zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Wieder hier

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

 

Die Strecke ist nicht lang, vielleicht drei Kilometer. Ebener, asphaltierter Weg, sieben Rechts- und vier Linkskurven, eine Unterführung, dreiundzwanzig Treppenstufen, eine Tür. Dahinter sitzt Gabi in ihrem kleinen, gläsernen Kabuff im Vorraum, achtet schon gar nicht mehr darauf, was für eine Karte er an die Scheibe drückt. Er könnte alles hinstrecken und sie würde es abnicken.

„Wieder hier, Mijo?“

Ja, wieder hier. Wie immer, wie nahezu jeden Tag. Seit einundzwanzig Jahren.

‚So so, du willst also schwimmen lernen.‘ Der Mann ist groß, viel größer als er. Er hat einen Bart und buschige Augenbrauen. Er hat überhaupt viele Haare, aber das stört Mijo nicht. Sein Opa hat das auch und wie Opa hat der Mann freundliche Augen. Er nimmt ihn mit zu den anderen, alles Jungs, alle in seinem Alter, also um die vier Jahre alt, alle gucken ihn an.

‚So, da ist der Mijo, der lernt auch noch mit euch schwimmen. Und jetzt ab ins Becken und wehe einer rennt über den nassen Boden.‘

Keiner von ihnen ist jemals über den nassen Boden gerannt. Sie haben alle zusammen schwimmen gelernt, vier Wochen lang. Die Urkunde ist aus ganz festem, weißem Papier. Sie hat einen goldenen Rand und oben rechts ein Bild von einem Mann, der ins Wasser hüpft. >>Mijo ist ein großartiger Schwimmer. Er schafft eine ganze Bahnlänge. Er kann vom Startblock ins Wasser springen. Er hat drei Mal die Ringe vom Boden aufgesammelt. Er kann auf dem Rücken im Wasser liegen, ohne unterzugehen. Er wird nie wieder Schwimmflügel brauchen. Er ist jetzt ein Schwimmer. <<

Drei Schritte geradeaus, neunundzwanzig Schritte nach rechts. Bei Schritt siebenundzwanzig Schlüsselband aus der Tasche ziehen, instinktiv nach dem kleinen Schlüssel mit dem Gummiüberzug am Kopf tasten, ins Schloss stecken, drehen, aufs Klicken warten. Tasche auf den Boden fallen lassen, Schuhe ausziehen, Klamotten ausziehen. In den Schrank legen. Die Schuhe nach unten. Klamotten ins oberste Fach, zusammengelegt.

‚Ordentlich zusammenlegen, Jungs. Ihr seid nachher faltig genug, kein Grund für eure Klamotten sich anzupassen.‘

Tasche öffnen, Handtuch raus, Brille raus, Duschzeug raus. Tasche einschließen.

‚Passt auf eure Schlüssel auf, Jungs. Wer seinen verliert, zahlt.‘

Sechzehn Schritte zum Duschraum.

‚Gründlich abduschen, Jungs. Wer trocken ins Bad kommt, putzt die Toiletten.‘

Vier Schritte zur Glastür. Feuchte Luft, nasser Boden, Schwimmbadgeruch, Wasserrauschen.

‚So so, ihr wollt also weiter schwimmen. Das freut mich aber. Dann kommt mal mit, dann stell ich euch die anderen vor. ‘

Die anderen sind viele. Sehr viele Kinder. Alle sind größer als Mijo und Lincoln, aber alle gucken nett. Ab sofort sind er und Linc auch feste Mitglieder im Verein, sie werden mit ihnen dreimal die Woche trainieren. Sie werden sich an die Regeln halten und immer weiter machen. Immer weiter. Der große Mann lacht freundlich.

„Zwei neue Fische für unseren Schwarm.“, sagt er und legt seinen beiden alten und neuen Schützlingen je eine seiner Pranken auf die Schultern. Die anderen Kinder klatschen. Mijo ist es etwas peinlich. Er schaut vorsichtig zu Lincoln rüber. Das ist der einzige, den er kennt. Der einzige aus ihrer Schwimmlerngruppe, der auch unbedingt weiter schwimmen wollte. Der einzige, der auch noch mehr Urkunden wollte. Der einzige, der das Wasser genauso sehr liebt wie er. Der einzige, der jetzt die Hand nach ihm ausstreckt und freudestrahlend sagt: „Los komm, wir sind jetzt Fische!“ Der einzige, mit dem er jemals über nassen Boden rennen würde.

Handtuch ablegen, vom Beckenrand ins Wasser gleiten lassen, Brille auf, einschwimmen.


Er müsste sich zudecken. Dringend. Aber dazu müsste er sich bewegen, nicht viel, nur ein, zwei Meter Richtung Couch… Richtung Decke. Wäre früher kein Problem gewesen. Vielleicht eine Sache von drei Sekunden. Aber er will nicht. Will keine Decke, will keine Bewegung und schon gar nicht will er an früher denken. Dass es trotzdem immer wieder passiert, ärgert ihn; macht ihn zornig. Auf sich, auf die Welt, auf das Leben, auf diese Ader in seinem Kopf.

Sie waren zusammen auf dem Heimweg. Wie immer, wie nahezu jeden Tag. Seit einundzwanzig Jahren. Das Training war gut gelaufen, er und Linc waren fertig, aber gut drauf. Die Zeiten hatten gepasst. Seine war gut gewesen, die von Linc herausragend. Aber das war ok so, es war immer so gewesen. Es war kein Problem. Sein Problem war der Kopfschmerz. Er kam innerhalb weniger Augenblicke, hatte eine Ankündigungszeit von weniger als einer Millisekunde. Er riss ihm das Rad aus der Hand, die Tasche von der Schulter, den Boden unter den Füßen weg. Schmerz, Schmerz, Schmerz und dann endlich Schwärze.

Stimmen, Piepen, trockenes Schluchzen. „Herr Kreda, hören sie mich? Können Sie meine Hand drücken? Können Sie die Augen öffnen? Können Sie das spüren?“ Piep. Pieeeep. Pieeeeeeeep.

Das Klopfen an der Tür reißt ihn aus seinem erneuten Vergangenheitsstrudel. Seine Mutter steht an der Tür, die Augen gerötet, vermutlich hat sie geweint. Das macht sie viel in letzter Zeit. Auch das ärgert ihn.

„Linc ist da.“, sagt sie leise. „Braucht ihr noch was?“

Ja, ein Leben wäre schön. Meinen Arm hätte ich gerne wieder und wo wir gerade dabei sind, sprechen können wäre toll. Könntest du das bitte mal schnell organisieren, ginge das? Ich hätte heute gerade Zeit, oder morgen, oder übermorgen, nächste Woche, nächstes Jahr, nächsten Monat.

Das alles hätte er wirklich gerne gesagt, kann er aber nicht. Es würde sich alles gleich anhören. Baba-ba. Das ist alles, was er kann. Baba-ba. Er hasst es.

„Wir haben alles, danke.“ Linc schiebt sich zwischen Türpfosten und leidender Frau durch und sieht ihn an. Er geht die wenigen Schritte zum Fenster, sperrt die Kälte aus, zieht die Vorhänge zu und schweigt.

Mijo schaut nicht zu ihm, kann es einfach nicht. Linc sieht aus wie das blühende Leben, groß und kräftig, selbstbewusst. Früher hat er auch so ausgesehen. Es gibt Bilder davon, unzählige Bilder. Seine Mutter hat sie alle fein säuberlich in Alben geklebt und beschriftet, hat sogar die Urkunden der beiden kopiert und sie in die Alben geheftet, hat die Medaillen und Pokale fotografiert. Es sind im Laufe der Jahre viele geworden. Urkunden und Medaillen, Pokale und Bilder. Es sind sieben Alben geworden. Sie standen an einem Ehrenplatz im Regal im Wohnzimmer. Jetzt liegen sie in einem Umzugskarton, oben in seinem alten Zimmer, zusammen mit den ganzen anderen Sachen, die ihn an ein Leben erinnern, das seines war und das nie wieder seines sein wird.

Dass es so kommen wird, damit hat er nie gerechnet. Er war kein Weltklasseschwimmer, wäre er auch nie geworden. Aber er war gut, er hat alle Altersklassen durchlaufen. Seine Zeiten haben ihn immer auf das Podest geführt. Meist auf den zweiten Platz, fast immer hinter Linc. Aber das war ok. Es ging ihm nicht ums Gewinnen, es ging ihm um die Zeit und darum neben Linc zu stehen. Zu ihm aufzusehen und das Glück in seinen Augen sehen zu können.

„Wir haben gewonnen!“, hat Linc immer gesagt, hat sich die Brille und die Kappe vom Kopf gerissen und ihn angestrahlt. „Wir haben echt wieder gewonnen.“

Für Linc waren seine Siege immer die Siege von ihnen beiden gewesen. Weil sie beide für ihn zusammengehört hatten. Sie waren eine Einheit gewesen. Nie sexuell, oh Gott, niemals. Nein, sie waren Freunde gewesen, beste Freunde und für Mijo war das noch besser gewesen, als jede Beziehung, die sie hätten haben können.

Dabei hatten sie es in einem Sommer ernsthaft in Erwägung gezogen. Sie waren vierzehn und überlegten, ob aus Freundschaft Liebe geworden war und sie es nur nicht bemerkt hatten. Sie hatten sich geküsst, um es herauszufinden und mussten feststellen, dass es bei Freundschaft bleiben würde. Aber auch das war ok. „Hält wahrscheinlich eh länger.“, hatte Linc gesagt. „Zumindest bis wir beide den Einen gefunden haben.“

Der Eine – das war Lincs fixe Idee. Den einen zu finden, der es einfach ist. Die eine Liebe im Leben, die alles andere in den Schatten stellt. Er war überzeugt davon, dass es für jeden diesen einen Menschen gibt und konnte es kaum erwarten ihn zu finden und natürlich auch den einen für Mijo.

Mijo hat auf dieser Suche viele Freunde gehabt. Das war irgendwann ganz leicht gewesen. Er hatte gut ausgesehen und viel gelacht, war selbstbewusst und fröhlich gewesen und die Männer waren ihm irgendwann willig wie kleine Hündchen nachgelaufen. Wenn der ‚Eine‘ so oder so auf ihn warten würde, dürfte das ja auch kein Problem sein, hatte er gedacht und sich den nächsten geangelt.

Linc war anders gewesen. Er hatte die Lage sondiert, hatte überlegt und gezielte Anläufe unternommen. Manchmal hatte er damit schief gelegen, aber zwei Mal war er näher dran, als jeder andere gedacht hätte. Danach hatte er eine Pause gebraucht, sich Mijos Stil abgeguckt und einfach losgelegt, aber er hatte die Suche nie aufgegeben. Hatte nur die Pausentaste gedrückt und nicht ‚Stop‘. „Ich finde ihn schon.“, hat er immer gesagt. „Du wirst schon sehen, ich finde ihn schon.“

Mijo hat genickt und es auch geglaubt und gemeint: „Und so lange haben wir uns.“

Aber dann war er gekommen. Nicht nur für Linc, sondern auch für Mijo und zum ersten Mal hatte Mijo verstanden, warum Linc so sehr auf diesen einen Menschen gewartet und gehofft hatte.

Philipp hatte Mijo umgehauen. Seit dem Moment, als er ihn in der Mensa gesehen hatte, war Mijos Herz praktisch Amok gelaufen. Es hatte einfach gepasst, einfach so. Es hat ihn fast ein Jahr gekostet das grenzdebile Grinsen wieder einfangen und kontrollieren zu können. Auch davon gab es Bilder, unzählige Bilder und Mijo liebt jedes einzelne davon und jedes, was später dazu kam.

Er hatte angefangen, die Bilder zu sammeln. Hatte sie beschriftet und sortiert und in kleine Kartons gelegt. Hatte das so sehr geliebt. Jedes Jahr ein Karton und er stapelte immer mehr.

In einem der ersten Kartons war aber noch ein anderes Bild gewesen. Es zeigte nicht ihn und Philipp, es zeigte Linc und Felix. An ihrem letzten gemeinsamen Tag. Felix war gestorben, qualvoll, in einem Krankenhaus. War Stück für Stück weniger geworden und von Monat zu Monat schwächer. Bis es endlich vorbei war und Mijo Linc nicht mehr hatte in die Augen sehen können, weil der Schmerz darin zu groß gewesen war. Weil Mijo sich geschämt hatte, dass er und Philipp weiter glücklich und gesund sein durften.

Sie waren weiter zum Training gegangen. Wie immer, wie nahezu jeden Tag. Seit so vielen Jahren. Aber auf Mijo hatte Philipp zuhause gewartet, es hatte Licht gebrannt, es war ein ‚nachhause kommen‘ gewesen. Linc wollte nicht mit rein kommen, wollte nicht mitessen, wollte nicht auf der Couch schlafen, wollte weg. Er machte aus den einsamen Abenden daheim, einsame Abende in den Clubs und Bars und Kneipen der Stadt. Ging feiern, ging zur Uni, ging zum Training, ging feiern. Er wurde hart – innerlich wie äußerlich. Er nahm ab, intensivierte das Training dennoch immer weiter. Seine Muskeln traten hervor, ließen jeden noch so kleinen Polstern keinen Platz mehr, zermürbten sie, bis sie verschwanden und nie wieder kamen – so wie seine Bettgeschichten.

Mijo machte sich Sorgen, redete und redete und redete doch vergebens.

„Es geht mir gut.“, sagte Linc, wenn Mijo fragte, wie es lief.

„Nein, danke.“, wenn er fragte, ob sie nicht mal wieder etwas zusammen unternehmen wollten.

„Vielleicht nächstes Mal.“, wenn eine Einladung kam.

„Ich weiß, wie man verhütet.“, wenn Mijo mit ihm über sein Sexleben sprechen wollte.

„Du nervst.“, als er nicht locker ließ.

Mijo war am Ende gewesen und Philipp hatte ihn beruhigen müssen. Hatte von „Zeit geben“ und „Raum lassen“ gesprochen und ihn ganz fest gehalten. „Wird schon“, hatte er ihm immer ins Ohr geflüstert und obwohl Mijo irgendwann nicht mehr daran geglaubt hatte, wurde es tatsächlich wieder.

Denn eines Tages stand Linc nicht alleine vor Mijos Tür um ihn abzuholen. Jemand stand neben ihm und Mijo wusste nach einem Blick auf seinen besten Freund sofort, dass er noch einmal jemand besonderen gefunden hatte. Dass es dieses Mal klappen würde, dass es gut werden würde und innerlich lehnte er sich zurück und beobachtete in den nächsten Monaten, wie die Härte, die Linc umgeben hatte mehr und mehr verschwand. Sah, wie er das Training wieder auf ein normales Maß herunterschraubte und hörte, wie das Lachen zurückkam.

Er stand neben ihm, als Linc die schlichten Ringe beim Juwelier abholte, umarmte ihn, nachdem er den Ring an Jakobs Hand gesehen hatte und versprach bei der Hochzeit eine großartige Rede zu halten, die alle anderen alt aussehen lassen würde.

Er hatte die Rede fertig, hatte viele Stunden mit Freunden zusammen gehockt um sie perfekt zu machen, hatte Philipp fast in den Wahnsinn getrieben, hatte sie mit Müh und Not auswendig gelernt, hatte sie nie gehalten.

Er hatte geschlafen, so lang und so tief und so fest, wie niemals zuvor. Drei Wochen vor der Hochzeit hatte eine erschöpfte Arterienwand dem Druck nicht mehr standhalten können, sie war geplatzt und Blut hatte sein Hirn beinahe ertränkt.

Schmerz, Schmerz, Schmerz.

Er war wieder aufgewacht, sie hatten ihn zurückgeholt. Es war Oktober. Er hatte sieben Wochen geschlafen und nicht begriffen, was mit ihm los war, hatte nicht begriffen warum ihn alle so ansahen, wo er doch nur wissen wollte, was aus ihm geworden war. Linc hatte es ihm erklären müssen. War der einzige gewesen, der es geschafft hatte. Der einzige, der ihn verstand.

„Ba ba ba-ba?“, hat Mijo gefragt. Was ist passiert?

„BA BA-BA-BAA!“, hat Mijo geschrien. Ich will hier raus.

„Ba ba baba?“ Wo ist Philipp.

Philipp kam auch, er saß an seinem Bett und sah ihn an. Mijo wusste, dass sein Anblick grausam war. Sein Gesicht hing, sein Körper hing, sein Leben hing. Philipp fuhr ihm vorsichtig durch die Haare, streifte mit den Lippen sein Gesicht, strich über Mijos Hand und weinte leise.

„Ba ba ba bababa Ba baba, ba ba baba.”, sagte Mijo. “Ba baba ba baba, baba ba!“ Du musst die andere Hand nehmen, ich spür sonst nichts. Und bitte nicht weinen, bitte nicht.

Aber Philipp weinte und schluchzte, und irgendwann kam er nicht wieder. Das war bitter gewesen. Es war dieses kleine ‚zuviel‘ gewesen. Es war der Moment gewesen, in dem er verstanden hatte, warum Linc damals so anders, so hart geworden war. Aber Mijo wusste, dass auch er Schuld daran hatte. Mijo hatte Philipp angeschrien - oft, hatte getobt und hatte versucht zu randalieren. Es war nichts passiert, außer dass er einmal ein Glas vom Nachtisch gefegt hatte und sein nutzloser, wild umher schlackernder Arm sich im Bettgitter verfangen hatte. Nicht dass ihm das wehgetan hätte – wie auch. Nein, es war der Anblick gewesen, der ihn wieder einmal überwältigt hatte. Philipp musste seinen Arm befreien. Philipp musste seine Spucke wegwischen, Philipp musste zusehen, wie Mijo gewickelt und gewaschen wurde, wie Tränen ständig seine Wangen herunterliefen und kleine Seen an seiner Halsbeuge bildeten. Philipp hatte auch sie weggewischt. Philipp hatte ihn gehalten, als seine gesamte rechte Körperhälfte wehtat, obwohl er sie doch eigentlich gar nicht mehr spüren sollte. Philipp hatte ihn nie angeschrien, obwohl Mijo es mehr als verdient gehabt hätte. Er hatte Philipp wehgetan und dieser Gedanke war der allerschlimmste, wenn er abends allein in seinem Bett lag.

Die Nächte waren schlimm, weil Mijo unterschätzt hatte, wie lang Nächte sein können. Er hatte gedacht die Tage würden nie enden wollen. Aber tagsüber hatte er gar keine Zeit zum nachdenken. Wecken, Frühstück, Waschen, Visite, nach der Logopädietante, kam die Ergotherapietusse, kam das Physiotherapiearschloch, kam der Frust.

„BAA BAA BAA!“, schrie er, als der Heini zum achthundertsten Mal, den Ball aufhob. Leck mich doch.

„Vier mal noch, Herr Kreda, vier mal noch.“

„Baaaabaaa!“, versuchte er, den Ton der Logotusse nachzuahmen.

„Das wird schon, gleich nochmal: Rrrratte.“

„Ba ba ba ba ba ba ba baba, ba baba baba.“, fauchte er, als Jonna versuchte ihn dazu zu bewegen, ein weiteres Hilfsmittel auszuprobieren. Ich steck dir auch gleich mal was wohin, du blöde Schlampe.

Er wusste, dass sie seine Wohnung auflösen mussten. Philipp war ausgezogen. Wohin wusste Linc nicht, er hatte ihm beim Packen geholfen, hatte ihm sagen wollen, dass er es verstehen konnte, wollte sagen, wie leid es ihm tat, war gleichzeitig irgendwie hilflos. Seine Mutter nahm Mijo in den Arm, erzählte auch etwas von „Zeit geben“ und „Raum lassen“ und er schrie sie an. Er schrie und schrie und schrie und schrie, begann während dem Schreien zu Heulen, sabberte sich voll und verlor vor lauter Verwirrung und Verzweiflung die Kontrolle.

Linc half das Bett neu zu beziehen, er ließ sich von den Schwestern zeigen, wie man Mijo hin und her rollen konnte, ohne ihm weh zu tun. Den ganzen Bettpfannen- und Pflegemist musste er nicht lernen, das wusste er noch, weil man bei einem FSJ ja fürs Leben lernt. Oder für den besten Freund, der sich in ein sabberndes, armschwingendes, hilfloses Etwas verwandelt, dass es alleine nicht mal aufs Klo schafft. Oder sein Essen nicht kleinschneiden kann, geschweige denn gescheit kauen.

Er zog wieder zu seinen Eltern. Drei Häuser von seiner alten Wohnung entfernt. In ihr altes Esszimmer, das sie ausgeräumt hatten, um Platz für ihn zu haben im Erdgeschoss. Es war jetzt sehr eng in der Küche, weil der Esstisch dort unterkommen musste, aber seine Mutter meinte, es würde schon gehen. Das sagten seine Eltern oft und in Wirklichkeit wusste Mijo, dass vieles eigentlich nicht ging. Egal, ob es um die Toilettensache oder das Baden im Obergeschoss ging, um die vielen Fahrten zu den Therapien, um seine Launen, das Eheleben der Eltern, die doch eigentlich zu zweit leben sollten, nachdem die Kinder endlich alle aus dem Haus waren… es hieß immer gleich: Es geht schon.

Alles gelogen. Das wusste Mijo. Er wollte es ändern, aber es ging einfach nicht. Er übte und übte, er konzentrierte sich, er arbeitete und hatte als Erfolg einen Ball, den er vor und zurückrollen konnte, vorzuweisen. Baba-baba. Verdammt nochmal.


„Willst du mich jetzt für den Rest deines Lebens anschweigen?“, fragt Linc. Er hat sich mittlerweile auf die Couch gesetzt und sieht ihn aufmerksam an. Mijo hasst es, so abgescannt zu werden. Er ist kein Tier in einem Zoo. Auch wenn sein Körper ein Käfig geworden ist.

„Ba ba ba ba ba, ba ba.“ Starr mich nicht so an, du Arsch.

„Ich starre solange wie ich will oder bis du mich daran hinderst.“

Manchmal hasst Mijo es, dass Linc ihn verstehen kann. Er hat ihn immer verstanden und hat unermüdlich daran gearbeitet, dass es ihm besser geht. Er gibt nicht auf. Mijo kann schreien und toben und manchmal geht Linc dann auch, aber er kommt immer wieder.

So wie heute.

„Jakob ist auch draußen, willst du ihn sehn?“

Linc lächelt, er lächelt immer, wenn er von Jakob spricht und wenn es nicht so eine schlimme Erinnerung wäre, würde er darüber schmunzeln können, denn es war Jakob, der einmal gesagt hat: ‚Also irgendwie lächelt Philipp immer, wenn er deinen Namen sagt.“ Tja, nun, jetzt lächelt er sicher nicht mehr.

„Bababa.“ Natürlich.

Ihm kommen die Tränen, als er sieht, was Jakob in der Hand hat. Er erkennt den Ordner, er weiß was drin ist. Nein, denkt er. Nein, nein, nein, nein, nein.

„Ba ba ba ba ba?“, fragt er. Wo habt ihr sie her? Dabei weiß er die Antwort schon. Philipp muss sie ihnen gegeben haben, er war der einzige, der wusste wo sie war und was sie ihm bedeutet.

„Von Philipp.“, bestätigt Jakob. „Er wollte, dass wir sie dir geben.“

Seine Rede. Mijo sieht auf den schmalen Ordner. Er weiß noch genau, wie lange er daran getüftelt hat, weil er wollte, dass sie gut wird, verdammt gut. Weil er zeigen wollte, wie viel Linc ihm bedeutet und Jakob. Natürlich auch Jakob, der es irgendwie geschafft hatte, in ihre Einheit zu rutschen, ohne etwas an deren Eigendynamik oder Intensität… Intimität zu verändern. Davor hatte Mijo immer Angst gehabt, dass die ‚Einen‘ alles anders machen würden, zwischen ihm und Linc. Aber weder Philipp, noch Jakob war das je in den Sinn gekommen. Außerdem war Philipp froh gewesen, dass Mijo auch ein so zeitraubendes Hobby hatte, denn Philipp hat mit dem gleichen Eifer Handball gespielt und Jakob war immer nur einmal in der Woche mit ihnen schwimmen gewesen, weil er woanders trainiert hatte und nicht wechseln wollte.

Jetzt starrt Mijo auf den Ordner, in dem seine Rede auf ihn wartet. Sie war sehr geduldig, ist ihm aber fremd geworden, so wie der Mensch, der sie damals geschrieben hat. Ein Relikt aus einer anderen Zeit, einem ganz anderen Leben.

Dieses Mal klopft seine Mutter nicht an, bevor sie in den Raum kommt.

„Mijo, die Praxis hat angerufen, wir können auch schon früher kommen, aber dann müssten wir jetzt los.“

Das hatte er beinahe vergessen. Zu Logopädietante, Ergotherapietusse, und Physiotherapiearschloch, die allerdings schon längst zu Tereza, Jonna und Armin geworden waren, kam ja jetzt auch noch Psychologenhoschy dazu. Wieder ein Probetermin, weil die ersten Psychos einfach nicht die richtigen gewesen waren. Aber davor hatte Linc ihn ja auch gewarnt. „Du musst dir Zeit dabei lassen.“, hatte er Mijo gesagt. „Ein Psychologe ist kein Paar Socken, bei dem man das erstbeste Paar nehmen kann. Es muss passen, für dich, für ihn und im Umgang miteinander. Es gibt so viele Ansätze in der Psychologie, gib nicht gleich nach dem ersten Fehlschlag auf.“ „Oder ich warte einfach, bis du soweit bist.“, hatte Mijo geantwortet, wozu studierte sein bester Freund denn genau die Lehren, die er jetzt dringend in Anspruch nehmen sollte. Er wusste ja, dass es nicht gehen würde, aber die Vorstellung war schon toll gewesen. Aber Linc hatte nur gelacht und „Das könnte dir so passen!“ gesagt.

Er seufzte und nickte seiner Mutter zu. „Ba ba, ba baba.“ Ist ok, ich komme.

Das Gespräch war gut gewesen. Dr. Meißner hatte sich gar nicht aus der Ruhe bringen lassen, von all dem Bababa, er hatte genickt und zugehört und hatte Mijo das Gefühl gegeben, als würde dieser Kauderwelsch für ihn Sinn ergeben. „Ihre Sprache wird schon noch zurückkommen, glauben Sie mir. Da waren schon einige andere Buchstaben drunter und früher oder später kriegt Ihr Gehirn sie auch wieder so auf Ihre Zunge, dass nicht nur Sie sie verstehen.“ „Ba ba“, hatte Mijo gesagt und es gleichzeitig auf die kleine Tafel geschrieben, die er immer mit sich führte. Der Doc warf einen Blick darauf und schmunzelte. „Ja und Linc!“

Daheim in seinem Zimmer hatte ein schmaler Ordner auf ihn gewartet. Er hatte auf der Couch gelegen und Mijo war mit den Fingern der linken Hand ein paar Mal darüber gefahren. Hatte ihn auf seinen Schoß geholt und hatte dann mit der linken Hand auch seine rechte Hand auf den Ordner gelegt. Es war immer ein komisches Gefühl etwas mit beiden Händen anzufassen, es aber nur in einer Hand spüren zu können. Sie sahen absolut gleich aus, nur dass die eine nur noch so rumhing und die andere alles alleine machen musste… ein Gedanke, der sehr gut auf sein Leben zu übertragen war.

Er vermisste Philipp, er vermisste die Uni, er vermisste sein altes Leben und er vermisste seinen Sport. Nein, nicht nur den Sport an sich, sondern die Klarheit, die er mit sich gebracht hatte. Schwimmen hatte Freiheit bedeutet, hatte Rhythmus und Ordnung bedeutet, hatte alles in Bahnen gelenkt und ihm gezeigt, dass ein Körper lernt. Irgendwann war sein Körper von selbst geschwommen und sein Hirn hatte ruhig und bedächtig alles überblickt und kontrolliert und nur noch hier und da korrigierend eingegriffen. Er war kilometerweit geschwommen, in diesen ganz besonderen Flow geraten und danach als neuer Mensch aus dem Wasser gestiegen, obwohl sich nichts geändert hatte.

Er sprach mit seinem Psychologen darüber und dann mit Armin, dann mit Tereza und dann packte er Linc eines Tages am Arm und sagte: „Ä wa wmmen!“ und Linc sagte: „Dann wirst du auch schwimmen.“

Es war ein Mittwoch, als Linc ihn abholte. „Wir laufen.“, meinte er und meinte damit, dass er laufen und Mijo rollen würde. Mijo konnte mittlerweile wieder stehen und bis zu zehn Schritte staksen, mehr ging noch nicht – noch nicht. Die Strecke ist nicht lang, vielleicht drei Kilometer. Ebener, asphaltierter Weg, sieben Rechts- und vier Linkskurven, eine Unterführung, dreiundzwanzig Treppenstufen, eine Tür. Dort wartet ein alter Mann. Der Mann ist groß, aber kleiner als Linc. Er hat einen weißen Bart und weiße, buschige Augenbrauen. Er hat überhaupt viele Haare, aber das stört Mijo nicht, hat es nie. Der Mann hat freundliche Augen.

„So so.“, sagt er. „Du willst also wieder schwimmen.“

Mijo nickt.

Linc läuft noch einmal die Treppen herunter um den Rollstuhl zu holen, während Mijo und Hans warten. Er rollt drei Schritte geradeaus, neunundzwanzig Schritte nach rechts. Bei Schritt siebenundzwanzig zieht Linc ein Schlüsselband aus der Tasche und hält es Mijo hin. Er sucht instinktiv nach dem kleinen Schlüssel mit dem Gummiüberzug am Kopf. Linc zieht Mijo aus seinem Stuhl hoch, so dass er den Schlüssel ins Schloss stecken kann. Er wirft seine Tasche von seinem Schoß auf den Boden. Schuhe ausziehen, Klamotten ausziehen. In den Schrank legen. Die Schuhe nach unten. Klamotten ins oberste Fach, zusammengelegt.

Er rollt zur Dusche. Linc und Hans müssen etwas helfen, aber das ist nicht schlimm. Er kann schon die Tür sehen. Feuchte Luft, nasser Boden, Schwimmbadgeruch, Wasserrauschen.

Sie müssen sich getroffen haben, um das alles zu planen. Es liegt alles bereit. Es ist niemand sonst im Schwimmbad, sie sind außerhalb der Öffnungszeiten hier. Das ist gut. Dann guckt niemand.

Handtuch ablegen, vom Beckenrand ins Wasser gleiten lassen. Er geht unter, nur kurz. Er hat keine Angst, er ist Schwimmer. Er spürt Linc in seinem Rücken, weiß dass er und Hans aufpassen. Spürt das Wasser an ihm vorbeiziehen, als sie langsam anfangen mit ihm zu schwimmen.

Sein Gehirn erkennt die Bewegungsabläufe wieder, ist etwas überfordert, weil es eigentlich etwas ist, was im Schlaf klappt und jetzt ganz anders abläuft. Aber es fügt sich, macht den Weg frei für Freiheit und Ordnung und Ruhe und Rhythmus. Sieht, dass ihm geholfen wird und schiebt ihn in die Gedankenwelt ab. Er schläft abends wie ein Stein und am nächsten Morgen nimmt er seine alte Rede mit zu Tereza. Sie liest sie und lacht viel dabei und dann beginnen sie zu arbeiten. Er geht weiter schwimmen, mit Linc und Hans, oft auch mit Jakob. Immer einmal in der Woche, immer außerhalb der Öffnungszeiten. Hans grinst immer nur und erzählt etwas von jahrelanger Vereinstreue, die sich ja auch auszahlen muss.

Jakob feiert seinen Geburtstag in einer kleinen Kneipe. Viel Platz, keine Stufen. Alles voll mit seinen Freunden, die Stimmung ist gut. Mijo überlegt an ein Glas zu klopfen, eine Rede zu halten. Kurz, knackig, prägnant. Er tut es nicht, zu viele Menschen bergen immer die Gefahr von zu vielen mitleidigen Gesichtern. Er muss sich immer noch daran gewöhnen, wieder normal unter Menschen zu sein. Linc feiert vier Wochen später. In kleinstem Kreis, nur Familie und Mijo. Bei sich daheim. 1. OG, 32 Treppenstufen auf Jakobs Rücken hoch. Das Essen ist lecker und Jakobs kleine Geschwister wollen auch so ein spezielles Schneidbrett mit Spitzen darauf haben um ihr Fleisch zu schneiden, wie Mijo. Alle lachen, herzlich nicht aufgesetzt und dieses Mal schlägt Mijo auch an sein Glas. Er braucht dieses Mal seine Zettel, er wird genug zu tun haben, alles richtig auszusprechen, da war es nichts mit auswendig lernen. Aber das ist egal. Es ist alles egal. Es zählt nur der Ausdruck in Lincs Augen und das Glück darin zu sehen.

Mijo spürt, dass die Veränderung kommt. Sie kommt langsam, aber stetig. Es sind Worte, die er sagen kann; sein Knie, das er bewegen kann; es sind seine Muskeln, die ihn länger aufrecht halten; sein Kopf, der sich wieder konzentrieren und fokussieren kann. Es ist sein Studium, das er fortsetzt. Für BWL braucht man keine zwei gesunden Arme und Beine. Man braucht nur zu wissen und zu verstehen.

Manchmal fehlt ihm sein altes Leben dennoch. Aber es ist nur noch ein kleiner Schatten in der Ecke und keine erdrückende Dunkelheit im ganzen Zimmer mehr. Noch eine Veränderung. Sein Arm wird wohl nicht mehr zurückkommen. Sein Bein hat gute und schlechte Tage. Er gibt ihm Zeit, es eilt nicht.

Manchmal fehlt ihm die Nähe zu einem andern Menschen. Umarmungen, Berührungen und Küsse. Die richtigen Küsse, tief und intensiv und voller Liebe und solche voller Lust auf mehr. Und Sex, Gott, ihm fehlt der Sex. Er hat mal gelesen, dass sich Sex mit einer tauben Hand so anfühlt, als wäre es ein anderer Mensch, der einem einen runterholt. Er hat es ausprobiert, und es stimmt auch… irgendwie. Aber es ist so anstrengend seine taube Hand mit der andern Hand so zu halten, dass es sich auch richtig gut anfühlt. Aber es fühlt sich nie richtig, richtig gut an. Es ist nicht die Hand von Philipp.

„Jetzt ruf ihn halt an!“

Das hat Linc sicher tausendmal zu ihm gesagt, nein, noch öfter. Aber bei Linc klingt immer alles einfach. Darum lässt man sich ja auch immer von ihm zu allem möglichen Scheiß überreden und verwünscht ihn nachher, obwohl man ihm eigentlich nicht böse sein kann.

„Du bist so ein Feigling, so ein Feigling, echt!“

Er könnte ihn jetzt in Grund und Boden bababaen, denn das passiert ihm immer noch, aber nur, wenn er wirklich wütend ist. Doch wütend ist er eigentlich nur auf sich selbst, weil er weiß, dass Linc Recht hat und weil er trotzdem nichts dagegen tut.

Die Strecke ist nicht lang, vielleicht drei Kilometer. Ebener, asphaltierter Weg, sieben Rechts- und vier Linkskurven, eine Unterführung, dreiundzwanzig Treppenstufen, eine Tür. Die öffnet Gabi für sie, weil Linc die Hände voll hat. Zwei Taschen und ein Mijo hängen auf seinem Rücken. Sie sind zum ersten Mal wieder während der regulären Öffnungszeiten da, Hans hat deswegen heute keine Zeit. Gabi hat Tränen in den Augen, als sie Linc die Taschen abnimmt und als Linc die Treppen nochmal runter muss, um den Rolli zu holen, nimmt sie Mijos Hände in ihre kleinen, faltigen Hände und küsst sie ganz sacht. Bei der einen Hand spürt er die sanfte Berührung, bei der anderen fühlt er es mehr innen. Er lächelt und dann sieht er Philipp.

„Wieder hier, Mijo?“

Ja, wieder hier.

Lesemodus deaktivieren (?)