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Die Geschichte einer Liebe

Aus alt mach neu Challenge 2018

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Diese Story ist eine Fortsetzung von Audilove - Die Geschichte einer Liebe die im Rahmen der Challenge 2018 "Aus alt mach neu" entstanden ist.

Herzlichen Dank an meinen „Beta-Leser“ Stefan a.k.a. stef2020.

1. Juni im Jahr 3

Zum ersten Mal seit einem Jahr nehme ich wieder ein Tagebuch in die Hand. Ich hatte gehofft, nichts mehr schreiben zu müssen. Dass alles weiterläuft wie bisher, schließlich hatten wir es ja geschafft. Hatte gehofft, dass diese 10 vollgeschriebenen Bücher im Regal vor mir alles sein würden, was ich dieser Welt hinterlasse, dass kein elftes mehr hinzukommt. Als ob es jemanden gäbe, den es interessieren würde ... Ich wollte schon immer etwas von Bedeutung schreiben. Jetzt hatte ich die Gelegenheit bekommen, und doch war es nur Zeitverschwendung gewesen. Nur schwarze, hingekritzelte Buchstaben auf gelblichem Papier, das irgendwann zu Staub zerfallen würde.

Also das elfte Buch. Meine Schrift ist so krakelig, kann sie selbst kaum lesen. Vielleicht die Kälte, wir haben gerade -10 Grad. Eigentlich nichts Besonderes in 3.500 m Höhe, doch obwohl wir uns jetzt 3 Jahre lang daran gewöhnen konnten, fühlt es sich immer noch kalt an.

Ich schreibe wieder, weil jetzt, wie es scheint, auch für uns der Anfang vom Ende kommt. Hier in der sicheren Kälte. Nur noch Tristan und ich leben im Lager, alle anderen sind gewechselt. Ich kann es ihnen nicht verübeln, trotzdem hasse ich sie dafür. Selbst die, die ich nicht besonders mochte, fehlen mir so sehr, jeden verdammten Tag. Wir waren 76. Jetzt sind wir 2.

UND TRISTAN?!

Heute morgen schrecke ich neben ihm auf. Er stöhnt etwas vor sich hin, klingt wie besoffen. Ich halte den Atem an und drehe mich zu ihm, um ihn besser zu verstehen. Mit einem Ruck richtet er sich keuchend auf.

„Tristan, was ist los?“, frage ich ihn. Seine dunkelblauen Augen sind vor Schreck weit aufgerissen. Die schwarzen Haare stehen wild vom Kopf ab, sein hübsches Gesicht mit den hohen Wangenknochen wirkt eingefallen.

Meine Ahnung wird stärker. „Was hast du gerade geträumt?!“, frage ich ihn fordernd, mit harter Stimme.

„Es war wie damals“, flüstert er atemlos. „Und ich war das Auto.“

Da weiß ich Bescheid. Wochenlang habe ich es einfach verdrängt, obwohl die Zeichen überdeutlich waren. Doch ich hatte es einfach nicht wahrhaben wollen.

„Es fängt meistens mit diesen Autoträumen an“, flüstere ich, und ich spüre, wie sich meine Kehle zusammenschnürt. Ich hatte damit gerechnet, dass es mich härter treffen würde, aber der Fall ins Nichts würde schon noch kommen. Nicht auch noch Tristan. Mein Augenstern. Mein einziger Lichtblick in dieser kaputten Welt.

„Damian, es war wunderschön! Du kannst es dir nicht vorstellen. Genau wie damals. Die Sonne, der Wind. Menschen überall! Es war verrückt und konfus, aber ich war ... Audilove! Bin gefahren und gefahren und war so frei und glücklich!“

„Halt den Mund!“, schreie ich ihn an. „Du musst jetzt dagegen ankämpfen! Sie pflanzen dir Scheiße ins Hirn. Sie sind unsere Feinde!!!“

„Und was, wenn ich es will?! Sieh dich doch mal um, was ist das für ein Leben?!“

Ist das sein Ernst? Wir hatten so oft die Wechsler-Siedlung beobachtet. Wie sie mit leerem Gesichtsausdruck ihre Tierfarmen und ihre Gemüsegärten bestellen, ihre Möbel bauen, die Erde umpflügen, Steine sammeln. Immer gut geschützt hinter ihrer Energiebarriere. Ja, es ist schmutzig dort draußen und manchmal gefährlich, und das Überleben ist ein Kampf. Aber zumindest sind wir freie Menschen!

Ich hätte Tristan am liebsten geohrfeigt, um ihn zur Besinnung zu bringen, ich bin so wütend! Aber dann sieht er mich so offen, verletzlich und fragend an. Ich ertrage seinen Blick nicht lange, lasse mich ins Bett zurückfallen und drehe mich zur Seite, ihm den Rücken zugewandt.

„Und was ist mit uns, bedeutet dir das gar nichts mehr?“, presse ich hervor.

Fast andächtig erwidert er, beinahe flüsternd: „Du weißt genau, dass wir nachts, während wir träumen, zusammensein können. Es wird so wie früher, Damian, glaub mir. Denn das ist ihr Geschenk an uns!“

Es fühlt sich an, als ob ich den Boden unter mir verliere. Tristans weiche Hände, die mir jetzt zaghaft über den Rücken streichen, können nichts gegen die tiefe Trauer ausrichten, die in mir aufsteigt. Ich versuche die Trauer zu ignorieren, muss jetzt stark sein. Für uns beide. Als er mich von hinten fest umarmt und sein Gesicht auf meinen Nacken presst, rinnen mir stumme Tränen das Gesicht herunter.

Ihr Geschenk?! Ich bin mir sicher, das sind nur Lügen. Und Tristan weiß auch genau, dass sie nicht mit mir sprechen. Ist auch besser so ... Ich versuche, meine Gedanken abzuschalten und mich zu beruhigen, wie Erwin es uns beigebracht hat. Damit wir morgen erfolgreich jagen können.

2. Juni im Jahr 3

Unsere Fleischvorräte sind nahezu aufgebraucht, und die Jagd ist vorbei. Aber das ist jetzt eigentlich auch egal.

Wir sind erst ungefähr 30 Minuten gelaufen, da stößt Tristan einen Schrei aus und deutet mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen auf den Horizont. Da sehe ich es auch. Das kann absolut nicht sein! Wir sind hier auf gut 3000 Meter Höhe, und die Todesgrenze für die Biester liegt bei 2000-2500 Meter, und dorthin schaffen es auch nur die kleinsten. So riesige wie dieses hier verrecken in der Regel schon auf 1000 Metern Höhe. Ihre Verwandlung verbraucht einfach zuviel Sauerstoff, als dass sie in dünner Luft überleben könnten. Das hatte Erwin uns beigebracht. Das war wie ein Gesetz! UNSER Gesetz! Ich starre Tristan an. Wir denken wohl beide dasselbe: Dass wir hier oben nicht mehr sicher sind.

Ich muss an Erwin Selzer denken und will auch etwas über ihn hier schreiben, wo ich doch jetzt nicht mehr viel schreiben werde. Wir hatten so viel von ihm gelernt, er war ja auch Biologe. Aber mehr noch, er war für viele von uns auch eine Vaterfigur gewesen. Für mich war er ein Held, ein Vorbild. Er brachte uns bei, wie wir mit Meditation unsere Gedanken ausschalten und ganz im Moment leben, um nicht verrückt zu werden. Er erklärte uns die neue Welt dort draußen, hatte herausgefunden, dass die Seuche eine Art „Inverser Evolutionsprozess“ war, hatte immer gesagt, dass wir es schaffen würden. Und dass wir, wenn alles vorbei war, wieder von vorne anfangen könnten! Vor einem halben Jahr hatte uns diese Urmenschen-Gruppe nach der Jagd aufgerieben, uns voneinander getrennt und ihn erwischt. Seine Todesschreie werde ich niemals vergessen, nie hatte jemand länger und lauter geschrien von den vielen, die ich sterben gesehen hatte. Wahrscheinlich schrie er auch deshalb so, weil er genau wusste, sie würden ihn jetzt fressen. Aber wir hatten ihn gerächt. Nachdem wir uns in eine verlassene Polizeistation flüchten konnten, hatten wir frische Munition gefunden. Unser Kugelhagel hatte ihre hässlichen Körper zerfetzt. Vor Erwins Tod hatte ich mir oft gewünscht, einer von ihnen zu sein. Nur im Moment zu leben, immer auf der Jagd, so stark zu sein und absolut gewissenlos. Aber wir waren nun mal immun. Und allzu viele Menschen haben die Verwandlung ja anscheinend auch nicht überlebt, wir haben seitdem keine Urmenschen mehr im Tal gesehen. Wenn doch, ich hätte jeden einzelnen von ihnen getötet. Sie oder wir, so lief es nun mal.

Ich packe die Schrotflinte fester und prüfe noch einmal, ob die beiden Kugeln eingelegt sind. Ich ärgere mich, dass ich nicht die Maschinenpistole oder gleich die Panzerfaust mitgenommen habe. Aber wir müssen es hier und jetzt beenden, das Mistvieh hat uns mit einiger Sicherheit gewittert und würde uns sowieso einholen, wenn wir jetzt zurückliefen.

Wir laufen weitere fünf Minuten und sehen durch das Fernglas, wie gigantisch das Biest ist. Davon könnten wir vermutlich 2-3 Monate essen. Das ist eine Menge Fleisch, aber verpackt in große Muskeln, ein riesiges Maul und lange Zähne. War früher vielleicht ein Hund gewesen oder irgendeine Großkatze. Oder ein Paarhufer, vielleicht ein Schwein. Wer weiß das schon. Egal, jetzt sah es wie ein Andrewsarchus aus. Um so groß zu werden, musste es sehr erfolgreich gekämpft und gefressen haben. Ein gefährlicher Gegner. Und dass er hier oben war, konnte eigentlich nur heißen, dass es unten stärkere als ihn gab – oder dass er alle anderen gefressen hatte. Denn sie fressen niemals Aas, nur frisches, lebendiges Fleisch. Das und war schon immer ihr Schwachpunkt gewesen.

Wir verabreden, die „Totstell-Taktik“ einzusetzen. Ich lege mich hin und stelle mich tot, denn sie fressen ja nichts Totes. Tristan ist schmächtig und daher flink und beweglich, er wird rechts von mir gesehen langsam loslaufen, als würde er flüchten, und das Biest wird sich auf ihn konzentrieren und ihm hinterherlaufen. Wenn es rechts an mir vorbeiläuft, werde ich aufspringen und ihm seitlich in den Kopf schießen. Der Kopf ist so flach, dass es viel zu riskant wäre, ihn von vorne erledigen zu wollen.

Ich spüre, wie meine Hand leicht vibriert und mein Pulsschlag nach oben geht. Blut rauscht in meinen Ohren. Ich lege mich hin, wir warten weitere 5 Minuten. Das Biest kommt näher. 200 Meter vielleicht. Es hat Tristan gesehen und fängt jetzt an, schneller zu laufen. Noch 100 Meter. Ich weiß nicht, wie schnell das Biest hier oben rennen kann, ein Hund würde bei einer Laufgeschwindigkeit von 50 km/h für die 100 Meter mindestens 6 Sekunden brauchen, wohl eher 8 bis 10.

Das Biest beschleunigt plötzlich in den Galopp, und es ist schnell. Nicht so schnell wie ein Hund, aber schneller als wir. Das ist gar nicht gut. Tris schaut mich panisch an, weil es so riesig ist und ich rufe „Lauf jetzt los!“, und er rennt, die Pistole bereits in der Hand, aber stolpert vor Aufregung und rappelt sich wieder auf. Das Vieh ist jetzt noch 10 Meter entfernt. „Renn!!!“, schreie ich. Es ist gigantisch, vielleicht 2,5 Meter Schulterhöhe. Das Maul ist absolut furchteinflößend. Tris scheint in Panik zu sein, hat die Orientierung verloren und rennt in die falsche Richtung, nämlich von mir aus gesehen nach links hinter mich, und dieses Scheißmonster ändert die Richtung und hält jetzt direkt auf mich zu. Wenn mich diese Beine erwischen, war es das. Ich springe auf und lege an, meine erste Kugel trifft in die linke Brust und ein Teil des Fells wird weggefetzt, das Biest brüllt auf, rennt aber weiter auf mich zu. Ich schieße sofort wieder und sehe, wie rechts ein Teil seines langgezogenen Mauls weggerissen wird, aber das Biest läuft brüllend weiter und schnappt bereits mit den Zähnen, ich renne nach rechts und höre links von mir die Schüsse, Tris ist stehengeblieben und leert sein ganzes Magazin und trifft in den riesigen Schädel, der jetzt zu ihm herumschwenkt, während das Vieh schwer keuchend stehengeblieben ist, ich ziehe die Walther und schieße mein ganzes Magazin seitlich in den hässlichen Schädel, und endlich kippt dieses widerwärtige Monster brüllend um, sich vor Schmerzen windend. Ich sehe rot, nehme die Schrotflinte am Lauf und schlage mit dem Kolben wie besessen auf den riesigen Schädel ein und schreie: „Du willst fressen, ja? Wir werden DICH FRESSEN, du stinkende Missgeburt!!!“ Ich sehe den blanken Schädelknochen, sehe die Gehirnmasse rosig auf die Steine spritzen, aber ich dresche wie von Sinnen immer weiter, auch als es nur noch leicht zuckt und nicht mehr atmet. Es sind diese Momente, in denen ich mich so lebendig fühle, als wäre ich selbst ein wildes Tier. Wahrscheinlich ist es das Beste an alldem, was passiert ist.

Als ich mich abreagiert habe, bleibe ich schwer atmend ein paar Sekunden stehen und schaue Tristan an. Da zieht sich mir das Herz zusammen. Er steht da, blass, leicht zitternd, die Pistole in seiner rechten, der Arm hängt schlaff herunter, als würde er gar nicht zu ihm gehören. Aus seinem rechten Bein sickert Blut in seine zerrissene Hose, er muss sich an den scharfen Felsen verletzt haben. Ich gehe zu ihm hin. Jeder Schritt fällt mir schwer, denn er sieht so verletzlich aus, mein kostbarster Schatz. Ich lasse die Schrotflinte auf die Steine fallen. Ich nehme ihn in den Arm und sage „Gut geschossen“ und füge ein „Ich liebe dich!“ hinzu. Ich spüre, wie er zittert. „Wenn du mich wirklich liebst“, schluchzt er plötzlich, „dann lass uns wechseln. Ich kann einfach nicht mehr! Was ist, wenn noch mehr von denen hier hoch kommen?“ In seiner Stimme schwingt Panik mit.

Ich wollte ihn immer beschützen, aber jetzt spüre ich eine schwere Schuld auf mir lasten. Was habe ich ihm nur angetan in der ganzen Zeit? Was ist das hier für ein Leben, das ich ihm biete? Ich weiß, dass es so nicht weitergehen kann. Er ist nicht mein Gefangener und ich nicht sein Gefängniswärter. Und dann treffe ich die Entscheidung. Sehe ihn an und sage tonlos: „Gut, wir wechseln morgen gemeinsam.“ Fühle mich dabei taub und leer und doch voller Trauer. Nur Tris, Tris ist voller Hoffnung. Und er umarmt mich, als wollte er mich nie wieder loslassen. Wie zwei Ertrinkende hängen wir aneinander, wiegen uns und schluchzen. Er vor Erleichterung, ich vor Abschiedstrauer. Das ist also unser letzter Abend in Freiheit.

3. Juni im Jahr 3

Ich kann immer noch nicht glauben, was ich gerade gehört habe!!! Wenn man das überhaupt „Hören“ nennen kann!

Wenn ich nicht vorher entwaffnet worden wäre, hätte ich ihm spontan seine hässliche Visage mit der P99 weggeballert. Wie wohl sein Gehirn an der Wand ausgesehen hätte? Wahrscheinlich durchsichtiger grünlicher Wackelpudding-Schleim. Viel scheint in deren Oberstübchen ja nicht los zu sein ...

Unsere Evolution soll also eine „experimentelle Abwandlung“ ihrer Evolution sein? Wie aus einem drittklassigen Sci-Fi Film? „Wir sind gekommen, um zu forschen und machten einen Fehler.“ ... Oh, ach ja? Hm ist uns gar nicht aufgefallen ... SIE HABEN NICHT EINMAL STIMMBÄNDER! Die Telepathie, die sie benutzen, klingt wie eine gesprungene, rauschende, nuschlige Schallplatte im Kopf, absolut armselig. Ich habe ihn (oder „Sie“, wer weiß das schon) angeschrien: „Fehler?! Ihr seid dabei, die Menschheit auszurotten und die meisten Tierarten!!!“ – „Wir versuchen, es rückgängig zu machen. Es ist nicht einfach.“

Ja, es ist wohl nichts wirklich einfach, wenn man ein riesiges Insekt mit einer dämlichen ausdruckslosen Visage ist, das nicht mal sprechen kann und keinen Gegendaumen hat. Da reißen es selbst Raumschiffe nicht heraus. Wahrscheinlich hatten sie uns die Idioten hergeschickt, die auf ihrem Planeten keiner haben wollte, aus Angst, sie könnten dort alles in die Luft jagen.

Nein, wir sind ganz sicher nicht „eure Schöpfung“, wie du Dummschwätzer mir weismachen wolltest, denn wir haben nichts, aber auch gar nichts mit euch gemein. Und ich würde mich nicht wundern, wenn Säugetiere in eurer Heimatwelt sogar auf eurem Speiseplan stehen. Aber vielleicht fresst ihr euch ja auch gegenseitig auf? Oder ihr grabt euch gerne durch 5 Meter hohe Haufen von herrlich stinkendem Tierdung?! Ihr wollt uns also in diesen Lagern vor uns selbst beschützen, bis ihr eine „Lösung“ gefunden habt, ja? Haha ...

Ich bin einzig und allein wegen Tris hier. Und wenn wir ganz, ganz viel Glück haben und du, so unwahrscheinlich das auch sein mag, doch kein psychopathischer Insektenlügner mit der abstoßenden Visage einer mutierten Gottesanbeterin bist, und wenn es doch ein winziges bisschen Hoffnung gibt ... dann hat es sich VIELLEICHT gelohnt herzukommen.

Ich sitze hier, in diesem kargen Raum und schreibe in das Tagebuch, das ziemlich sicher mein letztes sein wird. Den Abschied von Tris habe ich schnell hinter mich gebracht. Ich konnte den Gedanken einfach nicht ertragen, ihn wie einen Zombie herumlaufen zu sehen, mich nicht erkennend, ohne Liebe in seinen jetzt leer vor sich hinglotzenden blauen Augen.

Die Kugel hat ungefähr 1 Zentimeter im Durchmesser und schimmert silbern, sieht fast aus wie metallic-lackiert. Sie wirkt bleischwer und vibriert leicht, als ich sie zwischen den Fingern drehe und von allen Seiten betrachte. Noch bis in den letzten November hatten die Wechsler Mitglieder unserer Gruppe entführt und sie gezwungen, so eine Kugel zu schlucken. Das hatten aber nur wenige überlebt, weshalb die Wechsler ihre „Konvertierungsversuche“ schließlich einstellten, wie das Scheißinsekt eben meinte. Wie großzügig ... Man muss sich also öffnen und dafür bereit sein. Man muss es wollen. Will ICH es?!

Tris zumindest wollte es so, und ich werde seinem Wunsch folgen. Ich denke an ihn. Ich will einfach nur mit ihm zusammen sein, egal in welcher Welt. „Alles wird gut!“, das waren seine letzten Worte für mich, die er als freier Mensch aussprach. Nicht „Ich liebe dich!“. Doch es spielt ohnehin keine Rolle mehr, wir sind nur Sandkörner in einem gewaltigen Orkan, und der hat uns nun endgültig verschlungen.

Die Kugel schmeckt metallisch, als ob man Blut in den Mund bekommt. Meine Zunge fühlt sich jetzt taub an und im Nacken zieht es irgend irgendwie me mm erkw

4. Juni

Das Aufwachen vor einer Stunde ist ziemlich unsanft. Ein kurzer Schlag weckt mich, und das Nächste, das ich wahrnehme, ist das sonore Motorbrummen. Ich schrecke hoch und sehe mich desorientiert um.

„Ach Schatz, du Schlafmütze! Bist du endlich wieder da?“, lacht mich Tristan vom Fahrersitz aus an. Seine Stimme klingt hell und melodisch. Ich blicke in sein fröhliches Gesicht und versinke kurz in seinen tief dunkelblau blitzenden Augen, die mich verliebt, aber auch etwas besorgt mustern, bevor er sich wieder ganz auf die Straße konzentriert.

„Wir brauchen noch ungefähr eine Stunde!“, verkündet er gut gelaunt.

„Das ist schön“, murmele ich geistesabwesend. Die Müdigkeit liegt wie eine schwere, warme Decke über mir. „Ich habe etwas Merkwürdiges geträumt, alles war so ... real“, sage ich mehr zu mir selbst.

„Naja deine Ärztin meinte doch, dass intensive Träume eine der Nebenwirkungen sein könnten? Erzähl mal, ich hoffe, ich bin in deinem Traum auch vorgekommen, und zwar nackt, hihi!“ Er nimmt zart meine Hand und legt sie sich zwischen die Beine, seine leichte, jetzt größer werdende Beule fühlt sich so gut und warm an, und er beginnt, langsam sein Becken zu kreisen und pornoartig gekünstelt zu stöhnen, mit einem frechen Grinsen im Gesicht. Ich merke, wie ich hart werde, ziehe meine Hand aber wieder zurück.

„Später, Schatz“, meine ich abwesend, und dann: „Ja, du warst auch da.“ Ich strenge mich wirklich an, aber die wirren Bilder sind so schnell verblasst nach dem Aufwachen!

„Weißt du, wo mein Tagebuch ist?“, frage ich ihn. „Auf dem Rücksitz“, meint er. Ich nehme es in die Hand und blättere träge darin. Dabei wüsste ich nicht einmal, was ich jetzt hineinschreiben sollte. Und ... hatte ich nicht bereits viele Seiten gefüllt? Aber jetzt waren alle Seiten leer?! „Nummer 11 war voll und steht jetzt wie die anderen zehn bei Dr. Berger im Regal“, erinnert mich Tris. „Du weißt doch, dass du dich nicht mehr so aufregen sollst! Sie meint, du solltest vorher einfach mit ihr sprechen, wenn du nochmal darin lesen möchtest.“

„Ach so, ja – ist sicher besser so. Hm ... es ging um irgendwelche großen Tiere ...“ Ich erstarre, und mein Herz fängt an zu hämmern – „Das Biest!!!“, presse ich aufgebracht heraus.

Tris streichelt beruhigend meine Wange. „Ach Schatz, ich weiß ja, es tut mir doch leid. Das mit dem Safaripark letzte Woche war wirklich eine dumme Idee von mir gewesen, ich konnte ja nicht ahnen, dass du Panik vor Löwen hast! Bist du mir noch böse?“

Tris hat sicher Recht, ich muss mich beruhigen. Großkatzen sind absolut furchteinflößend! Seine Stimme, sie ist himmlisch. Sie ist so beruhigend, darin war er schon immer großartig gewesen. Sein Job als Altenpfleger passte so gut zu ihm, manchmal beneidete ich insgeheim seine dementen Klienten, denen er stundenlang Geschichten vorlas und mit seiner Engelsgeduld immer wieder dieselben Fragen gut gelaunt beantwortete.

„Es ist auch Zeit für deine nächste Pille. Ich bin so froh, dass sie wirken, du bist nicht wieder zu erkennen!“ Tris greift in die Ablage und hält mir die Blisterpackung mit den silbern schimmernden Tabletten hin. Ich lächle ihn an. „Nein, ich bin dir nicht böse. Du bist das Beste, was mir je passiert ist. Du bist meine Familie. Ich würde töten, um dich zu beschützen.“

Er lacht schallend „Das war ja mal ein schräges Liebesgeständnis! Naja, wird heute wohl nicht nötig sein, außer wir werden von bösen Mücken attackiert. Kill lieber eine der Tabletten für mich ... Schmusebärchen!“ Ich sollte mich wirklich etwas entspannen und schlucke schnell die Tablette.

„Oh! Audilove ist nicht mehr fit und braucht bald Sprit!“, meint er plötzlich. „Wow, das reimt sich sogar!“ Ich muss lachen. „Du immer mit deinen schrägen Namen und Reimen“, amüsiere ich mich. „Ich bin halt kreativ“, zwinkert er mir zu, „das macht der Umgang mit dir. Und der Wagen ist so eine kleine Zicke, manchmal denke ich wirklich, er lebt!“

Da hat er natürlich Recht, dieser Wagen ist ... merkwürdig. Meine Finger streicheln über den Türgriff. Schwarzer, warmer Kunststoff. Ich spüre, wie ich mich entspanne und meine Laune von Sekunde zu Sekunde steigt. „Schmusebärchen und Audilove, deine treuen Reisebegleiter“, lächle ich vor mich hin. „Na, dann brauchen wir nur noch einen passenden Spitznamen für dich. Wie wäre es mit ... Lenkradmäuschen?!“

Tris kichert, und plötzlich zeigt er aufgeregt nach rechts vorne. „Oh schau mal, da! Siehst du diese tolle Lichtung da oben? Lass uns dort picknicken!“

Die Lichtung ist weit genug von der Landstraße entfernt, um abgelegen zu wirken. Das mächtige, kantige Gebirgspanorama lässt die Wiese auf der Lichtung noch weicher und heimeliger wirken, wie weiches Moos auf einer borkigen Baumrinde. Ich muss breit lächeln. „Natürlich, Schatz.“ Die Schönheit dieser Landschaft trifft mich unvermittelt. Sanft geschwungene Hügel, umkesselt von beeindruckenden Viertausendern. Ich sehe mich beinahe ehrfürchtig staunend um, fühle mich wohltuend klein und unbedeutend. Ich kurbele mein Fenster hinunter und inhaliere geradezu die sommerliche Bergluft.

Es tut so gut, aus dem Wagen zu steigen, ich fühle mich energiegeladen und stark. Diese Tabletten wirken so schnell, ein Hoch auf die moderne Medizin!

Wir brauchen etwa 15 Minuten, um die Lichtung zu erreichen, die Picknicktasche trage ich über den Rücken, während mein Schatz die riesige Decke übernimmt. Das Gras erscheint mir so sattgrün, hatte ich schon einmal grüneres Gras gesehen? Oder einen so blauen Himmel? Noch farbkräftiger sogar als die tiefblauen Augen meines Freundes, der jetzt, wo wir die kühlenden Bäume und Büsche hinter uns gelassen haben, auf die Mitte der Lichtung deutet und mich fragend ansieht. Vielleicht bewirkt die Liebe ja, dass man Farben viel intensiver wahrnimmt. Die Lichtung ist überraschend steil, aber wir finden einen halbwegs ebenen Platz, wo das Gras freundlicherweise bereits von anderen plattgelegen worden ist.

Nachdem wir es uns gemütlich gemacht haben, sehe ich Trissi beim Essen zu. Es ist einfach zu putzig, wie er eifrig seine Bäckchen füllt, als hätte er tagelang nichts zu Essen bekommen. Ich sage ihm, dass ich mal pinkeln muss.

In dem Moment, als ich aufstehe, sehe ich den Schäferhund am Waldrand stehen. Er scheint riesig zu sein. Er fixiert mich starr und hat seine Ohren nach vorne geklappt. Sein kurzes, tiefes Alarmbellen ist zu hören. Ich spüre, wie mein Pulsschlag nach oben geht. Blut rauscht in meinen Ohren. Dieser Hund weiß noch nicht, dass Tris meine Familie ist und ich ohne zu zögern töten werde, um ihn zu beschützen. Aber er könnte es bald erfahren. Ich ziehe meine Jeansjacke aus. Wenn er lossprintet, ist er frühestens in 6 Sekunden hier, eher braucht er 8 bis 10. Ich hätte also genug Zeit, Tristan mit einem Fußtritt zu alarmieren und mir das Brotmesser zu holen. Ich würde dem Köter den Arm hinhalten, um den ich jetzt bereits meine Jeansjacke gewickelt habe, und mit etwas Glück würde er sich darin verbeißen. Dann würde er nicht sehen können, wie ich ihm von unten das Messer in die Kehle ramme, um sie aufzuschlitzen. Ohne den Blick von dem Vieh abzuwenden, gehe ich langsam rückwärts, bücke mich, nehme das Messer und verstecke es hinter meinem Bein. Meine Hand vibriert leicht. Ich bin zu allem bereit.

Ein scharfer Pfiff des Besitzers, der plötzlich aus dem Waldrand heraustritt, reißt den Schäferhund aus seiner Starre, und das Tier läuft sofort zu ihm. Der Mann winkt mir kurz zu, ich winke mit meiner Messerhand freundlich zurück. Dabei halte ich das Messer wie einen riesigen ausgestreckten Mittelfinger.

Tris schaut von seinem Buch zu mir auf. „Oh, hast du auch noch Hunger? Mach mir doch eine Brotscheibe mit Käse“, bittet er, legt sich wieder zurück und summt leise seine Musik mit. Plötzlich quiekt er begeistert auf und ruft „Na wo kommst du denn her!!!“ Erst da sehe ich die kleine Katze, die ihn gerade schnurrend beschnuppert und interessiert die Wurstauswahl begutachtet. Tris streichelt die Katze zart, die sich unter seiner Hand wohlig aufbuckelt. „Na, willst du unsere Wurst klauen, du kleiner Racker?“, fragt er und hat auch schon die Packung mit Hähnchenbrust in der Hand. Leider können wir wegen meiner Allergien keine Tiere halten. Immerhin haben wir seit einiger Zeit „Chico“, einen rosafarbenen Plüschkater, den wir abwechselnd als Bauchrednerpuppe agieren lassen und manchmal sogar lachend als „unser Kind“ bezeichnen. Tris hat Chico liebevoll neben dem Korb positioniert, und mit der realen Katze neben ihm wirkt er mit seinem riesigen Kopf noch drolliger und kindlicher.

Tristan und die Katze, obwohl einander fremd, wirken auf mich wie durch ein unsichtbares Band verbunden, und in diesem Moment fühle ich mich meinem Schatz so unglaublich nahe. Wieviel ich ihm doch verdanke. Er hatte es als erster geschafft, das Eis tief in mir drin aufzutauen – einfach dadurch, dass er da blieb und niemals locker ließ und mich nie aufgab. Und mir sagte, wie sehr er mich liebt. Von außen besehen, war ich von uns beiden sicher der Dominantere, Stärkere, Selbstsicherere; doch in gewisser Hinsicht war er viel stärker als ich. Und er war so tapfer! Wenn die Hälfte der Leute, die dich auf der Straße anschaut, dich für eine Frau hält und die andere Hälfte für einen Schwulen, und du dich trotzdem nicht versteckst, musst du einfach tapfer sein. Im Gegensatz zu mir hatte er niemals Angst vor seinen Gefühlen gehabt, hatte mich mitgerissen in seinen wilden Strudel und mich erleben lassen, wovon ich nie dachte, es überhaupt erleben zu können, wovon ich nicht wusste, dass es überhaupt existierte. Das war so süß und so bitter zugleich. Er hatte mich vollständiger gemacht, genau wie ich ihn. Auf eine gewisse Weise hatte er mich sogar vor mir selbst gerettet.

Es ist wunderbar, diese Zeilen in mein Tagebuch zu schreiben. Die Worte fließen so mühelos aus mir heraus! Ich kann mich nicht erinnern, dass mir Schreiben schon einmal so viel Spaß gemacht hat. Vielleicht wird ja doch noch ein Schriftsteller aus mir!

Ich spüre, wie ich schläfrig werde und stelle mir lächelnd vor, wie ich mich gleich an Trissi schmiegen und die Augen schließen werde. Mit ihm in meinen Armen ist die Welt endlich so, wie sie sein soll. Ein Moment, der perfekter nicht sein kann, hier und jetzt. Und dann wird dieser Sog einsetzen. Ich werde spüren, wie meine Gedanken in den Tiefen meines Selbst versinken wie ein morsches, leckes Boot in einem tief dunkelblauen See, der warm ist und alles liebevoll und tröstend umfängt. Es wird sein, als ob mir jemand lächelnd zuflüstert „Alles wird gut, lass dich sinken!“ Und ich werde mich sinken lassen, durch Raum und Zeit.

Hierhin zu kommen, das war eine gute Entscheidung gewesen.

5. Juni

Was für ein toller Tag! Bin gerade im Auto aufgewacht und Trissi schaut mich so verliebt an! So möchte ich immer geweckt werden!

Ich fühle mich absolut großartig, obwohl ich Probleme mit dem Lesen habe. Wollte grade meinen Tagebucheintrag von gestern lesen aber konnte mich nicht richtig konzentrieren und habe es aufgegeben. Ich wusste schon beim nächsten Satz nicht mehr genau, was im vorherigen stand! Und meine Erinnerungen fühlen sich so „wattig“ an. Komisches Wort. Sicher die Tabletten, ich hoffe sehr, das legt sich wieder ... Egal, es zählt nur der Moment! Ich denke, ich werde auch erstmal kein Tagebuch mehr schreiben oder lesen. Was soll das bringen, wenn es mir so gut geht? Es zählt nur der Moment! Und der ist fantastisch!

Haha ... Trissi nennt die Karre mittlerweile immer nur „Audilove“, naja er war schon immer etwas sentimental. Mein kleiner, herzensguter Altenpfleger. ICH LIEBE IHN!

Die Landschaft hier ist einfach unglaublich. Diese Berge ... so majestätisch! Und die Luft so sauber. Hier leuchten die Farben viel intensiver als in Norddeutschland. Alles scheint hier besser zu sein. Natürlich ist das Quatsch. Aber trotzdem unglaublich! Und es fühlt sich an, wie nach Hause zu kommen, als würden wir einfach hierher gehören!!

Als Trissi eine schöne Lichtung entdeckt (wie schafft er es eigentlich immer, so tolle Orte zu finden?), beschließen wir spontan, dort zu picknicken. Jetzt sitzen wir hier auf der Wiese in der Sonne, futtern unsere Vorräte auf. Hier laufen zwar ein paar Hunde und Katzen rum, aber trotzdem ist es ganz menschenleer. Paradiesisch!

Hihi! Gerade eben habe ich ihm meine Hand zwischen die Beine gelegt und unschuldig gefragt „Sieht man eigentlich durch das hohe Gras, was wir hier machen?“, er hat versaut gegrinst und gemeint: „Lass es uns herausfinden, Schatzi! Aber erst brav aufessen und danach deine Tablette schlucken!“ Er kümmert sich soooo lieb um mich!!!

Diese Reise war eine tolle Idee, ich kann mich an keinen schöneren Urlaub erinnern! Ich wünschte, er würde niemals enden.

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