf die Situation. Früher im Krankenhaus habe ich mich nach einer schlimmen Nacht immer auf den Sonnenaufgang gefreut. Ich hab mir vorgestellt, dass die Sonne nicht nur das Dunkel vertreibt, sondern auch alles andere. Und wenn es ein schlimmer Tag war, habe ich immer auf den Sonnenuntergang gewartet und gehofft, er würde den schlimmen Tag genauso mitnehmen, wie er die Sonne immer mitnimmt. Hat leider nicht immer funktioniert. Eigentlich hat es nur sehr selten funktioniert, aber jedes Mal, wenn es schlimm wurde, habe ich das Spiel doch wieder gespielt.“

„Als wir noch klein waren, sind meine Schwester und ich abends oft am Fenster gestanden und haben uns den Sonnenuntergang angesehen. Meistens haben wir dann noch ‚Sonnenuntergang auf der Erde‘ gesungen. Das ganze Lied besteht nur aus dieser einen Zeile und die wiederholt man dann immer wieder. Wir waren felsenfest davon überzeugt, dass die Sonne nur dann untergeht, wenn wir das Lied singen. Darum haben wir es manchmal mit Absicht nicht gesungen, einfach weil wir nicht ins Bett wollten.“

„Und das hat funktioniert?“

„Genauso wenig wie dein Spiel!“

Noah lacht leise.

„Ich habe nachgedacht", sagt er dann. „Ich glaube Qilaq hat recht. Es bringt mir nichts Angst zu haben. Ich kann das, was passiert, nicht ändern. Für mich gibt es keine Hoffnung mehr. Aber ich werde die Momente, die ich noch habe, genießen. Jeden einzelnen und sie ganz sicher nicht der Angst auf nem Silbertablett servieren. Die soll sich ihre eigenen Momente suchen. Ich mein, ich beherberge schon einen Tumor und einen Virus, der meint, er müsste seine ganze Familie mit ins Boot holen. Wenn jetzt die Angst auch noch dauerhaft einziehen will, werde ich ja überhaupt keinen ruhigen Moment mehr haben.“

„Und jetzt?“

„Jetzt hat die Angst gefälligst ihre Sachen zu packen. Ihr Mietvertrag läuft aus und wird nicht verlängert. Immerhin ein kleiner Sieg, wenn ich schon das Gefühl habe, als würden die anderen beiden mehr Platz beanspruchen, als eigentlich festgelegt ist.“

„Du bist so ein Spinner.“

Noahs blaue Augen funkeln mich fröhlich an, wenden sich dann aber wieder der Sonne zu. Es wird wieder ruhig auf dem kleinen Balkon.

"Ich will einfach nur die Augen schließen und einschlafen können, aber ich glaube so friedlich wird es nicht werden. Das ist nicht fair, aber bis es soweit ist, werde ich einen Weg gefunden haben damit zu leben. Aber weißt du, was schön wäre?", höre ich ihn wispern. "Wenn ich mit der Sonne mitgehen könnte, das wäre unglaublich schön!"

...

Als ich mich auf den Weg vom Altersheim zu Noahs Wohnung mache, ist von der Sonne schon lange nichts mehr zu sehen. Gut, es ist auch schon Viertel nach neun, aber heiliger Strohsack, ist das kalt. Ich bibbere mich zur Haustür und klingele zitternd.

Lex und Noah sitzen auf der Couch. Ich werfe einen Blick auf den Fernseher und mir wird klar, warum ich momentan unsichtbar bin.

Ich setze mich zu Qilaq in die Küche. Er ist am Kochen und es riecht himmlisch. Nach Pancakes. Die isst man eigentlich zum Frühstück, aber Lex hat sie vor Jahren schon zum „normalen Essen“ auserkoren. Und weil zu Pancakes nichts besser schmeckt als Obstsalat, steht der auch schon parat. Als Qilaq nicht hinsieht, klaube ich mir ein Mandarinenstück aus der Schüssel und tue so, als wäre nichts gewesen.

„Wie lange geht der Film noch?“, frage ich.

„Müsste jede Minute fertig sein", meint Qilaq und sieht auf die Uhr.

Er nimmt den letzten Pancake und schiebt ihn zu den anderen in den Ofen um ihn warmzuhalten. Es zischt, als er Wasser in die Pfanne laufen lässt. Aus dem Wohnzimmer dringen Stimmen. Lex hat den Film unterbrochen.

„Pancakes muss man genießen. Da darf nichts anderes stören", erklärt er und Noah genießt. Er isst wie ein Scheunendrescher und strahlt dabei wie ein Honigkuchenpferd. Erst als wir abgeräumt und gespült haben, wendet sich Lex wieder dem Film zu. Er drückt den Knopf des DVD- Players, ich erkenne die letzten Worte des Films wieder und dann beginnt Eddie Vedder auch schon zu singen.

Ich weiß noch genau, wie ich „Big fish“ zum ersten Mal gesehen habe und wie dann ganz am Schluss dieses Lied lief. „Man of the hour“ von Pearl Jam. Eines dieser Lieder, die man immer wieder und wieder und wieder hören kann, ohne dass sie einem über werden. Ein Lied mit einem ganz eigenen Zauber und ich muss nur einen Blick in Noahs Gesicht werfen, um zu wissen, dass es er genauso denkt.

Er sitzt noch lange ganz still da, während die Jungs und ich uns schon unterhalten.

„Das wäre ein Lied, das ich an meiner Beerdigung gerne hören würde", meint Lex.

„Wie kommst du denn jetzt darauf?“, frage ich.

„Wir hatten es heute Vormittag davon. Da ist mir „Man of the hour“ einfach als Erstes eingefallen. Wie sieht’s bei dir aus?“

„Ehm...“, ich muss kurz überlegen. „Green Day, denke ich. Good Riddance. Frag mich nicht wieso, aber ich glaube das würde mir gefallen.“

Über was man sich auf einmal Gedanken macht ...

„Seid ihr eigentlich noch da, wenn ich morgen vom Arbeiten komme?“, fällt mir dann ein.

„Hast du bis um 14.00 Uhr Schicht?“, fragt Qilaq, und als ich nicke, schüttelt er mit dem Kopf. „Wir müssen schon früher los, sonst kriegen wir den Flieger nicht mehr.“

„Dann kann ich euch gar nicht zum Bahnhof bringen", stelle ich traurig fest.

„Aber ich kann. Keine Sorge, ich werde sie pünktlich und sauber in den Zug setzen", meint Noah.

Lex wirft ihm einen treuherzigen Blick zu. „Danke Mama", nuschelt er und lutscht an seinem Daumen.

Wir sitzen noch lange zusammen und reden über alles Mögliche. Doch die Zeit beginnt zu rasen, und als wir das nächste Mal auf die Uhr sehen, ist es bereits Freitag. Mir wird etwas schwer ums Herz, denn ich weiß, dass sich Qilaq und Lex jetzt gleich auf den Heimweg machen werden. Es wird länger dauern, bis wir uns wieder sehen. Ich falle erst Lex, dann Qilaq um den Hals. Es war schön sie hier zu haben und ich spüre, dass es Noah auch gut getan hat. Ein kurzes Stück begleiten wir die beiden. Doch die Kälte setzt uns zu und ich drehe gemeinsam mit Noah wieder um.

Wieder daheim lehnt sich Noah an mich und schließt erschöpft die Augen. Es war ein langer Tag für ihn. Mein Blick fällt auf seinen DVD-Player und ich sehe, dass Lex die DVD dagelassen hat. Es ist sein Film, er hätte ihn niemals vergessen. Ich muss lächeln, als mir klar wird, dass er es mit voller Absicht getan hat. Und nicht zum ersten Mal bin ich unglaublich froh Menschen wie Qilaq und Lex in meinem Freundeskreis zu haben.

Freitag, 21.12.2007

Noah wartet im Eingangsbereich des Luisenheims auf mich. In seinem schwarzen Mantel und seinem lila-schwarzen Palituch. Seine Haare sind ganz zerzaust.

„Sind sie weg?“, frage ich.

Er nickt.

„Nicht traurig sein", sagt er. „Du siehst sie ja wieder.“

Wir laufen ohne ein rechtes Ziel zu haben durch den nahe gelegenen kleinen Park. Der Wind pfeift über uns hinweg.

„Ich hab Qilaq gefragt, ob wir uns irgendwann wiedersehen", sagt Noah dann auf einmal. „Er hat gemeint, solange es mir egal ist, wo und wann genau wir uns wiedersehen, kann er das versprechen.“

„Was hast du geantwortet?“

„Dass er nicht hetzen soll, ich hätte jede Menge Zeit.“

...

„Ist das alles, was du mitnehmen willst?“, fragt Thomas mit einem Blick auf Noahs Rucksack.

„Ich hab alles reingequetscht, was ging", erwidert Noah stolz. „Was glaubst du, warum du das zum Auto trägst und nicht ich?“

Misstrauisch geworden hebt Thomas den Rucksack probeweise ein kleines Stück an und bricht fast zusammen.

„Jesasmariaundjosef, was hast du denn da drin?“

„Es ist Weihnachten, Zeit der Geheimnisse", spinnt Noah zusammen und hält seinem Onkel die Tür auf. „Komm gut runter und lass ihn nicht fallen.“

„Dafür ...“, ächzt Thomas. „... hören wir auf der Fahrt mindestens eine Stunde lang SWR1.“

Noah knallt entsetzt die Tür hinter ihm zu.

„Was habe ich nur getan?“, wimmert er und lässt sich auf die Knie sinken.

„Bevor du jetzt vor Verzweiflung noch am Teppich herumnagst, iss lieber einen Lebkuchen.“

Noah lässt sich erstaunlich schnell überreden und lässt mir sogar die Hälfte eines Lebkuchenherzens übrig. Margit, Thomas und er werden sich bald auf den Weg machen. Sie fahren zu Noahs Mutter. Es war Heides Idee, Weihnachten mit allen gemeinsam zu feiern und ich weiß, dass es Noah sehr viel bedeutet.

Ich werde noch arbeiten bis zum 24. Dezember. Dann wird es auch für mich nachhause gehen. Volle sechs Tage lang habe ich frei bekommen, bis an Silvester. Noah kommt erst im Januar wieder.

„Ich schulde dir noch was!“, sagt Noah.

Erstaunt blicke ich ihn an.

„Einmal das hier", sagt er und überreicht mir eine kleine, quadratische Schachtel. „Du darfst es aber erst an Weihnachten öffnen. Es ist etwas, was außer dir und mir, nur noch eine weitere Person hat. Und das andere ...“


„Rego, du bist komplett verrückt.“ Julius schnauft angestrengt und lässt die Schaufel fallen. Keinen Handstrich wird er mehr tun.

Gregor schaut ihn unbarmherzig an.

„Mitgehangen - mitgefangen, mein Freund. Hättest du deine Klappe gehalten, wäre das hier alles nicht nötig gewesen.“

„Als ob. Du hättest mich doch so oder so zum Helfen verdonnert.“

„Kann dir nicht schaden, für ein paar Minuten mal an was anderes als gerade gewachsene Schwänze zu denken. Und jetzt – pack gefälligst wieder mit an.“

„Ein paar Minuten, du leidest auch an Gedächtnisstörungen.“ Aber Julius fügt sich und nach weiteren drei Stunden sind die beiden fertig.

Gregor klopft sich den Dreck von der Hose und begutachtet zufrieden ihr Werk.

„Und was machst du jetzt?“, fragt Julius.

„Jetzt warten wir auf Regen.“

„Na klasse, Ende Juli.“

Wenige Tage später hat Gregor Glück. Es regnet tatsächlich.

...

Noah kann nicht schlafen. Unruhig wälzt er sich von der einen auf die andere Seite. Versucht es mal mit, mal ohne Kissen. Es hilft nichts. Er ist hellwach.

Klack.

Noah fährt auf. Was zum Teufel war das.

Klack.

Verwirrt greift er nach dem Schalter seiner Nachttischschlampe.

Klack.

Das Licht flammt auf.

Klack.

Vorsichtig tapst Noah Richtung Fenster und zieht den Vorhang beiseite. Dann klatscht ein Stein ans Fenster. Klack. Erschrocken fährt er zurück.

Doch dann öffnet er das Fenster. Es regnet und unten auf dem kleinen Rasen steht jemand. Jemand, mit einem Kapuzenpulli. Jemand, der aussieht wie ...

„Gregor!“

„Na, das hat ja gedauert. Kannst du runterkommen?“

„Jetzt?“

„Nein, morgen. Natürlich jetzt. Und nimm einen Schlüssel mit.“

Keine fünf Minuten später steht Noah komplett angezogen unter dem Vordach.

„Was wird das denn?“

„Wir spielen ‚Wünsch dir was‘ und du durftest anfangen", meint Gregor und zieht den Kleinen hinter sich her.

Zwanzig Minuten brauchen sie mit dem Auto, dann lässt Gregor den Wagen ausrollen.

„Wo sind wir?“

„Vertraust du mir?“

„Ja, klar.“

„Dann warte hier zwei Minuten, ok.“

Lippen, die sich auf seine drücken. Dann ist Noah allein in der Dunkelheit. Doch Gregor hält Wort. Keine zwei Minuten ist er wieder da.

„Mach die Augen zu", flüstert er und Noah schließt die Augen. Er spürt Gregor dicht hinter sich, spürt, wie sich dessen Hände auf seine Augen legen und wie sein Körper ihn langsam vorwärts drängt. Sie laufen nur wenige Schritte.

„So, jetzt kommt eine kleine Stufe.“

Noah tastet sich vorsichtig heran, spürt dann die Erhebung unter seinem Fuß und steigt darüber hinweg. Gregor folgt ihm dicht an dicht.

„Bist du soweit?“

Noah nickt.

„Dann mach die Augen auf.“

Kerzen. Überall kleine Kerzen. Einige in kleinen Gläsern, andere stecken tief im feuchten Sand. Ihr Licht erhellt die kleine Szenerie. Ein alter Schuppen, das Dach so gut wie nicht mehr vorhanden. Der Boden komplett mit Sand bedeckt.

Fassungslos streckt Noah die Hand nach dem Sand aus. Spürt die einzelnen Körner zwischen seinen Fingern und die feuchte Kühle. Befühlt vorsichtig die alten Holzlatten. Bekommt keinen einzigen Ton heraus.

Gregor zieht in sanft in die Arme.

„Es ist vielleicht kein Strand geworden und ein Meer gibt es auch nicht. Aber ich schwöre dir, it’s the next best thing.“

„Das hast du für mich gemacht?“

„Gefällts dir?“

Es gibt Momente im Leben, da braucht es keine Worte. Im Laufe der Nacht wird der Regen stärker. Es ist immer noch warm und der Regen wird nicht viel mehr sein, als ein paar Tropfen auf einen heißen Stein. Aber momentan prasselt er auf den alten, unbenutzten Holzschuppen, auf den Sand, der sich müht, das Wasser versickern zu lassen, auf die achtlos weggeworfenen Klamotten, die in einer der Ecken liegen und auf die zwei Paar Schuhe, die tiefe Spuren hinterlassen haben. Einige Tropfen löschen hin und wieder eine der Kerzen. Es wird dunkler und dunkler in dem kleinen Raum und der Regen verwischt die Konturen zweier nackter Körper, die sich eng aneinandergeschmiegt im Sand bewegen. Er spült alles fort, jeden Gedanken, jede Sorge, jede Spur, jedes Geräusch, und auch wenn es später niemand glauben sollte, bleibt in dieser regnerischen Nacht für einige Minuten die Zeit stehen.

Montag, 24. Dezember

Es ist kurz vor Mitternacht, als ich die Schleife der kleinen Schachtel aufziehe.

Als ich den Deckel abhebe, bringen die Lichter unseres Tannenbaums den Inhalt zum Funkeln. Vorsichtig greife ich nach dem schmalen, metallenen Ring und ein leises Klingeln ertönt, als ich die Schlüssel aus der Schachtel nehme.

Es sind genau zwei Stück und ich erkenne sie sofort. Es besteht kein Zweifel. Der eine ist für die große Haustür und der andere? Er wird genau in das Schloss von Noahs Wohnung passen.



*Hürdenlauf
Autor: Jonathan Möller
2006-2008
www.nickstories.de - Hürdenlauf ©Loki

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