zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Necropolis

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

Stadt der Engel

„Der Tod kommt von ganz alleine – aber er schaut immer gern auf einen Sprung vorbei…“

Der Sarkasmus der Worte auf dem kleinen Stück Papier würde sich dem unbedarften und unwissenden Beobachter gewiss nicht sofort erschließen. Ebenso wenig der brutale Zynismus angesichts der zerfetzten menschlichen Überreste da unten im Abgrund.

Peter war Rettungssanitäter. Er hatte schon viel gesehen mit seinen 33 Jahren, es gab nur wenig mehr, das ihn wirklich erschüttern konnte. Die von Zuhältern zusammengeschlagenen Nutten, die verkrümmten Junkies nach dem goldenen Schuss, die Scheiße und Kotze der Menschen… Er hatte fast vier Jahre lang die Güllegrube der Gesellschaft ausgeräumt, da blieb nicht mehr viel übrig, das einen noch erreichte im Alltag von vollgepissten Alkoholikern und zerquetschten Verkehrstoten. Und natürlich all die großen und kleinen Dramen der Leute, die ungezählten und unzählbaren Unfälle, die rasch und problemlos zu erledigen waren.

Aber das hier… das war auch für ihn schon fast zu viel. Er kam mit fast allem klar, aber wenn ein junger Mensch seinem Leben ein Ende setzte und er und seine Kollegen die Reste vom Straßenpflaster kratzen mussten…

Oder die Blutspritzer wegwischen… oder die Gliedmaßen einsammeln unter Autobahnbrücken. So wie hier.

Bedächtig drehte er die Plastiktüte mit dem schmalen Blatt Papier darin zwischen seinen behandschuhten Händen. Nachdem die Routinearbeiten für ihn hier oben an der Brücke erledigt waren, hatte er den zuständigen Beamten gebeten, einen Blick darauf werfen zu dürfen. Einen Abschiedsbrief hatte es nicht gegeben, nur den Zettel oben auf der Brücke, mit einem Haftstreifen ans Geländer geklebt.

Die Schrift war unverkennbar weiblich, der Jugendliche oder das, was noch von ihm übrig war, jedoch männlich – und schwul, wie die Befragung der Angehörigen ergeben hatte.

Ob ihre Anteilnahme so echt war wie ihre Gebisse falsch? Die Polizeipsychologin, die die Hinterbliebenen befragt hatte, hatte da so ihre Zweifel.

Aber es war ein kleines Dorf nahe der Stadt. Man sprach wohl nicht über gewisse Dinge. Zumindest nicht mit Fremden wie ihnen.

Peters Kopf wurde leer. Er fragte sich, wie weit Schmerz eigentlich gehen konnte. Wie sehr musste man ein menschliches Wesen unter Druck setzen, bis das Pressen der unausgesprochenen wie der ausgesprochenen Worte und die Last der Blicke groß genug waren, um auch den letzten Überlebensinstinkt auszuschalten, ihn wie faules Wasser aus einem Rohr zu drücken… und ein Sich-nach-vorne-fallen-lassen sicherer wurde, als noch einen weiteren Tag weiter zu machen.

Und dann noch einen… und noch einen…

Etwas Großes und Hartes presste ihm vom Magen her die Kehle zusammen. Wie konnte er sich anmaßen, hier zu stehen und über das Leben eines siebzehnjährigen Jungen zu philosophieren, dessen Situation er wohl innerhalb seiner Lebensspanne nie zur Gänze verstehen würde können?

Peter hatte ja eine feste Freundin. Ob der Junge wohl einen Freund gehabt hatte? Wer wusste das schon… und die möglicherweise Wissenden verschlossen ihre sprachlosen Münder in Stummheit und Stille. Am Tatort wurde nur getuschelt.

Tatort – wohl eher das letzte Glied in einer langen Kette ungeklärter Verbrechen gegen das Menschsein, nur die logische Konsequenz, die unerbittliche Schlussfolgerung der Geschehnisse.

Das hier war Wirkung, nicht Ursache.

Tragisch, würden die Zeitungen schreiben. Unnötig, würden die Bürger zu lesen bekommen. Eine Schande, dass es soviel Intoleranz gibt – so würden die Worte des Priesters sein, wenn er seine Rede an die trauernde Gemeinde schloss.

Andreas Hantke war ein guter Junge, würden sie sagen. Um dann seinen Namen in Stein zu meißeln – in seinen Grabstein. Und rasch wieder vergessen, das Leben war kurz.

Er blickte in die kleine Menge aus Menschen, die sich versammelt hatte.

Er blickte in die Gesichter der Alten, von denen einige wohl noch den großen Krieg erlebt hatten, das namenlose Grauen, das große Drama des deutschen Volkes. Ob sie wohl wussten, dass der alte Feind in neuen Kleidern zurückgekehrt war? Der gleiche Inhalt in anderer Form…

Er schaute in die Gesichter der Jungen. Schaute sich die Bauernburschen an, wie sie da standen mit ihren Freundinnen.

Bald schon würden sie ihre Kinder werfen – so wie trächtige Schweine den quiekenden Inhalt ihrer aufgeblähten Bäuche ins Stroh erbrachen.

Übelkeit rollte wie eine Welle durch Peters Körper. Er schüttelte den Kopf, um das grässliche Bild zu verwischen, das sein Denken erfasst hatte: menschliche Zuchtsäue, die die degenerierte Brut tot bissen. Sie brachte ja keinen Ertrag ein.

Dunkelheit überkam die Welt aus Licht, ein Schwall Finsternis drohte sich über die Welt zu ergießen. Peter schwankte für einen Moment, eine große Lähmung ergriff seinen Körper. Nur nicht ohnmächtig werden, bitte. Nicht hier.

Ein kleiner Windstoß brachte wieder Ordnung ins Chaos des Moments. Es war kühl geworden und die Luft war in Aufruhr, als könnte die Atmosphäre die Atemlosigkeit des Augenblicks nicht länger ertragen, um gegen die Grausamkeit der Menschen anzukämpfen.

Als sein Kreislauf wieder in definierten Parametern funktionierte, fielen Peters Blicke wieder auf den Pulk aus Leibern. Es sah so aus wie noch vor einem Moment, aber etwas störte. Etwas hatte sich dort verändert.

Die Diskrepanz im Suchbild war eine junge Frau, deren ungeheuerliche Andersartigkeit den Leuten wohl nicht aufzufallen schien.

Eine Punkerin: knallrote Rastazöpfe, ein funkelndes Piercing an der Augenbraue und abgetragene, verschmutzte Kleidung. Sie wirkte wie ein Bruch der Kontinuität der Versammelten. Ihre augenscheinlichste Abweichung von der Gleichmäßigkeit aber waren ihre Augen: das linke war blau, ein Blau von bestechender Intensität, das rechte erstrahlte in einem fast schon Smaragdgrün.

Ein Automatismus erfasste seine Beine, als hätten seine Beine eine eigene Republik ausgerufen und seine Füße die Autonomie. Er konnte nicht anders, als sich auf die junge Frau zu zu bewegen.

Seine herannahende Ankunft blieb ihr nicht verborgen. Anstatt nach vorne zu gehen, wich sie aus der Gruppe zur Seite hin aus. So, als ob sie sich heimlich davonstehlen wollte, um ihm zu sagen: „Da haben wir wohl ein Geheimnis, wir zwei, was?“

Denken war eine Illusion geworden, ein verstandesorientierter Traum, der zu Ende war. Peters Kopf war leer, blank gewischt von einer großen Hand, die Zugriff auf sein Gehirn hatte.

Als er dem Mädchen, sie konnte ja kaum älter als sechzehn sein, gegenüber stand, fast Gesicht an Gesicht, brachte ihre sphinxgleiche Schau wieder Leben in seinen Schädel.

„Hi, ich bin Angelika, aber meine Freunde nennen mich alle nur Headcrash.“

Irgendein Absturz schien sein Sprachzentrum in Mitleidenschaft gezogen zu haben, aber das Betriebssystem seines Bewusstseins funktionierte wieder.

„Ich bin Peter. Hallo.“ Ein wenig platt waren die Worte noch, und seine Stimme kratzte wie die verbogene Nadel eines alten Plattenspielers. Wohl noch ein Bug in der Steuerung der Stimmbänder.

„Alles wieder im grünen Bereich bei dir? Du sahst etwas blass aus vorhin!“ Die Augen in Technicolor schauten ihn offen und ohne jeden Schleier an. So müde ihre Kleidung wirkte, so wach war ihr Blick. Peter hatte das Gefühl, von zwei Juwelen sondiert zu werden. Die Farben waren ja schon brutal kräftig. Vielleicht Kontaktlinsen?

Bei einem Ghettokid? Mach dich nicht lächerlich! , rief ihm der aufmerksame Wächter seines Weltbildes von innen her zu.

„Geht so. Ist etwas viel hier für mich…“ Ihr Gesicht wandte sich von ihm ab und sah zu den Polizeiwagen hinter Peter, dann zum Geländer, dann Richtung Abgrund.

„Ja, so etwas bringt sie immer ganz schön durcheinander.“ Ein mildtätiger Ausdruck, fast schon etwas Gnadenvolles, verzierte ihr Antlitz und mäßigte die bestechende Ebenmäßigkeit ihrer Gesichtszüge.

„Bringt wen durcheinander?!“ Peter stutzte.

„Na, euch Menschen natürlich!“ Ihr Grinsen zog sich scheinbar von einem Ohrläppchen zum anderen und die Milde der Mütterlichkeit wurde durch etwas ersetzt, das Peter Angst machte. Große Angst…

„Als ob du keiner wärst…“ Die Aussage, die schneller seine Lippen verließ als er denken konnte, verblüffte ihn.

Angelika – oder Headcrash – neigte ihren hübschen Kopf leicht zur Seite und Belustigung huschte über ihre Mimik. Wie konnte ein Gesicht nur so sehr lebende Leinwand von Gefühlen sein?

„Ich denke, wir haben einiges zu bereden. Doch zuerst solltest du verstehen, was ich hier tue. Und warum ich es tue.“

Die Rätselhafte und Erstaunliche ergriff seine Hand mit ihren schmutzigen Fingern und führte sie zu einer älteren Dame, die kaum eine Armlänge von ihnen stand und bisher keine Notiz genommen hatte.

Sie tat es auch dann nicht, als Peters Hand durch sie hindurchgeführt wurde und auf eben so viel Widerstand stieß wie ein Lichtstrahl, der durch Glas fällt.

Er riss ruckartig seine Hand zurück. Das hier war nicht möglich, er hatte gerade durch einen Menschen gegriffen wie durch Nebel.

„Was in Gottes Namen war denn das??“

„Der Beginn von Begreifen. Das Begreifen von Tatsachen. Das, was dich hierher geführt hat, war nicht dein Beruf, mein Lieber. Es war der Tod des Jungen, der mit deinem Leben verknüpft wurde.“

Ihre Ausdrucksweise erschreckte Peter zutiefst. Einerseits sah er ein Gossenkind mit verdreckten Klamotten, andererseits sprach sie mit der gespreizten Deutlichkeit und geschliffenen Entschlossenheit einer Schriftstellerin, deren täglich Brot das Sammeln und Reihen von Worten war.

„Wer bist du nur? Und was machst du mit mir?“ Peter fasste sich. Was blieb ihm schon anderes übrig?

„Zuerst: ich bin kein Mensch. Ich bin keiner und war auch nie einer. Was ich bin, ist in deinem Bewusstseinsradius nur schwer zu definieren. Wichtiger als meine Rolle ist jedoch meine Funktion. Ich bin nicht zum Spaß hier.“

Peter registrierte den nun ernsten Blick und auch die Aufrichtigkeit und Tiefe ihrer Worte. Wenn sie log, log sie gut. Aber das war unwahrscheinlich.

Hast du nicht gerade durch eine alte Frau hindurch gegriffen? , meldete sich der Nörgler in ihm wieder zu Wort. Ach, halt die Klappe!

„Also schön, in Ordnung. Was ist denn nun deine Funktion? Warum bist du hier? Und warum ich?!“

Der Blick des Geschöpfs, das hier vor ihm für kurze Zeit in menschliche Form getreten war, wurde glasig. Großer Schmerz tauchte wie ein Schatten hinter ihrem Gesicht auf und eine Träne floss aus dem grünen Auge die Wange nach unten. Als sie sprach, war ihre Stimme belegt.

„Der Tod des Jungen. Dass er Selbstmord begangen hat, weil er homosexuell war, weißt du ja schon. Oder glaubst du zu wissen. Die Funktion meines Hierseins besteht darin, dich begreifen zu lassen, wer er war. Nicht seinen Namen, den kennst du ja aus den Unterlagen.

Du sollst verstehen, was der Inhalt seines Wesens war. Seine Träume, seine Hoffnungen und sein Leid.“ Sie hielt kurz inne.

„Peter – ich bin hier, um dir und damit allen das Ausmaß seines Leidens begreiflich zu machen. Und welche Bedeutung das alles hier für euch Menschen haben wird. Großes Unheil ist schon da, ein Armageddon soll vermieden werden.“

„Angel… also gut, Headcrash: wer bist du wirklich?“ Auf seine Frage hin, wurde ihr Blick hart. Jede Emotion wich aus ihr heraus. Als sie sprach, waren ihre Worte wie die Kälte des leeren Vakuums, in dem die Dinge treiben wie Flöße.

„Ich bin die Trägerin eures Untergangs. Und die letzte Instanz, die letzte Entscheidung, ob euch noch ein Aufschub gewährt werden soll.“

„Wieso das alles…“ Peters Herz brannte, als ob es mit Benzin übergossen worden wäre und angezündet.

„Der Junge war sein Sohn, Peter! SEIN Sohn!“

„Was soll das heißen? Dass der Junge so etwas wie Christus war?! Ist das dein Ernst??“

Headcrash blickte zu Boden und verstummte. Als sie wieder sprach, kam es ihm vor, als ob eine alte Lehrerin einen Kind etwas erklärte.

ER ist Alles-was-ist. Die unendliche Summe aller Dinge. Manchmal lässt er einen Teil seiner Weisheit eine Form erfüllen, ein möglicherweise menschliches Gefäß, das von seiner Herrlichkeit erfüllt wird. Jesus, Mohammed, Buddha... es ist schon viele Male geschehen.“

„Ach, und dieses Mal hat er uns einen Schwulen geschickt?“ Peter bereute seine Worte, als dieses Etwas ihm wieder mitten in die Augen schaute… Doch diesmal war ein Glimmen im Schwarz der Pupillen, eine stille Glut in der Dunkelheit, die wohl nur mühsam im Zaum gehalten wurde.

„Peter, wir müssen jetzt gehen. Fort von hier. Und in die Stadt.“

„Dort hat er viel Zeit verbracht, stimmt’s? Dort konnte er auf seine Weise leben – ein bisschen zumindest…“ Peter begann zu erahnen, worauf es wohl hinauslaufen würde.

„Ihr Menschen…“ Die Worte waren wie Galle, die eine Kolik durch den Hals nach oben presste.

„Ihr habt einem Herz, das größer war als alles, was ihr zu begreifen in der Lage seid, alle Liebe genommen. Und alle Herzlichkeit. Nicht nur hier, nein! Eure Städte waren sein Untergang. Seine einzige Zuflucht war die letzte Falle, in die er euch ging…“ Die brennende Wut hinter ihren Worten ließen Peter das Blut stocken.

„Komm mit, kleiner Peter. Komm mit in die Stadt, aber sieh sie mit meinen Augen. Komm mit nach Nekropolis… in die Stadt der Toten…“

Nach einer Pause setzte sie fort: „…und sieh dort das Maß eurer Gier. Und beurteile dann selbst, was mit euch zu geschehen hat…“

Spannung trat in ihre Haltung, und mit der Grazie einer vollendeten Tänzerin streckte sie ihm ihre Hand entgegen, entrollte die Finger wie einen Fächer und wartete auf das Einsetzen der nächsten Handlung.

„Gut. Ich komme mit. Der Tod des Jungen ist auch mir nicht egal.“ Er griff nach ihrer Hand und etwas wie ein Blitz fuhr durch die Welt.

Realität existierte für einen endlosen Wimpernschlag lang nicht mehr, keine Gesetzmäßigkeiten mehr. Nur mehr Finsternis… und dann…

Necropolis

BERLIN, 17. AUGUST 2007…

„Bäh, hier stinkt’s aber erbärmlich!“ Noch immer in Dunkelheit gehüllt, hielt sich Peter die Nase zu.

„Warte, ich mache dir Licht – du sollst schon wissen, was gerade deine Geruchsnerven belästigt!“ Headcrashs Stimme klang belustigt in der schwül-warmen, übel riechenden Luft. Fast tropisch… und feucht…

Ein grelles Licht blitzte in der Schwärze auf. Peter sah das Punker-Ding neben sich auf der obersten Stufe einer dreckigen Treppe stehen, die schmal und klaustrophobisch vor ihnen nach unten führte. Und sie hatte eine brennende Fackel in der Hand.

„Entschuldige, dass ich keine Taschenlampe dabei habe – aber dies Feuer wird dich gar trefflich erhellen!“ Sie zwinkerte ihm schelmisch zu, ihm war klar, dass ihre antiquierte Ausdrucksweise pures Kalkül war. Eine weitere Eigenart.

„Und jetzt folge mir – da unten warten spannende Abenteuer auf uns…“

Sie nahm Peter an die Hand wie ein Kind und führte ihn die steilen Stufen nach unten. Holzdielen knarrten unten ihren Füßen und allmählich erreichte ein fetter, wummernder Bass seine Ohren.

„Wo zum Geier sind wir hier? Und warum ist es so feucht und heiß hier?“

„In einem Schwulenlokal – einem Darkroom, um genau zu sein. Das ist die einfachste Antwort, die ich dir geben kann.“

„Moment: du bringst mich durch Zeit und Raum in eine stinkende Fickstube?!“

Headcrash grinste ihm wie ein kleines Kind mitten ins Gesicht.

„Allerdings, mein Lieber. Und danke für die Vorlage – von wegen Zeit und Raum und so. Wir sind nämlich gerade ein Stück weit in die Vergangenheit gereist. Es ist Mitte August, falls du es genau wissen möchtest.“

„Hoffentlich geht’s mir dann nicht so wie Marty McFly – ich mag meinen Vater, so wie er ist, ganz gut…“

Die Kleine lachte auf, ihre Stimme erklang mit unwiderstehlicher Unschuld an diesem sonderbaren Ort.

„Mach dir keine Sorgen, keiner kann uns sehen, hören oder anfassen!“

Sie stiegen nach unten, und die Technomusik wurde lauter. Am Fuß der Treppe kamen ihnen schon die ersten Gäste entgegen – gekleidet in gegerbte Tierhäute, um Angelikas Ausdrucksweise zu benutzen.

„Lass uns tanzen, ich liebe diesen Sound!“ Sie wirbelte Peter wie eine Puppe um sich herum, ungeachtet der Lederkerle, die sich auf den Weg zu den unten gelegenen Räumlichkeiten machten. Er durchstieß die Leute wie Rauchwolken und auch die Wände, um sich völlig desorientiert im Barbereich wieder zu finden.

Headcrash trat wie selbstverständlich durch die Mauer, durch die er gerade geflogen war, neben ihn. Ihr Gesicht wirkte entspannt und gelöst, vielleicht ein gutes Zeichen.

„Ich mach die Musik mal eben etwas leiser.“ Sie schnippte mit den Fingern und etwas wie ein Dämpfer blendete die meiste Akustik einfach aus.

„Und was sollen wir hier? Und was hat da hinten bitte so gerochen?“

„Zu deiner letzten Frage: eine Mischung aus Schweiß, Bakterien und Sperma. Und zu deiner ersten: Schau doch mal an die Bar. Wir haben dort wohl gemeinsame Bekannte…“

Peter schaute an den Tresen, der hoffnungslos überfüllt war. Trotzdem konnte er das jugendliche Gesicht, das er schon von den Polizeifotos her kannte, problemlos erkennen. Andreas – gesund und munter. Das Leben selbst.

Headcrash trat neben ihn. Sie wirkte immer noch entspannt, aber auch recht ernst. Der nichtmenschliche Teil hielt sich mit dem menschlichen wohl gerade so die Waage.

„Um eine lange Geschichte etwas abzukürzen – hier eine Zusammenfassung der Ereignisse, die ihn hierher geführt haben – und uns auch. Sieh dies alles als dreidimensionalen Film, eine Aufzeichnung der Ereignisse, einen Speicher der Geschichte, wenn du so willst.

Nun, der gute Andreas – benannt nach seinem tschechischen Großvater Andrash – ist also schwul. Bemerkt hat er dies mit etwa vierzehn.“

Der rasterzopfige Kopf neigte sich verschwörerisch zu ihm hin.

„Ein Schulkollege hat es ihm damals ziemlich angetan…“

„Und was hat er hier bitte zu suchen? Er passt nicht wirklich hierher, oder?“ Peter fiel der Unterschied an Andreas’ Kleidung auf. Sie passte so gar nicht zum hippen Lifestyle hier drin. Und auch nicht zu den Lederharnessen der Männer um ihn herum.

Headcrash wiegte den Kopf hin und her.

„Naja, wie das eben so ist. Auf seinem Dorf hat er sich vor einem halben Jahr geoutet – bei seinen Eltern zumindest. Ich erspare dir die peinlichen Details seiner Schmach. Du ahnst nicht einmal, was er sich von den Eltern, die die Schöpfer seines Körpers waren, alles anhören durfte…“

Ihre Stimme war wieder zu dieser großen, bedeutungsschwangeren Ernsthaftigkeit zurückgekehrt. Als sie weitersprach, schwang Traurigkeit in ihren Worten mit.

„Sie hassen ihn für das Auftreten einer Tatsache, die ohne Schmerz und Leid in einem einzigen Satz zu erklären gewesen wäre.

Hassen ihn für etwas, das er sich nicht ausgesucht hat. Für etwas, das er am liebsten selbst aus sich heraus reißen würde.

Er ist etwas Besonderes, weißt du? Seine bloße Gegenwart berührt Menschen, zumindest ist das Potential großer und wichtiger Taten von gewaltigen Mächten in seine Hände gelegt worden.

Er hätte ein Heiler werden können – nur ein Wort von seinen Lippen hätte selbst größten körperlichen und seelischen Schmerz heilen können. Er hätte Licht in die Dunkelheit der Welt gebracht und den Menschen geholfen, aus ihrem Egoalptraum zu erwachen.

Peter, bitte hör mir jetzt aufmerksam zu: Homosexualität ist etwas, das IHN nicht kümmert. Sie bedeutet IHM nichts, sie ist eine Eigenschaft von vielen, zumindest von einer höheren Warte aus betrachtet.“

„Von welcher Warte sprichst du da?“ Peter war verwirrt.

„Von dieser…“ Ein Strom aus Farben trat in die Wirklichkeit, ein strahlendes und brilliantes Funkeln ging auf einmal von den Dingen aus.

„Ich zeige dir jetzt nicht die Welt, wie du sie kennst, sondern die Welt, wie die Tiefe des Herzens sie erfährt. Sieh und lerne…“

Peter traute seinen Augen kaum. Leuchtende Farbschleier zogen sich von Mensch zu Mensch, Auren aus strahlendem Licht kleideten die Männer zu Königen und Kaisern.

Inmitten all dieser fast blendenden Schönheit erstrahlte aber dennoch ein Stern aus Licht mit solcher Kraft und Intensität, dass selbst das helle Licht der Sonne sich aus Ehrfurcht tief verneigen musste!

Andreas war von einem so rein weißen Licht umgeben, dass er kaum hinsehen konnte. Es schien durch jede Pore seiner Haut, eine unfassbare Glorie krönte an diesem sonderbaren Ort sein Haupt. Er war in seiner körperlichen Form ein hübscher Junge, aber die Pracht, die ihn nun umgab, ließ alle Form verblassen.

„Mein Gott, ist das schön…“ Mehr konnte Peter nicht sagen, seine Augen liefen über vor einem Glanz, in dem die Kraft der Schöpfung selbst zu Tage trat.

Aber noch etwas fiel ihm auf, etwas ganz und gar Schreckliches, das seine Aufmerksamkeit vom Licht weglockte. Dunkle Schatten, wie grauschwarze Dunstschleier, die er immer mehr und mehr um die Männer hier ausmachen konnte.

Die Schatten drängten sich in den Ecken, den Nischen, und wogten fast wie Lebewesen den Männern an der Bar entgegen.

„Es sind Gier, Neid, Arroganz, Selbstsucht und Hass. Peter, was du hier siehst, ist die Verkörperung menschlicher Abgründe.“

Peter musste hilflos mit ansehen, wie sich die Gesichter der Leute verzerrten und ein gehässiger Gesichtsausdruck sich ihrer bemächtigte.

Nur Andreas’ Leuchten und Gleißen wurde nicht erfasst.

Headcrash kam an seine Seite. Sie konnte sein Entsetzen und seine Verwirrung fühlen.

„Versteh mich und uns nicht falsch, lieber Peter – Orte wie dieser sind uns nicht zuwider, wir akzeptieren ihre Gegenwart schon seit langer Zeit auf dieser Welt. Aber sie sind Brutstätten, aber nicht wofür du sie wohl hältst – sie sind Wiegen des Ego. Sie verstärken den Teil in euch, dem gefällige Form wichtiger ist als die unsterbliche Essenz, die sich in ihr befindet.“

„Und die Schatten? Sind das Dämonen?!“

„Nein, aber eure Egos produzieren mehr Finsternis als eure zerbrechliche Hülle halten kann – ihr schwitzt es aus wie die Flüssigkeit, um eure Leiber zu kühlen.

Sieh die Dunkelheit als eine sichtbare Manifestation dessen, was du dir sicher auch psychologisch selbst erklären kannst.“

„Gut, soweit verstehe ich das. Aber was hat das mit Andreas zu tun, ihm kann – konnte – das ja nichts anhaben.“

„Das nicht – aber die Wut dieses menschlichen Anteils schon. Er war noch nicht erwacht, er war sich seines Potentials noch nicht bewusst. Er erlebte nur die Grausamkeit und den Hohn der Menschen hier drin. Seine Andersartigkeit war zu offensichtlich, um dazu zu gehören.“

„Also… haben sie ihn aus ihrer Mitte gemobbt? Haben ihm die kalte Schulter gezeigt, weil sie das Gefühl seines Lichts nicht ertragen haben? Haben ihn an der einzigen Stelle erwischt, wo er verletzlich war?“

„Peter, Andreas ist zu diesem Zeitpunkt noch und nur ein Mensch – wie hätte er sich wehren sollen?

Er wollte nur eines, eine schlichte und verständliche Sache: Zum ersten Mal in seinem Leben dazu gehören, ein Teil von etwas sein… und um seiner selbst willen geliebt werden…“

Das Mädchen war sehr, sehr nachdenklich geworden. Trauer und Wut waren in ihrer Stimme zu hören. Und eine Hingabe an das Menschenvolk. Das am meisten.

„Angelika oder wer immer du auch bist – bring mich weg von hier, ich bitte dich!“

Wieder nahm sie Haltung an, eine Wächterin großer Dinge, die sich selbst wieder an ihre Aufgabe erinnerte – und, dem Ausdruck ihres strahlenden Gesichts nach zu urteilen, fast selbst daran zerbrach.

Als Peter diesmal die Hand nahm, nahm er sie in Tränen. Er hatte das alles hier nicht gewusst…

Ein Riss im Licht, ein Sprung im Sein, ein Stoß hinein in das Nichts – und zwei Wesen waren auf dem Weg zu ihrer letzten Station… der allerletzten…

Endwelt

Berliner Umland, 24. September 2012…

Der Schnee fiel in dicken Flocken vom schwarzen Himmel. Es musste kurz nach Anbruch der Nacht sein, Peter konnte am Horizont noch einen blauen Schimmer erkennen. Das letzte Licht des Tages.

Ringsum nur Schnee. Der Boden unter ihnen war uneben, wahrscheinlich standen sie auf einem Feld. Aber irgendetwas stimmte nicht, und es war nicht die Kälte.

„Kind, der Zeitpunkt ist da. Die Entscheidung steht an…“

Peter wagte nicht, sich zu Angelika umzudrehen, die düstere Stimme verhieß gewiss nichts Gutes mehr.

Da waren keine verwaschenen Jeans mehr, keine zerrissene Jacke, kein Schmutz im Gesicht. Die zerzausten Locken waren sauber geflochtenen Zöpfen gewichen und die Straßenkleidung einer Robe, die in allen Farben des Regenbogens selbst in der Dämmerung strahlte. Headcrash sah aus wie eine Göttin.

Peter wusste, was das hier war. Er wusste, dass das hier das Ende war. Er sah hier keinen Boten mehr, keine Seherin von Wahrheiten, die ihm verborgen war – das hier war eine Kriegerin. Und sie war kampfbereit.

„Ich war dabei, als er geschaffen wurde, weißt du? Andreas meine ich. Ich war dabei, als das große Licht seiner Herrlichkeit sich teilte, um voller Hingabe und Liebe einem Stern die Chance zu geben, in einer eurer begrenzenden Hüllen Erfahrungen zu sammeln…

Ich habe gesehen, wie er aufwuchs, ich habe jedes Lachen verfolgt, habe die Tränen auf seinem Gesicht gezählt.

Peter, du weißt wer ich bin…“

„Du bist der Schutzengel des Messias.“

Eine schlichte Feststellung, über die er nicht nachdenken musste. Wissen, uralt und doch immer wieder neu, hatte sich in sein Herz geschlichen. Er verstand, um was es hier ging.

Der Engel blickte kurz zu Boden, und als er wieder aufsah, war ein Ausmaß an Leid und Trauer in sein Gesicht geschrieben, das kein Mensch jemals hätte lebend ertragen können.

„Ich habe gesehen, wie er gelitten hat – habe die unermessliche Macht seiner Liebe in seiner göttlichen Seele gespürt. Nur um mit ansehen zu müssen, wie jede Lebendigkeit und jede Hoffnung in ihm nach und nach durch eure Wut und Intoleranz aufgefressen wurde.

Ich habe einen Stern begleitet, Peter – ich habe jede Nacht an seiner Seite über ihn gewacht und habe ihm in seinen Träumen wieder Mut gemacht. Auch in den dunkelsten Stunden.

Er wollte als Mensch nur eine Sache – die große Hürde, die sein wahrer Vater ihm auf das Blatt seines Schicksals geschrieben hatte: Als Mann, der Männer liebt, diese Liebe zu finden und in Frieden leben zu können.“

Angelika, der Schutzengel von Gottes Avatar, schluchzte. Ihr Blick wurde von brennender Intensität. Als sie sprach, waren ihre Worte wie Donner, der über die Winterlandschaft grollte.

„Er wollte nur lieben, mehr nicht! Er wollte einen Menschen finden, nur einen unter so unendlich vielen Individuen!

ER WOLLTE DOCH NUR SO SEIN WIE IHR! UND IHR HABT NUR DEN TOD IN SEIN LEBEN GELASSEN! DAS IST NICHT FAIR!!“

Ihr letzter Satz war das Brüllen eines verzweifelten Tieres, das aufgrund unseres Hasses und unseres freien Willens mehr Grauen und mehr Schmerz hat mit ansehen müssen, als jedes andere Geschöpf.

Peter erkannte dies in einem einzigen Augenblick. Und er verstand sie. Und er sah auch das Schwert, das noch in seiner Scheide steckte. Und den mehr und mehr werdenden bläulichen Schimmer, der von ihm ausging.

Die Zeit war vorbei. Es lag nun an ihm – EINZIG an ihm…

„Angelika, hör mir zu. Headcrash, höre bitte, was ich dir sagen möchte.“ Da war kein Zögern und kein Zaudern mehr in Peters Stimme. Niemals zuvor war er so hellwach und im gegenwärtigen Augenblick präsent gewesen wie gerade jetzt.

„Ich verstehe dich, ich verstehe dich wirklich. Auch ich habe den Tod und das Leid gesehen. Ich habe die Reste aufsammeln dürfen, wenn sich zwei Gangs in der Stadt gegenseitig aufgeschlitzt haben. Ich habe aufgehört, die Toten in all den Autos zu zählen, habe aufgehört, die blauen Flecken auf den Körpern der Nutten zu zählen… und ihre Brandwunden, wenn sie ihren Zuhältern nicht gefügig waren.“

Peter musste tief Luft holen, nie schien Atem so kostbar zu sein wie jetzt. Vielleicht war es sein letzter.

„Wir sind nicht alle so. Ja, wir sind rachsüchtig, kleinlich, grausam und intolerant. Aber nicht alle von uns. Und du weißt das auch.“

Er ging auf sie zu, so wie er es beim ersten Mal auch getan hatte – aber diesmal mit klarem Kopf und aus freien Stücken.

Er legte ihr die Hand auf die Schulter und schaute in die zweifarbigen Augen, die ihm tränenüberströmt entgegenblickten.

„Angelika, ich liebe. Ich liebe meine Eltern, meine beiden Schwestern. Ich liebe meine Freundin, mehr als mein eigenes Leben. Wenn ich müsste, würde ich sterben für sie – für sie alle. Jederzeit.

Mir ist es egal, auf welche Art und Weise diese Liebe in die Welt kommt – das wusste ich schon immer, aber bewusst ist es mir erst jetzt geworden.

Homo, hetero, bi – das sind alles nur Formen, in denen sich diese partnerschaftliche Liebe ausdrückt. Aber du hast schon recht, wir bewerten diesen Punkt viel zu sehr…“

Peter, der erwachte kleine Mensch, kniete sich vor dem Engel des Untergangs in den Schnee. Tiefe Ruhe und tiefer Frieden erfüllten sein Herz.

„Bitte Engel, gib uns eine Chance. Lass das Streben all der Menschen nach Liebe, wie auch immer sie orientiert sind, nicht vergebens sein.

Lass nicht zu, dass deine Wut größer wird als deine Hingabe. Lass nicht zu, dass die Dunkelheit in all den Lokalen zumindest ein Unentschieden erringt.

Angelika, ich lege das Schicksal der Welt in deine Hände. Dort ist es am besten aufgehoben…“

Tiefes Schweigen erfüllte die eiskalte Luft. Die einzige Antwort war eine behandschuhte Hand, die das Schwert aus der Scheide zog – und ein Knie, das vor ihm in den Schnee fiel.

Sie reichte ihm das Mahnmal des Untergangs in Form eines mit reichen Gravuren verzierten Schwertes waagrecht hin – ein Engel kniete vor ihm und bot ihm sein Schwert an.

„Peter……..DANKE….“ Das war alles, was sie sagte. Kein Wort verließ sonst ihre Lippen, nur eine Träne, geboren aus Liebe und Dankbarkeit, lief eine Wange hinunter, die schon von zu vielen benetzt worden war.

„Ich weiß jetzt, was wir Menschen sind – in dieser wahren Wirklichkeit meine ich…

Wir sind alle so – wir sind alle wie Andreas. In jedem von uns brennt dieses Licht, er ist vielleicht diesem Zustand der Erleuchtung und der völligen Hingabe an das Leben und die Liebe näher als wir. Aber dennoch… ist es auch ein Teil von mir.

Und von jedem Wesen. Gleichgültig, wie es sich präsentiert.“

Der Engel lächelte wieder. Es war das schönste Lächeln, weil es das erste war – das erste Lächeln einer neuen Zeit. Sie hatte gerade jetzt begonnen.

„Peter, du bist wie er. Nicht irgendwann – sondern jetzt in diesem Augenblick. Ich denke, das war auch der besondere Grund, warum ausgerechnet du an jenem Tag vor Jahren, der für uns nur Stunden her ist, dort an der Brücke zugegen warst.

Du bist erwacht, du hast verstanden, um was es geht – und mich dummes Ding daran erinnert.“

Peter nahm das Schwert in Empfang und legte es neben sie in den Schnee. Sie würden es nicht mehr brauchen.

Als die beiden aufstanden, wurde Angelikas Robe schneeweiß – nur genau an der Stelle, wo bei einem Menschen ein Herz war, erblühte auf dem strahlenden Stoff ein goldener Stern.

„Komm, lass uns gehen – und der Welt die Herrlichkeit des Seins verkünden. Und lass uns all den Männern, die Männer lieben, sagen, dass die Zeit ihres Leidens vorbei ist.“

Es war Peter, der diese Worte sprach – und sein Schutzengel nickte bestätigend.

Christ ist geboren – in einer Winternacht auf einem schneebedeckten Feld.

Sic luceat lux – so erstrahle das Licht……….

ENDE – und neuer Anfang…

Lesemodus deaktivieren (?)