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Article 29

Kapitel 4 - Aufbruch

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4. Kapitel - Eine lange Reise

Mit klopfendem Herzen stand Stephen vor der Kabine seines dritten Leutnants. Seine Hände begannen zu zittern. Er war nervös, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Alle möglichen Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Und obwohl er in einem einer Trance gleichen Zustand war, fand seine Rechte Hand den Weg zur Tür und klopfte.

»Ja, bitte?«, kam die leise Antwort durch die Tür zurück.

Stephen öffnete die Tür und trat in die kleine Kabine. Zu seiner linken stand ein kleiner, einfach gearbeiteter Schreibtisch mit einigen Büchern, ihm gegenüber befand sich die Seekiste mit Will's Habseligkeiten. Auf der rechten Seite lag William Andrews in seiner Koje.

Stephen zuckte zusammen. Mit dem Anblick hatte er nicht gerechnet.

Dass Will unrasiert war und seine Haare total zerzaust sind, war weniger überraschend. Aber er blickte Stephen mit traurigen, roten Augen an, die ausschauten, als ob er den letzten Tag nur geweint hätte. Sein sonst so lebhaftes Gesicht war aschgrau und sein süßes Lächeln war verschwunden. Die beiden jungen Männer sahen sich eine Zeit lang an. Stephen wollte gerade den Mund zu einer Begrüßung öffnen, als sich der Blick von William verfinsterte.

»Was wollen Sie, Mr. Bennett?«

Stephen schreckte zurück. Was war denn das für ein Tonfall? Was hat er denn nur?

»Ich… ich… ich… habe mir Sorgen gemacht, Will, weil Leutnant Salesbury sagte, du seist krank!«

»Reden Sie mich mit Sie an, verdammt!«

»Aber? Sie sagten doch, Sir, bei dem Empfang, dass wir uns…«

»Gehen Sie einfach, Bennett!«

William schluchzte und es liefen ihm die Tränen die Wangen herunter. Und auch Stephen stand noch in der Tür, völlig perplex, Williams Worte machten einfach keinen Sinn.

»Aber… William? Sir?... Ich…«

»RAUS! RAUS HABE ICH GESAGT!«

Stephen öffnete die Tür, blickte noch einmal zurück, auch wenn er durch die Tränen, die in seinen Augen standen, kaum noch was sehen konnte, und verließ die Kabine.

Er wischte sich mit dem Ärmel seines dunkelblauen Uniformrocks über die Augen und seufzte. Was hatte er nur getan? Stephen wusste es nicht. Aber er wusste, dass, wenn er jetzt jemand anderem mit verheultem Gesicht begegnete, es nur wieder unangenehme Fragen geben würde. Also versuchte er sich zusammen zu reißen. Er musste erst einmal seine Gedanken ordnen. Er musste allein sein… aber wo kann man das schon auf einer kleinen Fregatte mit Hunderten von Leuten, die dicht zusammengepfercht sind.

Stephen stand vor Mr. MacGregor und salutierte.

Eigentlich gab es nur einen Ort...

»Bitte um Erlaubnis, auf den Großmast aufzuentern, Sir!«

Der schaute Stephen erst verwundert an. Wieso will ein Midshipman in seiner Freiwache auf den Mast klettern? Doch als er die geröteten Augen sah, konnte er sich den Zweck schon denken. Er sah den jungen Midshipman verständnisvoll an und lächelte.

»Entern Sie auf, Mr. Bennett! ... Und wenn Sie ein größeres Problem haben, können Sie jederzeit mit mir drüber reden!«

»Aye Sir! Danke Sir!«

Stephen erwiderte das aufmunternde Lächeln des Masters und eilte zu den Wanten und schwang sich grazil hoch. Immer weiter, bis ganz an die Spitze. Es wehte nur ein lauer Wind und Stephen musste sich nicht zum Ausguck auf die Marsrah quetschen, sondern konnte weiter hoch. Er setzte sich auf die Brahmrah und schlang seine Beine um den Mast. Sonderlich bequem war das nicht, aber er hatte eine herrliche Aussicht über die Weiten des herrlich blauen Ozeans und ließ seine Gedanken mindestens genauso weit schweifen, wie er sehen konnte. Er konnte sich den Ausbruch immer noch nicht erklären. Er blickte auf das Kräuseln des Wassers unter dem leichten Wind.

Nachdenklich schaute Stephen in die endlosen Weiten und ließ die Tränen über seine Wangen laufen. Was war nur mit William? Und wieso ging ihm das so nah? Verdammt, wieso wünschte er sich, Will im Arm halten zu können? Wieso war er nicht normal, wie alle anderen jungen Männer auch? Er war doch nicht so ein Perverser, der sich an den Pulveräffchen verging und dafür an den Rahen aufgeknüpft wird...

Auf einmal tauchte neben Stephen ein weiterer Kopf auf. Stephen blickte hinüber, wer es wagte, ihn zu stören.

»Christian? Was machst du hier oben?«

»Ich hatte dich gesucht. Mr. MacGregor sagte mir dann, dass du hier hoch bist, um allein zu sein. Da hab ich mir Sorgen gemacht. Wir sind doch Freunde?! Wieso redest du denn nicht mit mir, wenn du Probleme hast?«

Stephen sah Christian niedergeschlagen an und zuckte nur mit den Schultern. »Ich konnte nicht drüber reden.«

Christian legte eine Hand auf Stephens Schulter, mehr konnte er nicht erübrigen, schließlich saßen die zwei jungen Männer auf einer dünnen Stange in Schwindel erregender Höhe.

»Kann ich dir helfen?«

»Nein«, Stephen lief eine einzelne Träne die Wange herunter. »Ich glaube nicht, dass man mir da irgendwie helfen kann. Aber ich danke dir!«

Stephen bedeutete es sehr viel - sein bester Freund war ihm auf den Hauptmast gefolgt und hat sich jetzt neben ihn auf die Brahmrah gesetzt, nur weil er sich um ihn gesorgt hat. Noch einige Zeit saßen die beiden wortlos nebeneinander. Doch es war keine unangenehme Stille. Sie ließen ihren Blick über die endlosen Weiten des Ozeans schweifen und Stephen fühlte sich immer besser.

Es war herrliches Wetter. Strahlend blauer Himmel und eine schwache Brise.

»Eigentlich sieht das Schiff so am schönsten aus, wenn wenig Wind ist«, dachte Stephen. Und von weitem musste die Phaeton wirklich einen imposanten Eindruck gemacht haben, wo sie fast alle Segeln gesetzt, die sie tragen konnte, um aus dem Wind das beste herauszuholen. Trotz des wenigen Windes pflügte das Schiff rasant durch die leuchtende, blaue See und wirbelte einen Schwall weißen Schaums auf.

»Stephen, wir sollten wieder runter. Wir müssen uns noch für die Musterung fertig machen.«

»Ja, du hast Recht, Chris. Und danke noch mal.«

Christian blickte Stephen an, klopfte ihm noch einmal auf die Schulter und ergriff ein Strecktau.

»Na, soll ich dich runter tragen, oder schaffst du Schnarchnase das allein?«

»Na warte…«

Auch Stephen schnappte sich ein Tau und in rasender Geschwindigkeit sausten sie hinunter. Gerade langsam genug, dass sie sich nicht die Finger durch die Reibung an dem Tau verbrannten. Kichernd kamen die beiden unten an und landeten genau vor den Füßen des ersten Leutnants, dessen Blick nicht gerade seine Freude über dieses Schauspiel zum Ausdruck brachte.

»Sie sind Offiziere des Königs, keine Affen aus der Südsee, meine Herren!«

Pflichtschuldig senkten die beiden ihren Kopf. Aber sie hörten die Ansprache nicht das erste Mal. Und nach einem schnellen »Aye, aye, Sir!« rauschten sie auch schon unter Deck und ließen den Leutnant kopfschüttelnd zurück.

Schnell gewaschen und noch einmal gründlich rasiert, in die beste Uniform geschlüpft, die Haare gekämmt und ordentlich zusammengebunden. Chris und Stephen waren gerade fertig, als die Bootsmannsmaate »Alle Mann« pfiffen und das ganze Schiff sich zur Musterung an Deck begab. Stephen und Christian eilten ebenfalls an Deck, wo sich die Mannschaften in ihrer besten Kleidung schon hinter dem Großmast in Divisionen aufstellten. Die beiden Midshipmen eilten zu ihrer jeweiligen Division, prüften schnell die Kleidung der Männer, zupften hier und dort etwas zu Recht und stellten sich dazu. Die Seesoldaten standen in ihren roten Uniformen wie Hummer an der Leeseite des Schiffes aufgereiht.

Leutnant Salesbury und Leutnant Andrews waren die Letzten, die an Deck erschienen. Stephen schaute traurig zu dem Leutnant herüber, der ihn jedoch keines Blickes würdigte. Traurig sah er aus. Hängende Schultern, rote Augen und kaum Ausdruck auf dem Gesicht. Stephen verstand einfach nicht, was los war.

Kaum hatten die zwei Leutnants sich zu ihren Divisionen gestellt, erschienen Leutnant O'Connor und Kapitän Stevenson in ihren goldbesätzten Uniformen aus schwerem, dunkelblauen, doppelt genähtem Tuch. Auf ein Kommando von Hauptmann Adair nahmen die Seesoldaten Haltung an, mit einem lauten Klacken präsentierten sie ihre Musketen. Die Matrosen sahen viel unmilitärischer aus. Zwar hatten sie alle ihre beste Kleidung an und Strohhüte auf dem Kopf, aber das war es schon an Einheitlichkeit. Und mit der militärischen Haltung klappte das auch nicht so ganz. Aber das Verhältnis der Marineinfanterie und den Seeleuten war ohnehin ein ganz besonderes, das nicht durch sonderlich große Liebe gekennzeichnet war.

Der Kapitän begann bei Leutnant Salesbury und der Division der Vordeck-Leute, den besten Seeleuten des Schiffes. Ein paar freundliche Worte hier und da, ein paar Scherze, der Kapitän war hochzufrieden. Weiter ging es zu den Fockmars-Männern von Leutnant Andrews. Der Kapitän war weniger begeistert, aber immer noch zufrieden. Leutnant Andrews hatte wohl im Moment seinen Kopf nicht ganz bei der Sache, aber seine Männer waren lange genug dabei, um zu wissen, wie es in der Navy läuft. Die Großmars-Leute von Oliver Picken und die Kreuzmars-Männer von Stephen waren ebenso unproblematisch, wie die Matrosen unter Christian Summer, Samuel North und Christopher Lloyd. Bootsmann, Stückmeister, Zahlmeister, Schiffsarzt und Zimmermann mit ihren Maaten waren auch alles fähige, langgediente Seeleute und die Phaeton ein glückliches Schiff.

Nur die Landratten unter Jonathan Reed gefielen dem Kapitän nicht. Jon ist zu nachlässig und die Landratten zu unerfahren, um sich richtig zu benehmen. Also meckerte der Kapitän schon ziemlich herum und Jon stand der Schweiß auf der Stirn, als der Kapitän ihm seine Nachlässigkeit vorhielt. Aber auch er würde es bald lernen, wie man mit den Männern umzugehen hat, damit sie von allein tun, was sein muss – und das am besten ohne Strafen, sondern von allein.

Während des Gottesdienstes träumte Stephen vor sich hin. Er hörte nicht, was der Kapitän predigte. Er merkte nicht einmal, dass der Kapitän zur Verlesung der 36 Kriegsartikel übergangen war. Viel zu sehr war er mit der Frage beschäftigt, was denn nun mit William los war. Doch beim 29. Kriegsartikel zuckte er unwillkürlich zusammen.

»Wenn eine Person in der Flotte die unnatürliche und verabscheuenswürdige Sünde der Unzucht oder Sodomie mit einem Mann oder Tier begeht, der soll durch Urteil des Kriegsgerichts mit dem Tode bestraft werden.«

Die Stimme des Kapitäns fuhr unbeirrt und monoton mit der Verlesung fort, hatte er die Sätze doch schon zig Mal gesprochen und auch Stephen zig mal gehört. Doch Stephen schallten die Worte weiter durch den Kopf. Er schluckte. War sein Leben nicht ohnehin schon schwer genug? Aber das half jetzt auch nichts. William mochte ihn ja eh nicht mehr.

Der Kapitän war auch schon durch und kam jetzt zu den Bestrafungen.

»… Clearwater, Vollmatrose, Richard Neville, Leichtmatrose, wird eine Woche lang die tägliche Rumzuweisung gestrichen.«

»Die Gaffer sind also noch ganz gut weggekommen«, dachte Stephen. Eine schärfere Strafe hätte ihm auch Leid getan. Aber die Woche ohne Rum wird ihnen nicht schaden, auch wenn das Zeugs jeden Tag ein Highlight im tristen Leben der Matrosen darstellt. Aber ein wenig schmerzen muss die Strafe schon.

»Federic Robinson, Bootmannsmaat, wegen Ungehorsam und Beteiligung an einer Schlägerei, Degradierung zum Leichtmatrosen und drei Dutzend Hiebe.«

Das war schon bitter. Nicht nur, dass er vom Bootsmannsmaat degradiert wurde, einem Posten, den nur erfahrene Seeleute bekamen und für den viele Matrosen sehr viel tun würden – bedeutete er doch neben der besseren Bezahlung und einem höheren Anteil an den Beutegeldern auch ein besseres Leben. Den Starter benutzen, anstatt das Tauende selbst auf dem Rücken zu haben, war nur einer der Vorteile. Aber die 36 Hiebe waren schon eine Menge. Eigentlich, nach den Dienstvorschriften hätte der Kapitän sie auch gar nicht verhängen dürfen. 24 war das höchste was er durfte. Aber fast alle Kapitäne verhängten schwerere Strafen und niemand beschwert sich – die Alternative wäre ein Kriegsgericht. Und so oft wie »mit dem Tode bestraft« in den Kriegsartikeln steht, riskiert niemand ein Kriegsgericht.

Der Maat wurde wieder unter Deck in Arrest geführt. Zwischen Urteil und Ausführung mussten 24 Stunden liegen, damit nicht aus plötzlicher Erregung ungerechte Strafen verhängt und ausgeführt werden, über die der Kapitän am nächsten Tag vielleicht anders denkt. Der unangenehme Teil war dann auch vorbei – und auf das, was jetzt kam, waren alle gespannt.

Stephen war sich sicher, dass der Kapitän die geheimen Befehle entsiegelt hatte. Sie waren ja jetzt weit genug draußen, es war ja ausgeschlossen, dass jemand von der Mannschaft Kontakt zu Land haben kann, um die Operationspläne zu verraten.

Kapitän Stevenson faltete ein Dokument auseinander und las vor:

»… sie werden ersucht und angewiesen, sich ohne vermeidbare Verzögerungen nach St. Lucia zu begeben. Dort treten Sie unverzüglich zum roten Geschwader unter Admiral Sir George Rodney, K.B., das sich bis zum 1. April dort formieren soll.«

»Westindien«, ging es Stephen durch den Kopf. Er wusste nicht so recht, ob er sich freuen sollte oder nicht. Das hieß auf der einen Seite, er würde England erst einmal lange Zeit nicht mehr sehen. Andererseits waren die Schönheit und der Reichtum der Inseln der Karibik schon sprichwörtlich und er freute sich darauf, die Hügel und Zuckerrohrplantagen zu sehen. Er entschied, dass er sich freuen wolle und grinste zu Christian hinüber. Auch diesem zogen sich die Mundwinkel nach oben.

Nach seiner Ansprache sah Kapitän Stevenson zu seinem ersten Leutnant und gab ihm ein Handzeichen, woraufhin dieser die Mannschaft wegtreten lies. Der Sonntag war den Seeleuten heilig. Der einzige Tag, an dem außer den regelmäßigen Wachen keine Sonderdienste, wie Geschützexerzieren oder Segeltraining durchgeführt wurden.

Stephen schlenderte über das Vorschiff. Die Matrosen saßen in Gruppen zusammen und schnitzten oder sangen Seemannslieder. Stephen war tief in seinen Gedanken versunken. Noch immer konnte er sich nicht erklären, weshalb Will ihn auf einmal ignorierte und überhaupt nicht mehr mochte. Vor allem machte er sich aber auch noch Sorgen, weil er so schlecht aussah.

»Na, Stephie, Lust auf eine Partie Whist?«

»Oh, Christian, du sollst mich doch nicht Stephie nennen. Das ist doch eine grausame Verunstaltung meines Namens. ... Aber wer spielt denn noch mit?«

Christian grinste.

»Stell dich nicht so an, Stephie. Gib schon zu, dass du das eigentlich magst, wenn ich dich so nenne, Stephie. Und Christopher und Mr. Beatty spielen mit, Stephie. Komm, mach schon mit, Stephie. Wir zeigen's denen mal so richtig, Stephie.«

Stephen musste kichern. Und wahrscheinlich würde ihn das auch davon abhalten, weiter über Will nachzudenken.

»Na gut! Ist vielleicht ganz witzig.«

Die beiden schlenderten zum nächsten Niedergang und eilten die drei Leitern hinunter, bis sie ganz unten im Schiff, auf dem Orlop-Deck, standen. Neben allen Vorrats- und Lagerräumen war hier auch das Cockpit. Hier, tief unter der Wasserlinie, lebten die Offiziersanwärter in ziemlicher Enge zusammen. Nachts reihten sich die Hängematten dicht an dicht, aber tagsüber war der kleine, dunkle Raum der Mittelpunkt des sozialen Lebens der sechs Midshipmen und vier Servants.

An einem der beiden Tische saßen Jonathan und Hugh und spielten Back Gammon, Am anderen Tisch hatten schon Christopher und der Schiffsarzt, Mr. Beatty, gegenüber Platz genommen. Stephen und Christian setzten sich dazu.

Stephen wunderte sich, dass der Schiffsarzt auch da war. Eigentlich hatte er Zugang zur Offiziersmesse, so dass er mit den Leutnants, dem Master und dem Zahlmeister zusammen seine Freizeit verbrachte.

»Ach, ich spiele doch so gern Whist. Aber meinen Sie, einer der Offiziere mag das? Ich bin schon fast gestorben, bis ich gehört habe, dass wenigstens die Middis noch was anständiges spielen..«, klärte der Schiffsarzt ihn aber schon ganz von allein auf.

Jonathan mischte schon die Karten, Hugh teilte sie und gab den Stapel an Christian, der jedem seine 13 Karten austeilte. Und schon ging es los.

Der Reihe nach legten sie ihre Karten ab, Jonathan, dann Stephen, dann Mr. Beatty, dann Christian. Der erste Stich ging an Christian, weshalb er als nächstes dran war, die Farbe vorzugeben. Christian warf eine Karte und wieder ging es reihum. Diesmal war Christopher siegreich. Spannend ging es weiter. Mal konnten Christian oder Stephen gewinnen, mal Christopher und Mr. Beatty. Bald stand es 6:6 und der letzte Stich war an der Reihe.

Mr. Beatty legte die Herz-Vier und hoffte, dass sein Partner das Herz-Ass in Händen hielt. Die Vier waren gute Spieler und wussten natürlich, welche Karten noch im Spiel waren. Christian legte die Kreuz-Neun. Er wiederum hoffte, dass Stephen das Herz-Ass in Händen hielt, dann hätten sie gewonnen. Jonathan legte seufzend die Herz-Vier und Stephen warf freudestrahlend das Herz-Ass. Der erste Punkt ging an Stephen und Christian. Der nächste Durchgang ging dann an das andere Paar mit 7:6. Es ging hin und her und die Vier hatten eine Menge Spaß.

Stephen liebte Whist und Christian nicht minder. Stephens Stimmung hob sich immer mehr. Plötzlich zerriss ein schrilles Pfeifen die Stille.

»Alle Mann! Klar Schiff!«, brüllten einige Bootsmannsmaate den Niedergang hinunter. Alle Midshipmen sprangen sofort auf, schnappten sich ihre Uniformröcke und eilten zum Niedergang. Nur Mr. Beatty konnte sich noch etwas Zeit lassen, sich auf dem Messedeck sehen zu lassen, wo er tief im Bauch des Schiffes einigermaßen geschützt vor dem feindlichen Feuer sein Lazarett einrichten durfte. Stress würde er erst später haben, wenn die ersten Kanonenkugeln die Matrosen trafen.

»Hoffentlich ist das keine Übung, wegen der wir unser schönes Spiel abbrechen müssen«, rief Christian brummig.

»Das kann keine Übung sein. Nicht am Sonntag«, rief Stephen zurück. Kein Kapitän würde am heiligen Sonntag exerzieren. Behende kletterten die jungen Herren den Niedergang hinauf. An Deck angekommen musste Stephen die Augen zusammenkneifen, weil ihn das helle Sonnenlicht blendete.

Die Landratten waren schon eifrig dabei, Sand zu streuen und mit Wasser zu begießen. So kann sich wenigstens kein verschüttetes Pulver entzünden und die Leute rutschen auch nicht so schnell aus. Auch wurden Wassereimer aufgestellt, damit die Kanonenbesatzungen sich abwischen konnten, wenn mal Zeit sein sollte und zwischen den Kanonen standen auch noch große Seewasser-Behälter, in denen die Wischer nass gemacht wurden, um die Kanonen von glühenden Pulverresten zu befreien.

Stephen blickte über die See. Am Horizont waren zwei Segel zu erkennen. Eines der Schiffe schien ein Linienschiff zu sein, ein 74er wahrscheinlich. Mit einem so großen Gegner darf sich die Phaeton nicht anlegen. Denn mit 74 Kanonen hatte das Schiff nicht nur fast doppelt so viele Kanonen, auch das Geschossgewicht war enorm größer, konnte das große Schiff doch viel schwerere Kanonen tragen als die Fregatte. Und dann war da noch das kleine Schiff, wahrscheinlich eine Fregatte oder Korvette.

»Mr. Bennett, der Kapitän wünscht, dass jede halbe Stunde der Abstand zu den Schiffen bestimmt wird«, orientierte ihn der Master über seine Aufgaben.

»Aye, aye, Sir!«

Stephen holte sich einen Sextanten aus dem Kartenraum und peilte die Schiffe an. Schon verdammt dicht. Wie konnten die Schiffe so nah kommen, ohne dass es jemand gemerkt hat? Es hätte doch viel früher Alarm geben müssen.

»Zwei Seemeilen, Sir! Wie..«, Stephen brach seine Frage noch ab. Es stand ihm nicht gerade zu, den Master so etwas zu fragen. Doch der war scheinbar gut gelaunt.

»Die kamen plötzlich hinter einer Landzunge hervor. Verdammtes Pech, dass wir schon so nah sind. Zum Glück haben wir genug Seeraum und der Wind kommt günstig, da können wir hart an den Wind gehen, ohne uns wegen der Küste Gedanken machen zu müssen«, plauderte der Master.

»Aye, Sir! Hoffentlich bricht bei uns keine Stenge oder so was.«

Stephen blickte besorgt in die Takelage. Es war alles gesetzt, was das Schiff an Segeln tragen konnte, nur die Leesegel nicht. Vielleicht noch nicht. Wenn der Druck zu hoch ist und irgendwas bricht, würden sie einen guten Teil des Vorsprungs einbüßen.

»Ja, Mr. Bennett, mit den beiden hätten wir sonst unsere Schwierigkeiten. Die würden uns einfach so zusammen schießen.«

So eine Verfolgungsjagd konnte sich über Stunden hinziehen. Die Phaeton war schnell. Die Fregatte der Verfolger aber auch. Und wenn sie nahe genug kam, und die Phaeton mit Kettenkugeln beschoss, konnte sie mit etwas Glück einige Segel und Stengen herunter schießen, die Phaeton langsamer machen und sie dann komplett einholen.

»Sie kommen näher, Sir! 1 Seemeile, 8 Kabellängen!«, meldete Stephen und schaute nervös auf die Verfolger. Eine Kanone konnte zwar etwas über eine Seemeile weit feuern, treffen war auf diese Entfernung reines Glück.

Verdammt, dass diese beiden so schnell sind, hätte Stephen nicht gedacht.

»Sir, wenn ich fragen darf, wieso holen sie auf? Eine Fregatte müsste doch schneller sein.«

»Die Franzosen sind zwar keine guten Seemänner, haben aber gute Schiffe. Nur die Spanier sind noch besser.«

Stephen kontrollierte regelmäßig den Abstand. Die beiden Schiffe holten auf. Zwar nur sehr langsam, aber sie holten auf.

Stephen sah zum Kapitän, der auf der Luvseite einsam auf und ab ging und seinen Gedanken nachging. Wenn er Pech hatte und die Schiffe ihn erreichen, war bald ein Großteil seiner Besatzung tot, vielleicht er selbst auch. Und wenn nicht, würde er in Gefangenschaft geraten. Denn eine Chance auf einen Sieg gab es bei der Übermacht nicht.

Und selbst wenn er überlebte. Selbst wenn er bald die Gefangenschaft überstehen sollte. Selbst dann war der Kapitän nicht zu beneiden, musste doch dann ein Kriegsgericht klären, ob er alles getan hatte, um sein Schiff zu retten.

In diesem Moment musste Stephen an Leutnant Andrews denken. Der war auf dem Geschützdenk mit zwei Midshipmen und kümmerte sich um seine Batterie. Jede Seite des Schiffes unterstand einem Leutnant, die Kanonen wurden dann noch einmal gruppiert und in jeder Gruppe kommandierte ein Midshipman oder ein Maat.

Die Phaeton hatte viel Geschützdrill gemacht. Die Leute waren gut in Form und konnten sicher den Flottenstandard einhalten und vielleicht sogar übertreffen. Aber trotzdem. Auch wenn Engländer viel schneller feuerten als Franzosen. Auch wenn die Phaeton ein besonders gutes Schiff war. Gegen ein Linienschiff hat sie keine Chance. Und gegen ein Linienschiff und eine Korvette erst recht nicht. Aber es half ja auch nicht, sich Sorgen zu machen.

»Leesegel setzen!«, rief der Kapitän nun. Er wollte also noch weitere Segel setzen, dann hatte die Phaeton wirklich alles stehen, was sie hat.

»Na, hoffentlich fahren wir ihnen jetzt weg.«, sagte der Master zweifelnd. Aber was konnten sie sonst noch tun? Ballast abwerfen? Aber dann kamen sie nie nach Westindien. Und das Flottenkommando wäre sicher nicht begeistert, wenn die Vorräte und die Kanonen über Bord gingen.

Stephen kontrollierte wieder den Abstand.

»Konstant, Sir!«

Der erste Leutnant atmete auf und meldete die Nachricht an den Kapitän. Sie musste die Verfolgungsjagd bis zur Nacht durchhalten. Dann konnten sie den Kurs ändern und davon laufen.

»Deck, Segel voraus!«, rief der Ausguck.

Stephen schaute den Master noch nervöser an, der zuckte merklich zusammen. Waren es Gegner, war ein Entkommen praktisch unmöglich. Waren es die eigenen Schiffe, würden sie vielleicht den nun nicht mehr so überlegenen Gegner angreifen. Und zwei Kriegsschiffe waren ein harter Brocken, verglichen mit ein wenig Jagd auf Handelsschiffe.

Stephen blickte zu Christian hinüber. Der stand in der Gegend herum und gab sich Mühe, unbeteiligt und gelangweilt auszusehen. Beim ersten Ruf nach Segeln hatte er schon die Erkennungssignale herausgesucht und freute sich innerlich, dass er die Befehle, die nun kommen, eigentlich schon ausgeführt hatte. Und Stephen sag ihm das deutlich an und grinste.

»Mr. Bennett, wollen Sie bitte Erkennungszeichen setzen lassen?«, bat der Kapitän.

»Aye, Sir! Erkennungszeichen setzen.« Er lief los und nickte Christian zu, der ließ die Erkennungssignale hoch ziehen, und als Stephen ihm offiziell den Befehl meldete, flatterten die Signalflaggen schon im Wind.

Christian nahm ein Fernglas und enterte auf den Mast auf. Die beiden Schiffe waren zu weit weg, um die Signale sinnvoll vom Deck abzulesen, man konnte ja knapp die Segeln sehen.

Er rief zu Stephen, dass die Erkennungssignale korrekt seien. 17 und 38, wie für heute vorgesehen. Stehen lief wieder zum ersten Leutnant. Eigentlich konnte er sich den Weg sparen, denn er wusste genau, was als nächstes für ein Befehl kommt. Und auch Christian wusste das und sortierte sich schon die Flaggen zurecht.

»Danke, Mr. Bennett, setzen Sie unsere Nummer«, kam dann auch der wenig überraschende Befehl, den Christian wieder schnell ausgeführt hatte.

Alle Schiffe der Royal Navy waren durchnummeriert und in einer Liste verzeichnet. Durch setzen der Nummer konnte man also herausfinden, was man für Schiffe vor sich hatte und – vor allem – wer sie kommandierte.

Christian enternte wieder ab, blickte in sein Signalbuch und nannte Stephen die Schiffsnamen.

»Die Nymph, 36, Captain Pellew! Romney, 50, Captain Davenport!«

»Ihrer Majestät Fregatte Nymph, 36 Kanonen, unter Kapitän Pellew und Ihrer Majestät Schiff Romney, 50 Kanonen, unter Kapitän Davenport, Sir!«, meldete Stephen dem ersten Leutnant und dem Kapitän, die ihn schon Erwartungsvoll anblickten.

Kapitän Stevenson hatte das Kommando.Er war der dienstälteste Kommandant und er hatte jetzt zu sagen, was passiert.

»Feind in Sicht flaggen, Mr. Bennett.«

Klar, als ersten mussten die eigenen Schiffe wissen, was da hinter der Kimm auf sie zu kam. So langweilig manchmal die Seefahrt auch ist, wenn etwas passiert, dann ist Hektik.

Der Kapitän hatte wohl eine Idee. Stephen war von seinem Boten-dasein erst einmal erlöst, das übernahm jetzt ein Captains-Servant.

»Mr. Bennett!«

»Sir?«

»Ich möchte, dass sie sich ein paar Matrosen nehmen und in unserer Takelage ein wenig Verwirrung stiften. Ich möchte, dass es ausschaut, als sei uns eine Stenge gebrochen. Aber ich will auch, dass es zack-zack wieder in Ordnung ist, wenn ich die Segel brauche.«

»Aye, Sir!«

»Warten Sie auf mein Ausführungskommando!«

»Aye, Sir!«

»Also wollte der Kapitän, dass die Feinde denken, die Phaeton wäre allein!«, dachte Stephen und lief los. »Aber an den Flaggen muss der doch merken, dass da was kommt.«

Er hatte schon zurecht gelegt, welche Enden wo losgemacht werden musste, damit welche Segel herunter kommen, damit die Phaeton an Fahrt verliert und beschädigt aussieht.

Stephen sah, wie die »Abstand halten« Flaggen so gehisst wurden, dass der Feind sie nicht mehr sehen konnte. Er sah auch, dass die Rudergänger stark Ruder legten und der Master Segelstellungen ändern ließ, damit die Phaeton abfällt.

Auch dämmerte ihm langsam, was der Kapitän da vor hat.

»Sir, wieso ändern wir den Kurs?«, fragte einer der Matrosen.

»Ich glaube, er will es so aussehen lassen, wir wollten den für den Feind unsichtbaren Schiffen ausweichen und deshalb nach Lee abfallen. Und dann lassen wir es so aussehen, als sei dabei was schief gangen.«

»MR. BENNETT! AUSFÜHREN!«, brüllte die Stimme des ersten Leutnants über das Deck.

Stephen gab seinen Leuten kurze Befehle, die enterten auf den Großmast und ließen einige Segel fallen und anderen killen, setzten einige so, dass er Wind die Phaeton bremste. Und man sah deutlich, wie sie an Fahrt verlor. Es musste ein wirres Schauspiel abgeben. Stephen hatte zudem noch Leute eingeteilt, die einfach planlos auf und ab entern sollten.

»Bennett, was tun die Leute da?«, fragte der Kapitän auch gleich, als Stephen zurück war.

»Sir, ich habe befohlen, sie sollten etwas verwirrt aussehen, damit die Franzosen denken, wir haben riesige Probleme und eine schlechte Besatzung. War das nicht gut?«

Stephen schaute unsicher. Der Kapitän überlegte kurz. Lächtelte dann aber.

»Nein, eine gute Idee, Mr. Bennett! Schön, dass Sie mitdenken. Abstand?«

Stehen hetzte nun zu »seinem« Sextanten und kontrollierte wieder den Abstand. Hektik, das war genau das richtige Wort. Auf einem Linienschiff mit vier Mal so vielen Midshipmen und mehr Leutnants war das Leben viel ruhiger.

»Signal 'Angriff' plus 'Warten auf Ausführungssignal'.«

Der Servant lief los, um Christian zu melden.

»Mr. Bennett, Abstand!«

»Eine Seemeile, Sir!«

»Halsen! Signale 'Angriff!' setzen! Signalkanone!«, rief Kapitän Stevenson.

Der Servant lief los, die Signale setzen zu lassen. Stephen eilte zum Geschützoffizier, damit eine Kanone abgefeuert würde, um die Nympf und die Romney auf die neuen Signale aufmerksam zu machen.

»Empfehlung des Kapitäns, Sie mögen...«, Stephen starrte William Andrews an, der an den Geschützen stand und traurig ansah.

»Was mag ich?«

»... eine Signalkanone abfeuern, Sir!«

»Ist gut, Stephen...«, er seufzte. »ich meine, Mr. Bennett! ... Verdammt!«

Der Geschützführer blickte William an. Der nickte und die Kanone feuerte.

»Sir, was ist denn überhaupt los?«

Die beiden jungen Männer sahen sich an.

»Mr. Bennett... wieso....«

»Sir?«

Leutnant Andrews standen die Tränen in den Augen. Er zog Stephen ein wenig zur Seite, wo die Geschützbedienungen sie nicht sehen konnten.

»Ach, Stephen...«

Stephen flüsterte »William, was ist denn los?« und legte dem Leutnant die Hand auf die Schulter.

»Tu doch nicht so!«

Eine Träne lief die Wange des schlanken, blonden Leutnants hinunter.

»Und nimm die Hand weg, bevor das noch jemand sieht!«, begann er scharf, wurde aber immer leiser und unsicherer.

»Eigentlich will ich nicht, dass du die Hand wegnimmst!«

»Okay, William. Aber was ist denn?«

»Wieso musstest du mich so verletzen? Ich dachte... ich dachte...«

Schüchtern blickte er Stephen an und wollte gerade weiterreden, da wurde er durch einen Kanonenschuss unterbrochen, der über ihnen durch die Takelage pfiff.

»Mr. Bennett, verdammt! Hätten Sie die Güte, aufs Achterdeck zurück zu kommen?«, fauchte Leutnant O'Connor den Niedergang zum Geschützdeck hinunter.

»Aye, Sir! Unterwegs.«

Er sah noch einmal zu Leutnant Andrews hinüber.

»Bitte lass uns später reden, ja?«

»Okay«, flüsterte er zurück und sagte etwas lauter »Vielen Dank, Mr. Bennett! Melden Sie dem Kapitän bitte die Gefechtsbereitschaft unseres Decks.«

Stephen grinste, salutierte und rannte zum ersten Leutnant.

»Ach, Leutnant Andrews wollte noch etwas? Na, dann wollte ich nicht so drängelnd klingen. Aber nun zurück auf Ihren Posten.«

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