zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Dämonenjäger

Teil 5

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

Irgendwo in Rheinland-Pfalz, Deutschland, Anno Domini 2016

Nicht einer des gesamten Zuges war bei den Prüfungen durchgefallen. Einige hatten sogar ein paar Extrapunkte bekommen für besondere Leistungen, insbesondere bei den praktischen Prüfungen.

Kevin studierte gerade seine Ergebnisse, als er stutzte.

„Hey, Lucas, komm doch mal her. Irgendetwas stimmt nicht mit meiner Note in Astralmagie.“

Lucas sah Kevin über die Schulter und grinste.

„Wieso? Sieht doch gut aus.“

„Depp. Ich hab für die schriftliche Arbeit 97 Punkte bekommen, für die mündliche Prüfung 94 Punkte. Mündlich zu einem Drittel macht das 96 Punkte. Hier stehen 101 Punkte.“

„Guck mal in die Verteilung.“

Kevin klickte die Punktzahl an. Mündlich: 94, schriftlich: 97, Sonderpunkte durch FL AM: Fünf Punkte.

„FL AM?“

„Fachleiter Astralmagie. Du hast dir fünf Punkte für die Wanderung im Astralraum verdient.“

„Na, toll. Und was hast du dafür bekommen?“

„‘nen wunden Hintern.“

Mit einem Lachanfall gab Kevin den Sitzplatz vor dem Rechner für Lucas frei.

„So, mal sehen, was uns dieses Semester erwartet. Aha, Joint Tactics, dann Intelligence mit Psychologie und Überwachungstechnik. Hmmm, Logistik mit Personal, Material und Support Units, na okay. Zusatzausbildung der Magieschulen. Dazu kommen kleinere Vorträge über Studien- und Berufswahl und Identitätswechsel.“

Kevin stöhnte auf.

„Was? Joint Tactics? Etwa noch mehr taktische Verfahren? Ich hab‘ so langsam die Schnauze voll davon.“

„Könnte aber interessant werden. Hier steht was von der Zusammenarbeit mit den Spezialisten. Aber keine genaueren Angaben.“

„Ah, ja. Die ominösen Spezialisten. Dann auch noch die Zusatzausbildung. Reicht bei euch denn ein halbes Jahr?“

Lucas scrollte den Ausbildungsplan herunter.

„Hm, sieht so aus. Herstellung magischer Artefakte. Zauberspeicher, Kraftfokusse und Ritualfetische. Anscheinend der gleiche Aufbau, nur mit anderen Intentionen.“

Kevin sah ihm über die Schulter und las weiter.

„Oh, Mann. Ritualfetische. Das klingt ja ein bisschen wie Voodoo. Hier, wir haben Philosophie, Meditation und Physiologie. Was ist das denn für eine bescheuerte Zusammenstellung?“

Lucas scrollte wieder etwas zurück.

„Die Zusatzausbildung nennt sich Kampfzentrierung. Ich nehme stark an, Philosophie und Meditation werden für Konzentrationsübungen gebraucht. Und Physiologie ist schon klar. Da bekommt ihr einen Einblick in den Aufbau des Körpers und welchen Muskel man für welche Zwecke einsetzen kann.“

Kevin grinste.

„Ich weiß jetzt schon, welchen Muskel ich einsetzen muss.“

Lucas drehte sich halb um und streckte Kevin die Zunge heraus.

„Erstens ist das kein Muskel und zweitens glaube ich nicht, dass du dafür noch eine Einweisung brauchst. Die Zusatzausbildung wird auch bei euch nicht so ganz einfach werden.“

Kevin seufzte.

„Ich weiß. Und dann müssen wir auch noch den ganzen Logistikmüll lernen. Was sollen wir denn damit? Ich dachte, wir sollen Dämonen bekämpfen und nicht Klopapier bestellen.“

„Das hat doch nichts mit Logistik zu tun. Da geht’s um Ressourcen und Abläufe.“

„Hey und ich hab gedacht das zweite Semester wird ruhiger.“


Am Wochenende vor Semesterbeginn kamen Timo und Alexander zurück von ihrer medizinischen Vorausbildung. Sie hatten beide an einem Einweisungslehrgang für medizinisches Hilfspersonal teilgenommen, wobei die Anwesenheit und die Prüfung für Alexander freiwillig waren. Er hatte trotzdem alle Ausbildungsabschnitte mit Timo zusammen besucht, sogar die Pathologie. Erstaunlicherweise hatte Alexander dann sogar bei den Prüfungen in Anatomie ein etwas besseres Ergebnis als Timo.

Für Samstag war eine kleine Party geplant und Kevin und Lucas hatten sofort ihren Keller angeboten. Außer Michael und Rafael, die ja sowieso hier wohnten, waren Alexander mit Dorian und Timo mit Sven eingeladen. Nach einer kurzen Bemerkung von Kevin setzte Lucas auch noch Tobias und Lucien auf die Liste.

Alexander, Dorian, Timo und Sven waren ziemlich früh dran und gingen schon mal in den Keller. Lucas suchte noch Getränke zusammen, Kevin war kurz mit Rafael unterwegs um ein paar Kleinigkeiten für das Essen zu besorgen, während Michael auf den Rest wartete.

Als Lucas in den Keller kam, bemerkte er schon an der Treppe vier kleine, säuberlich gefaltete Stapel Klamotten. Die Jungs hatten es sich also schon gemütlich gemacht. Als er näher trat sah er, dass die vier sich in einen scheinbar unentwirrbaren Haufen von Leibern und Extremitäten verschlungen hatten. Und so wie es aussah, hatte die kleine Gruppe jede Menge Spaß dabei. Lucas räusperte sich laut.

„Hey, Leute. Der Rest erscheint auch gleich. Könnt ihr das mal ein bisschen runterfahren?“

Svens goldblonder Haarschopf erschien und er grinste breit.

„Wieso? Wir machen nichts, was die nicht auch schon gesehen oder gemacht hätten.“

Lucas zuckte ergeben mit den Schultern und ging zurück zur Treppe, um dort ebenfalls seine Sachen abzulegen. Er legte sich einfach auf die Matte und schloss dann die Augen. Leise begann er von dem Dienstbetrieb und den Erlebnissen während des letzten halben Jahres zu erzählen. Inzwischen hatte sich irgendeine Zunge zu seiner linken Brustwarze verirrt und er spürte eine Hand den Oberschenkel heraufwandern.

Wenn die restlichen Teilnehmer der Party ankommen, würden die Jungs ganz schön überrascht sein. Doch nein, wahrscheinlich eher nicht. Lucas grinste in sich hinein - die Nacht würde heute wohl sehr lang werden.

Als Lucas am nächsten Morgen erwachte, sah er neben sich im Bett einen Schopf schwarzer, gelockter Haare. Ein kurzer Blick zur Seite zeigte ihm Kevin, auf dessen Brustkorb ein Kopf mit goldblonden Haaren lag. Kevin grinste ihn an.

„Guten Morgen. Wie spät ist es eigentlich?“

Lucas peilte auf seinen Wecker.

„Gleich elf.“

„Hm, Zeit fürs Frühstück.“

Kevin befreite sich sanft von dem immer noch schlafenden Sven und tapste hinüber ins Bad. Lucas stieg vorsichtig aus dem Bett, um Timo nicht zu wecken. Auf dem Weg zur Küche staunte er nicht schlecht. Im Wohnzimmer lagen unter einem Haufen Wolldecken zwei kleine Grüppchen auf dem Teppichboden. Zwischen Rafael und Dorian lag Lucien mit dem friedlichen Gesicht eines tief Schlafenden. Tobias wurde von Michael und Alexander eingerahmt. Alle drei hatten ihre Arme so ineinander verschlungen, dass Lucas die ersten Zweifel kamen, ob sie sich je würden voneinander befreien können.

„Aufwachen! Gibt gleich Frühstück.“

Die Reaktionen auf diese Ankündigung waren eher verhalten. Es dauerte noch gut eine Stunde, bis sich alle um den zum Küchentisch zweckentfremdeten Wohnzimmertisch drängelten. Einige nippten nur an ihrem Kaffee, während andere, so wie Sven oder Alexander, munter drauflos futterten.

Mitten in der Unterhaltung kam das Gespräch beiläufig auf die angekündigten Spezialisten. Lucas grummelt etwas von Geheimniskrämerei.

Timo und Alexander sahen sich an.

„Ihr wisst es nicht?“

„Äh, nein. Es gab keine Veröffentlichungen darüber. Nicht mal Gerüchte.“

Timo wollte etwas sagen, doch Alexander schüttelte den Kopf. Kevin hatte die kurze Bewegung mitbekommen.

„Ihr wisst es?“

„Ja, es musste bei der Ausbildung erwähnt werden, sonst kann ich nicht die richtigen Maßnahmen ergreifen.“

„Los, erzähl.“

Aber jetzt schüttelte auch Timo den Kopf.

„Wir mussten dafür extra eine Geheimhaltungsklausel unterschreiben. Anscheinend ist die Info nicht für jeden.“

„Nun sei doch nicht so.“

Rafael maulte etwas, doch Michael flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf er sofort verstummte.

„Außerdem sind morgen Vormittag die ersten Stunden Joint Tactics. Da werdet ihr dann ja erfahren, worum es sich handelt.“


„So, meine Herren und zum Abschluss der heutigen Stunde kommen wir zu einer Besonderheit in den Joint Tactics, der sogenannten kombinierten Kampfführung. Das Zusammenspiel zwischen den Magiern und ihren Beschützern, den Kampfmagiern, in den einzelnen Leistungsstufen haben Sie ja bereits in Ihrer Vorausbildung eingehend beleuchtet. Den taktischen Einsatz der einzelnen Magieschulen und ihr Zusammenwirken haben Sie im ersten Semester ebenfalls erfolgreich abgeschlossen. Heute kommt ein völlig neuer Aspekt des Kampfes gegen Dämonen auf Sie zu. Sie werden gleich ein weiteres taktisches Element kennenlernen, das allerdings nur bedingt magisch ist.“

Die nunmehr fast 50 jungen Männer im Hörsaal sahen sich fragend an. Der Major, ihr Lehrer für Taktik, öffnete eine Tür in der Wand hinter dem Vortragspult und herein kam ein weiterer junger Mann, oder fast noch ein Jugendlicher. Dunkelblonde, zerzauste Haare und dichte Augenbrauen ließen ihn nicht gerade als Schönheit erscheinen, ebenso der etwas schlabberige, orangefarbige Overall, den er an Stelle einer Uniform trug. Ein wenig erinnerte er Lucas an die Insassen amerikanischer Gefängnisse, doch an der linken Brustseite war eine Ausweiskarte angeclipt, wie sie alle eine besaßen.

„Ich möchte Ihnen Robin vorstellen. Am besten ist es, wenn wir gleich zum Kern der Sache schreiten, anstatt lange Erklärungen abzugeben. Bitte, Robin.“

Mit Erstaunen bemerkte Kevin, wie der Junge anfing, seinen Overall zu öffnen. Als er ihn abstreifte, war er darunter splitternackt. Die Blicke, die ihn trafen, ließen ihn leicht erröten. Ein leiser Pfiff ertönte und Robin schien noch dunkler im Gesicht zu werden. Lucas hatte fast unbewusst auf Astralsicht umgeschaltet und seine Augen weiteten sich vor Erstaunen. Kevin konnte nicht umhin, den schlanken Körper zu bewundern, als er einen Rippenstoß von Lucas bekam. War wohl doch etwas zu auffällig gewesen. Gerade als Kevin sich fragte, was das alles sollte, fing es an.

Halb entsetzt, halb fasziniert, beobachtete Kevin, wie sich der Junge innerhalb von wenigen Sekunden verwandelte. Der Körper wuchs auf mehr als zwei Meter, die Beine knickten ein, die Hände wurden zu Klauen. Aber das bemerkenswerteste war der Kopf mit einer langen Schnauze und riesigen Fängen in dem halb aufgerissenen Maul. Das dunkelblonde Haar war einem dichten, fast grauen struppigen Fell gewichen. Ein tiefes Grollen erklang durch das Auditorium.

Ein kleiner Tumult war losgebrochen. Einige waren aufgesprungen. Lucas sah sich kurz um und sein Blick begegnete dem von Lars Meinhardt, der wissend nickte. Michael sah interessiert nach vorne, während er versuchte, Rafael zum Hinsetzen zu bewegen. Lucas erfasste mit einem kurzen Rundblick, dass ausnahmslos alle Kampfmagier aufgesprungen waren.

„Aber meine Herren, bleiben Sie bitte sitzen! Ich wollte ihnen lediglich demonstrieren, dass das Thema unseres Unterrichts in diesem Semester keine theoretische Diskussion sein wird, sondern der Einsatz von Gestaltwandlern durchaus im realen Bereich liegt. Vielen Dank, Robin.“

Wie zuvor, dauerte es nur wenige Sekunden, bis der wolfsähnliche Körper sich wieder in eine menschliche Form zurückentwickelt hatte. Immer noch leicht errötet schlüpfte Robin wieder in seinen Overall.

„Noch ein paar Worte zu der Bezeichnung Werwolf, den ich gerade in der allgemeinen Aufregung aufgeschnappt habe. Eigentlich ist sie wissenschaftlich gesehen nicht ganz korrekt. Was wir hier gerade gesehen haben, ist ein so genannter Lykanthrop, also jemand der sich durch eigenen Willen transformiert. Ein Werwolf wäre eigentlich jemand, der nur bei Vollmond gegen seinen Willen transformiert. Aber wir haben uns der Einfachheit halber mit dem Ältestenrat der Lykanthropen auf die Gebrauchsbezeichnung Werwolf geeinigt. Dazu wäre noch zu sagen...“

In diesem Moment ertönte die Klingel zur Mittagspause. Kevin wollte aufstehen, aber Lucas hielt ihn kurz am Ärmel fest. Die anderen Lehrgangsteilnehmer gingen zur Tür und zogen schweigend an Robin vorbei. Lucien warf ihm einen schüchternen Blick zu, sagte aber nichts. Andere Blicke waren ängstlich, einige sogar ausgesprochen feindselig. Lediglich Michael und Rafael warteten etwas im Hintergrund. Lucas sah sie an und nickte kurz, dann zog er Kevin hinter sich her. Als sie an die Tür kamen, sahen sie den traurigen Gesichtsausdruck, mit dem Robin den Jungs hinterher sah, die schweigend an ihm vorbeigezogen waren.

„Möchtest du mit uns zum Mittagessen gehen?“

Robin drehte sich herum und sah erst Kevin und Lucas, dann Michael und Rafael an. Er zögerte etwas, doch dann leuchteten seine hellblauen Augen.

„Gerne!“


Am Nachmittag gab es dann in der Trainingshalle eine Demonstration der Fähigkeiten des Gestaltwandlers. Spätestens hier wurde allen klar, welche Vorteile ein Werwolf im Gefecht hatte. Reaktionsvermögen und Geschwindigkeit waren phänomenal. Die Stärke war ebenfalls überproportional gestiegen, eindrucksvollstes Beispiel war der Biss in eine 2mm Stahlplatte. Das herausgebissene Stück ging von Hand zu Hand. Doch zwei Nachteile hatte die Gestaltwandlung. Der Werwolf konnte nichts in den klauenähnlichen Händen halten und er war, mangels eines Kehlkopfes, nicht in der Lage, Sprache zu artikulieren.

Später am Abend saßen Kevin und Lucas in ihrem Wohnzimmer und besprachen den Tag.

„Als Werwolf möchte ich ihm nicht begegnen, als Mensch ist er echt niedlich.“

„Das ist wahrscheinlich das Problem. Wer ihn einmal als Werwolf gesehen hat, wird das Bild nicht so schnell wieder los. Außerdem möchte ich nicht in seiner Haut oder besser in seinem Fell stecken, wenn er jemanden kennen lernt und dann versucht, demjenigen beizubringen, wer oder was er ist.“

Lucas sah nachdenklich zu Kevin herüber

„Du meinst, wir sollten uns ein wenig um ihn kümmern?“

„Du hast doch selber die Reaktion vor dem Mittagessen gesehen. Was glaubst du, warum wir am Tisch unter uns geblieben sind? Robin braucht ein paar Sozialkontakte.“

„Sozialkontakte, wie das klingt. Was glaubst du, könnten wir mit ihm unternehmen?“

„Irgendetwas, was er gerne macht. Was hältst du von zusätzlichem Kampftraining?“

„Warum nicht? Gerne. Also los, suchen wir Robin.“

Robin war gar nicht so einfach zu finden. Er hatte ein kleines Zimmer in einem der sogenannten Besuchergebäude fast am entgegengesetzten Ende der gesamten Anlage.

Es war ein wenig schwierig gewesen, mit Robin in Kontakt zu kommen. Der junge Mann schien, im Gegensatz zu seiner gewandelten Form, schüchtern und zurückhaltend zu sein. Er sprach zunächst nicht viel und beobachtete Kevin und Lucas zu Anfang etwas Misstrauisch.

Schließlich willigte er ein, mit den beiden zusammen noch einmal in die Trainingshalle zu gehen. Eine Verwandlung war nur unter Aufsicht erlaubt und so spielten sie einfach nur mit einem Basketball. Der Sport schien Robin auch in seiner menschlichen Form Spaß zu machen und für die beiden Magier war der Umgang mit Robin als Mensch eine völlig neue Erfahrung.

In den nächsten Tagen trafen sich die drei immer wieder abends in der Übungshalle. Wenn eine Aufsicht da war, wiederholten sie Kampfübungen aus dem Unterricht, sonst machten sie Zirkeltraining oder spielten einfach Basketball oder Fußball. An einigen Abenden gesellten sich auch Michael und Rafael dazu, besonders zu den Kampfübungen. Die vier waren die Einzigen, mit denen Robin außerhalb des Unterrichts überhaupt sprach, aber er schien in den letzten Tagen freundlicher und ausgeglichener zu sein. Er zeigte seinen Trainingspartnern jetzt einige Techniken, die während des Unterrichts nicht angesprochen worden waren. Alle konnten sich austoben bis zur Erschöpfung.

An einem der Abende, an denen nur Kevin, Lucas und Robin alleine trainiert hatten, gingen sie wie üblich zur Gemeinschaftsdusche. Weil es schon sehr spät war, waren nur wenige Leute in der Halle und im Moment niemand außer ihnen in der Dusche. Die drei ließen entspannt das Wasser auf sich herabprasseln. Robin stand mit dem Gesicht zur Wand, zwischen Lucas und Kevin und unter dem rauschenden Wasser hörte es sich fast so an, als ob er schnurren würde.

„Hey, du bist doch keine Katze!“

Robin fuhr herum und funkelte Lucas an, aber beruhigte sich schnell, als er merkte, dass der es nur im Scherz gesagt hatte.

Kevin hatte Robin nun schon etliche Male nackt gesehen, aber immer nur kurz vor der Verwandlung. Jetzt konnte er dessen Körper in aller Ruhe unter der Dusche betrachten. Er hatte nun schon so einige nackte Körper gesehen und bei Lucas und auch bei Michael und Rafael kannte er im wahrsten Sinne des Wortes jeden Quadratzentimeter. Hier war es jedoch nicht der Körper an sich, der Kevin interessierte, sondern der Vergleich zwischen dem schmalen blonden Jungen und dem riesigen Werwolf. Bei Robin studierte er fast jeden einzelnen Muskel und er fragte sich, wieviel Magie es tatsächlich bedurfte, um aus diesem schlanken jungen Mann eine zähnefletschende Kampfmaschine zu machen.

Kevins Blick wanderte nun an Robins Brust und Bauch herunter und er wunderte sich, dass dieser als Mensch fast überhaupt keine Körperbehaarung hatte. Die dunkelblonden Haupthaare, ein paar Haare unter den Achseln, dann ein dünner Happy-Trail der in die Schamhaare mündete, alles in einem einfachen Dunkelblond.

Kevins Blick wanderte wieder an Robin hoch und als er an dessen Kopf vorbei sah, bemerkte er Lucas, der ihm leicht amüsiert zuzwinkerte. Lucas grinste und hielt eine Shampoo-Flasche hoch. Kevin schüttelte verständnislos den Kopf. Da nahm Lucas etwas von dem Shampoo und begann, Robin den Rücken einzuseifen. Dieser zuckte bei der ersten Berührung zunächst leicht zusammen und drehte den Kopf, um zu sehen, was oder wer ihn berührt hatte. Aber dann blieb er ruhig stehen und ließ Lucas weitermachen.

Kevin staunte. Zum einen über Lucas, der, einfach so, einen anderen Jungen einseifte und zum anderen über Robin, der alles ruhig über sich ergehen ließ. Die Szene von vor zwei Jahren in der Schwimmbaddusche schoss Kevin durch den Kopf und auch sein eigener Kommentar über ‚Sozialkontakte’.

Robin gab ein wohlig brummendes Geräusch von sich und Kevin bemerkte, dass die Rückenmassage nicht ohne Folgen geblieben war. Sowohl bei Robin, als auch bei Lucas. Kevin grinste nun auch etwas. In einer solchen Situation war diese Reaktion ja fast unvermeidlich, wie er nun auch selber spürte. Er fuhr Robin nun mit einer Hand über den Rücken hinunter, bis er am Steißbein ankam. Plötzlich fing Kevin scheinbar unmotiviert an zu kichern. Lucas sah erstaunt herüber und auch Robin drehte seinen Kopf.

„Entschuldigung, aber ich dachte gerade an einen... äh...wie heißt das? Schweif?“

Lucas erstarrte in der Bewegung und Robin lief rot an wie eine Tomate.

„Ja, entschuldige bitte, ich weiß, ist nicht gerade nett, aber als ich dich so sah“, Kevin fuhr mit der anderen Hand an Robins Bauch herunter und hielt dann in dem kleinen Haarbusch vor Robins deutlich sichtbarer Erektion, „dachte ich irgendwie automatisch auch an die Kehrseite“, wobei Kevin nun an Robins Kehrseite noch einmal sanft über das Steißbein fuhr.

Robin seufzte, stellte sich unter den Duschstrahl und drehte nach kurzer Zeit das Wasser ab. Dann sah er an sich herab.

„Schon klar. Es läuft immer nur auf den Werwolf hinaus. Dabei hat der gar keinen Schweif. Es… es gibt da allerdings noch etwas, was ich euch gerne zeigen würde. Ihr habt großes Verständnis für mich und meine Verwandlung gezeigt, doch ihr müsst mir versprechen, den anderen nichts zu verraten. Bitte.“

Kevin brauchte Lucas gar nicht anzusehen. Beide hoben nur feierlich ihre rechte Hand. Robin zögerte noch etwas, aber dann schien er sich entschlossen zu haben.

„Okay, aber bitte hinterher nicht lachen.“

Die Verwandlung begann so, wie sie es jetzt schon öfter gesehen hatten, aber dann fiel der Körper nach vorne und man konnte vier Pfoten erkennen. Nach mehreren Sekunden stand ein ausgewachsener Wolf in der Dusche. Auf Anhieb hätte man ihn sogar für einen zu groß geratenen Husky halten können, wären da nicht die breite Brust und der große Schädel gewesen. Kevin konnte sich nicht zurückhalten. Er beugte sich herunter und strich dem Wolf vorsichtig über das hellgraue Rückenfell. Blaue Augen strahlten ihn an.

„Hallo, Robin.“

Und tatsächlich, ganz vorsichtig wedelte der Wolf mit seiner Rute. Dann setzte er sich auf die Hinterbeine und sah Kevin mit schräg gehaltenem Kopf an.

„Wahnsinn“, flüsterte Lucas.

Draußen im Umkleideraum erklangen Stimmen. Der Wolf sprang auf und Sekunden später stand Robin wieder unter der Dusche. Nicht die kleinste Spur war an ihm zu erkennen, die auf die Verwandlung hätte hindeuten können.

„Bitte“, sagte Robin noch einmal zu Kevin und dann zu Lucas gewandt, „wenn das bekannt wird, bin ich erledigt. Das ist doch der Lacher des Jahres. Die Lehrer wissen natürlich, dass ein Werwolf drei Wandlungsformen hat, aber die verraten nichts. Es hat mir einmal gereicht, dass jemand mit einem Hundehalsband auf mich zugekommen ist.“

Kevin konnte während des letzten Satzes deutlich erkennen, wie Robin seine Zähne fletschte und der Mund sich fast in Richtung Schnauze entwickelte. Irgendwann würde er ihn fragen, wer es gewagt hatte, einen Werwolf zu beleidigen, aber bestimmt nicht jetzt.


Es dauerte eine ganze Weile, bis Robin so viel Selbstvertrauen aufgebracht hatte, dass er sich auch an anderen Stellen mit Kevin und Lucas traf. Es gab keine zentrale Freizeiteinrichtung innerhalb der Anlage, denn die Lehrgangsteilnehmer hatten alle Möglichkeiten innerhalb ihres Apartments. Es wurde viel Wert darauf gelegt, die Freizeit sinnvoll zu nutzen. Man konnte zum Beispiel aus der Gemeinschaftsküche alle Zutaten bekommen, wenn man selber kochen wollte. Alle Sporteinrichtungen konnten für Mannschaftssport genutzt werden, wenn sie nicht gerade durch Unterricht belegt waren. Die Keller der Bungalows waren durchgehend mit Fitnessgeräten ausgestattet und die große Leinwand im Keller konnte außer für Präsentationen auch als Filmleinwand genutzt werden. Ein großer Teil der Aktivitäten in der Freizeit fand somit in den Unterkünften statt.

So hatte Kevin an einem Wochenende Robin zu sich und Lucas eingeladen, weil er kochen wollte. Es gab gebratenen Lachs auf Spaghetti mit Tomatensauce, ein Rezept, das er von Timo bekommen hatte. Robin war eifrig bei der Sache, der einzige Beitrag von Lucas bestand aus dem Decken des Tisches. Nach dem Essen saßen alle drei entspannt um den Wohnzimmertisch und erzählten ihre Geschichten. Robin war ganz fasziniert von Kevins erster Begegnung mit der Parallelwelt und auch Lucas hörte immer wieder neue Details dieser Geschichte. Robin erzählte etwas aus dem Leben der Werwölfe.

„Also - Werwölfe leben in Rudeln in den schneebedeckten Ausläufern der Karpaten und sind sehr schwer zu fangen und noch schwerer zu zähmen.“

Kevin und Lucas sahen Robin irritiert an, bis dieser in ein helles Lachen ausbrach.

„Du kleiner Blödmann.“

Beide stürzten sich auf Robin und fingen an ihn durchzukitzeln. Zu seinem Pech war Robin sehr kitzlig. Als er wieder genug Luft bekam, setzte er sich in eine Ecke des Sofas und schlug die Beine unter. Sein Gesicht wurde wieder ernst.

„Ob ihr es glaubt oder nicht, aber auch ich musste mich erst an den Anblick eines Werwolfs in seiner Halbform gewöhnen...“


Robin war sechs, als er das erste Mal einen Werwolf sah. Die Verwandlung geschah plötzlich und unmittelbar vor seinen Augen. Seine Mutter hatte ihn noch an der Hand, als in einer kleinen Gasse ein großer fremder Mann vor sie trat. Er hatte ein langes Messer in der Hand und ein hässliches Grinsen auf dem Gesicht. Zwei Minuten später lag er mit starren Augen und immer noch dem gleichen eingefrorenen Grinsen auf dem kalten Asphalt. In diesen zwei Minuten hatte Robin nicht aufgehört zu schreien, auch nicht nach der Rückverwandlung.

Seine Mutter nahm in aller Ruhe einen zusammengefalteten Overall aus ihrer Tragetasche und zog ihn an. Dann stopfte sie ihre zerfetzte Kleidung hinein. Sie nahm den zitternden Jungen wieder bei der Hand und zog ihn mit zum Auto. Dann fuhren sie nach Hause.

Es dauerte fast ein Jahr, bis Robin wieder mit seiner Mutter zum Einkaufen ging. In der Zwischenzeit versuchten ihm sein Vater und sein großer Bruder die Zusammenhänge zu erklären.

„Es trifft uns alle. Wir sind etwas anders, als die Menschen dort draußen. Stell dir vor, es gibt hier in dieser Stadt über hundert von uns. Auch du wirst dich eines Tages verwandeln, wenn du so alt bist wie Marcus.“

Robin sah dann ängstlich zu, wie ein nackter Vierzehnjähriger sich im Handumdrehen in einen jungen Wolf verwandelte. Es bedurfte einiger Versuche, bis Robin sich dem Wolf näherte und ihn streichelte.

Das Familienleben verlief in normalen geregelten Bahnen. Sie waren eine Vorzeigefamilie wie aus dem Bilderbuch. Vater, Mutter und drei Kinder. Marcus war vierzehn, Sabrina war zwölf und Robin war jetzt sieben. Ein kleines Häuschen am Rande der Stadt. Beide Eltern arbeiteten, der Vater als Architekt, die Mutter als Krankenschwester und nachts zogen sie als Wölfe durch die umliegenden Wälder.

Schon früh bekam Robin beigebracht, dass Werwölfe nicht gefährlich sind. Zumindest nicht, wenn sie nicht angegriffen wurden. Die meiste Zeit der Streifzüge wurde ohnehin in Gestalt des Wolfes durchgeführt. Es galt als absolutes Tabu ohne zwingenden Grund in die Halbgestalt des eigentlichen Werwolfes zu wechseln. Wer dabei von seinen Artgenossen erwischt wurde, wurde erbarmungslos getötet.

Der Rat der Wölfe versuchte mit allen Mitteln zu verschleiern, dass immer noch, wie seit über tausend Jahren, die gestaltwandelnden Wölfe unter den Menschen lebten. Sie hatten sich angepasst und waren fast unsichtbar. Sie lebten in einer Form von Rudel. Die Ältesten hatten einen Rat gebildet, dessen Spruch sich jeder Werwolf zu unterwerfen hatte.

Einen weiteren Aspekt des Lebens als Werwolf bekam Robin mit, als er dreizehn war. Seine Schwester hatte im vergangenen Jahr geheiratet. Einen netten Jungen aus der Nachbarschaft, der selbstverständlich ebenfalls zur Gemeinschaft gehörte. Pünktlich neun Monate später kam der Nachwuchs. Das Kind kam zu Hause zur Welt und Robin durfte der ersten Verwandlung zusehen. Etwa eine halbe Stunde nach der Geburt verwandelte sich der Körper des Neugeborenen für nur wenige Sekunden in einen Wolfswelpen. Die nächste Verwandlung würde erst wieder mit dem Eintreten der Pubertät möglich sein. Warum diese nur Sekunden dauernde Verwandlung erfolgte, konnte niemand erklären, aber für die Eltern und den Ältestenrat war es der Beweis für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Werwölfe.

Im Laufe der Zeit wurde Robin immer mehr von einem Leben als Werwolf fasziniert. So oft wie möglich sah er seinem Bruder bei der Verwandlung zu. Und mit ihm zusammen gelang ihm auch seine eigene erste Verwandlung als er vierzehn war.

Durch die Beschäftigung mit seinem Bruder und auch mit anderen Werwölfen in seinem Alter hatte Robin die Scheu vor einem nackten Körper fast verloren. Es war nun einmal nicht möglich, bei der Verwandlung seine Kleidung zu behalten. Jetzt, mit fünfzehn, wurde er wieder schüchterner. Es irritierte ihn, dass ihn der Anblick nackter Jungen erregte. Er gehörte jetzt zu einer Gruppe „Jungwölfe“ die Nachts ein wenig herumstreiften, aber immer öfter benutzte er Ausreden, um nicht mit ihnen hinaus gehen zu müssen. Bis eines Tages sein Großvater auf ihn zukam.

„Du bist nur noch selten mit deiner Gruppe draußen, Robin. Einige Eltern haben mich schon gefragt, ob dir was fehlt.“

Oh, nein. Bitte jetzt keine Diskussionen darüber!

„Bitte, Großvater, ich möchte nicht darüber sprechen.“

Sein Großvater strich sich mit der Hand durch die dichten eisgrauen Haare.

„Robin, du weißt, dass ich einer der Ältesten der Stadt bin. Ich habe schon viele Probleme vorgelegt bekommen und wir haben fast immer eine Lösung gefunden. Jungs in deinem Alter haben fast immer die gleichen Probleme und es gibt für alles eine Antwort.“

Robin zögerte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sein Großvater ihm bei seinem Problem helfen konnte. Trotzdem wollte er auch irgendwie alles loswerden was ihn belastete.

„Robin, es ist schon wichtig zu erfahren was dich bedrückt. Sieh mal, ich möchte dir nicht zu nahe treten, aber es ist möglich, dass du einer der Einzelgänger bist.“

Robin horchte auf. Von den Einzelgängern hatte er noch nie gehört. Doch, einmal hatte er eine kurze Bemerkung aufgeschnappt über jemanden, der die Stadt verlassen musste.

„Wie soll ich es sagen. Also, die Einzelgänger sind die Werwölfe, die in unsere Gesellschaft nicht dauerhaft integriert werden, weil sie keine Familie gründen.“

Robin runzelte die Stirn.

„Wieso keine Familie? Es haben doch alle eine Familie.“

„Sei nicht so schwerfällig. Ich meine diejenigen, die nicht heiraten. Bei uns ist das anders als den Menschen. Bei uns ist die Beziehung zwischen den Geschlechtern viel komplizierter. Du musst eine Frau nicht nur optisch schön finden, eine Beziehung wird auch durch den ausgeprägten Geruchssinn gesteuert. Wer seine Frau nicht riechen kann, kann mit ihr auch keine dauerhafte Beziehung eingehen. Und es gibt nun auch Wölfe, die reagieren nur auf andere männliche Wölfe.“

Robin lief tiefrot an. Seine ganzen geheimen Wünsche liefen vor seinem inneren Auge ab. Sein Großvater seufzte.

„Ich brauche gar nicht weiter zu fragen. Deine Reaktion sagt mir schon genug. Dann werde ich dir auch den Rest über die Einzelgänger erzählen müssen.“

Die Einzelgänger waren die Wölfe ohne Rudel, ohne Familie. Einzelgänger, weil sie sich tatsächlich mehr zu einem männlichen Partner hingezogen fühlten ohne zu einem Rudel zu gehören. Diese Wölfe aber, hatten schon vor Jahrhunderten von ihren Ältesten eine besondere Aufgabe zugewiesen bekommen.

Tollensesee, Stammesgebiet der Redarier, Anno Domini 998

Ein einsamer Wolf zog mit gesenktem Kopf langsam vor sich hin. Müde schlich das Tier durch das dichte Gehölz riesiger Nadelbäume und mächtiger Laubbäume. Man hatte ihm einfach nahegelegt, sich soweit gegen Sonnenaufgang wie möglich zu entfernen. Weg vom Rudel, das ihm einst so viel bedeutet hatte, weg von seiner Heimat.

Er wusste, warum man ihn vertrieben hatte, aber er verstand es nicht.

Ein kleiner Bach wand sich gurgelnd durch den dichten Wald. Der Wolf starrte kurz auf das Wasser und schlappte durstig. Dann hob er den Kopf, witterte in alle Richtungen. Mit einem leisen Knurren begann eine erstaunliche Verwandlung. Die Vorder- und Hinterläufe streckten sich, während der Körper sich langsam aufrichtete. Das Fell verschwand und machte heller Haut Platz, während sich am Kopf die Schnauze zurückbildete und die Ohren an die Seite wanderten. Innerhalb nur weniger Sekunden hatte sich der Wolf in einen jungen Mann gewandelt, der aufseufzend neben dem Bach niedersank und spielerisch eine Hand ins Wasser hielt.

Die Menschen waren mehr geworden in seiner Heimat. Sie kamen von Sonnenuntergang und sie nahmen die Wälder und Fluren in Besitz, in denen sein Rudel schon gejagt hatte, solange sie zurückdenken konnten. Jetzt hatten die Ältesten beschlossen, nicht mehr zurückzuweichen. Sie würden ganz einfach als Menschen zwischen den Menschen wohnen, ihre Gewohnheiten annehmen, ihre Sprache sprechen und auch ihrem neuen Glauben folgen, obwohl er nichts bedeutete.

Die einzigen Traditionen jedoch, die beibehalten wurden, waren diejenigen, die den Bestand des Rudels garantieren sollten. Das Rudel konnte nur existieren, wenn es sich fortpflanzte. Wer nicht dazu beitrug, wurde beseitigt.

Er hatte ihn schon früh gespürt, diesen Drang zu anderen männlichen Wesen, sei es ein Wolf oder ein Mensch. Vor allem in seiner menschlichen Form war der Drang nach einem anderen Mann fast überwältigend, doch nie hatte er es gewagt, sich jemandem zu nähern. Mit hechelnder Zunge hatte er da gelegen, die menschlichen Jungen aus dem Dorf beim Baden beobachtet, trotz des Verbotes, sich am Tag in einen Wolf zu wandeln. Dann hatte er sich nachts in seiner menschlichen Form zum Fluss geschlichen um seine Erinnerungen an den Tag wieder zu beleben und seinem inneren Drang nachzugeben.

Und so kam es, dass er nicht etwa von einem der Ältesten, sondern von dem Schamanen des Rudels angesprochen wurde.

„Die anderen Jungwölfe reden über dich. Du bist nicht mit ihnen draußen, du ziehst alleine los. Manche sagen, du wandelst dich sogar tagsüber. Dies sind schlechte Zeichen. Du entfernst dich vom Rudel. Mit deinem Körper und mit deinem Geist.“

Schweigend, mit gesenktem Kopf, stand er da und wusste nichts zu antworten.

„So ist es also wahr. Sag mir, ist es der Drang nach einem anderen Rüden, einem anderen Mann? Gehörst du zu den seltenen Wölfen, die sich nach einem Mann sehnen?“

Er bedauerte jetzt sehr, dass er nicht in seiner Wolfsform war. So konnte man deutlich die Röte sehen, die seine helle Haut überzog.

Der alte Mann vor ihm nickte ebenso schweigend.

„Du weißt, was passiert, wenn die Ältesten es erfahren?“

Immer noch schweigend nickte er. Er würde ausgestoßen werden, vertrieben vom Rudel. Und wenn er es wagen würde zurückzukommen, würde man ihn töten.

Aber als einzelner Wolf würde er nicht lange überleben. Für eine erfolgreiche Jagd brauchte man das Rudel. Als einzelner Mensch war er genauso gefährdet. Misstrauisch würde man ihn beäugen und ihn davonjagen.

„Es gibt allerdings noch eine Möglichkeit, wohin du gehen könntest, doch diese Möglichkeit ist gefährlich, gefährlicher als alles andere, was uns bisher begegnet ist und schrecklicher, als du es dir vorstellen kannst.“

Erstaunt hob der junge Werwolf den Kopf.

„Es gibt Menschen, die in einen schon sehr lange dauernden Kampf verwickelt sind und die jede Unterstützung gebrauchen können. Sie kennen unser Geheimnis, denn einige von ihnen können, wie ein Schamane, das wahre Wesen eines Lebewesens erkennen. Sie sind nicht leicht zu finden, denn sie müssen sich vor den Menschen verstecken, genau wie wir, aber sie werden dich wohl aufnehmen, wenn du dich ihnen zu erkennen gibst.“

„Warum müssen sie sich denn als Menschen vor den Menschen verstecken und warum sollten sie ausgerechnet mich aufnehmen?“

„Warum sie sich verstecken, hat etwas mit ihrem Kampf zu tun. Sie werden es dir erklären. Warum ausgerechnet du? Nun…“

Der alte Schamane kratze sich unbewusst am Kopf, als ob er noch sein Fell hätte.

„Es sind ebenfalls nur Männer. Männer, die, nun ja… zusammen…“

Der junge Werwolf sah den Schamanen erstaunt an, dann weiteten sich seine Augen, als er die nicht ganz vollständige Aussage in ihrer ganzen Weite begriff. Doch dann stutzte er.

„Warum erzählt Ihr mir das? Es hätte doch für das Rudel gereicht, wenn man mich vertrieben hätte.“

„Sicherlich, doch wir werden enger mit den Menschen zusammenleben. Und dieser Kampf sichert das Überleben der Menschen und somit auch unser Überleben. So ungern es die Ältesten wohl auch hören würden, aber dein Beitrag zum Zusammenleben von Wölfen und Menschen wird genauso wichtig sein, wie der ihre.“

Das Gesicht des jungen Mannes spiegelte während der kurzen Rede die verschiedenartigsten Gefühle wider. Erstaunen, Zweifel, Unglaube und zum Schluss ein kleines Lächeln.

„Wenn… wenn ich zu den Menschen muss, dann brauche ich auch einen Namen. Sie werden mich wohl nicht am Geruch erkennen können.“

Der alte Mann lachte.

„Nein, wenn sie das können, solltest du öfter baden.“

Sein Gesicht wurde nachdenklich und dann lächelte auch er.

„Dein Name sei Ulf.“


Am Ufer des Sees war die Abenddämmerung ziemlich weit fortgeschritten und zwei junge Männer näherten sich dem Wasser, während sie sich vorsichtig umsahen. Dieser Teil des Sees wurde von den Einheimischen abergläubisch gemieden, denn hier begann der Heilige Hain der Tempelanlage Rethra. Die beiden jungen Männer fürchteten sich nicht vor irgendwelchen Göttern oder Geistern, eher schon vor den Wachen der Redarier, die ihr Heiligtum eifersüchtig bewachten.

Sie waren Teil einer Abordnung aus dem weit im Osten gelegenen Land Pomorze, die mit den Orakelpriestern des Riedegast versuchten, eine Abmachung zu treffen. Den genauen Inhalt der Abmachung kannte nur ihr Anführer, doch die Verhandlungen zogen sich hin und ein heißer Sommertag lud auch zum Baden ein.

Die Stelle dicht am Heiligen Hain hatten die beiden nicht zufällig gewählt, denn ihnen stand der Sinn nicht nur nach Schwimmen.

Was ihnen entgangen war, war ein junger Wolf, der gut getarnt im dichten Unterholz direkt an der Baumgrenze lag. Die beiden jungen Männer fühlten sich ungestört und legten nun auch ihre letzte Bekleidung ab. Langsam gingen sie hinunter zum Wasser und als sie weit genug waren, fingen sie an zu schwimmen. Leise flüsterten sie miteinander, doch der junge Wolf hatte ein ausgezeichnetes Gehör. Mit schiefgelegtem Kopf lauschte er, fast als ob er verstehen konnte, was dort gesprochen wurde.

Die beiden jungen Männer kamen wieder aus dem Wasser. Die Sonne war inzwischen untergegangen und das Licht des inzwischen aufgegangenen Mondes glitzerte auf ihren nackten Leibern. Erschöpft ließen sie sich am Uferrand nebeneinander auf das Gras sinken. Langsam fanden sich ihre Köpfe zu einem Kuss, dann wurden ihre Bewegungen schneller und leidenschaftlicher.

Vorsichtig schlich der junge Wolf näher, die Männer genau beobachtend. Unter einem dichten Busch blieb er liegen, die Schnauze leicht geöffnet, die Zunge hechelnd herausgestreckt.

Die beiden Männer ahnten nichts von ihrem tierischen Beobachter. Sie erkundeten weiter den Körper ihres Gegenübers, so, wie es anscheinend schon zuvor geschehen war. Schweres Atmen und leise Schreie kündeten von ihrem Erfolg, während plötzlich der junge Wolf ein deutliches Fiepen hören ließ.

Erschrocken fuhren die beiden jungen Männer auseinander, starrten in Richtung des Geräusches, während der Wolf sich erhob.

„Ein Wolf!“

Einer der beiden hob seinen rechten Arm und deutete in Richtung des Tieres, während der andere den Wolf mit erstauntem Gesichtsausdruck musterte.

„Nein, nicht!“

Der zweite Mann griff nach dem Arm des ersten und zog ihn herab.

„Was? Warum…?“

„Das ist kein Wolf.“

„Aber…“

Der Wolf erinnerte sich, was sein Schamane zu ihm gesagt hatte.

Sie kennen unser Geheimnis, denn einige von ihnen können, wie ein Schamane, das wahre Wesen eines Lebewesens erkennen.

Sollte er nun tatsächlich diejenigen gefunden haben, nach denen er schon einen ganzen Jahreszyklus gesucht hatte?

Mit erstaunt aufgerissenen Augen beobachteten die beiden jungen Männer, wie sich innerhalb von Sekunden die Gestalt des Wolfes veränderte. Die Schnauze wurde kürzer, das Fell wich einer hellen Haut und nach Abschluss der Verwandlung stand ein junger Mann dort, vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, mit strubbligen, rotblonden Haaren und einem verlegenen Gesichtsausdruck.

Die beiden Männer ihm gegenüber sahen ihn eine ganze Zeit an, bis es dem größeren der beiden entfuhr.

„Du hast uns beobachtet!“

Sein Blick war an der Körpermitte des Jungen hängengeblieben, wo eine Erektion nun deutlich sichtbar zurückging, wobei ein kleiner silberner Faden zu Boden tropfte.

Mit knallrotem Gesicht schob der Junge nun beide Hände vor seine Körpermitte, was die beiden anderen jungen Männer zu einem Grinsen veranlasste.

Dann plötzlich hob der kleinere der beiden wieder seinen rechten Arm.

„Er ist ein Werwolf. Das Rudel muss in der Nähe sein.“

„Nein!“

Der Junge riss seine Arme nach oben und breitete sie aus. Jetzt war es ihm egal, was man von ihm sehen konnte.

„Nein. Ich bin alleine. Ich habe kein Rudel.“

Ungläubig schüttelte der kleinere der Männer den Kopf.

„Das gibt es nicht. Kein Wolf ist ohne Rudel.“

Der Junge starrte verlegen auf den Boden vor sich und schwieg. Dann sah er wieder hoch und sucht den Blick des größeren der beiden Männer.

„Woher hast du gewusst, dass ich kein Wolf bin?“

Der Mann lächelte schwach.

„Weil ich dein inneres Wesen erkennen kann.“

Der junge Werwolf seufzte laut und vernehmlich.

„Dann bin ich endlich angekommen.“

Die beiden Männer ihm gegenüber machten ein fragendes Gesicht, doch dann räusperte sich der größere.

„Also, ich bin Jaromir und dies hier ist Mieszko. Wie heißt du?“

Wieder der verlegene Blick zu Boden.

„Ich werde Ulf gerufen.“

„Ulf? Was ist das für ein Name?“

„Meiner. Ich komme aus den Wäldern östlich von Hammaburg.“

Jaromir warf seinem Partner einen kurzen Blick zu.

„Warum hast du gesagt, dass du endlich angekommen bist? Hast du jemanden gesucht?“

„Ja. Jemanden, der mein Inneres Wesen erkennen kann. Ich soll die Männer suchen und sie fragen, ob ich ihnen helfen kann bei ihrem Kampf.“

Jaromir und Mieszko wechselten einen fast entsetzten Blick.

„Ich schlage vor, du wirst uns begleiten und wir stellen dich Pridbor vor, unserem Anführer. Es nicht weit, nur ein Stück am See entlang und dann Richtung Osten.“

„Dort wohnen die Menschen, die diese merkwürdige Festung am See gebaut haben und glauben, niemand könne ungesehen in sie eindringen.“

Diesmal war der Blick mehr erstaunt, den die beiden jungen Männer jetzt wechselten.

„Du warst drinnen?“

„Ja. Ist im Dunkeln ganz einfach.“

„Ich glaube, wir gehen erst einmal nach Nemirow und reden dort mit Pridbor. Hier, du kannst meine Tunika haben. Sollte lang genug sein, um ein wenig zu verdecken.“


Den Anführer der Delegation hatte sich Ulf etwas anders vorgestellt, mehr wie einen seiner Ältesten. Doch Pridbor war vielleicht Mitte Zwanzig und groß gewachsen, mit hellblonden, langen Haaren und einem kurzen Vollbart.

Nach einer kurzen Schilderung ihrer Begegnung durch Jaromir, betrachtete Pridbor den Jungen eine ganze Zeitlang schweigend. Ulf war froh, dass Jaromir einige nackte Details ihrer Begegnung weggelassen hatte, denn er wusste nicht, wie er als Mensch darauf reagieren würde. Er wollte nicht die ganze Zeit mit einem roten Kopf herumlaufen.

Pridbor brach das Schweigen und wies auf einen der Hocker an dem langen Tisch.

„Setzen wir uns. Als erstes möchte ich gerne wissen, warum du uns gesucht und ausgerechnet hier getroffen hast.“

Ulf erzählte ausführlich von dem Gespräch mit seinem Schamanen und dem Auftrag, den er ihm mitgegeben hatte. Pridbor lauschte, ohne ihn zu unterbrechen und im Laufe der Erzählung kamen noch weitere Männer in das Haus, das man der Delegation zur Verfügung gestellt hatte.

Am Ende seiner Geschichte saß Ulf acht Männern gegenüber, die alle, bis auf zwei, nur wenige Jahre älter waren als er selbst.

Pridbor stellte Radik vor, seinen, wie er es formulierte, festen Partner. Ulfs Herz schlug schneller, denn er erfasste, was Pridbor ihm damit sagen wollte. Es waren tatsächlich Männer, die zusammengehörten, wie auch Jaromir und Mieszko.

Dann waren da noch Boleslav und Tihomir, zwei dunkelhaarige, schweigsame Gesellen, ganz im Gegensatz zu Borvin und Rigomer. Die beiden waren ebenso blond wie Pridbor, aber ohne jeglichen Bartwuchs. Ulf bezweifelte, dass Borvin so alt war wie er selber.

„Du hast Jaromir gegenüber erwähnt, du wärest im Heiligtum gewesen. Ist das richtig?“

Wäre Ulf jetzt ein Wolf, hätte er etwas gewinselt.

„Na ja, nicht so direkt. Ich war in der Festung. In das Haus in der Mitte bin ich nicht hineingekommen, weil sie da gerade ein Pferd hineingeführt haben. Kurze Zeit später kamen alle wieder heraus, aber ohne Pferd. Dann gab es ein merkwürdiges Geräusch und dann den Geruch nach Blut.“

Pridbor hielt überrascht seinen Atem an.

„Was? Was für ein Geräusch? Kannst du es vergleichen?“

Ulf sah sich unsicher um. Er wusste nicht, wie er dieses tiefe…

„Eine Muschel. Es hörte sich an, als ob jemand in eine große Muschel bläst. Tief und dröhnend.“

Die acht Männer wechselten einen wissenden Blick.

„Wir kommen zu spät. Wenn die Eier bereits gelegt wurden, sind bestimmt schon Leute im Griff der Geisteswesen.“

Ulf sah verwirrt von einem zum anderen.

„Eigentlich müssten wir sofort los, aber Borvin soll dir ein paar kurze Erklärungen geben, während wir uns umziehen.“

Borvin setzte sich sofort neben Ulf und lächelte ihn an.

„Ich sag erst mal gar nichts, denn ich glaube, du wirst gleich etwas abgelenkt sein.“

Ulf stutzte, dann wurde er tatsächlich abgelenkt, denn vier der jungen Männer legten ihre Bekleidung ab und standen nun kurze Zeit nackt im Raum, während sie langsam und systematisch gestepptes Unterzeug und schwere Lederrüstungen anlegten.

Ulf sah mit großen Augen zu, während Borvin mit kurzen Worten etwas über dämonische Wesen und große Tore erzählte, durch die diese in ihre Welt kämen. Ulf hatte nie an der Existenz von Dämonen gezweifelt, denn sie waren Teil ihres Glaubens und sein Schamane hatte alle jungen Wölfe darauf hingewiesen, dass sie vielleicht eines Tages auch real in Erscheinung treten könnten.

Die Macht, mit der die jungen Männer sie allerdings besiegen wollten, war Ulf nicht so einsichtig, bis Rigomer, Borvins Partner seine Hand ausstreckte und die vor ihm liegende Feuerstelle entzündete, ohne sie zu berühren.

„Bist du verrückt? Wenn uns jemand sieht.“

„Ist doch sowieso egal. Wir sind fertig.“

Pridbor sah sich um und nickte. Dann betrachtete er Ulf nachdenklich.

„Ich weiß aus Erzählungen meiner Vorderen, dass Werwölfe auch in den Kampf gehen können, nicht als Mensch und nicht als Wolf.“

Ulf wurde blass. Die Halbform war ihnen verboten. Niemals durfte sie gezeigt werden, denn sie war ihr eigenes dämonisches Erbe. Vehement schüttelt er den Kopf.

„Nein. Es ist uns verboten. Es ist zu nahe am Übergang zu Wahnsinn und Raserei.“

Pridbor nickte langsam.

„Es ist deine Entscheidung. Aber komm ruhig mit. Wenn du bei uns leben willst, kannst du auch lernen, wie wir vielleicht einmal sterben werden.“

Mit erstauntem Gesicht folgte Ulf den acht Männern in die dunkle Nacht.


Das Tor der Festung stand offen und kein Mensch war zu sehen. Pridbor zögerte, dann schickte er zwei der vier gepanzerten Männer durch das Tor. Mieszko und Radik waren nur kurz weg, dann erschienen sie wieder mit ausdruckslosen Gesichtern.

„Die Wächter sind alle tot. So wie es aussieht, haben sie sich gegenseitig umgebracht. Auch zwei der Priester sind darunter.“

„Das Geisteswesen hat zugeschlagen. Denkt daran, was ihr gelernt habt, euren Geist rein zu halten. Ulf, hast du eine Ahnung, ob dir Geister oder Dämonen etwas einflüstern können?“

Ulf dachte angestrengt nach. Was hatte der alte Schamane gesagt? Die Halbform war unantastbar, doch Ulf schüttelte sich bei dem Gedanken.

„Ich weiß es nicht.“

„Egal, weiter. Wir müssen weitermachen, sonst sind hier alle verloren.“

In der Mitte der Festung stand ein merkwürdiges dreieckiges Bauwerk, das nur auf einer Seite ein großes Tor besaß. Groß genug, dass ein Pferd hindurchpasste. Ansonsten gab es keine Türen oder auch nur Fenster. Über dem Tor war der Schädel eines Pferdes angebracht worden. Er war noch ziemlich frisch, Haut und Fell waren noch gut erhalten und er stank auch noch nicht übermäßig.

Schnell begaben sich die acht Krieger hinüber zum Tor und Ulf folgte ihnen. Er überlegte, ob er sich in einen Wolf wandeln sollte, unterließ es aber. Pridbor öffnete entschlossen das Tor und sie traten ein. Innerhalb des dreieckigen Raumes brannten etliche Fackeln und erleuchteten die Dunkelheit.

Als sich Ulfs Augen an das Licht gewöhnt hatten, sah er zunächst nichts Auffälliges, doch dann erkannte er ein Loch im Boden. Nein, das war kein Loch, das war ein schmaler Gang, der schräg unter die Erde führte.

Borvin versuchte, sich zu orientieren. Langsam drehte er sich im Kreis und deutete dann auf den Gang.

„Wenn er einfach geradeaus geht, sind wir nach etwa hundert Schritten unter dem See.“

„Kein Wunder, dass sie um den Tempel des Riedegast so ein Geheimnis gemacht haben.“

Jaromir hob seine rechte Hand.

„Es stimmt. Dort unten ist ein offenes Tor. Ich spüre die Übergänge.“

„Dann los.“

Die vier Männer in ihren Rüstungen liefen voran in den dunklen Gang und der Rest folgte rasch. Vor ihnen war ein heller Schein erkennbar, der das Ende des Ganges erleuchtete. So wie es aussah, mündete der Gang in eine Höhle, wobei er am Ende einer Längsseite auf diese fast rechteckige Höhle traf.

Rigomer spähte vorsichtig um die Ecke.

„Vier Blaue, ein Roter und ein Geisterwesen.“

„Hat sie schon Eier abgelegt?“

„Ein paar Nester scheinen voll zu sein.“

„Also ist es entschieden. Ein bisschen viel, aber uns bleibt nur ein Versuch.“

Ohne Aufforderung stürmten die Gepanzerten um die Ecke und nun konnte Ulf verfolgen, was es mit dem Kampf auf sich hatte. Grüne Blitze zuckten aus ihren Händen und sie trafen auf die vier blauen Wesen, die inmitten der Halle unruhig auf und ab gingen. Solche Wesen hatte Ulf noch nie gesehen, doch er glaubte auf der Stelle, dass es Dämonen waren, die diese Welt vernichten wollten. Sie waren wohl über sieben Fuß groß, mit zwei Armen und zwei Beinen und mit blauer Haut. Ein Kopf war nicht zu erkennen. Wo bei einem Menschen der Hals gewesen wäre, gähnte von einer Schulter zur anderen ein riesiges Maul mit langen, nadelscharfen Zähnen. Die Arme, mit je zwei Gelenken, endeten in dicken Klauen, die wie die übergroßen Scheren eines Krebses aussahen, den Ulf am Ufer der Elv gefangen hatte.

Weiter hinten erkannte Ulf den Grund für das schummerige blaue Licht in der Höhle. Es kam von einem hellblauen, halbkreisförmigen Feld, das aussah wie ein riesiges Tor. Innerhalb des Feldes sah man Schatten hin- und herwandern.

Vor diesem Tor jedoch standen zwei Wesen, die selbst Ulf jetzt ein wenig in Angst versetzten. Das eine Wesen war gut acht Fuß hoch und hatte eine hellrote Haut. Der Schädel, einem Ziegenbock ähnlich, hatte zwei gewundene Hörner und feuerrote Augen. Der riesige haarige Rumpf endete in Beinen mit je zwei Gelenken und einem gespaltenen Huf. Wild peitschte ein Schwanz von einer Seite zur anderen.

Das zweite Wesen erinnerte Ulf entfernt an eine übergroße Heuschrecke. Doch dieses Wesen war graziler, halb aufgerichtet und die vorderen Beine waren abgeknickt, als ob es jeden Moment etwas greifen wollte. Größer noch als das rote Wesen, pendelten seine Fühler vor und zurück und es ließ ein helles Summen hören. Das rote Wesen antwortete mit einem tiefen Tuten, das Ulf jetzt bekannt vorkam.

Weitere grüne Blitze zuckten durch die Höhle, während eines der blauen Wesen bereits zu Boden ging. Borvin und Rigomer standen dicht beieinander und Ulf sah, wie sich aus Borvins Hand eine Kugel reinsten Feuers löste und auf das rote Wesen zuraste. Das hohle Tuten wurde von einem lauten Schrei abgelöst, während sich das noch übrig gebliebene blaue Wesen Jaromir und Mieszko näherte.

Dann spürte Ulf plötzlich, wie sich etwas in seine Gedanken bohrte. Etwas, was dort nicht hingehörte. Er spürte auf einmal einen unbezähmbaren Zwang auf Jaromir zuzugehen und ihn zu töten. Ulf erkannte mit einem Rest seines Bewusstseins, was mit ihm passierte, doch er konnte sich nicht dagegen wehren. Langsam ging er auf Jaromir zu, der irgendetwas ahnte, denn plötzlich drehte er sich zu Ulf um.

„Du musst dich dagegen wehren!“

Es gab keine Gegenwehr, das wusste Ulf, aber er wusste auch, dass es einen Ausweg gab. Er konnte nur hoffen, dass das Geisteswesen nicht darauf vorbereitet war. Mit dem letzten Rest seines eigenen Willens leitete Ulf die Verwandlung in seine Halbform ein.

Der Körper wuchs auf mehr als sieben Fuß, die Beine knickten ein, die Hände wurden zu Klauen. Der Kopf bekam eine lange Schnauze mit riesigen Fängen in dem halb aufgerissenen Maul. Das rotblonde Haar war einem dichten, struppigen Fell gewichen.

Mit einem tiefen Grollen sprang der Werwolf auf das Geisteswesen zu und verbiss sich in dem grazilen Körper. Man konnte das Knacken des Panzers durch die ganze Höhle hören. Mit unbändiger Energie und Wut zerfetzte der Werwolf den Körper des Geisteswesens, das diesem Ansturm nichts entgegenzusetzen hatte. Das rote Wesen daneben tutete kläglich, bis weitere grüne Blitze einschlugen und es zu Boden sank.

Der Werwolf stand auf den Überresten seines Opfers und sah mit roten Augen auf die anderen acht Wesen herab, die in der Höhle standen. Seine Instinkte sagten ihm, alles zu töten was in der Nähe war, doch ein leises, mahnendes Gefühl, das der Werwolf nicht deuten konnte, hielt ihn davon ab.

Mit Mühe zwang Ulf die Halbform wieder zurück. Wenn er getötet hatte, war es schwierig, ihn aus dem Blutrausch zu befreien und gefährlich für alle, die in der Nähe waren.

Doch nun stand ein nackter Junge mit gesenktem Kopf zwischen den Resten eines Chitinpanzers und sah die anderen traurig an.

„Ich habe den Anordnungen nicht gehorcht. Ich bin bereit für eine Strafe.“

Alle sahen sich fragend an, bis Borvin vortrat und Ulf lächelnd ansah.

„Du hast nichts falsch gemacht. Du hast getan, was richtig war und du wirst bestimmt nicht bestraft.“

Dann beugte sich Borvin vor und gab Ulf einen Kuss, der ziemlich lange dauerte und Ulf hektisch veranlasste, seine Hände nach vorne zu nehmen.

Endgültig rot wurde er, als Borvin ihm zuflüsterte, ob er die nächste Nacht mit ihm und Rigomer verbringen möchte - in dieser Form natürlich, nicht in einer von den beiden anderen.

Irgendwo in Rheinland-Pfalz, Deutschland, Anno Domini 2016

„Seit diesem Zeitpunkt waren immer einige Werwölfe im Einsatz. Heutzutage werden sie zentral ausgebildet und dann den Offiziersschulen zugeordnet, um zusammen mit den Anwärtern die Einsatztaktiken zu studieren. Danach werden sie den einzelnen Einheiten zugeordnet. Hier können sie einen Platz finden, wo sie sich zumindest noch ein bisschen wie in einem Rudel fühlen können.“

„Also, die Halbform ist das, was wir als Werwolf kennen, richtig? Welches ist denn jetzt die eigentliche Grundform?“

Robin wandte sich an Kevin.

„Ja, die Halbform ist das Mischwesen, welches ihr als Werwolf bezeichnet. Die Grundformen sind beide zu gleichen Teilen Mensch oder Wolf. Dabei ist die Wolfsform noch veränderbar. In gewissen Grenzen kann ich auch verschiedene Hunderassen darstellen.“

Als er Lucas‘ breites Grinsen sah, hob er sofort beide Hände.

„Nein! Keinen Dackel. Das Gewicht muss schon ungefähr stimmen.“

„Schade, eigentlich.“

Kevin grübelte währenddessen über einer anderen Frage.

„Sag, mal. Du hast erzählt, du warst in einer Jugendgruppe unterwegs und dann hat dich dein Großvater zu uns geschickt. Wie alt bist du eigentlich?“

Robin sah verlegen zu Boden.

„Achtzehn“, flüsterte er schüchtern.

„Vorher dürfen wir nicht in die taktische Kampfausbildung. Ich hab eine Vorausbildung gemacht, wo sie uns etwas über die ganzen Hintergründe und die Fähigkeiten der Magier erzählt haben, ebenso wie eine allgemeine Kampfausbildung, wo wir erst mal gelernt haben, welche Möglichkeiten die Halbform überhaupt hat.“

„Wir?“

„Ja, wir waren zu dritt. Es gibt so wenige Einzelgänger, dass sie nach der Ausbildung an die verschiedenen Offiziersseminare verteilt werden. Ich hatte Glück und bin in Deutschland geblieben. Die anderen beiden mussten nach Frankreich und Schweden.“

Als Lucas auf die Uhr sah, was es schon halb zwei. Robin stöhnte.

„Ich muss noch quer durch die Landschaft. Das dauert fast eine halbe Stunde.“

Kevin sah Lucas an und der nickte.

„Du kannst auch bei uns übernachten. Wir haben zwar nur das große Doppelbett, aber da passen auch drei rein. Vier sogar.“

Robin zögerte.

„Ich weiß nicht, ich will euch ja nicht zur Last fallen. Außerdem hab ich nichts weiter mit...“

Kevin lachte.

„Ach so, mach dir nichts draus. Wenn du möchtest leihe ich dir ein paar Boxershorts, aber ich sag’s dir gleich, Lucas und ich haben nachts nichts an.“

Robin lief rot an und lächelte schüchtern.

„Na, bei euch ist das ja auch was anderes.“

Lucas dauerte es jetzt zu lange. Kurz entschlossen schlüpfte er aus dem Trainingsanzug in dem er es sich bequem gemacht hatte und ging hinüber zum Schlafzimmer. Durch die Tür konnte man sehen, wie er seine Boxershorts auszog und ins Bett hüpfte.

„Wenn ihr noch länger quatscht wird’s immer später.“

Kevin und Robin folgten ihm ins Schlafzimmer. Kevin sah Robin kurz an und zog dann Hemd und Jeans aus. Robin überlegte noch, ob er Kevins Angebot annehmen sollte und spielte unentschlossen mit den Knöpfen seines Polohemdes. Doch schließlich zog er sich aus und gleichzeitig mit Kevin, der seine Retroshorts ausgezogen hatte, stand er nackt im Zimmer.

Kevin machte eine Handbewegung zum Bett.

„Du gehst in die Mitte, dann ist wenigstens Ruhe.“

Als alle drei nebeneinander lagen, richtete Kevin sich noch einmal auf, schob sich etwas über Robin und beugte sich zu Lucas hinüber.

„Gute Nacht.“

Dann gab er Lucas einen Kuss. Der Kuss dauerte an und langsam öffnete Kevin seinen Mund. Es hätte noch viel länger dauern können, als eine leise Stimme ertönte.

„Ich glaube, ich gehe dann doch lieber.“

Kevin und Lucas trennten sich langsam. Sie sahen sich in die Augen und jeder wusste, was der andere dachte. Kevin beugte sich herunter und küsste Robin auf den Mund. Robin war erstaunt, aber er wehrte sich nicht, nach einigen Sekunden öffnete er seinen Mund und die Zungen trafen sich. Kevin löste sich von ihm.

„Möchtest du immer noch gehen?“

„Nein, ich möchte nur nicht, dass ihr beide wegen mir...“

„Keine Angst, Kleiner. Meinen Partner kann mir kein Mensch auf der Welt nehmen. Aber ein bisschen Liebe zu geben, muss nicht immer nur platonisch sein.“

Robin stöhnte leicht, aber das kam eher durch Lucas, dessen Zunge sich gerade mit Robins rechter Brustwarze beschäftigte. Kevin lächelte und beugte sich herunter zu einem weiteren Kuss. Aus den Augenwinkeln erkannte er, wie Lucas sich mit seiner Zunge ebenfalls weiter hinunterarbeitete.


Am nächsten Morgen wurde Kevin unsanft geweckt. Etwas Feuchtes fuhr durch sein Gesicht. Neben sich hörte er Lucas‘ lautes Gelächter. Er öffnete die Augen und sah etwas großes Rotes auf sich zukommen. Und schon wieder wurde es feucht im Gesicht. Instinktiv hob Kevin die Hände und schob etwas großes, pelziges von sich. Lucas lachte immer noch. Kevin versuchte sich aufzurichten, aber zwei große Pfoten drückten auf seinen Brustkorb.

„Robin, sitz!“

Robin setzte sich auf die Hinterbeine und hechelte. Seine Rute wedelte wild. Kevin konnte sich jetzt endlich aufrichten.

„Wessen Idee war das?“

Lucas deutete auf Robin.

„Sorry, aber du hast so tief geschlafen. Und als Wecker ist er doch gar nicht schlecht.“

Kevin musste jetzt ebenfalls lachen. Er griff hinüber zu Robin und fuhr ihm durch das dichte Fell, dann krault er ihn hinter den Ohren. Fast hätte er vergessen, dass es sich nicht um einen richtigen Wolf handelte.

„Los, Leute. Lasst uns Frühstück machen.“

Lucas war aus dem Bett gesprungen und suchte nach seinen Boxershorts. Robin hatte sich auf die Seite gelegt und Kevin beobachtete jetzt in aller Ruhe die Verwandlung. Als diese abgeschlossen war, blickte Robin etwas schüchtern zu Kevin.

„Eh, gestern Abend, ich meine, heute Nacht. Es war einfach wunderschön. Aber, ich meine… weil ihr zwei doch... ach, es ist so verdammt schwer.“

Robin liefen die ersten Tränen herunter. Kevin sah ihn bestürzt an. Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet, doch er ahnte, was geschehen war. Sein erster Blick ging hinüber zu Lucas, dann wieder zurück zu Robin. Lucas kam langsam wieder näher an das Bett und umarmte Robin von hinten.

„Ruhig, Kleiner. Wir sind ja beide bei dir.“

Lucas sah Kevin in die Augen und wusste die Antwort auf seine unausgesprochene Frage. Wie Kevin schon gestern gesagt hatte. Seinen Partner konnte ihm niemand nehmen. Und Lucas wusste ebenso genau, er würde Kevin lieben bis in den Tod. Doch dieser einsame kleine Welpe brauchte genauso Liebe und Zuneigung. Robin hatte in seinem Leben bisher mehr zu leiden gehabt als sie beide zusammen und es war nicht gerade wahrscheinlich, dass er jemanden finden würde, der ihn versteht. Lucas griff an Robin vorbei und legte Kevin seine Hand auf die Schulter. Kevin beugte sich vor und küsste Lucas.

„Ja.“

Lucas umarmte wieder Robin. Mit der linken strich er ihm die Tränen von den Wangen.

„Du weißt, Kevin und ich gehören zusammen bis ans Ende der Tage. Und das ist vielleicht sogar wörtlich gemeint. Und wir beide mögen dich wirklich sehr gerne. Du bist in jeder deiner Wandlungsformen zwar ein anderes Wesen, aber deine Persönlichkeit ist unwandelbar. Wenn du es möchtest, kannst du gerne bei uns beiden bleiben. Nicht als Objekt für die Nacht, sondern als Partner fürs Leben.“

Robin hörte auf zu weinen. Sein Blick wurde ungläubig. Da Lucas immer noch hinter ihm saß, sah er nur Kevin mit großen Augen an.


Robin war zum ersten Mal in seinem Leben wirklich glücklich. Als er hierher zur Ausbildung geschickt worden war, wusste er nicht einmal, was ihn erwartete.

Menschliche Freunde hatte er nie gehabt und wenn er die Reaktionen der meisten Leute hier erlebte, war er froh, keine zu haben. Als Kevin und Lucas ihn ganz am Anfang gefragt hatten, ob er mit ihnen essen gehen wollte, hatte er erst geglaubt, sie wollten ihn verarschen. Aber dann lernte er die beiden im Laufe der Zeit besser kennen.

An dem Abend, als Kevin ihm den Vorschlag zur Übernachtung machte war er mehr als erstaunt gewesen. Er hatte die beiden jetzt schon in vielen Situationen erlebt und immer wieder war er von ihrer absoluten Liebe fasziniert gewesen.

Robin war es anfangs fürchterlich peinlich gewesen, völlig nackt zwischen den beiden zu liegen. Als die dann auch noch anfingen sich zu küssen, wäre er am liebsten sofort abgehauen. Dann kam der Kuss von Kevin. Robin wusste ganz genau, dass Lucas direkt neben ihm lag. War der denn nicht eifersüchtig? Nein, durchfuhr es ihn auf einmal. Braucht er gar nicht, weil er absolut und unwandelbar seiner Liebe sicher war.

Dann spürte Robin Lucas‘ Zunge auf seiner Brustwarze. Wenn das so weiterging konnte er für nichts mehr garantieren. Plötzlich spürte er Kevins Zunge an seiner anderen Brustwarze und Lucas‘ Zunge machte sich auf den Weg nach unten. Robin schloss die Augen und er spürte eine nie gekannte Erregung in sich aufsteigen. Alle Zweifel und alle Fragen wurden erst einmal in den Hintergrund gedrängt und er gab seinen Gefühlen nach. Darüber nachdenken konnte er später noch.

Am nächsten Morgen erwachte Robin von den Geräuschen die Lucas machte, als er ins Badezimmer ging. Robin sah ihm hinterher und musste bei der Erinnerung an die vergangene Nacht unwillkürlich grinsen. Die beiden sahen so jung und unschuldig aus, aber im Bett...

Als Lucas zurückkam und noch mal unter die Decke kroch sah er Kevin zärtlich an. Sanft strich er ihm über das Haar.

„Du liebst ihn sehr, nicht wahr?“, flüsterte Robin.

„Ja, wir sind füreinander bestimmt.“

Robin nickte. Lucas sah auf den Wecker und brummte.

„Allerdings ist er ein kleiner Langschläfer. Wir sollten ihn wecken.“

„Darf ich?“

„Meinetwegen.“

Robin verwandelte sich in seine Wolfsgestalt, tapste zu Kevin und fuhr ihm mit der Zunge über das Gesicht. Lucas lachte sich scheckig. Kevin bewegte sich und Robin fuhr ihm noch mal mit der Zunge durchs Gesicht. Kevin versuchte sich aufzurichten, aber zwei große Pfoten drückten auf seinen Brustkorb.

„Robin, sitz!“

Robin setzte sich auf die Hinterbeine und hechelte. Seine Rute wedelte wild. Kevin konnte sich jetzt endlich aufrichten.

„Wessen Idee war das?“

Lucas deutete auf Robin.

„Sorry, aber du hast so tief geschlafen. Und als Wecker ist er doch gar nicht schlecht.“

Kevin musste jetzt ebenfalls lachen. Er griff hinüber zu Robin und fuhr ihm durch das dichte Fell, dann krault er ihn hinter den Ohren. Robin empfand das als sehr angenehm.

„Los, Leute. Lasst uns Frühstück machen.“

Lucas war aus dem Bett gesprungen und suchte nach seinen Boxershorts. Robin hatte sich auf die Seite gelegt und begann jetzt wieder mit der Rückverwandlung. Aber bevor sie etwas anderes machten, musste er unbedingt noch etwas sagen.

„Eh, gestern Abend, ich meine, heute Nacht. Es war einfach wunderschön. Aber, ich meine.. weil ihr zwei doch... ach, es ist so verdammt schwer.“

Robin kamen die Tränen. Es war so verdammt schwer. Und so unfair. Wenn er die beiden sah, tat ihm sein Herz weh und sein Verstand setzte aus. Und das schlimmste war, er machte keinen Unterschied. Kevin oder Lucas, am besten beide. Er heulte nun noch mehr.

„Ruhig, Kleiner. Wir sind ja beide bei dir.“

Das war ja das Schlimme. Robin spürte, wie Lucas sich von hinten an ihn lehnte und er spürte, wie die beiden sich ansahen. Was würde jetzt passieren?

„Ja.“

Was sollte jetzt dieses ‚ja’?

Robin spürte jetzt Lucas‘ feste Umarmung.

„Du weißt, Kevin und ich gehören zusammen bis ans Ende der Tage. Und das ist vielleicht sogar wörtlich gemeint. Und wir beide mögen dich wirklich gerne. Du bist in jeder deiner Wandlungsformen zwar ein anderes Wesen, aber deine Persönlichkeit ist unwandelbar. Wenn du es möchtest, kannst du gerne bei uns beiden bleiben. Nicht als Objekt für die Nacht, sondern als Partner fürs Leben.“

Robin hörte die Worte und konnte sie kaum glauben. Er starrte nur Kevin an und erkannte an dessen Lächeln, dass er der gleichen Meinung war wie Lucas. Robin schniefte ein bisschen und versuchte ein zögerndes Lächeln. Kevin sah ihn an und gab ihm einen langen Kuss. Dann gab er ihn frei für Lucas, der ihn umdrehte und ihm ebenfalls einen langen Kuss gab. Am Ende des Kusses sah er Robin in die Augen.

„Willst du uns denn überhaupt haben?“

Robin blickte erst zu Kevin, dann zu Lucas.

„Ja, ich will.“


Am Abend kamen Michael und Rafael zu einem kurzen Besuch zu Kevin und Lucas. Da die beiden einen Schlüssel hatten, hörte man nur die Tür klappen.

Kevin, Lucas und Robin hatten es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht, doch bei dem Geräusch fuhr Robin hoch. Lucas zog ihn wieder herunter zu sich.

„Das sind nur die beiden von nebenan. Ich habe dir erzählt, dass sie einen Schlüssel haben“

Robin nickte und wurde wieder rot, weil Lucas einige Stellen aus ihrer Beziehung zu Michael und Rafael sehr ausführlich erzählt hatte und er es niedlich fand, wenn Robin rot wurde.

Michael und Rafael standen vor dem Sofa und sahen auf die drei herab, die sich bis jetzt nicht bewegt hatten. Auf Michaels fragenden Blick meinte Lucas ganz beiläufig

„Ihr kennt Robin ja bereits. Ihr werdet ihn jetzt hier wahrscheinlich öfter treffen.“

Rafael und Michael wechselten einen kurzen Blick, dann grinste Rafael Kevin an.

„Du kannst es nicht lassen. Was ist es diesmal?“

Robin sah etwas irritiert zu Michael und Rafael auf, dann sah er Lucas an.

„Wenn ich störe… Ich meine, ich kann auch morgen wiederkommen.“

„Nein, nein.“

Kevin setzte sich auf und klopfte neben sich auf das Sofa.

„Komm rüber zu mir, wir müssen noch etwas besprechen.“

Robin rutschte etwas umständlich neben Kevin.

Lucas hatte sich jetzt ebenfalls aufgesetzt und räusperte sich.

„Es geht im Prinzip um uns alle. Robin, sieh mal, Kevin und ich kennen Michael und Rafael nun schon seit zwei Jahren und wir sind eine sehr enge Freundschaft eingegangen. Wir haben eine Menge über den anderen erfahren und sind uns auch körperlich äußerst nahe gekommen. Ich kann wohl behaupten dass uns niemand so gut kennt wie die beiden. Wir haben dir ja auch schon so einige kleine Geschichten erzählt.“

Robin betrachtete nachdenklich Michael und Rafael. Er hatte sie ja nun schon öfter bei der Kampfausbildung und bei ihren abendlichen Sportstunden gesehen, auch unter der Gemeinschaftsdusche. Doch erst, als sie hier vor ihm standen und er sich die kleinen Geschichten in Erinnerung rief, die ihm Lucas erzählt hatte, bekam er ein Gefühl für die tiefe Freundschaft die alle vier verband. Noch nie hatte er sie unter diesem Aspekt betrachtet.

Vom Äußeren her waren Michael und Rafael bis auf den Zentimeter gleich groß. Mit ihren hellblonden Haaren und den blauen Augen sahen sie fast aus wie Zwillinge. Doch Robin spürte einen feinen Unterschied, fast als ob er es riechen könnte. Michael war ruhiger, ausgeglichener, während Rafael dynamisch und aktiv war. Fast wie bei Kevin und Lucas.

„Robin?“

Robin schüttelte sich als er angesprochen wurde. Hatte er etwa vor sich hin geträumt?

„Hast du etwas dagegen, wenn wir von der letzten Nacht erzählen?“

Robin schreckte hoch, als er die Blicke von Kevin und Lucas bemerkte. Er erfasste, dass sie wissen wollten, ob er ihnen vertraute. Wenn sie Michael und Rafael so gut kannten und mit ihnen so offen umgingen, dann sollte auch er über seinen eigenen Schatten springen können.

„Was? Alles?“

Michael lächelte leicht, dann sah er Robin direkt an.

„Nein. Ich glaube, einen Teil können wir uns schon denken. Was ist das Interessante an dem Abend?“

„Der nächste Morgen.“

Kevin erzählte von dem Partnerschaftsangebot an Robin. Eine lange Zeit war Schweigen im Raum, dann beugte sich Rafael vor und gab Michael einen langen und intensiven Kuss. Michael lächelte fast entrückt, dann sah er sich um.

„Ich weiß, Robin, dass du uns noch nicht lange kennst, aber dafür kennen Kevin und Lucas uns schon eine ganze Weile. Wir haben schon eine Menge Unsinn angestellt und einige Sachen in Bewegung gebracht, die andere Leute nicht für möglich gehalten haben. Meistens war Kevin der Initiator solcher Aktionen. Heute bin ich mal dran - glaube ich wenigstens.“

Kevin sah überrascht zu Michael herüber, dann zu Lucas, der aber nur mit den Achseln zuckte. Robin war erstaunt über den großen Anteil nonverbaler Kommunikation. Sie schienen sich tatsächlich ohne viele Worte zu verstehen.

Michael sah noch einmal kurz in die Runde, dann wieder zu Robin.

„Was hältst du von einem Rudel? Wir fünf bilden ein Wolfpack.“

Robin fiel die Kinnlade herunter. Nicht im Traum hätte er an eine solche Frage gedacht.

Kevin und Lucas wechselten nur einen Blick, dann stand Kevin auf und ging hinüber zu Michael, während Lucas hinter Rafael trat. Beide Paare fanden sich zu einem sinnlichen Kuss, während Robin mit nun inzwischen geschlossenem Mund auf die Jungs vor sich starrte. Dann fasste er einen Entschluss. Schnell begab er sich hinüber ins Badezimmer und zog sich eilig aus. Dann kehrte er in seiner Wolfsgestalt zurück ins Wohnzimmer.

Michael bemerkte ihn als erster und seine Augen wurden immer größer. Kevin hatte bei seiner Erzählung der vergangenen Nacht die Wolfsgestalt wissentlich ausgelassen. Es wäre an Robin gewesen, jemandem davon zu erzählen, was er in dieser Form dann ja auch tat.

Womit Michael nicht gerechnet hatte, war der ansatzlose Sprung mit dem sich der Wolf jetzt auf ihn stürzte. Der Aufprall von 64 kg reiner Muskelmasse riss Michael förmlich um und er schlug der Länge nach auf den Boden. Das schiere Gewicht des Wolfes drückte ihm fast die Luft aus den Lungen, doch jetzt richtete sich das Tier auf und sah auf ihn herab. Ohne jede Chance auf Gegenwehr wurde Michael jetzt gnadenlos mit einer langen roten Zunge abgeschleckt.

Es war alles so schnell gegangen, dass sich keiner der anderen drei bewegt hatte, bis die große Schleckattacke anfing. Rafael sah mit großen Augen auf Michael herunter, dann bekam er einen Lachflash. Auch Kevin und Lucas brauchten eine Weile bis sie sich beruhigt hatten.

„Aus! Robin, lass ihn doch mal Luft holen.“

Seit diesem Augenblick verbrachten Kevin, Lucas und Robin ihr Leben gemeinsam. Robin war mit allerhöchster Genehmigung umgezogen und die drei wohnten zusammen. Am Anfang sahen einige der anderen Seminarteilnehmer noch etwas merkwürdig herüber, wenn sie gemeinsam im Speisesaal saßen oder sogar abends immer wieder in der Trainingshalle ihre Kampfübungen machten. Doch im Laufe der Zeit beruhigt sich alles, auch wenn manchmal darüber getuschelt wurde, was denn wohl im Schlafzimmer abgehen würde. Das Gerücht sagte, es soll schon mal das Heulen eines Wolfs aus dem Schlafzimmer gedrungen sein, aber niemand wusste etwas Genaues.


Im Laufe des Semesters lernte Robin dann auch etliche andere Freunde seiner Beziehung näher kennen. Als er das erste Mal mit der ganzen Gruppe unten im Keller war, staunte er nicht schlecht, als sich alle auszogen und auf der großen Matte versammelten. Die anderen kannten ihn natürlich, wenn auch einige nur vom Training. Sie waren gespannt, wie Robin sich verhalten würde.

In Sekundenschnelle hatte sich Robin ebenfalls entkleidet und war auf die Matte gehüpft. Lucien hob die Augenbrauen.

„Du scheinst keine Probleme damit zu haben, dich einer Horde großer böser Magier in unbekleidetem Zustand zu nähern.“

Robin kicherte.

„Hey, ich kenne einige dieser großen bösen Magier bereits in jedem Zustand der Bekleidung. Außerdem bin ich es gewohnt, manchmal nackt herumzulaufen, schließlich bin ich damit aufgewachsen.“

„Ja, kann ich mir vorstellen. Verwandlung mit Klamotten ist wahrscheinlich ziemlich teuer.“

Robin nickte. Er hatte sich auf den Bauch gedreht und den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt. Da verspürter eine leichte Berührung an der Schulter die langsam abwärts zog. Er hob den Kopf und sah Timo neben sich knien. Er wußte, dass Timo der Heiler war und so legte er seinen Kopf wieder auf die Arme.

Timo fuhr weiter mit der Hand über Robins Körper.

„Wahnsinn. So etwas habe ich noch nie gesehen. Du bist drei.“

Einige Köpfe erhoben sich fragend und Lucas schielte zu Robin hinüber.

„Robin, möchtest du den Rest auch noch einweihen?“

Lucien spitzte die Ohren.

„Ein Geheimnis? Das ist interessant. Was ist es? Aua!“

Die letzte Bemerkung resultierte von dem Rippenstoß, den er von Tobias erhalten hatte.

„Was ist? Geheimnisse sind immer interessant.“

Tobias schüttelte den Kopf, dann sah er Lucien aus kurzem Abstand direkt in die Augen.

„Du bist eine neugierige kleine Tunte.“

„Ahhh. Das ‚neugierig‘ nimmst du sofort zurück.“

Alle lachten und Lucien und Tobias rollten eng umschlungen auf der Matte hin und her. Lucien fing sich dabei den ein oder anderen freundlichen Schlag auf den Hintern ein.

„Au. Wieso haltet ihr immer zu ihm?“

Robin hatte sich aufgerichtet und saß jetzt in einer hockenden Position, die Beine untergeschlagen, die Arme vor sich auf die Matte gestemmt. Mit einem leichten Lächeln sah er Lucien an.

„Ich werde dich jetzt befriedigen“, Robin hob einen Arm als das Gejohle einsetzte, „zumindest was deine Neugier betrifft.“

Enttäuschtes Gelächter ringsum. Auch Lucien verzog sein Gesicht, starrte dann aber mit offenem Mund auf Robin, als dieser anfing, sich zu verwandeln. Innerhalb von 5 Sekunden saß ein ausgewachsener Wolf vor Lucien, der instinktiv zurückzuckte.

„Ganz ruhig, Leute. Das ist immer noch Robin. Er tut niemandem was.“

Timo kam langsam näher und strich Robin über das Rückenfell.

„Das ist also die dritte Form. Hätte ich jetzt nicht gedacht. Aber er ist wunderschön, als Wolf und als Mann.“

Robin ließ ein leises Winseln hören und nun kam auch Sven zu seinem Partner, umarmte Timo, dann Robin. Lucien hatte sich inzwischen erholt und klatschte begeistert in die Hände.

„Eh, echt geil. Darf ich mit ihm Gassi gehen?“

Sämtliche Bewegungen erstarrten und es legte sich ein eisiges Schweigen über die Gruppe.

„Lucien Nochterville, du bist der größte Idiot der frei rumläuft. Du weißt ganz genau, dass er uns versteht. Was hast du dir dabei gedacht?“

Michaels Stimme klang frostig und Lucien zuckte merklich zusammen. Dann versuchte er in seiner liegenden Position etwas zurückzurobben, denn Robin hatte sich erhoben und schritt langsam auf ihn zu. Von oben herab sah er Lucien in die Augen, dann drehte er sich um und hob ein Hinterbein. Es passierte nichts weiter, lediglich nach etwa 3 Sekunden senkte Robin das Bein und setzte sich wieder auf seinen ursprünglichen Platz.

Lucien hatte die Luft angehalten als Robin näher kam und seine Aktion durchführte. Laut schnappte er jetzt nach Luft.

„Ok, ich glaube, das hab‘ ich jetzt verdient. Manchmal ist mein Mundwerk eben ein bisschen schneller als das Gehirn.“

„Manchmal?“

„Welches Gehirn?“

Die Kommentare liefen reihum, während Lucien Robin beobachtete. Der Wolf hatte seine Lefzen auf einer Seite leicht hochgezogen und seine Augen schienen zu glitzern. Können Wölfe lachen?

Während der ganzen Zeit hatte niemand auf Tobias geachtet. Seit Robins Verwandlung hatte er sich immer weiter zurückgezogen und als Robin in seine Richtung gekommen war, hatte er angefangen zu zittern. Lediglich Alexander hatte durch Zufall nach hinten gesehen und Tobias entdeckt, der an die Wand gelehnt seine hochgezogenen Knie umklammerte. Schnell rutschte Alexander neben ihn.

„Was ist los, Kleiner?“

„Ich… Ich habe Angst. Ich fürchte mich vor Hunden. Ich war fünf, da hat mich ein Bullterrier angefallen. Zum Glück ist nicht viel passiert, der Besitzer war dabei. Aber ich war zwei Wochen im Krankenhaus.“

Zittern wies er auf zwei große verblasste Narben an seinem linken Unterarm.

„Auch wenn du weißt, dass es Robin ist?“

„Hm, ja. Es ist erst mal diese Erscheinung. Der Hund, dieser Körper, das Wissen, dass er diese Zähne hat…“

Inzwischen war auch der Rest der Gruppe auf die beiden aufmerksam geworden. Lucien umarmte Tobias stürmisch.

„Mein Gott, Kleiner. Daran hab‘ ich gar nicht mehr gedacht. Es tut mir leid, dass ich nicht aufmerksamer war.“

Tobias legte Lucien seinen Kopf auf die Brust und klammerte sich an ihn. Lucien sah in die Runde und sein Blick blieb an Robin hängen.

„Tobias ist früher mal von einem Hund gebissen worden, seit dem hat er eine panische Angst vor Hunden.“

Robin legte sich der Länge nach hin, legte den Kopf auf den Vorderpfoten ab und winselte. Die Ohren waren aus ihrer aufrechten Position nach vorne geklappt.

Alexander ging zu Robin und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Wolf richtete sich auf und verwandelte sich wieder. Robin ging jetzt hinüber zu Tobias, der sich etwas beruhigt hatte. Vorsichtig ließ sich Robin neben Tobias nieder.

„Es tut mir Leid, wenn ich dich erschreckt habe.“

Tobias lächelte Robin an.

„Es tut mir leid, wenn ich dich beleidigt habe. Ich habe dich mit einem einfachen Hund auf eine Stufe gestellt. Und dennoch…“

Robin nickte nur, dann näherte sich zögernd sein Gesicht dem von Tobias. Sanft zog Tobias ihn an sich und sie fanden sich zu einem langen Kuss. Ihre Hände machten sich selbständig und gingen auf Erkundung. Während dieser Zeit flüsterte Robin in kleinen Abständen Tobias etwas ins Ohr.

Lucas sah den beiden stirnrunzelnd zu, bis ihm etwas auffiel. Jedes Mal, wenn Robin etwas flüsterte, befanden sich Tobias’ Hände an bestimmten Körperstellen. Das Steißbein, wo bei dem Wolf die Rute war, die Füße, deren Knochen nachher völlig zu Pfoten verschoben waren, selbst den Mund öffnete Robin, damit Tobias die Zähne befühlen konnte.

Ein letzter Kommentar und Tobias blickte suchend in die Runde. Er begegnete fragenden Blicken aus neun Augenpaaren. Entschlossen erhob er sich und ging zu Lucas.

„Wir möchten gerne etwas ausprobieren, aber dazu brauche ich jemanden, der mich vor dem großen bösen Wolf beschützen kann. Ich weiß, es ist ein Klischee, aber ich möchte, dass der Größte und Stärkste mich beschützt.“

Lucas stand auf und sah auf Tobias herab.

„Ich weiß, was du meinst. Ängste kann man nicht logisch bekämpfen. Na, dann komm mal mit, Rotkäppchen.“

Es war absolut still ringsum, selbst Lucas‘ Kommentar rief keine Reaktionen hervor. Robin hatte sich inzwischen wieder in einen Wolf verwandelt, lag auf der Seite und rührte sich nicht. Vorsichtig näherte sich Lucas, Tobias dicht hinter ihm. Lucas bückte sich und fing an Robin zu streicheln. Als Tobias hinter Lucas hervorkam, drehte Robin sich auf den Rücken. Vorsichtig ließ Tobias sich nieder. Seine linke Hand hielt Lucas, seine rechte Hand fuhr Robin sanft über das weiche Bauchfell. Langsam drehte sich der Wolf wieder auf die Seite. Tobias erkundete mit leicht zitternder Hand, aber fest entschlossen, weiter den Wolfskörper. Das Fell an den Seiten, dann den Rücken bis hinunter zum Schweif. An dem Hinterlauf entlang bis zu den Pfoten, an denen dann Robin die Krallen ausfuhr.

Zum Schluß erhob sich Robin in eine sitzende Position. Tobias strich den Kopf entlang bis zu den Ohren und fuhr dann hinunter zur Schnauze die sich langsam öffnete. Nach einem kurzen Zögern tastete Tobias mit dem Zeigefinger nach den Fängen. Als Robin die Schnauze schloss sah ihn Tobias amüsiert an.

„Du sabberst.“

Da endlich durchbrach der erste Kommentar von Lucien das andauernde Schweigen.

„Würde ich jetzt auch, Rotkäppchen.“

Ein Sturm von Gelächter und Kommentaren brauste durch den Keller während Tobias den vor ihm sitzenden Wolf umarmte.

Kurze Zeit später lag Tobias dicht an Lucien gekuschelt, während sich Robin zurückverwandelte. Sein fragender Blick traf Kevin, der ihm aufmunternd zulächelte. Robin legte sich neben Tobias und wurde von Lucien mit einem Kuss belohnt.

Kevin erhob sich und sah in die Runde.

„So, Leute. Eigentlich habe ich euch heute wegen etwas ganz anderem versammelt. Die Abschlussprüfungen werfen die ersten Schatten voraus. Die Abschlussprüfungen, man beachte den Plural, beinhalten als ersten Teil eine schriftliche und eine mündliche Prüfung in allen vorgekommenen Fächern des gesamten Jahres.“

Kollektives Aufstöhnen ringsum.

„Der zweite Teil ist die freie Vorführung einer beliebigen Fähigkeit in einer Gruppe. Da gibt es sozusagen eine B-Note für Kreativität und Durchführung. Für die Gruppenarbeit dürfen maximal drei Mann zusammenarbeiten.“

„Ich glaube, ich hätte da schon mal eine herausfordernde Idee...“

Das einzige was Lucas gerade herausforderte waren zahlreiche Kommentare von ringsum.

„Oh nein, Lucas. Nicht schon wieder eine von deinen Ideen.“

„Warum nicht? Laß ihn doch mal ausreden.“

„Beim letzten Mal hat es auch geklappt.“

„Darf ich dann der Kampfmagier sein?“

Alle schwiegen und drehten sich zu Michael. Lucas drehte sich zu ihm.

„Was hast du gerade gesagt?“

„Na ja. Wir haben doch damals alle deine Astralsicht benutzt. Geht doch auch bestimmt mit anderen Zaubern.“

„Eh, das ist es. Da müssen wir unbedingt drüber…“

„Ich bin noch nicht fertig.“

Kevin unterbrach Lucas in seinem Überschwang und sah zu Robin.

„Wusstest du eigentlich, dass es einen Fachleiter Gestaltwandel gibt?“

„Hä? Nein.“

„Alle Magieschulen haben einen Fachleiter, der die theoretischen und praktischen Aspekte jeder Schule betreut und beaufsichtigt. Durch eine paar Insiderinformationen habe ich erfahren, dass es auch für die Gestaltwandler einen Fachleiter gibt. Es ist ein einzelner Oberstleutnant mit einer Uniform wie die anderen Magier, nur mit orangefarbigen Abzeichen. Ich habe gestern mit ihm gesprochen.“

Lucas sah seinen Partner verblüfft an.

„Guck nicht so, sollte eine Überraschung werden. Alle Gestaltwandler haben die Möglichkeit, nach absolvieren einer speziellen Prüfung, ein Offizierspatent zu erhalten, allerdings machen die wenigsten davon Gebrauch.“

Robin war hochgeruckt und sah Kevin an.

„Was muss ich tun?“

„Es gibt vier vorgegebene Prüfungsfächer in Gestaltwandel, Theorie und Praxis, in Intelligence, Allgemeiner Truppenkunde und Aufbau und Struktur der heutigen Organisation. Dazu noch zwei freiwillige Fächer aus den Bereichen Militärkunde und Magietheorie.“

Robins Gesicht wurde immer länger.

„Gestaltwandel ist nicht das Problem, aber was ist Intelligence? Und wo lerne ich Magietheorie?“

Tobias schnellte hoch wie ein Schachtelkasper.

„Ist doch ganz einfach. Sieh dich um, ist alles hier.“

Er deutete auf die einzelnen Jungen, die jetzt interessiert aufsahen.

„Magietheorie? Frag Michael. Truppenkunde? Geh zu Lucas. Ordenskunde und moderne Organisation ist zum Beispiel mein Hobby. Und Intelligence haben wir auch erst gerade dazu bekommen. Du wirst mit uns zu den einzelnen Vorlesungen gehen können. Willkommen im Club der Anwärter.“


Für Robin wurde das Leben jetzt hektisch. Er besuchte die für ihn notwendigen Vorlesungen um danach von einer Kampfausbildung zur anderen zu hetzen, denn für alle drei Züge stand nur ein Gestaltwandler zur Verfügung.

Bei der Zusatzausbildung der Magier wurde schnell klar, dass die Astralmagier zwar die zusätzliche Fähigkeit der Verzauberung besaßen, aber sehr eng mit den Elementaren und Bannmagiern zusammenarbeiten mussten. Die Elementare schmolzen aus reinen Metallen mit Hilfe ihrer Magie sogenannte geläuterte Metalle. Aus diesen geläuterten Metallen konnte jeder begabte Schmied Gegenstände herstellen, in denen ein Astralmagier dann einen Anker einbringen konnte. Der Anker würde in dem Gegenstand verbleiben und ein Bannmagier konnte dann mit dem Zauber ‚Halten‘ jeden gerade gewirkten aktiven Zauber mit dem Anker verbinden, während der Astralmagier den Anker so lange offen hielt. Bei Zaubern anderer Schulen war natürlich auch noch ein entsprechender Magier von Nöten.

Auch Mineralien und Pflanzen konnten mittels Erdmagie geläutert werden und standen dann ebenfalls als Zubehör für die Erstellung von Artefakten zur Verfügung.

Lucas wurde schnell klar, dass er bei einem Ausbildungsabschnitt völlig versagen würde. Zum Glück wurden dort keine Prüfungen abgehalten, denn es ging um das Herstellen von Gegenständen, die dann verzaubert werden sollten. In der Hinsicht hatte Lucas zwei linke Hände.

Aus ihrem Zug gab es nur einen einzigen Anwärter, der handwerklich geschickt genug war, aus allen möglichen Materialien auch die entsprechenden Gegenstände herzustellen. Sein Lieblingswerkzeug war der Amboss.

Beide Astralmagier und auch Jannis standen um den Amboss herum, während Sven mit wuchtigen Schlägen das Metall bearbeitete. Es gab kein Schmiedefeuer, denn die Hitze für Verformung und gleichzeitige Läuterung erzeugte Sven selbst.

„Und was soll es werden?“

Sven grinste.

„Schlichtes Bandeisen. Das kann man dann weiterverarbeiten. Ganz normal sägen, fräsen, schleifen, was ihr wollt. Ihr könntet sogar eine Suppenkelle draus machen.“

Lars Meinhardt sah Sven ratlos an.

„Wozu das denn? Mit welchem Zauber sollte ich denn eine Suppenkelle belegen?“

Sven grinste noch breiter.

„Zum Beispiel einem Heilzauber. Da gibt es einen, der heißt ‚entgiften‘. Stell dir mal vor, die Kelle macht das, bevor du etwas daraus zu dir nimmst.“

„Oh.“

Zum Glück bestand die praktische Prüfung für die Zusatzausbildung lediglich in der Vorführung einer Läuterung für die Elementare und die Astralmagier mussten zwei Gegenstände mit Ankern versehen. Dann wurden die Gegenstände, zusammen mit einem Bannmagier, mit einem Zauberspruch versehen. Einmal mit einem aufrechtzuerhaltenden Zauber, in diesem Fall eine Energiebarriere und dann die schwierigere Version, diesmal ein Feuerball. Hier war es unbedingt wichtig, die Erstellung des Zaubers mittels Magieerkennung zu verfolgen und den Moment für die Verankerung abzupassen, wenn der Zauber aktiviert wurde. Schließlich sollte der Feuerball verankert werden und nicht den Speicher zerstören.

Für Kevin sah die Zusatzausbildung vollkommen anders aus. Es gab tatsächlich Philosophie, Meditation und Physiologie, allerdings nur am Beginn der Ausbildung.

Die Einweisung in die philosophischen Grundlagen verschiedener Schulen fand Kevin ja noch interessant, bei Meditation hatte er erheblich mehr Schwierigkeiten. Es war eben nicht jedermanns Sache, seinen Geist zu leeren und an nichts zu denken. Oder sich zumindest nicht ablenken zu lassen.

Physiologie war da schon spannender. Kevin war ebenso überrascht wie die meisten seiner Mitschüler, dass Timo den Unterricht in Physiologie abhielt und zwar mit theoretischen wie auch praktischen Anteilen.

Der abschließende Teil fand in der Ausbildungshalle statt und wurde erstaunlicherweise durch den Fachleiter Astralmagie unterrichtet. Er zeigte den jungen Männern, wie sie ihr aufgebautes Mana in den eigenen Körper umleiten konnten. Hier wurden sie selbst zum Ziel. Nur durch den eigenen Willen gesteuert, wurden die natürlichen Fähigkeiten ihres Körpers verändert. Es gab nur wenige Veränderungen und bei jedem Kampfmagier schien die Kombination eine andere zu sein.

„Also meine Herren! Denken Sie daran: Das, was Sie in den letzten Tagen Ihrem Körper abgerungen haben, sind eigentlich passive Fähigkeiten. Sie aktivieren sich immer dann von alleine, wenn ihr Unterbewusstsein meint, sie könnten jetzt benötigt werden. Es liegt meist an den Aktionen die Sie gerade ausführen. Wenn Ihre antrainierten körperlichen Fähigkeiten nicht mehr als ausreichend angesehen werden, werden die passiven Kampffähigkeiten aktiviert. Aber denken Sie daran, es wird auch jedes Mal Mana dabei verbraucht. Wer versucht, während eines Kampfes wie ein Grashüpfer herumzuspringen und dann auch noch Energieblitze zu schleudern, darf sich über einen starken Entzug nicht wundern. Versuchen Sie, Ihre Fähigkeiten so effektiv wie möglich einzusetzen.“

Kevin lehnte sich entspannt zurück und sah nach links zu Rafael. Im Gegensatz zu ihm hatte Rafi es geschafft, drei der vier möglichen Fähigkeiten zu erlernen.

Geschärfte Sinne war die wohl einfachste Fähigkeit. Sie erlaubte, alle fünf Sinne intensiver wahrzunehmen.

Eine erhöhte Körperbeherrschung führte zu größerer Körperlicher Leistung, verbrauchte aber auch das meiste Mana.

Eine gesteigerte Reaktionsfähigkeit führte zu schnelleren körperlichen Handlungen.

Kevin seufzte innerlich. Er hatte es weder bewerkstelligt, seine Sinne zu schärfen, noch war er zu größerer körperlicher Leistung gekommen, lediglich seine Reaktion hatte sich deutlich verbessert.

Im Gegensatz zu allen anderen seiner Mitschüler hatte er es jedoch geschafft, die seltenste der vier Fähigkeiten zu entwickeln, den Kampfsinn.

Der Kampfsinn meldete sich immer dann, wenn sein Unterbewusstsein aus seiner momentanen Lage und aus allen verfügbaren Informationen ein Lagebild erstellte und ihn auf Grund dessen reagieren ließ. Das führte dann bei einem praktischen Ausbildungsanteil dazu, dass er sich während des Nahkampfs umdrehte und zuschlug, obwohl er die Annäherung eines Gegners nicht bewusst wahrgenommen hatte.

Nach Abschluss der Zusatzausbildung kamen dann auch die Prüfungen in allen anderen magischen und militärischen Fächern. Zur Erleichterung aller, gab es nur ein einziges Fach mit einer praktischen Prüfung, nämlich Formaldienst. Lediglich Robin hatte zwei praktische Anteile, er musste noch in Gestaltwandel einen Parcours in seiner Halbform überwinden. Der theoretische Anteil bestand bei ihm in einer Ausarbeitung über das Thema: Kommunikation während des Gefechts.

Alles in allem hatten die Jungen ein gutes Gefühl, nachdem die vorgegeben Prüfungsthemen abgeschlossen waren. Jetzt fehlten nur noch die freien Vorführungen. Die ersten, die es traf, waren Michael und Lucien. Als sie die große Trainingshalle betraten, sahen sie das Prüfungskomitee an einer langen Tischreihe an der Stirnseite der Halle sitzen. Alle Fachleiter waren vertreten, in der Mitte saß Oberst Leutenberger. Jeder der Herren, außer dem Fachleiter Gestaltwandel, wurde von seinem Partner flankiert. Neben Oberst Leutenberger erkannte Michael einen sehr asiatisch aussehenden Oberst mit gelben Streifen.

„Anwärter Lehrke, Anwärter Nochterville. Beide Bannmagier, führen einen Doppelschild vor“, las Oberst Leutenberger von einem Blatt ab.

Michael nickte Lucien kurz zu, dann erstellten beide eine Barriere in Kuppelform. Die eine in rot, die andere in orange. Langsam verschoben sich die Kuppeln, bis sie übereinander lagen und die Farben ineinander übergingen. Nach etwa 20 Sekunden erlosch die Kuppel.

Die Prüfer sahen sich etwas ratlos an, bis der Fachleiter Bannmagie das Wort ergriff.

„Das war ja sehr schön, meine Herren, aber was war daran jetzt eine Vorführung wert?“

Michael sah zu ihm hinüber.

„Herr Oberstleutnant, es war das nicht sichtbare an dieser Barriere. Die Energiebarriere ist Stufe 2 und hat ein Energieniveau von 4, die physische Barriere ist Stufe 3 und hat ein Energieniveau von 9.“

Ungeduldig wedelte der Fachleiter mit der Hand. Das war alles Grundlagenwissen der Vorausbildung. Lediglich Lucien, der auch die anderen Prüfer beobachtete, sah, wie sich die beiden anwesenden Astralmagier leicht lächelnd zurücklehnten.

„Anstatt nun beide Barrieren aufrecht zu erhalten, haben wir ihre Matrix miteinander verwoben. Was Sie gesehen haben war eine Doppelbarriere mit einem Energieniveau von 6,5 die mit ihrer zweifachen Wirkung einfacher und länger aufrecht zu erhalten ist, als eine einfache physische Barriere.“

Der Fachleiter Bannmagie schnappte nach Luft.

„Sie wollen mir also sagen, Sie hätten die Erstellungsmatrix von zwei Barrieren geändert um sie miteinander zu verbinden? Dazu bedarf es einer Laboreinrichtung mit immenser Rechenkapazität.“

„Offensichtlich nicht.“

Der Astralmagier neben Oberst Leutenberger hatte sich erhoben und sah nach links zum Fachleiter Astralmagie, der zustimmend nickte.

„Wir haben beide die Strukturänderungen erkennen können. Sie waren etwas unausgeglichen, aber das ist in Anbetracht des Ausbildungsstandes durchaus vernachlässigbar.“

Michael schielte kurz zu Lucien, der nur starr geradeaus sah und nicht mal mit der Wimper zuckte.

„Meine Herren, ich möchte Sie bitten, die für die Veränderungen zugrunde gelegten Berechnungen dem Prüfungskomitee nach der Sitzung einzureichen. Vielen Dank.“

Auf einen präzisen militärischen Gruß folgte eine ebenso präzise Kehrtwendung und die beiden Anwärter marschierten nebeneinander aus der Trainingshalle. Draußen angekommen bogen sie um die Ecke und als sie außer Sichtweite waren, fiel Lucien Michael um den Hals.

„Wir haben es geschafft!“

„Noch nicht. Der Fachleiter war ganz schön angepisst. Der wird wahrscheinlich Tag und Nacht nach Fehlern suchen.“

„Das ist mir egal. Wir sind durch mit den Prüfungen. Jetzt heißt es nur noch hoffen auf eine möglichst gute Punktzahl.“

Die nächsten waren Tobias, Rafael und Lucas.

„Anwärter Kerner, Anwärter Diberg und Anwärter Lanz-Ravensberg. Der Astralmagier wird einen Energieblitz auf einen Panzer werfen.“

Alle anwesenden Kampfmagier beugten sich interessiert vor, während Oberst Leutenberger seinem Partner einen wissenden Blick zuwarf.

„Herr von Lanz-Ravensberg, ist es richtig, dass keiner der beiden anwesenden Kampfmagier Ihr Partner ist?“

„Jawohl, Herr Oberstleutnant.“

Lucas sah zu, wie der Fachleiter Kampfmagie sich mit unbewegtem Gesicht eine Notiz machte.

Lucas und Tobias legten ihre Jacken und Hemden ab und standen mit nacktem Oberkörper nebeneinander, Tobias links neben Lucas. Rafael hatte sich etwa fünf Meter entfernt. Als um Rafael herum das gelbe Leuchten eines Panzers erschien, legte Tobias Lucas seine flache rechte Hand zwischen die Schulterblätter. Lucas hob seinen rechten Arm und ein grüner Blitz brach daraus hervor, der Rafael traf, aber vom Panzer funkensprühend verteilt wurde.

„Vielen Dank, meine Herren. Sie können sich wieder anziehen. Irgendwelche Fragen an die Prüflinge?“

Der Fachleiter Kampfmagie winkte nur ab, aber ein anderer Kampfmagier hob kurz die Hand.

„Wie bitte, kommt es denn zu der Übertragung? Und warum braucht man dazu Körperkontakt?“

Als erster antwortete Lucas.

„Herr Oberstleutnant, ich habe die Erstellungsmatrix mittels Magieerkennung aufgerufen. Nach der Identifizierung endet normalerweise dieser Zauber, doch durch den Körperkontakt besteht ein dauerhafter Informationsfluss.“

Tobias fuhr fort.

„Ich musste die Erstellungsmatrix für den Energieblitz dauerhaft aufrechterhalten. Die übertragene Information und die Energie des Blitzes stammen von mir. Der Astralmagier war lediglich eine Durchleitung. Wir haben einige Tests gemacht und es funktioniert für alle Zauber die normalerweise nicht aufrecht zu erhalten sind und zwar bei allen Magieschulen.“

Einige der Prüfer machten sich Notizen, aber keiner schien mehr eine Frage zu haben.

Tobias, Rafael und Lucas marschierten nach dem Zeremoniell nach draußen.

„Was war das? Keine Fragen mehr?“

„Ganz ruhig, Toby. Hast du den Alten gesehen, wie er mit seinem Partner nur einen kurzen Blick gewechselt hat? Die haben das hundertprozentig auch schon durchgezogen. Ich nehme an, alles was wir hier vorführen, ist schon mehr oder weniger bekannt. Das ist wieder die alte Masche, die wollen sehen, wieviel wir selbst herausfinden können.“

„Hoffentlich hast du Recht.“

Die letzten beiden am heutigen Vormittag waren Kevin und Robin. Kevin in seiner schwarzen Dienstuniform mit einer kleinen Tasche und Robin in einem orangefarbenen Overall.

„Anwärter Böttcher, Anwärter Wolff. Sie werden uns eine Form der Kommunikation zwischen Einsatzleiter und Gestaltwandler demonstrieren.“

Einige der Prüfer warfen erstaunt einen Blick auf ihre Unterlagen, weil Robin ebenfalls als Anwärter bezeichnet worden war. Anscheinend hatten sie die Teilnehmerlisten nicht genau genug studiert.

Robin zog seinen Overall aus und verwandelte sich in seine Halbform. Selbst bei den schon sehr erfahrenen Kampfmagiern konnte man eine gewisse unterdrückte Abwehrhaltung erkennen. Kevin ging jetzt auf Robin zu und blieb etwa drei Schritte vor ihm stehen. Der Werwolf überragte ihn um fast einen halben Meter und sah auf ihn herab. Während der Annäherung hatte sich der Fachleiter Gestaltwandel unbewusst von seinem Platz erhoben. Fast alle im Raum hielten den Atem an.

„Hallo, Robin. Ich bin’s“, flüsterte Kevin, worauf der Werwolf sich vorbeugte. Kevin zog aus der mitgebrachten Tasche ein breites Halsband und legte es Robin an, dann trat er wieder mehrere Schritte zurück.

„Lautsprecher, bitte.“

Die Techniker der Halle schalteten eine vorbereitete Funkfrequenz auf die Hallenanlage.

„Robin, sieh mich an!“

Der Kopf des Werwolfs zuckte herum zu Kevin und er knurrte laut, was durch die Lautsprecher noch verstärkt wurde. Kevin deutete mit ausgestrecktem Arm auf die von ihm aus links gesehene Hallenwand. Durch das Knurren hörte man deutlich tiefe kehlige Laute die ein langgezogenes

„Rrrrrrechtssss“, erkennen ließen. Da Robin vor Kevin stand, war die gezeigte Seite für ihn rechts. Kevin wechselte den Arm.

„Üüüüüünks.“

Jetzt deutete er auf dem Fußboden.

„Nnnnnnteenn.“

Kevin sah Robin wieder ins Gesicht. Laut und deutlich formulierte er, „End of Exercise!“

Der Werwolf senkte den Kopf und begann mit der Rückverwandlung. Kevin nahm dem, wieder in seiner menschlichen Form, vor ihm stehenden Robin das Halsband ab und reichte ihm seinen Overall.

Der Fachleiter Gestaltwandel stand immer noch, hatte die Arme gekreuzt und sah die beiden Prüflinge nachdenklich an. Ein Kampfmagier hob die Hand und Oberst Leutenberger nickte.

„Was hat es bitte mit dem Halsband auf sich?“

Kevin hob das breite Lederhalsband hoch und zeigte auf einen Sensor.

„Wir haben durch längere Recherchen und eigene Untersuchungen herausgefunden, dass Gestaltwandler, in diesem Fall speziell Werwölfe, bei der Umwandlung nicht alle anatomischen Einzelheiten mitnehmen. Am Auffälligsten ist wohl das Fehlen der Genitalien, die im Kampf ohnehin äußerst hinderlich und gefährdet wären. Aber auch andere Körperteile, zum Beispiel der Kehlkopf, fehlen. Das ist der Grund, warum eine Halbform nicht sprechen kann.“

Der Fachleiter Gestaltwandel nickte bei den Ausführungen zustimmend und Robin war wieder rot geworden bei der Erwähnung seiner Genitalien.

„Wir haben ein Gerät modifiziert, das für Menschen mit operativ entferntem Kehlkopf entwickelt wurde, damit diese noch mit ihrem Umfeld sprechen können.“

Kevin sah jetzt Robin an, der weitere Erklärungen gab.

„Das sprechen mit dem Stimmverstärker bedarf einiger Übung. Die Laute werden im Rachenraum gebildet und man muss beim Sprechen aufpassen, die Schnauze geschlossen zu halten. Die tiefen Vokale O und U sind am schlechtesten darzustellen. Außerdem bedarf es dazu einiger Konzentration, kann also nur bedingt mitten im Gefecht verwendet werden.“

Der Kampfmagier nickte und machte sich Notizen, während der Fachleiter Gestaltwandel die beiden immer noch nachdenklich betrachtete, sich dann aber an seine Kollegen wandte.

„Meine Herren. Was mich am meisten beeindruckt hat war nicht die Technik, sondern die Interaktion eines Menschen mit einer Halbform. Wie die meisten von ihnen wissen, verliert die Halbform nach der Verwandlung einen großen Teil seiner sozialen Kompetenz. Er ist nur noch auf Kampf eingestellt und muss durch Konditionierung dazu gebracht werden, Freund und Feind zu unterscheiden. Ich hätte es nicht gewagt, in meiner menschlichen Form mich einer Halbform derart anzunähern, geschweige denn, ihr ein Halsband anzulegen. Anwärter Böttcher, wie erklären Sie die Situation?“

Kevin musste ein Grinsen mit aller Macht unterdrücken. Der Fachleiter Gestaltwandel hatte ihm angedeutet, dass eine solche Frage von ihm kommen würde und er die Gelegenheit haben würde, die Beziehungen zwischen Menschen und Werwölfen zu intensivieren.

„Jawohl, Herr Oberstleutnant. Die Erklärung ist etwas kompliziert. Mein Partner und ich sind eine Freundschaft mit Anwärter Wolff eingegangen, die darin mündete, dass wir nun in einer Beziehung zu dritt miteinander leben.“

Es wurden zwar einige Augenbrauen gehoben, doch nicht ein einziger Kommentar erfolgte. Die Beziehung der drei war inzwischen ja auch fast Allgemeinwissen innerhalb der Anlage.

„Dadurch, dass wir bereits eine sehr gute freundschaftliche Beziehung zu den Anwärtern Diberg und Lehrke hatten, ergab sich eine Gemeinschaft von fünf Personen, die zusammen leben und arbeiten. Wir haben, um das mit den Worten von Anwärter Lehrke zu formulieren, ein Wolfsrudel gebildet, in das jeder von uns fünf integriert ist. Der Werwolf erkennt auch in seiner Halbform alle vier anderen Mitglieder seines Rudels.“

Kevin bemühte sich, ebenso wie Robin, einen unbewegten Gesichtsausdruck beizubehalten, während sich jetzt Oberst Leutenberger etwas nach vorne lehnte.

„Vielen Dank, meine Herren. Ich möchte Sie bitten, die Daten, die Ihren Ausführungen zugrunde liegen, dem Prüfungskomitee zukommen zu lassen.“

Kevin grüßte militärisch und machte eine Kehrtwendung, während Robin sich lediglich umdrehte. Nur im Overall und barfuß hätte alles andere etwas merkwürdig ausgesehen.

Am Abend lagen die Herren Prüflinge im Sportzeug auf der großen Matte.

„Mon Dieu. Wenn wir dabei mal nicht übertrieben haben.“

„Lucien. Wir haben fast zwei Monate an den bescheuerten Berechnungen gesessen. Wir haben die Durchführung geübt und wir haben die Vorführung sauber hinbekommen. Die Unterlagen umfassen fast zweihundert Seiten. Wir haben ihnen gezeigt was wir können, das war es, was sie sehen wollten.“

Lucien seufzte, dann grinste er schwach und beugte sich hinüber um Michael zu küssen. Der Kuss dauerte eine ganze Zeit und Tobias schielte stirnrunzelnd hinüber. Eine Berührung an der Wange ließ ihn herumfahren und er sah Rafael in die Augen. Mit einem leichten Lächeln beugte er sich zu ihm und ließ sich ebenfalls ins Land der Küsse entführen.

Robin lag zwischen Kevin und Lucas. Alle drei lagen auf dem Rücken und sahen hoch zur Kellerdecke.

„So, so. Meine Genitalien sind also hinderlich.“

Kevin grinste und drehte sich zu Robin.

„Oh, nicht in allen Situationen.“

Damit fuhr er Robin über den Bauch und seine Hand verschwand in dessen Sporthose. Lucas sah den beiden zu, während sein Blick kurz über die anderen glitt. Rafael hatte Tobias von seinem Hemd befreit, während Lucien bei Michael schon erheblich weiter war.

Was war aus ihnen eigentlich innerhalb der letzten drei Jahre geworden? Ihr Leben hatte sich mit der Magie verändert und die Ansichten über Sexualität, Beziehungen, Vorurteile und andere soziale Gegebenheiten hatten sich deutlich verschoben gegenüber dem, was ihnen in Schule und Familie beigebracht worden war.

Lucas wurde aus seinen Gedanken gerissen, als von einem der Paare gegenüber ein leiser Schrei und dann Stöhnen zu hören war, während Kevin munter an dem jetzt nackten Robin herumknabberte. Was hatte Lucas mal auf einer amerikanischen Militärseite im Internet gelesen? Fight together - fuck together. Ha! Entschlossen streifte auch er jetzt seine Sachen ab.


Die Abschlusszeremonie war ein wenig unspektakulär. Sie fand ebenfalls in der Trainingshalle statt, weil diese der einzige Raum war, der Platz genug dafür bot.

An einer der Längsseiten waren die Anwärter in ihren schwarzen Dienstuniformen mit den farbigen Dienstgradabzeichen zugweise angetreten. Ganz links der Kompaniechef oder besser, die beiden Kompaniechefs, denn in der Befehlshierarchie waren beide Partner gleichberechtigte Chefs der Einheit. Dahinter die beiden Stellvertreter. Gleich daneben der zur Kompaniegruppe gehörende Heiler mit seinem Partner. Dann kamen jeweils die drei Züge. Zuerst die beiden Zugführer und dahinter ihre beiden Stellvertreter. Dann die beiden Paare mit den Astralmagiern, dahinter jeweils ein Paar Bannmagier, dann wieder zwei Paare Elementarmagier mit dahinter stehenden Bannmagiern.

Lediglich beim B-Zug stand zwischen den Zugführern und dem ersten Astralmagierpaar noch ein einzelner junger Mann in der schwarzen Uniform der Anwärter mit einem schmalen orangefarbenen Streifen.

Auf der gegenüberliegenden Seite hatten sich die geladenen Gäste und Zuschauer versammelt. Lucas erkannte unter den Wenigen, für die Sitzplätze reserviert waren, mindestens zwei Generäle.

Oberst Leutenberger trat, gefolgt von seinem Partner, an das Vortragspult.

„Sehr geehrte Herren, liebe Gäste. Ich freue mich, Sie heute zur Abschlussfeier unseres Offiziersseminars begrüßen zu dürfen. Als Ehrengäste begrüße ich insbesondere Herrn Generalmajor Hofstätter, den Befehlshaber der Division Westeuropa und Herrn Brigadegeneral Holm, den G-2 der Division.“

Lucas scannte kurz durch die Reihen, aber anscheinend waren die Herren ohne ihre Partner erschienen. Merkwürdig. Er wunderte sich ein wenig, was der G-2, also der Abteilungsleiter der Intelligence-Abteilung hier machte.

„Ich möchte nicht viele Worte machen. Ich freue mich, dass alle Lehrgangsteilnehmer die Hürden überwunden und sich für die Ernennung zum Offizier qualifiziert haben. Mit Ablauf dieses Tages sind alle Anwärter der magischen Schulen in den Dienstgrad eines Leutnants übernommen. In jeder einzelnen Magieschule wurden hervorragende Leistungen erbracht und ich erlaube mir nun, die besten Ergebnisse auszuzeichnen. Beginnen wir mit den Kampfmagiern. Ich bitte vorzutreten Anwärter Kuroschenko.“

Aus dem A-Zug löste sich ein großer blonder Junge mit roten Abzeichen und grüßte militärisch.

„Anwärter Kuroschenko hat die höchste Punktzahl in Kampfmagie erreicht und erhält die Qualifikation Outstanding. Die Auszeichnung wir durch Oberst Park überreicht.“

Der Partner von Oberst Leutenberger trat vor und überreichte dem Kampfmagier eine kleine Rolle mit einem Siegel und eine kleine Schachtel.

Nach einem Gruß trat der Anwärter wieder in seine Formation.

„Für die Astralmagier darf ich bitten vorzutreten den Anwärter Lanz-Ravensberg.“

Lucas ging nach vorne und grüßte wie vorgeschrieben. Auch hier der gleiche Ablauf. Als Lucas wieder in seiner Reihe stand schielte er auf das kleine dunkelblaue Schächtelchen, wagte es aber nicht, sich großartig zu bewegen.

Der nächste der nach vorne durfte war ein Elementarmagier des A-Zuges.

Dann folgte Michael für die Bannmagier.

Zur eigenen Überraschung durfte dann auch Timo nach vorne.

„Anwärter Mavelli ist zwar ein Einzelkämpfer, was die Ausbildung betrifft, dennoch hat er eine entsprechend hohe Punktzahl erreicht. Zum anderen wurde sein Arbeitsbeitrag bei der Erstellung eines praktischen Vortrags von anatomischen Besonderheiten bei Gestaltwandlern berücksichtigt.“

Ein leichtes Raunen lief durch die Reihen als Timo seine Auszeichnung erhielt.

„Nun kommen wir zur Auszeichnung für militärisch-taktische Fähigkeit. Ich bitte vorzutreten den Anwärter Böttcher.“

Kevin trat etwas nervös vor den Leiter.

„Anwärter Böttcher hat einen kompletten Zug durch eine Gefechtssimulation geführt, die in ihrer Gesamtheit für einen erheblich höheren Ausbildungsstand vorgesehen war. Er hat seinen Zug vorausschauend, taktisch einwandfrei und äußerst effektiv geführt um ihn ohne Verluste zurückzubringen. Er erhält dafür die Qualifikation Outstanding.“

Kevin war vor Verlegenheit rot geworden, als ihm Oberst Park die Auszeichnung überreichte.

Oberst Leutenberger wartete etwas, bis Kevin wieder eingetreten war, als er noch einmal das Wort ergriff.

„Ich freue mich besonders, dass in dem diesjährigen Lehrgang ein junger Mann den Willen und das Können aufgebracht hat, um sich eine Ernennung zu verdienen. Sein Wille zur Zusammenarbeit und die ungebrochene Bereitschaft seiner engsten Kameraden haben ihm ermöglicht, die Prüfungen abzulegen, wobei er die Qualifikation Exzellent erreicht hat. Ich bitte vorzutreten, den Anwärter Wolff.“

Robin trat vor und salutierte so zackig, dass die Hand vibrierte.

„Im Namen des Exekutivrates ernenne ich den Anwärter Robin Wolff mit sofortiger Wirkung zum Leutnant des Gestaltwandler-Corps.“

Vor Freude strahlend nahm Robin die Urkunde von Oberst Park entgegen, dann marschierte er ebenso zackig wieder zurück zu seinem Platz.

„Der offizielle Teil ist hiermit abgeschlossen. Ich darf alle Anwesenden noch zu einem kleinen Umtrunk im Foyer des Unterrichtsgebäudes einladen. Ach so, beinahe hätte ich es vergessen. Die Versetzungen zu den neuen Dienststellen werden heute Nachmittag im Intranet zugestellt. Guten Tag.“

Nachdem sich die Formationen ordnungsgemäß aufgelöst hatten, sammelte sich eine ganze Traube um Kevin, Lucas und Robin.

Lucien konnte sich wieder einmal nicht beherrschen und fuhr Robin durch die Haare.

„Eh, du warst so geil da vorne, ich möchte ein Kind von dir.“

Etliche lachten und Robin grinste schwach, doch Timo stellte sich jetzt mit ernster Miene neben Lucien und besah ihn von oben bis unten.

„Ehrlich? Wird ein bisschen schwierig, aber ich werde mal sehen, was ich da tun kann.“

Auf Luciens völlig entgeisterten Gesichtsausdruck folgte ein wahrer Lachsturm. Zwischen all den Leuten drängelte sich jetzt Tobias durch und baute sich in Grundstellung vor Robin auf.

„Muss ich jetzt Sie zu Ihnen sagen, Herr Leutnant?“

Ringsum sah man förmlich die Fragezeichen aufpoppen. Tobias gab seine Haltung auf und sah sich um.

„Der Leiter hat Robin mit sofortiger Wirkung befördert, uns aber erst nach Ablauf dieses Tages. Er ist einen Tag dienstälter als alle anderen Anwärter hier. Theoretisch hätte er jetzt bei uns das Kommando.“

Robin sah Tobias erstaunt an, dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck in Richtung hämisches Grinsen.

„Also, dann wollen wir mal. Als erstes…“

Sein Satz wurde abrupt durch eine Kitzelattacke von etlichen Händen beendet.


Am Nachmittag saß Kevin vor dem Rechner und surfte planlos durch das Intranet. Lucas saß auf dem Sofa und las einen seiner Lieblingsromane zum wiederholten Mal, während Robin sich auf dem Sofa eingerollt hatte, den Kopf auf Lucas‘ Schoß.

„Nun fummel da nicht die ganze Zeit rum. Die Versetzungen werden noch früh genug erscheinen.“

Kevin seufzte und stand auf. Etwas schwerfällig tappte er hinüber ins Badezimmer. Ohne die Augen zu öffnen fragte Robin

„Wo will er denn jetzt hin?“

„Kalt duschen.“

„Brrr.“

Nur wenige Sekunden später sprang die Haustür auf und Michael und Rafael stürmten förmlich herein.

„Wir haben sie.“

Lucas ließ sein Buch sinken.

„Was habt ihr?“

„Unsere Versetzungsverfügungen. Wir kommen zu Intelligence, Feindaufklärung Abteilung zwei.“

Lucas hob die Augenbrauen.

„Was war das nochmal?“

Robin öffnete die Augen, rührte sich aber nicht weiter.

„Feindaufklärung ist das Dezernat 1 in der G-2-Abteilung. Davon die Abteilung 2 ist die Feindaufklärung von geheimen Vereinigungen mit religiösem Charakter.“

Kevin hatte im Bad die Stimmen gehört und flitzte nun, nur mit einem Handtuch die Haare strubbelnd, zu ihrem Rechner.

„Da! Ich glaub‘s ja nicht!“

Lucas sah zu ihm hinüber und Robin richtete sich nun doch auf.

„Was glaubst du nicht?“

„Unsere Versetzungen. Alle drei. Intelligence. G-2 Eins-zwo.“

Alle fünf sahen sich kurz an, dann fielen sie sich jubelnd in die Arme.

Robin löste sich als erster und ging noch einmal hinüber zum Rechner. Dort rief er das Organigramm der G-2-Abteilung auf. Die gesamte G-2-Abteilung bestand aus vier Dezernaten, wobei Dezernat 1 die sogenannte Feindaufklärung war. Dieses Dezernat hatte wiederum vier Abteilungen.

„Hier. Abteilung zwei besteht aus einem Führungstrupp und sieben sogenannten Special Units. Das ist ja merkwürdig. Jede dieser Units besteht nichts aus vier, sondern aus sechs Mann. Und bei Bedarf jeweils einem Gestaltwandler. Wozu brauchen die denn sechs Mann im Einsatz?“

Michael kam näher, sah auf den Bildschirm und verpasste Robin ansatzlos einen leichten Schlag auf den Hinterkopf.

„Aua. Was denn?“

„Sieh wenigstens genau hin. Jede Special Unit besteht aus einem Astralmagier und zwei Bannmagiern. Wozu braucht man die hauptsächlich?“

„Äh? Ach so, für das Schließritual.“

„Richtig. Ich möchte nur gerne wissen…“

In der Zwischenzeit hatte Lucas sein Handy gezückt und eine Schnellwahltaste gedrückt.

„Und?“

Gespanntes Lauschen.

„Ja! Wir auch. Alle fünf. Bis gleich im Keller.“

Lucas steckte das Handy wieder weg und sah sich von vier neugierigen Augenpaaren umzingelt.

„Na, mit wem haben wir denn gerade telefoniert?“

Lucas grinste Kevin an.

„Mit deinem Lieblings-Bannmagier.“

Kevins Blick ruckte zu Michael, dann fiel bei ihm der Groschen.

„Lucien! Sie haben sie ebenfalls in die gleiche Einheit geschickt? Das hätte ich nicht gedacht.“

Nur ein paar Minuten später lagen alle sieben in unterschiedlichen Zuständen der Bekleidung auf der großen Matte.

„Oh, Mann. Womit haben wir das verdient?“

„Also ich sehe das eher als Strafe. Das ist doch sicher tödlich langweilig.“

„Immer noch besser, als in irgendeinem Bereitschaftszug auf einen Einsatz zu warten.“

„Was verstehen die eigentlich unter geheimen Vereinigungen mit religiösem Charakter?“

Michael hob den Kopf und sah Lucien strafend an.

„Hast du nicht aufgepasst im Unterricht? Es gibt die sogenannten öffentlichen Vereinigungen, das sind Sekten, Kirchen, gläubige Zusammenschlüsse, die ihre eigene Interpretation oder sogar selbstgemachte Religion öffentlich verbreiten, dafür werben und Mitglieder rekrutieren. Im Gegensatz dazu stehen die nicht öffentlichen, pseudoreligiösen Kulte, die im Verdacht stehen, Rituale, Beschwörungen oder andere Maßnahmen durchzuführen, die eine Toröffnung tatsächlich herbeiführen könnten.“

Robin grinste Michael an.

„War ja fast wie aus dem Lehrbuch.“

Lucas drehte sich zu Michael und musterte ihn nachdenklich.

„Also so etwas ähnliches wie das, dem du damals zum Opfer gefallen bist?“

Tobias und Lucien drehten Michael ihre Köpfe zu, wagten aber nicht zu fragen. Michael sah die fragenden Blicke und erzählte nun zum wiederholten Mal die Geschichte seiner ersten Begegnung mit den Dämonen.

Während Lucien noch versuchte, sich alles bildlich vorzustellen, war Tobias etwas weiter.

„Dann sind wir also diesmal die Jäger und nicht die Gejagten. Ich bin mal echt gespannt, wie da unsere Aufträge aussehen.“


Den letzten Abend verbrachte der gesamte B-Zug plus Heiler und Gestaltwandler in der Kantine. Lucas und Kevin hatten ein großes Abendessen organisiert. An einer großen, festlich gedeckten Tafel waren 19 Sitzplätze vorbereitet worden. Den einzelnen Platz am Kopfende erhielt der Dienstälteste Offizier, Leutnant Wolff. Links und rechts von ihm saßen Lucas und Kevin sich gegenüber. Daneben die anderen frischgebackenen Offiziere, jeweils immer gegenüber ihrem Partner.

Auf der Einladung hatte gestanden: Anzug Mess Dress.

Kevin hatte Lucas beim Ausdrucken der Einladungen fragend angesehen.

„Warum sollen wir denn in Uniform erscheinen? Ist doch unsere Privatveranstaltung.“

Lucas nickte zögernd.

„In gewisser Weise schon. Ich habe aber gedacht, es ist für alle die erste Gelegenheit sich einmal in Uniform zu präsentieren. Wir werden wahrscheinlich für lange Zeit keine Uniform tragen, die anderen höchsten den Patch-Suit bei den Einsätzen.“

„Okay, welcher ist denn der Mess Dress?“

„Das weiße Jackett. Schwarze Hose, Hemd in der Magiefarbe und weißer Querbinder.“

„Igitt. Wie sieht das denn aus?“

„Abwarten. Sind alle Uniformen von der Schneiderei wieder da?“

„Ja. Außerdem ein ganzer Stapel Ausrüstung. Unter anderem ein Patch-Suit für Robin. Wozu soll der denn gut sein?“

Lucas hob erstaunt die Augenbrauen.

„Keine Ahnung, aber irgendwer wird sich dabei schon was gedacht haben.“

Es waren tatsächlich alle im gewünschten Anzug erschienen und so mancher Blick wanderte noch den Ärmel hinunter zu dem einsamen farbigen Streifen, jetzt doppelt so breit wie vorher, mit einem darüber sitzenden, etwa sechs Zentimeter durchmessenden, gestickten Wappen der ersten Bruderschaft versehen, dem Hl. Michael, einen Drachen erschlagend.

Auf der Brust von einigen der jungen Leutnants prangten jetzt die Bänder der verliehenen Orden. Es gab violette Ordensbänder mit silbernen Abzeichen für die Gesamtleistung der militärischen Ausbildung in den Stufen Good, Excellent und Outstanding. Daneben die Ordensbänder in der jeweiligen Magiefarbe für fachbezogene Leistungen in den gleichen Stufen. Lediglich Lucas, Kevin, Michael und Rafael trugen noch ein himmelblaues Ordensband mit goldenem Streifen.

„Was ist das denn?“

Lucien sah neugierig auf Kevins Orden.

„Äh, das ist die Combat Medal.“

„Ihr habt eine Kampfauszeichnung? Ach ja, das war ja noch während der Vorausbildung. Da habt ihr ja auch den Battlescore bekommen.“

Etwas neidisch schielte Lucien auf Kevins violettes Band mit einer goldenen 4.

Eine richtig lustige Stimmung wollte nicht aufkommen. Sie wussten, dass sich einige unter ihnen wahrscheinlich nie wiedersehen würden. Das eine Jahr hier hatte eine Menge Freundschaften gestiftet und so manche neuen Erkenntnisse gebracht.

Timo und Sven waren einer der zahlreichen Bereitschaftskompanien zugeteilt worden. Ebenso Fabian und Thomas.

Marcus, Janis, Filip und Sebastian würden zurück in eines der beiden polnischen Bataillone gehen.

Das größte Rätsel jedoch waren nicht etwa die sieben, die zu Intelligence gehen sollten, sondern Lars Meinhardt und Hendrik Simonsen. Bei ihnen stand erstaunlicherweise auf der Versetzungsverfügung: Internatsverbund Haus Birkenstein, Ausbildungsunterstützung.

„Was habt ihr verbrochen, dass ihr Schüler scheuchen sollt?“

„Keine Ahnung. Wir haben alles durchgekaut. Die beiden wahrscheinlichsten Sachen sind meine miese Note in Sport und Hendrik war mal Jugendwart bei der Feuerwehr. Das sind unsere einzigen Qualifikationen.“

„Das glaube ich nicht. Ich nehme einen ganz anderen Grund an.“

Alle drehten sich zu Timo.

„Seht mal. Die ganze Zeit über, in Birkenstein und auch hier, habt ihr eure Arbeit getan und euch zurückgehalten. Ihr habt gute Leistungen erzielt, seid aber nie in den Vordergrund getreten. Ihr habt den Kampfeinsatz absolviert, aber nie in erster Reihe.“

„Na, ja. Wir mögen nicht so gerne im Rampenlicht stehen.“

„Und genau das wird dort gebraucht. Jemand der aus der zweiten Reihe beobachtet und bewertet. Jemand, der die Jungs machen lässt, auch wenn es manchmal in den Fingern juckt einzugreifen und sie mit der Nase drauf zu stoßen. Ich glaube, Lucas würde keine 24 Stunden dort überleben ohne alles und jeden zu organisieren und zu vereinnahmen.“

Lars sah Timo erstaunt an.

„Ja, ich denke das wäre der ideale Job für uns.“

Lucas schüttelte sich.

„Das wäre grausam. Ich würde da durchdrehen.“

Kevin hob sein Glas.

„Dann bin ich ja froh, dass die Personalabteilung uns besser kennt, als wir uns selber.“


Der nächste Tag brachte jede Menge Arbeit. Die Jungs packten ihre restlichen Klamotten in einen Rucksack und versuchten die Appartements wieder in einen ansehnlichen Zustand zurückzuversetzen. Am frühen Morgen hatte ein Gepäckservice alle Kleidungs- und Ausrüstungsgegenstände abgeholt, die nur in irgendeiner Weise auf ihre Ausbildung oder ihre Arbeit deuten konnten. Alle waren wieder und wieder ihre Besitztümer durchgegangen um nichts zu übersehen. Kevin sah nachdenklich auf seinen gepackten Rucksack.

„Ist doch merkwürdig, wie wenig wir doch selber besitzen. Die ganzen letzten drei Jahre meines Lebens passen in einen kleinen Rucksack.“

„Ich nehme an, das wird sich ab sofort ändern. Wir werden wohl unter ganz normalen Menschen leben und ganz normalen Berufen nachgehen müssen.“

Kevin sah Lucas niedergedrückt an.

„Warum hast du eigentlich nicht beim Berufsseminar teilgenommen?“

Lucas drehte sich um und sah zum Fenster hinaus.

„Weil ich hier bleiben werde. Ich erscheine jetzt vielleicht etwas ehrgeizig, aber hast du den General bei der Abschlussfeier gesehen? Ich schätze mal, der war noch keine vierzig.“

„Du willst wirklich General werden?“, kam es sichtlich erstaunt von Kevin.

„Nur, wenn du es auch willst. Wir haben in diesen ganzen aufregenden Monaten nicht wirklich über unsere Zukunft gesprochen. Willst du die Option wahrnehmen und mit vierzig den Dienst quittieren und ein anderes Leben anfangen?“

„Ich weiß nicht, was ich machen möchte. Das einzige was ich weiß ist, dass ich es mit dir machen möchte.“

Lucas lächelte breit und drehte sich zu Kevin. Zärtlich nahm er ihn in die Arme und küsste ihn.

„Wir wollen nur hoffen, dass das Schicksal uns nicht bei unseren Wünschen in den Hintern tritt.“

Ein heftiges Klopfen an der Tür signalisierte die Ankunft von Tobias und Lucien.

„Es geht los Jungs, der Wagen ist vorgefahren.“


Die Fahrt dauerte gut vier Stunden und endete vor einem Hochhaus in den Außenbezirken von Köln. Tobias legte den Kopf in den Nacken und studierte die Gebäudefront.

„SSC - Security Systems Cologne. Eine Sicherheitsfirma.“

„Irgendwie naheliegend“, grinste Michael, dann ging er voraus durch die große Drehtür. Im Inneren der großen Halle gab es ein Empfangsschalter mit zwei jungen Damen dahinter. Beim Anblick der sieben Jungs stießen sie sich unauffällig kichernd an, dann wurden ihre Gesichter professionell.

„Guten Tag, zu wem möchten Sie bitte?“

„Wir haben ein Vorstellungsgespräch bei Herrn Pleitner.“

Lucas legte alle sieben Einladungen auf den Schalter. Die Dame zur rechten sah mit großen Augen an ihm hoch, während sich die andere die Papiere schnappte.

„Das ist in Ordnung. Bitte nehmen Sie den Aufzug mit den gelben Markierungen und fahren Sie in den 12. Stock. Sie werden dann dort erwartet.“

„Vielen Dank.“

Lucas lächelte sie an und nahm die Papiere wieder an sich. Nach einem kurzen Rundblick steuerte er auf den bezeichneten Aufzug zu und die anderen folgten ihm in kurzem Abstand. Im Aufzug ging es in gemächlichem Tempo nach oben. Auf etwa der halben Strecke sah Lucas Rafael an und meinte etwas besorgt: „Geht es dir gut? Du siehst etwas gelb im Gesicht aus.“

„Nee, geht schon.“

Das abgesprochene Stichwort war ‚gelb‘, und jeder im Fahrstuhl wusste nun, dass sie astral überprüft worden waren.

Im 12. Stock öffneten sich die Türen und Lucas erkannte einen Angehörigen der hauseigenen Security. Er trug schwarze Jeans und ein schwarzes kurzärmeliges Hemd mit dem aufgestickten Schriftzug SSC. Im linken Ohr steckte etwas klischeehaft ein Ohrhörer mit einem Spiralkabel, das im Hemdkragen verschwand.

Ohne ein Wort deutete der Security-Mitarbeiter den Gang entlang und setzte sich dann an die Spitze der kleinen Gruppe. Er öffnete eine Bürotür und wies hinein. Im Vorbeigehen erhaschte Tobias noch einen Blick auf die Aufschrift der Tür: Sicherheitsmanagement.

In dem Büroraum stand nur ein großer Schreibtisch der mit einem jungen Mann besetzt war.

„Ah, die Neuzugänge. Der Major wird euch gleich empfangen. Bitte einmal dort drüben in den Konferenzraum.“

Aus den Äußerungen entnahm Kevin, dass die Tarnung hier drin anscheinend nicht mehr aufrechterhalten wurde. Sich neugierig umsehend, machten sie sich auf den Weg in den Konferenzraum. Darin stand ein großer runder Tisch mit zwölf Sitzplätzen.

Michael grinste.

„Die Tafelrunde. Warten wir nur noch auf König Artus.“

„Schon da“, erklang eine tiefe Stimme hinter ihnen und als Lucas sich umdrehte, sah er einen etwa 30 bis 35 Jahre alten Mann mit dunkelblonden Haaren in einem dreiteiligen Geschäftsanzug.

„Sie entschuldigen die Verspätung. Mein Name ist Heribert Pleitner und ich bin einer der stellvertretenden Direktoren dieser Firma. Außerdem bin ich, wie Sie vielleicht schon vermutet haben, Ihr vorgesetzter Offizier. Ich bin der Abteilungsleiter der Abteilung 2 im Dezernat für Feindaufklärung. Nehmen Sie bitte in beliebiger Reihenfolge Platz.“

Major Pleitner zog den am nächsten gelegenen Stuhl heran und setzte sich, während der Rest sich verteilte.

„Bevor ich Sie in einen Einsatz schicke, möchte ich Ihnen ein paar grundsätzliche und allgemeine Hinweise und Informationen geben.“

Betroffen sahen sich die Jungen der Reihe nach an. Das fing ja gut an.

„Ja, ich weiß, es ist schon wieder eine Umstellung, aber wir haben hier sehr hohe Standards die wir erfüllen müssen und wollen. Das erste und wichtigste ist, dass wir für unsere Leute eine wirklich überzeugende und wasserdichte Tarnung erstellen. Dies ist heutzutage gar nicht so einfach wie Sie vielleicht glauben. Jeder fühlt sich anscheinend dazu berufen, seine Nachbarn zu belauern oder auch nur neugierig auszuspähen. Jede kleinste Information wird sofort in irgendeinem sozialen Netzwerk breitgetreten. Deshalb dürfen Sie sich nicht wundern, wenn wir für Sie, wie auch alle anderen Trupps dieser Abteilung, etwas merkwürdig erscheinende Tarnungen ausgesucht haben.“

Bezeichnende Blicke liefen um den ganzen Tisch herum.

„Auf Grund der modernen Sicherheitstechniken und des hohen Erkennungsrisikos wird Ihr Einsatz in dieser Abteilung auf maximal ein Jahr beschränkt. Sollten sie vorher enttarnt werden, endet Ihre Zeit sofort.“

Major Pleitner sah einmal in die Runde, bis jeder zu erkennen gegeben hatte, dass er verstanden hatte.

„Gut. Dann Ihr Einsatzgebiet. Zunächst einmal muss ich wohl etwas zu der ziemlich schwerfälligen Beschreibung der ‚Gezielten Feindaufklärung geheimer Vereinigungen mit religiösem Charakter‘ sagen.“

Der Major suchte in einem kleinen Stapel Hefter, die er mitgebracht hatte, einen mit blauem Einband und schlug ihn auf. Dann sah er Michael an.

„Herr Lehrke, haben Sie etwas dagegen, wenn ich etwas aus Ihrer persönlichen Vergangenheit hier in diesem Kreis vortrage?“

„Kein Problem, Herr Major. Alle, die hier sitzen, kennen die Geschichte bereits.“

„Umso besser. Dann werde ich mich auf die Vor- und Nachgeschichte konzentrieren. Zuerst ein paar allgemeine Vorbemerkungen. Wie Sie dem Organigramm unserer Abteilung vielleicht entnommen haben, besteht diese aus sieben Einsatztrupps und einem Führungstrupp. Die Bezeichnungen mögen ein wenig irreführend sein, denn ein Einsatztrupp in dem Sinne, wie Sie ihn kennengelernt haben, sind Sie nicht. Unsere sieben Einsatztrupps sind quer über ganz Westeuropa verteilt. Sie befinden sich in Schweden, Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien. Damit decken wir den gesamten Einzugsbereich der Division Westeuropa ab.“

Die Jungen sahen sich betroffen an und der Major lächelte dünn.

„Der Führungstrupp besteht aus mir und meinem Partner und einem jungen dynamischen Paar Leutnants, wovon Sie einen bereits im Vorzimmer gesehen haben. Wir vier koordinieren hier alle Einsätze der Trupps in ganz Westeuropa.“

Lucien sah den Major an und murmelte

„Nicht wirklich.“

Was ihm einen Rippenstoß von Tobias einbrachte und einen spöttischen Blick seines Abteilungsleiters.

„Doch wirklich. Damit das auch funktioniert, gibt es quer durch alle Staaten verteilt sogenannte ‚Stille Beobachter‘. Meistens ehemalige Magier, die sich entschlossen haben, ein Leben für sich selbst zu führen oder wenige Eingeweihte, die aus den unterschiedlichsten Gründen von unserer Organisation wissen und sie unterstützen.“

Kevin wurde sofort an Pater Anselm erinnert, der ein Leben als Gemeindepriester gewählt hatte.

„In Ihrem Fall, Herr Lehrke, war es ein Mitarbeiter in Berlin, der einen Tattoo-Shop betreibt. Bei Ihrem Besuch hat er Ihre latente Begabung erkannt und sich impulsiv dazu entschlossen, sie mit einem Zauberspeicher zu versehen. Das ist normalerweise nicht üblich, aber der Mann hat bei der anschließenden Befragung keine rationale Erklärung dafür gehabt. Wir sehen so etwas als unbewusste Äußerung eines sogenannten magischen Unterbewusstseins an, das wir dann auch nicht weiter in Frage stellen.“

„Huh? Magisches Unterbewusstsein?“

„Ja, es wird wahrscheinlich gleich noch viel komplizierter. Jedenfalls wurde Herr Lehrke dann unter Vorspiegelung falscher Tatsachen entführt.“

„So kann man das auch nennen.“

„Wir kommen jetzt zum Hintergrund einer geheimen Vereinigung mit religiösem Charakter. Die Formulierung ist möglicherweise etwas unglücklich, trifft aber den Kern der Sache. Fast jede Beschwörung, die mit der Öffnung eines Tores endet, hat einen religiösen Charakter. Das kommt daher, dass unser Verständnis von Gut und Böse auf unserer Religion beruht. Ich muss, wenn ich etwas Böses beschwören will, mich von den Lehren einer ‚guten Religion‘ abwenden und sie ins Gegenteil verkehren. Das kann am einfachsten durch äußerliche Rituale passieren, die denen meiner Religion konträr gegenüberstehen, bis hin zu Handlungen, die die Grundwerte meiner Religion erschüttern.“

Michael nickte langsam.

„Also alles, von schwarzer Messe bis hin zum Menschenopfer.“

„Wenn Sie so wollen, ja. In Ihrem Fall war es eine Vereinigung die sich ‚Gläubige Brüder einer neuen Weltordnung‘ nannte. Vereinigungen mit solchen oder ähnlichen Namen gibt es Dutzende, aber nur wenige sind willens oder gar in der Lage, einen Dämon tatsächlich erscheinen zu lassen. Ihre Aufgabe, meine Herren, besteht darin, solche Gemeinschaften, Vereinigungen oder Vereine zu untersuchen und zu beurteilen, ob sie eine tatsächliche Gefahr darstellen. Die Informationen über eventuell in Frage kommende Vereinigungen bekommen wir übrigens zum größten Teil aus der Abteilung 1 - öffentliche religiöse Vereinigungen. Sie persönlich werden in den wenigsten Fällen tatsächlich in einen aktiven Einsatz vor Ort gehen, denn Ihre Tarnung ist wichtiger als ein Einsatz. Sie machen die Aufklärungsarbeit.“

Kevin und Lucas sahen sich etwas betreten an. Damit hatte keiner von ihnen gerechnet.

„Ja und nun zum Schluß meiner Ausführungen ein paar Worte zu Ihrer neuen Tarnidentität. Wir wollten Sie auf jeden Fall zusammen lassen und so etwas schränkt natürlich die Möglichkeiten stark ein. Wir hoffen, dass mit unserer Auswahl Ihre persönlichen religiösen Gefühle nicht zu sehr verletzt werden, denn Sie sind die neuen Teilnehmer eines Laienseminars für Christliche Spiritualität.“

Kevin sah erstaunt auf und blickte kurz die Reihe durch.

„Wer ist katholisch?“

Erstaunlicher Weise hoben außer Kevin noch Rafael, Tobias und Lucien die Hand.

Lucas, Michael und Robin sahen sich überrascht an.

„Hey, wir sind eine Minderheit. Ich muss doch da nicht den ganzen Tag beten oder?“

Lucien grinste Robin abschätzend an.

„Würde dir wahrscheinlich auch nichts schaden.“

„Meine Herren. Wie gesagt, dieses Seminar ist eine Tarnidentität. Das Seminar ist in einer Villa am Stadtrand von Köln untergebracht und hat sogar einen Seminarleiter. Es ist einer unserer ‚Stillen Beobachter‘, der sich einverstanden erklärt hat, für dieses Jahr in den aktiven Dienst zurückzukehren. Herr Böttcher, Sie sollten ihn eigentlich kennen.“

Der Major wandte sich zur Tür und rief seinem Mitarbeiter zu

„Du kannst bitte Herrn Oberst Waldersee hereinschicken.“

Kevin stutzte. Er kannte keinen Oberst und schon gar keinen Oberst Waldersee. Doch den Besitzer der schwarzen Kutte, der gerade durch die Tür trat, den kannte er. Kevin sprang auf und lief los.

„Pater Anselm!“


Das Wiedersehen mit Pater Anselm hatte nicht nur Kevin überrascht. Auch die anderen Mitglieder der kleinen Truppe waren erstaunt, kannten sie doch den Pater aus Kevins zahlreichen Erzählungen.

Nach einer herzlichen Begrüßung versammelten sich alle noch einmal um den Konferenztisch.

Major Pleitner schob dem Pater einen Stapel mit Unterlagen zu und nickte in die Runde.

„Meine Herren, ich werde mich nun verabschieden. Herr Oberst Waldersee ist nun sozusagen Ihr Betreuer. Vor Ort wird er Sie in die logistische und technische Unterstützung einweisen und Ihnen bei der Tarnung helfen. Die taktische Einsatzleitung liegt allerdings ausschließlich in den Händen Ihres Einheitsführers.“

Betroffen und etwas unsicher sahen sich die Jungen an, bis Lucien es nicht mehr aushielt.

„Und wer, bitte, ist unser Einheitsführer?“

Mit einem breiten Grinsen warf Major Pleitner den letzten vor ihm liegenden Umschlag über den Tisch, so dass er direkt vor Kevin liegen blieb.

„Der Herr Leutnant Böttcher hat die Ehre. So, ich muss los, hab noch ´ne Menge zu koordinieren.“

Bevor jemand reagieren konnte, hatte sich der Major erhoben und war mit schnellen Schritten durch die Tür verschwunden.

Völlig verwirrt starrte Kevin auf den unscheinbaren Umschlag vor ihm.

„Was? Wer… warum… ich habe doch gar nicht…“

In das unangenehme Schweigen schnitt eine energische Stimme.

„Herzlichen Glückwunsch, Kevin. Ein interessanter Vertrauensbeweis unserer Führung.“

Dann wurde die Stimme sanfter.

„Würdest du mir dann bitte deine Truppe vorstellen?“

Kevins Kopf ruckte hoch und er sah Pater Anselm an, als ob er ihn noch nie zuvor gesehen hätte. Wirre Gedanken schossen durch seinen Kopf, doch er erhob sich von seinem Platz und sah in Richtung des Paters.

„Jawohl, Herr Oberst. Ich möchte…“

Kevin stoppte, denn der Pater hatte sofort eine Hand gehoben.

„Bitte, zuerst ein paar grundlegende Informationen und eine Bitte meinerseits.“

„Ich bin als Betreuer und Beobachter für das zivile Umfeld der Einheit eingesetzt worden. Ich habe hier weder einen militärischen Rang, noch habe ich Einfluss auf irgendwelche taktischen Entscheidungen. Deshalb bitte ich darum, mich auch weiterhin als Pater Anselm anzusprechen. Erstens reagiere ich darauf besser und zweitens ist es einfacher, die Tarnung aufrecht zu erhalten. Ich werde euch, wie in diesen Seminaren üblich, mit dem Vornamen ansprechen. Jemand dazu Fragen?“

Es war diesmal ausnahmsweise nicht Lucien, sondern Kevin.

„Nun ja, Pater Anselm. Es ist etwas merkwürdig, jetzt wo wir wissen…“

Pater Anselm schüttelte wortlos den Kopf.

„Kevin, wie lange kenne wir uns? Fünfzehn Jahre? War ich jemals etwas anderes als der, ich hoffe doch, freundliche Gemeindepriester von nebenan?“

Kevin grinste.

„Nein. Nur der freundliche alte, manchmal etwas verwirrte Pater mit seiner schwarzen Kutte.“

Lucien und Robin fingen an zu kichern.

„So? Verwirrt? Dann sehen wir mal, was wir hier so haben. Du darfst mir jetzt alle Teammitglieder vorstellen und etwas über ihre Fähigkeiten und deine Einschätzung über ihren Einsatz im Gefecht erzählen. Ich werde anhand der Akten dann sehen, ob du richtig gelegen hast.“

Ohne Eile zog Pater Anselm den Stapel Papiere zu sich, der vor ihm auf dem Tisch lag. Kevin sah ihn mit großen Augen an.

„Na los, auf geht’s.“

Kevin seufzte leise, dann bedeutete er Lucas als erstem, aufzustehen.

Lesemodus deaktivieren (?)