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Dämonenjäger
Teil 7
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Informationen
- Story: Dämonenjäger
- Autor: Mondstaub
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out, Fantasy und Mystery, Historisch
Inhaltsverzeichnis
- Köln, Deutschland, Anno Domini 2017
- Ojibwa-Territorium, Neu-Frankreich, Anno Domini 1722
- Köln, Deutschland, Anno Domini 2017
- Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2017
Köln, Deutschland, Anno Domini 2017
Der Besuch war nur halb so spektakulär wie Lucas befürchtet hatte. Die beiden Herren reisten in einem ganz normalen PKW und in ziviler Kleidung an.
Mit einem leicht amüsierten Grinsen musste Kevin feststellen, dass Generalmajor Hofstätter sich in Jeans und ein blaues Polo-Hemd gestürzt hatte, sein Partner jedoch in einem grauen Dreiteiler erschienen war.
Die beiden Besucher waren aus ihrem Wagen ausgestiegen und näherten sich dem Haus, während sich das ganze Team draußen in einer lockeren Reihe aufgebaut hatte. Pater Anselm hatte sich erboten, die Begrüßung zu übernehmen, damit man keinen protokollarischen Fallstricken zum Opfer fiel. Selbst in Zivil waren wohl manche älteren Herren sehr empfindlich.
„Meine Herren, herzlich willkommen beim Seminar für christliche Studien. Wir freuen uns, Sie hier begrüßen zu dürfen und ich möchte Ihnen zunächst unsere Seminaristen vorstellen.“
Ludwig Hofstätter wechselte einen amüsierten Blick mit seinem Partner und folgte Pater Anselm zu der Reihe der jungen Männer, während Matthias Harder in zwei Schritten Abstand folgte.
„Sehr hübsch haben Sie es hier draußen.“
„Ja, aber es ist noch ein wenig frisch Anfang Mai. Wir haben drinnen etwas Heißes für Sie vorbereitet.“
Wieder wechselten die beiden älteren Männer einen amüsierten Blick, während Pater Anselm die Vorstellungen übernahm.
„Herr Kevin Böttcher, einer unserer besten Teilnehmer. Herr Lucas von Lanz-Ravensberg. Lassen Sie sich nicht von seinem Äußeren täuschen, ein sehr heller Verstand. Herr Michael Lehrke und Herr Rafael Diberg. Beide noch neu im Glauben, doch immer bereit, dazu zu lernen. Dann Herr Tobias Kerner, ein wahrer Verteidiger des Glaubens und Herr Lucien Nochterville, etwas flatterhaft, aber sehr lernbegierig.“
Lucien konnte es nicht lassen, Pater Anselm einen kurzen beleidigten Gesichtsausdruck zu widmen. Als nächster stand Max in der Reihe. Sie hatten ihn absichtlich nicht ans Ende gestellt, damit es gar nicht erst so aussähe, als würde er nicht dazugehören.
„Herr Maximilian Harder…“
Hier wurde Pater Anselm von Matthias Harder unterbrochen.
„Ja, ist bekannt. Ein kleiner, sturer Mitarbeiter, der manchmal versucht, gegen alles und jeden seinen Willen durchzusetzen.“
Die Jungen des Einsatzteams sahen sich an, wobei Lucien ein leichtes Kichern hören ließ. Max gab Ludwig Hofstätter die Hand, während der ihm grinsend über die aufgestellten Haare strich. Dann kam Max aus der Reihe heraus und umarmte seinen Vater, wobei er ihm einen kurzen Kuss auf die Wange gab.
„Danke für die völlig richtige Einschätzung.“
Max trat wieder zurück und nun blieb nur noch einer übrig.
„Herr Robin Wolff, in seinen Äußerungen etwas bissig, aber dennoch ein voll integriertes Mitglied unserer kleinen Gemeinschaft.“
Die beiden Besucher musterten Robin interessiert. Matthias Harder besah sich kurz das orangefarbige Halstuch, das Robin zu einem grauen Pullover trug.
„Hübsche Farbe. Ziemlich selten hier.“
Robin sah den Mann erstaunt an, doch Pater Anselm führte die Besucher bereits ins Haus. Drinnen wurden sie dann noch Christian vorgestellt, der sich danach aber wieder nach oben in eines der Schlafzimmer zurückzog.
Der große Tisch im Wohnzimmer war zum Glück ausziehbar und so gab es einfach zwei Stühle mehr. Tatsächlich waren für jeden Getränke bereitgestellt worden, auch die angekündigten ‚heißen Sachen‘, Kaffee und Tee. Nachdem sich alle bedient hatten, ergriff Generalmajor Harder das Wort.
„Meine Herren, wir sind aus zwei verschiedenen dienstlichen Gründen hier. Persönlich natürlich auch, um unseren Sohn zu sehen, der sich ja entgegen unseren Wünschen für einen Dienst in unserer Organisation entschieden hat.“
Max lief rot an und sah auf die Tischplatte.
„Das wird nun heute das letzte Mal sein, dass wir dieses Thema erwähnen, denn wir mussten, entgegen unseren Befürchtungen, erfahren, dass er einen ausgesprochen guten Job gemacht hat.“
Max sah erstaunt hoch.
„Und da sind wir schon bei den dienstlichen Angelegenheiten. Ihr Einsatz hat gezeigt, dass wir nicht nur Bedrohungen aus einer fremden Ebene oder von irgendwelchen, wie auch immer gearteten Organisationen ausgesetzt sind, sondern auch solchen aus unseren eigenen Reihen. Wir hatten bis vor kurzem geglaubt, alle möglichen Szenarien bedacht und unsere Existenz so gut wie möglich abgesichert zu haben. Der letzte Fall hat gezeigt, dass dem nicht so ist.“
Kevin sah vorsichtig zu Lucas, der ihm gegenüber saß. Kein Wort bisher von irgendwelchen falschen Entscheidungen oder Handlungen. Anscheinend war das doch nicht der befürchtete Anschiss.
„Zu Ihrer Information: Der Exekutivrat hat zugestimmt, die Abteilung G1 komplett neu zu strukturieren und die Aufgaben einiger Dezernate neu zu definieren. Die Personalabteilung wird, auch auf Grund Ihrer Ermittlungen, einige grundlegende Veränderungen erfahren.“
Diesmal sahen alle etwas betroffen in die Runde.
„Der Einsatz selbst war als Routineeinsatz geplant, hat sich dann allerdings etwas verselbständigt. Die etwas langwierigen Ermittlungen sind hierbei nichts Seltenes, dennoch haben Sie nicht aufgegeben und Ihre zur Verfügung stehenden Mittel des Logistik-Corps voll genutzt.“
Der Blick von Generalmajor Harder blieb plötzlich an Robin hängen.
„Übrigens, was hat es eigentlich mit diesem Wolfsrudel auf sich?“
Robin lief rot an, während sich der Rest mit einem etwas empörten Gesichtsausdruck zu Max drehte.
„Na, egal. Darüber können wir nachher in Ruhe sprechen. Der Einsatz zusammen mit dem Bataillon war, taktisch gesehen, ein Desaster.“
Jetzt kommt’s, dachte Kevin so laut, dass Lucas zusammenzuckte.
„Dennoch war auf Grund der Ausbildung und der Vorgaben ein anderes Vorgehen gar nicht in Betracht zu ziehen. Die Maßnahmen zur Schadensbegrenzung waren, gemessen an Ihren sehr beschränkten Mitteln, ausgezeichnet und haben zu einer sehr schnellen Bergung und Evakuierung beigetragen.“
Langsam lehnte sich Kevin etwas entspannt zurück, als er durch die nächsten Sätze wieder unter Anspannung kam.
„Die Einbindung von Personal des Logistik-Corps in aktive Einsatzhandlungen sollte unter allen Umständen vermieden werden. Dieses Personal ist nicht in der Lage, sich gegen magische Übergriffe zu wehren und deshalb besonders exponiert. Der Einsatz eines zufällig vorhandenen Zauberspeichers hat die Lage retten können, ist aber nicht überall als gegeben vorauszusetzen.“
Generalmajor Harder erhob sich von seinem Stuhl und sah nun abschließend in die Runde.
„Zum Ende meiner Ausführungen möchte ich nun noch zwei Sachen erledigen. Wir haben hier, wie so oft, eine erfreuliche und eine weniger erfreuliche Angelegenheit. Die weniger erfreuliche ist, dass ich Ihnen Ihren Werwolf für etwa sechs Wochen entführen muss. Das Offiziersseminar hat ja nun bereits mit seinem zweiten Semester begonnen und der eingeplante Mitarbeiter ist leider ausgefallen. Wir haben nicht so viele Werwölfe in den Einsatzeinheiten, dass wir dort einen abziehen könnten. Das Gestaltwandler-Corps hat uns einen Ersatz zugesagt, der aber erst in etwa sechs Wochen eintreffen wird, so dass wir für diese Zeit auf Herrn Wolff angewiesen sind.“
Robin verzog etwas das Gesicht, doch Kevin nickte nach einer kurzen Bedenkzeit.
„Dann nun zu meiner letzten Amtshandlung. Ich bitte, den Einsatzleiter einmal vorzutreten.“
Kevin erhob sich zögernd und Lucas sah ihm erstaunt hinterher.
Generalmajor Harder sah von einem Zettel auf und fixierte Lucas.
„Entschuldigung, wenn ich es so formuliert habe. Ihr seid ein Paar, also auch ‚der‘ Einsatzleiter. Genauso wie bei uns, wir sind ‚der‘ Kommandeur. Also, Lucas, komm bitte mit nach vorne.“
Lucas hatte sehr wohl die Änderung in der Anrede mitbekommen und wunderte sich ein wenig.
„Mit Wirkung des heutigen Tages ernenne ich im Namen des Exekutivrates die Leutnante Kevin Böttcher und Lucas von Lanz-Ravensberg zu Oberleutnanten. Herzlichen Glückwunsch.“
Nach einer kurzen Pause brandete Jubel auf. Lucien pfiff auf seinen Fingern. Kevin sah Matthias Harder fragend an.
„Was? Aber warum denn? Wir haben doch gar nichts gemacht.“
Beide Generäle sahen die beiden frisch Beförderten kopfschüttelnd an.
„Das einzige, was ihr nicht gemacht habt, ist anscheinend gerade zugehört. Ihr habt einen aus dem Ruder gelaufenen Einsatz einer Lösung zugeführt und beim taktischen Einsatz sowohl richtige Informationen übermittelt, als auch richtige Entscheidungen getroffen. Daneben habt ihr einen Einsatz, für den ihr eigentlich gar nicht ausgebildet seid, zu einem befriedigenden Ende gebracht.“
Kevin und Lucas gingen zurück auf ihre Plätze und man ergab sich ein wenig des Smalltalks und der Getränke. Nach einer halben Stunde sah Generalmajor Hofstätter Pater Anselm an.
„Wir möchten gerne noch, wenn nichts dagegenspricht, mit dem jungen Mann sprechen, der seinen Partner verloren hat. Christian, glaube ich.“
„Ja. Christian Lundquist, Elementar. Es spricht ganz und gar nichts dagegen. Wir hatten schon einige Gespräche und ich muss sagen, er nimmt es zwar sehr ernst, aber er ergibt sich nicht in Selbstmitleid. Folgen Sie mir bitte nach oben.“
Die drei Männer erhoben sich und wurden von Pater Anselm nach oben geführt.
Nur Sekunden später waren Lucas und Kevin vom Rest umringt.
„Eh, geil, Oberleutnant. Macht ihr jetzt auch einen auf dominant?“
Michael war am schnellsten und seine Hand klatschte leicht an Luciens Hinterkopf.
„Du kannst das gerne dominant kriegen, aber du weißt, dass wir hier von Peitschen, Handschellen und Nippelklemmen reden?“
Lucien zuckte zusammen und deckte mit beiden Händen seine Brust ab.
„Äh, ich glaube, wir fangen da mal ganz langsam an, so mit Wattebäuschchen werfen.“
Während des Gelächters hatte Kevin Max betrachtet, der völlig gelöst zwischen den anderen stand.
„Was ist mit dir? Gehst du nach dem Urlaub woanders hin?“
Max schüttelt grinsend den Kopf.
„Nein. Ich werde hier meinen Urlaub verbringen und dann weiterhin diesem Team zur Verfügung stehen.“
Kevin war etwas verwundert und sah Max nun durchdringend an.
„Wir wissen doch gar nicht, ob wir weiterhin bei Intel bleiben oder ob wir überhaupt zusammenbleiben werden.“
Jetzt wurde Max verlegen.
„Upps, verplappert. Also, das Team wird wohl in dieser Zusammensetzung noch eine Weile zusammenbleiben, weil da noch was in Planung ist. Und nein, ich weiß auch nicht was es ist. Und nochmals nein, ich werde meinen Vater nicht fragen.“
Der nächste Tag war auch gleich der Abreisetag von Robin. Sie hatten die Nacht alle neun zusammen in dem großen Zimmer verbracht, das Kevin und Lucas wieder zu einer Liegewiese umgestaltet hatten. Robin lag hauptsächlich in seiner Wolfsform zwischen Chris und Tobias, während Lucien sich Max gegriffen hatte. In der Nacht wechselten die einzelnen Partner, sehr oft sogar im Halbschlaf.
Der nächste Morgen brauchte nicht viele Worte. Robin hatte sich ohnehin schon von seinen beiden Partnern verabschiedet und es gab nur noch ein paar kurze Umarmungen, bis er in einen Dienstwagen stieg, der ihn abholte, um ihn zum Seminargelände zu bringen.
Am Vormittag suchte Christian nach Lucas und fand ihn in dem kleinen Büro, wo er ein paar private Aufzeichnungen machte.
„Hallo, Christian, was führt dich her?“
„Hi. Ich wollte dich mal kurz etwas fragen.“
Christian zögerte merklich, bis Lucas ihm auffordernd zunickte.
„Frag‘ einfach. Du weißt, es gibt keine blöden Fragen, nur blöde Antworten.“
Christian lächelte schwach wegen der abgedroschenen Phrase, doch er setzte sich hin und sah Lucas durchdringend an.
„Würdest du es als unangemessen bezeichnen, wenn ich mich schon jetzt nach einem neuen Partner umsehen würde?“
Lucas stutze etwas, aber dann verstand er, was Christian meinte.
„Es ist schwer, jemanden zu verlieren, den man geliebt hat. Aber für dich wäre es noch schwerer, von nun an alleine und nur von Erinnerungen zu leben. Ich weiß nicht, was du dir genau vorgestellt hast, aber du scheinst einen Plan zu haben.“
Christian nickte zustimmend.
„Keinen Plan, aber eine Idee. Du erinnerst dich an den Anruf von Lars Meinhardt? Die Sache mit den Magiern an der Schule?“
Lucas überlegte kurz, dann nickte er.
„Ja. Die haben jetzt Kampfmagier über und die Jungs laufen alle ein bisschen quer, weil das Gleichgewicht gestört ist und…“
Lucas sah Christian mit großen Augen an.
„Sag mir nicht, dass du wieder an die Schule willst, um einen neuen Kampfmagier zu bekommen. Die sind alle im Durchschnitt zwei bis drei Jahre jünger als du. Du müsstest dann wahrscheinlich noch einmal Schule und Seminar durchlaufen und weißt ja nicht einmal, ob du jemanden findest, der dir gefällt und dem du gefällst.“
Christian lächelte schwach.
„Ich weiß, aber ich will es einfach versuchen. Ich möchte wieder einen Partner haben und mit ihm in den Kampf ziehen, denn ich bin der festen Überzeugung, dass dies meine Bestimmung ist.“
„Du hast vorhin Robert erwähnt. Bist du bereit, die Erinnerung an ihn für jemand anderen in den Hintergrund zu stellen?“
„Auch das weiß ich noch nicht genau, doch Pater Anselm hat mir eine kleine Geschichte zu lesen gegeben. Hier, hab‘ ich dir mitgebracht.“
Chris legte ein schmales Büchlein auf den Schreibtisch und Lucas begann interessiert darin zu blättern.
Ojibwa-Territorium, Neu-Frankreich, Anno Domini 1722
Zweige knackten leise, als sich Pierre deLaurien durch das Unterholz bewegte. Hier in der unendlichen Weite der Neuen Welt fühlte er sich einigermaßen wohl, hier konnte er vergessen.
Vor fast zwei Jahren war er mit dem Schiff aus Frankreich gekommen. Sie waren den breiten St. Lorenz Strom hinaufgefahren und er war in Trois Riviers an Land gegangen. Den Geschichten der Leute folgend, ging er weiter und zog an Land und auf dem Wasser bis nach Sault Ste. Marie. Hier hörte er dann von dem unberührten Land, in dem nur die Wilden wohnten und durch das ein paar Fallensteller und einige Missionare zogen. So reiste er weiter bis nach Ft. Népigon und von dort in die weite Fluss- und Waldlandschaft.
Dort, inmitten des Nichts angekommen, begann er mit dem Bau einer kleinen Hütte. Die paar anwesenden Fallensteller betrachteten ihn erst mit Argwohn, dann mit leichtem Spott, denn Pierre deLaurien ging nicht auf Pelztierjagd, er wollte nur hier leben. Er streifte durch die Wälder, jagte Wild und sammelte Früchte um zu überleben. Er war kein Pelztierjäger um des Gewinns willen, obwohl er natürlich die Felle verkaufte, die ihm die Tiere abtraten, während sie in seinen Topf wanderten.
Den ersten Winter hatte er knapp überlebt und dass auch nur, weil er den Ratschlägen der erfahrenen Trapper gefolgt war. Jetzt, im Frühjahr, nutzte er seine eigenen Erfahrungen um sich schon für den nächsten Winter vorzubereiten. Die Jäger und Fallensteller, die schon länger in der Gegend wohnten, warnten ihn vor den Indianern, sie sollten in letzter Zeit noch unberechenbarer geworden sein. Manchmal kamen sie vorbei um zu handeln, ein anderes Mal überfielen sie einfach friedliche Reisende.
Die einzigen Indianer, die Pierre bisher gesehen hatte, waren einige wenige Pelzhändler in Ft. Népigon gewesen. Die schienen allerdings relativ friedlich zu sein. Draußen in den Wäldern waren ihm bisher nur ein einziges Mal Indianer begegnet und die hatten einen großen Abstand gewahrt.
Etwas geistesabwesend zog Pierre weiter durch das Unterholz. Seine Gedanken waren in die Vergangenheit geeilt, zu einem Leben, das so erfolgversprechend begonnen und so schrecklich geendet hatte.
Immer wieder sah er sich neben Roberts leblosem Körper knien, auf dem kalten Boden der alten Abtei. Die anderen hatten nach dem Schließen des Tores einen lockeren Kreis um sie gebildet und sahen schweigend und sogar weinend zu, wie Pierre seinem Freund die Augen schloss. Abbé Joseph sprach ein leises Gebet. Warum Robert? Warum ausgerechnet er?
Pierre spürte, wie ihm noch bei den Gedanken daran die Tränen herunter liefen. Durch ein paar unterdrückte Rufe wurde er aus seinen Erinnerungen gerissen. Irgendwer musste hier in der Nähe sein. Die Stimmen wurden lauter, zorniger, aber er konnte die Worte nicht verstehen. Vorsichtig trat er aus dem Dickicht einiger kleiner Tannen und war überrascht.
Auf der kleinen Lichtung vor ihm waren vier Indianer. Drei von ihnen gekleidet in die hier üblichen wildledernen Schurze und die merkwürdig anmutenden Leggins. Auf Gesicht und Brust waren bunte Bemalungen zu erkennen. Das Haar war teilweise geschoren und mit Federn und bunten Bändern hochgesteckt, fast wie zu einem Hahnenkamm. Der vierte Indianer war komplett nackt, ohne jegliche sichtbare Bemalung und lag vorne über gebeugt über einem umgefallenen Baumstamm. Hände und Füße waren mit einem Seil unter dem Stamm herum miteinander verbunden, die Beine dabei leicht gespreizt. Pierre konnte sich gut vorstellen, was hier gleich passieren sollte.
Die Überraschung auf Seiten der Indianer war wohl gleich groß, dauerte aber nicht lange. Mit heiseren Schreien stürmten zwei von ihnen mit gezücktem Tomahawk auf Pierre zu. Ab jetzt übernahmen seine Instinkte das Handeln. Ohne sich darüber bewusst zu werden, reagierte er so, wie er es jahrelang gelernt hatte. Die Indianer waren schon zu nahe heran, also ließ er sein Gewehr fallen. Er duckte sich ab und aus jeder seiner Hände schoss ein grüner Blitz hinüber zu den beiden Angreifern und fällte sie auf der Stelle. Ob sie überrascht waren, konnte er nicht mehr feststellen, auf jeden Fall waren sie sofort tot.
Der dritte Indianer hatte seinen Bogen bereit gemacht und starrte zunächst vollkommen entsetzt auf seine beiden Stammesgenossen. Dann zog er den Bogen durch und der Pfeil flog auf Pierre zu. Der hatte nur darauf gewartet und wich geschickt aus. Der Indianer mit dem Bogen stand jetzt mit schreckgeweiteten Augen neben dem Gefesselten und beide starrten zu Pierre herüber.
Der Schütze ließ seinen Bogen fallen und rannte in Richtung des gegenüberliegenden Waldrandes. Pierre wusste, er durfte ihn nicht entkommen lassen. Sollten noch mehr Indianer in der Gegend sein, konnte es für ihn gefährlich werden. Er streckte den rechten Arm aus und ein weiterer grüner Blitz zuckte aus seiner Hand hervor und traf den Flüchtigen in den Rücken. Ohne einen Laut sank der Indianer zu Boden.
Langsam ging Pierre hinüber zu dem Baumstamm mit dem gefesselten Indianer, der ihn jetzt eher neugierig als erschreckt anstarrte. Pierre sah ihn genauer an und musste seine erste Einschätzung revidieren. Der Indianer war vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Seine schwarzen Haare hingen durch die gebeugte Haltung bis auf den Boden und die braunen Augen irrten hilflos suchend umher. Fast wie ein Reh auf der Flucht, dachte Pierre. Das Gesicht des Jungen war durch seine unglückliche Lage rot angelaufen und er zerrte heftig an den Seilen. Kein Wunder, dachte Pierre. Der Anblick eines Mannes, aus dessen Händen Blitze zuckten hat mich das erste Mal auch ganz schön mitgenommen.
Als Pierre jetzt sein großes Messer zückte, starrte der Junge wie hypnotisiert darauf. Merde, dachte Pierre, der denkt wohl, ich will ihn auch noch umbringen. Schnell trat er an den Baumstamm, schnitt die Fesseln durch und steckte das Messer wieder ein.
Der Junge atmete heftig und schüttelte langsam Arme und Beine aus. Als er sich ganz aufgerichtet hatte, erkannte Pierre tiefe Schrammen auf Brust und Bauch des Jungen, der ihn immer noch neugierig ansah, als Pierre sich ihm näherte. Als dieser eine Hand ausstreckte zuckte der Junge zusammen. Pierre seufzte. So wird das bestimmt nichts.
„Geh! Du kannst gehen.“
Beim Ertönen der Stimme zuckte der Junge wieder zusammen, sah Pierre aber fragend an. Dieser fing an, mit der Hand zu wedeln. Dann deutete er auf den Waldrand. Der Indianerjunge sah ihn zweifelnd an, drehte ihm aber den Rücken zu und ging langsam in Richtung des Waldes. Einmal bückte er sich kurz und hob etwas auf, das wie ein Lendenschurz aussah. Immer wieder, nach ein paar Schritten, drehte er sich um und sah Pierre zweifelnd an. Der wedelte immer nur mit der Hand. Endlich hatte der Junge den Wald erreicht und verschwand dann fast lautlos im dichten Unterholz.
Pierre seufzte und ging zurück um sein Gewehr wieder einzusammeln. Die drei toten Indianer ließ er so liegen, wie sie waren. Als er das Gewehr kontrolliert und verstaut hatte, machte er sich weiter auf seine Erkundungstour. Er hatte noch genügend Vorräte, doch ab jetzt, nach diesem Zwischenfall, sollte er die Gegend wohl besser vorher kontrollieren, bevor es noch einmal zu einer unerwarteten Begegnung kam.
Pierre schüttelte den Kopf. Er hatte niemanden töten wollen und doch war es passiert. Seit Roberts Tod hatte er keine Magie mehr angewendet und dennoch war es ihm eben vorgekommen, als ob es erst gestern gewesen wäre. Als ob seine Aufgabe nie beendet worden wäre.
„Das Böse ist überall und allgegenwärtig. Wir können nur die schlimmsten Auswüchse bekämpfen, aber das Böse in den Menschen können wir nicht mit der Magie erlegen. Das muss das Wort erledigen.“
Müde erklangen die Worte des alten Mannes, fast resignierend. Irgendwann würde auch er den ewigen Kampf aufgeben, wenn er ihn nicht sogar jetzt schon verloren glaubte.
„Was können wir denn noch tun? Wir hetzen von Tor zu Tor, verschließen unsere Welt vor einer wahren Sintflut des Bösen und was bringt es uns? Die Erkenntnis, dass das Böse übermächtig ist, dass es an allen Stellen der Welt hervorbricht, wie ein Feuer, das nicht einzudämmen ist?“
Abgekämpft stand Pierre vor Abbé Joseph und stützte sich auf den alten Küchentisch, den der Abbé als Schreibtisch nutzte. Seit Tagen waren sie unterwegs von Ort zu Ort, um die Tore zur anderen Welt zu schließen. Robert stand hinter ihm, wie immer ruhig und entspannt doch auch er jetzt müde. Pierre drehte sich um und lächelte ihm zu und Robert lächelte zurück, zärtlich und immer noch verliebt.
„Es sind nicht die Tore, Joseph. Es sind die Handlungen der Menschen. Ohne ihre Verderbtheit würde sich kein Tor öffnen. Sie merken nicht einmal, dass sie sich selbst der ewigen Verdammnis ausliefern.“
„Bitte, Pierre.“
Abbé Joseph fuhr mit den Armen durch die Luft.
„Der HERR aber sprach, ich will sie nicht verderben um der zehn Gerechten willen. Bitte Pierre, du weißt, es sind mehr als zehn Gerechte unter den Menschen, willst du sie alle der ewigen Verdammnis ausliefern?“
Pierre senkte verschämt den Kopf.
„Nein, natürlich nicht.“
Quietschend wurde die Tür aufgestoßen und durch den Schwung landete sie krachend an der Wand. Einer der Kampfmagier kam hereingestürmt.
„Schnell, Herr. Ein Tor, in der alten Abtei unten am Fluss!“
Der alte Abbé griff nach seinem Brustkreuz und sandte ein Stoßgebet gen Himmel.
„Es geht schon wieder los. Kommt, im Namen des HERRN!“
Robert trat leise von hinten an Pierre heran und drehte ihn um. Er sah ihm lange in die Augen und küsste ihn dann.
„Egal was passiert mein Kleiner, vergiss mich nicht. Du weißt genau, was meine Aufgabe ist und ihr werde ich Wort für Wort nachkommen.“
Damit drehte er sich um und ging zur Tür hinaus. Pierre stand völlig überrascht in der Mitte des jetzt leeren Raumes. Roberts Aufgabe? Sein Leben zu beschützen, so wie er es geschworen hatte.
„Ich schwöre, bei Gott und allen Heiligen
bei meinem Leben, das ich bereit bin
für das deinige zu opfern
dir als meinem Herren und Freund.
Dass auf immer und ewig ein Band zwischen uns sei
das niemals zerreißen werde
und nur der Tod uns trennen werde.
Ewige Treue im Namen des Herrn!
Bei meinem Leben, das ich bereit bin, für das deinige zu opfern... Pierre spürte, wie die Tränen kamen. Nein, das würde er nicht überleben! Wie ein Wahnsinniger rannte er Robert hinterher.
Pierre sah sich sichernd um, als er aus dem Wald hervortrat und langsam zum Flussufer ging. Er beugte sich nieder und schöpfte etwas Wasser um zu trinken. Er hatte drei Menschen getötet, um einen zu retten. War das gerecht? Nein, hier ging es nicht um Gerechtigkeit. Diese ganzen Gedankenspielereien waren hier draußen nichts wert, hier ging es nur ums Überleben.
Hinter Pierre knackte es im Wald und er fuhr herum. Nur wenige Schritte entfernt trat ein Hirsch aus dem Wald. Wie nannten ihn die Trapper? Ah, Weißwedelhirsch. Als ob er Pierre nicht sehen würde, ging der Hirsch zum Wasser und beugte sich herunter. Ganz langsam und vorsichtig nahm Pierre sein Gewehr auf, doch dann setzte er es wieder ab. Warum sollte er das Tier erschießen? Seine Vorräte waren aufgefüllt und welchen anderen Grund konnte es geben? Pierre wartete so lange, bis der Hirsch sich wieder in den Wald zurückgezogen hatte, dann machte er sich auf den Weg zu seiner Hütte. Ein Paar dunkelbrauner Augen verfolgte jeden seiner Schritte.
Drei Wochen später wurde Pierre dann doch von den Ereignissen überrascht. Als er am Morgen vor seine Hütte trat, standen dort drei Indianer. Regungslos standen sie dort und beobachteten ihn. Die Indianer waren in wildlederne Hemden, Lendenschurze, Leggins und Mokassins gekleidet, alles ohne jeglichen Schmuck. In der Mitte stand ein Mann, dessen Alter schwer zu schätzen war, doch Pierre sah schon einige silberne Strähnen in den schwarzen Haaren. Ihm zur rechten stand ein junger Mann, etwa Mitte Zwanzig der sich sichernd in der Gegend umsah. In der dritten Person zur Linken des Alten erkannte Pierre erstaunt den Jungen, den er vor einiger Zeit bei dem Überfall gerettet hatte. So ganz wohl war Pierre dann doch nicht in seiner Haut, aber da die drei keine Farbe im Gesicht hatten und auch sonst ganz ruhig blieben, versuchte er sich an das zu erinnern, was ihm ein alter Pelztierjäger erzählt hatte. Er hob die rechte Hand und drehte die Handfläche nach außen.
Der in der Mitte stehende Indianer, der alte Mann, sagte etwas, von dem Pierre kein Wort verstand. Leicht lächelnd schüttelte er den Kopf. Da deutete der Junge mit seiner rechten Hand auf den Alten.
„Das Black Hawk!“
Pierre sah erst den Jungen, dann den Alten verblüfft an. Jetzt deutete der Junge mit der Hand auf den Mann auf der anderen Seite.
„Das Young Elk.“
Jetzt deutete er auf sich selbst.
„Das Rising Smoke.“
Der Junge sah Pierre erwartungsvoll an. Jetzt musste er sich natürlich auch vorstellen. Er deutete mit der rechten Hand auf sich.
„Ich bin Pierre deLaurien“
Die drei Indianer sahen sich zweifelnd an. Pierre versuchte es noch einmal.
„Pierre. Pierre deLaurien“
Black Hawk schüttelte den Kopf. Aus einer umgehängten Tasche nahm er einen Gegenstand und näherte sich Pierre. Dieser wurde wachsamer, aber er zuckte nicht einmal mit der Wimper, als der Alte ihm eine Kette um den Hals legte. Dann trat Black Hawk zurück, nickte und sagte etwas Unverständliches. Pierres Blick wanderte zu dem Jungen.
„Du jetzt Wild Bear.“
Der Junge lächelte Pierre schüchtern an, dann drehten sich die drei Indianer plötzlich um und waren so schnell verschwunden, wie sie gekommen waren. Pierre nahm die Halskette ab und betrachtete sie. Es war ein solides Lederband auf das die einzelne Klaue eines Bären aufgezogen worden war. Pierre zögerte kurz, aber dann hängte er sich das Halsband wieder um und ging zurück in seine Hütte.
Als Pierre am nächsten Morgen vor die Tür seines Blockhauses trat, hatte er schon wieder einen Besucher. Rising Smoke stand an der gleichen Stelle, an der er auch gestern schon gestanden hatte und sah Pierre neugierig an. Heute trug er wieder Lendenschurz und Leggins, jedoch kein Hemd. Der nackte Oberkörper glänzte im Licht der Morgensonne, die langen Kratzer auf Brust und Bauch waren schon fast nicht mehr zu erkennen. So, wie der Junge vor ihm stand, wurde Pierre sofort an Robert erinnert, aber er schüttelte den Kopf, als ob er die Erinnerungen damit vertreiben konnte.
"Guten Morgen. Was führt dich hierher?"
Rising Smoke antwortete nicht, sondern sah sich neugierig um. Dann drehte er sich zu Pierre.
"Du großer Krieger. Du großer Schamane."
Pierre fühlte sich etwas peinlich berührt.
"Ja, ja. Schon gut. Willst du was essen? Komm ruhig herein."
Er winkte dem Jungen, näher zu treten. Zögernd kam Rising Smoke bis zur Hütte und blieb dann in der Tür stehen. Auch hier sah er sich erst um, bevor er langsam eintrat. Pierre bot ihm von seinen Vorräten an, aber er lehnte freundlich ab. Nachdem Pierre alleine gegessen hatte, sah er Rising Smoke zu, der während der ganzen Zeit langsam durch die Hütte gegangen war und wie es schien, jeden Gegenstand dort eingehend betrachtete. Als letztes kam er zu dem Lager aus Fellen, das Pierre als Bett diente. Oben auf dem Bündel lag ein kleines silbernes Kreuz an einer Kette. Als Rising Smoke sich vorbeugte um das Kreuz zu berühren, hörte er hinter sich jemanden laut räuspern.
"Das würde ich sein lassen. Dieses Kreuz gehört..., gehörte Robert."
"Wer Robert?"
"Er ist, nein, er war mein... mein Freund."
Pierre stotterte etwas und seine Worte wurden immer leiser.
"Du alleine."
Rising Smoke sah Pierre jetzt direkt an. Langsam kam er näher und sah die Tränen in Pierres Augen. Er senkte seinen Kopf.
"Das nicht gut."
Dann ging er leise zur Tür und trat hinaus. Als Pierre aufstand und ebenfalls aus der Tür trat, war er bereits verschwunden.
Am nächsten Morgen war Rising Smoke wieder da. Er führte Pierre hinaus in die Wälder, zeigte ihm ein paar Wildfährten und erklärte einige Pflanzen.
Und so ging es die nächsten Tage und Wochen. Rising Smoke erschien morgens und beschäftigte sich den ganzen Tag mit Pierre. Mal hackten sie Holz, dann ging es hinunter zum Fluss wo Pierre lernte, ein Rindenkanu zu bewegen ohne übermäßig mit dem Wasser in Kontakt zu kommen, dann wiederum ging es an einem anderen Tag tief in den Wald, wo sie wilden Honig sammelten und dabei einen nicht minder wilden Bären aufscheuchten.
Pierre merkte, wie er sich mit der Zeit an seinen Besucher gewöhnte. Die beiden redeten zu Anfang nicht viel miteinander, aber im Laufe der Zeit verbesserte der Junge seine Französischkenntnisse und Pierre lernte die Grundbegriffe der Sprache der Indianer.
Rising Smoke erzählte ihm von seinem Volk, den Ojibwa, von ihrem großen Gott Manitou, von der Jagd in den Wäldern und vom Anbau von Mais und Bohnen. Und von Manomini, einem reisähnlichen Gras, das im Wasser wuchs und vom Kanu aus geerntet wurde.
Pierre erzählte von seinem Leben in Frankreich, von seiner Lehrzeit bei einem Müller, von den großen Städten und den vielen Leuten die dort wohnten und den verschiedensten Berufen nachgingen. Die Zeit im Orden versuchte er so unauffällig wie möglich auszuklammern und Rising Smoke fragte auch nicht danach.
Eines Nachmittags standen die beiden am Flussufer und sahen in dem klaren Wasser den Fischen zu, wie sie gegen die Strömung fast auf der Stelle standen.
"Komm, lass uns fischen"
Und schon hatte Rising Smoke seinen Lendenschurz abgelegt und watete splitternackt in das kühle Wasser. Pierre zögerte kurz, legte dann aber auch seine Kleidung ab und watete hinterher. Das fangen der Fische war gar nicht so einfach. Rising Smoke hatte einen erwischt, den er einfach ans Ufer warf, aber mehr waren nicht zu bekommen. Pierre griff ohnehin jedes Mal daneben, bis ihm der Junge zeigte, worauf er zu achten hatte.
Nach einer Weile gingen sie weiter ins tiefere Wasser und schwammen hinaus in den Fluss. Die Strömung trieb sie flussabwärts wo sie an einer Biegung langsam wieder ans Ufer kamen. Rising Smoke lag dann dort halb im Wasser und sah Pierre näher kommen. Dieser steuerte auf den Jungen zu und die Strömung trieb ihn direkt zu ihm hin. Seine Blicke wanderte über den nackten Körper vor ihm und ein schon fast vergessenes Gefühl machte sich bemerkbar. Leicht strich er mit einer Hand über Brust und Bauch des Jungen. Doch als er ihm ins Gesicht sah, bemerkte er zu seinem Entsetzen wie sich die Gesichtszüge des Jungen in die von Robert verwandelten. Mit einem Aufschrei sprang Pierre hoch und rannte so schnell er konnte in Richtung seiner Kleider. Rising Smoke rührte sich nicht, blickte ihm aber traurig eine ganze Zeit hinterher.
In der Nacht lag Pierre hellwach auf seinem Lager. Robert war tot und begraben. Doch in seinen Gedanken lief er immer noch mit ihm über die grünen Wiesen ihrer Heimat, lernte Magie und die lateinische Sprache, zog in ein Gefecht nach dem anderen und stand schließlich wieder vor seinem toten Freund. Pierre erschauerte. Würde es für ihn jemals wieder Hoffnung geben? Sein Leben, seine Liebe, seine Sehnsüchte, seine Pläne - alles war zerbrochen. Nur sein Glaube an die ewige Verdammnis hinderte ihn vor dem letzten Schritt. Und, obwohl er sich selbst gar nicht darüber im Klaren war, ein Bisschen auch diese rehbraunen Augen.
Am nächsten Morgen stand Rising Smoke wieder vor der Hütte, als sei nichts gewesen. Pierre fühlte sich etwas schuldig und er versuchte sich mit einer Erklärung.
"Es tut mir leid, gestern am Fluss. Meine Erinnerungen..."
"Black Hawk hat es vorhergesehen. Es ist schwierig als A-go-kwa."
Diesen Ausdruck hatte Pierre noch nie gehört. Fragend sah er den Jungen an.
"Es bedeutet, jemand der Männer liebt. Bei den Ojibwa gibt es manchmal einen Mann, der Männer liebt, so wie eine Frau. Im den meisten Fällen zieht er die Kleider einer Frau an und lebt außerhalb des Lagers. Dort besuchen ihn manchmal sogar Krieger um ihn zu benutzen wie eine Frau."
Sein Ton klang etwas abfällig als er das sagte, doch dann wurde er sich dessen anscheinend bewusst, denn er errötete, eigentlich das erste Mal seit Pierre ihn kannte.
"Die A-go-kwa sind den Ojibwa heilig, denn die meisten können Dinge sehen, die für alle anderen verborgen sind. Und es gibt einige von ihnen, die keine Frauenkleider tragen, sondern in die Wälder gehen und sich dort anderen Dingen stellen, die niemand sehen darf."
Pierre wusste sofort, von was Rising Smoke jetzt sprach. Er nickte wortlos. Also gab es auch hier jemanden, der sich dem Bösen stellte. Er sah den Jungen jetzt direkt an.
"Jemand wie du!"
"Ja, und wie du."
"Nein, das war einmal. Ich werde nie wieder damit anfangen."
Rising Smoke sah ihn erstaunt an.
"Wer einmal diesen Weg gegangen ist, kehrt nicht mehr um."
Damit drehte er sich um und verschwand im Dunkel des Waldes. Pierre schüttelte den Kopf. Nein, er würde nie wieder kämpfen.
Am Tag darauf wartete Pierre vergebens auf seinen Besucher und auch an den nächsten Tagen ließ sich Rising Smoke nicht blicken. Pierre zuckte mit den Achseln und sagte sich, dass er auch ganz gut alleine zurechtkommen könnte. Doch nach ein paar Tagen gestand er sich ein, dass ihm die Anwesenheit des Jungen irgendwie fehlte.
Lautes Knacken ließ Pierre von seiner Arbeit auffahren. Rising Smoke kam durch das Unterholz gebrochen, ungeachtet des Lärms, den er verursachte. Im Gegensatz zu seinen sonstigen Besuchen trug er jetzt eine Kriegskeule in der Hand, über seinem Rücken hingen Bogen und Köcher und sein Gesicht war mit zwei roten parallelen Streifen auf jeder Seite verziert. Pierre starrte ihn verwundert an, aber dann griff er automatisch zu seinem Gewehr, das neben ihm in Reichweite stand.
"Schnell, du musst mitkommen. Ein Tor!"
Ohne darüber nachzudenken, schulterte Pierre das Gewehr und folgte dem Jungen so schnell er konnte durch den Wald. Nach einer guten halben Stunde blieben sie keuchend, an eine Fichte gelehnt, stehen. Ganz leise im Hintergrund vernahm Pierre ein Geräusch, von dem er geglaubt hatte, es nie mehr wieder hören zu müssen. Das tiefe Tuten eines Gothmar drang durch den Wald. Pierre wirbelte herum und rannte weiter.
Plötzlich endete der Wald und Pierre trat auf eine Lichtung. Mitten auf dieser Lichtung hatte sich ein Tor geöffnet. Ein gutes Dutzend Rallorian und zwei Gothmar standen davor, umzingelt von höchstens halb so vielen Kriegern mit roten Bemalungen im Gesicht. Vollkommen erstaunt sah Pierre, dass die meisten der Krieger versuchten, die verschiedensten Blitze auf die Dämonen abzuschießen, dies aber keine oder nur geringe Wirkung zeigten. Pierre sah einen der Männer nach dem Abfeuern eines grünen Blitzes schmerzverzerrt seine Hand zurückziehen, bei einem anderen schien ein roter Blitz an dem Körper des Rallorian abzuprallen. Fast automatisch wechselte Pierre in die Astralsicht und erkannte verblüfft, dass die Indianer zwar ein großes Manapotenzial besaßen, dieses aber nicht strukturiert war. Er musste schnell etwas unternehmen.
Im Hintergrund, am Rand der Lichtung erkannte Pierre Black Hawk mit ein paar weiteren Männern. Der Alte hatte, im Gegensatz zu den Kriegern, eine Trommel in der Hand und die Streifen in seinem Gesicht waren von gelber Farbe. Die anderen sechs Männer hatten sich in einem Kreis hingehockt. Sie waren gänzlich unbewaffnet und mit blauen Streifen bemalt. Black Hawk schlug die Trommel und die Männer neben ihm sangen ein getragenes Lied mit uralten Worten.
"Großes Ritual zum Schließen."
Rising Smoke war hinter Pierre angekommen und flüsterte leise, um die Sänger nicht zu stören. Pierre nickte nur. Er hatte das typische Ziehen schon bemerkt, die Schwingungen des Trennzaubers, der darauf wartete, auf ein bestimmtes Ziel gerichtet zu werden. Hier jedoch merkte er im Gegensatz zu dem Ritual, das er kannte, dass das Ganze viel langsamer vor sich ging. Auch der Trennzauber war nicht strukturiert, es wurde nur immer mehr Mana hineingepumpt, bis er sich von selbst entladen würde. Dazu musste er dann aber noch an das Zeil geführt werden. Die Krieger würden die Rallorian noch eine ganze Zeit lang hinhalten müssen.
Laute Schreie und ein tiefes Tuten ließen Pierre und Rising Smoke herumfahren. Ein weiterer Gothmar war aus dem Tor getreten. Pierre fragte sich, wie die Krieger, um Himmels willen, denn noch einen Gothmar aufhalten wollten. Da spürte Pierre plötzlich einen weiteren Zauber in seiner Nähe. Black Hawk hatte einem der Sänger die Trommel gegeben und ging in Richtung Tor. Auf halbem Weg blieb er stehen, erhob die Arme in den Himmel und intonierte einen Gesang. Danach senkte er die Arme auf halbe Höhe und aus seinen Händen brachen grüne Blitze, die einen der Gothmar in die linke Seite trafen. Dieser wirbelte herum und suchte seinen Angreifer. Ohne zu zögern bekreuzigte sich Pierre und hob den rechten Arm aus dem ein ebenfalls grüner Blitz auf den Gothmar zueilte. Ein lautes Tuten ließ erkennen, dass er getroffen hatte. Direkt neben Pierre zuckte ein weiterer grüner Blitz auf den Gothmar zu und das Wesen wankte, knickte in den Beinen ein und stürzte dann donnernd zu Boden. Pierre sah nach rechts und erblickte Rising Smoke, der mit schmerverzerrtem Gesicht seine rechte Hand mit der linken umklammerte.
„Lass das sein, du musst das erst noch lernen.“
Pierre sank auf ein Knie und bekreuzigte sich noch einmal. Dann begann er mit der Intonation für das Schließungsritual. Er hatte es schon so oft gesungen dass es fast automatisch von seinen Lippen kam. Doch immer hatte jemand hinter ihm gestanden, seinen Rücken frei gehalten und ihn beschützt. Irgendwie kam er sich jetzt nackt vor.
Das Ganze fühlte sich merkwürdig an. Pierre spürte die rohe Kraft der Bannmagier, deren Trennzauber langsam aber stetig aufgebaut wurde. Was fehlte, war die Bündelung und die zielgerichtete Anwendung. Es gab anscheinend keinen Astralmagier, der den Trennzauber lenkte. Black Hawk schien zwar Astralmagier zu sein, doch entweder kannte er die Technik nicht, den Trennzauber zu lenken oder er kannte den Zauber Astralgespür nicht.
Pierre holte tief Luft, aktivierte sein Astralgespür und führte die Verknüpfung herbei.
"Porta!"
Die aufgebaute Energie der Bannmagier entlud sich dermaßen schlagartig, dass Pierre fast zurückzuckte. Mit einem lauten Knall schloss sich das Tor und nur zwei Sekunden später waren auch die Rallorian und alle Gothmar verschwunden. Pierre sah sich um. Neben ihm stand Black Hawk und hinter diesem stand schwer atmend ein junger Mann, etwas älter als Rising Smoke vielleicht, aber ebenfalls mit den roten Streifen im Gesicht. Er hatte Black Hawk eine Hand auf die Schulter gelegt.
Als Pierre sich ganz umdrehte, sah er Rising Smoke hinter sich stehen. Der Junge sah irgendwie unschlüssig aus, hatte den Kopf gesenkt und die Augen blickten zu Boden. Ja, dachte Pierre bitter. Da hätte Robert stehen sollen. Brüsk drehte er sich um und ging mit schnellen Schritten zurück zu seiner Hütte.
Die folgenden Tage waren eine wahre Tortur für Pierre. Immer wieder liefen die Ereignisse der letzten Schließung vor seinem inneren Auge ab. Immer wieder sah er die verzweifelten Krieger, die ohne Ausbildung versuchten, ihre Welt zu retten. Und immer wieder sah er auch den beschämten Blick von Rising Smoke, als Pierre ohne Gruß den Platz verließ.
Was war es, dass ihn immer wieder an diesen Jungen denken ließ, der in seinen Gedanken fast schon so viel Platz einnahm wie die Erinnerung an Robert. Nein, die Erinnerung an Robert würde er sich von niemandem nehmen lassen.
Etwas anderes nagte an ihm ebenso, wie die Gedanken an Rising Smoke. Die Indianer schienen ihr Mana nicht zielgerecht einsetzen zu können. Ihnen fehlte die Bündelung, mit der Ziel, Absicht und die Menge der Energie bestimmt wurden. Er hatte gelernt, die schwierige Formel in ein kurzes lateinisches Gebet einzubetten. Das kam hier natürlich nicht in Frage. Er überlegte, ob er für die Krieger die Formel in einen anderen Begriff einbetten konnte, den sie leicht behalten würden.
Ein wenig erstaunt über sich selber, dass er tatsächlich in Erwägung zog, die Krieger auszubilden, bemerkte Pierre, dass es zwei Schwierigkeiten gab, die er nicht bedacht hatte. Die eine war, er kannte die Formel für den Energieblitz der Kampfmagier nicht mehr ganz genau, die andere war, er würde zusammen mit einem Kampfmagier die Einbettung in einen Begriff üben müssen. Dafür fiel ihm auf Anhieb nur einer ein, doch den wollte er im Moment eigentlich gar nicht sehen.
Die Entscheidung wurde ihm jedoch bald abgenommen.
Laut ertönte das Hämmern an der hölzernen Tür der kleinen Hütte. Pierre fuhr aus seinem Schlaf auf. Ein Blick aus dem kleinen Fenster ließ ihn draußen die erste Morgendämmerung erkennen. Ein weiteres, noch drängenderes Hämmern ertönte an seiner Tür. Pierre ergriff sein bereit liegendes Gewehr, schob den Riegel zurück und öffnete vorsichtig die Tür. Draußen stand Rising Smoke, völlig außer Atem. Nur mit seinem Lendenschurz bekleidet, waren seine Beine vom Laufen durch das Unterholz zerkratzt und er schien völlig verschwitzt. Pierre hatte eigentlich nicht damit gerechnet, ihn wieder zu sehen. Seit dem Schließen des Tores waren fast zwei Monate vergangen und Rising Smoke hatte sich in der Zwischenzeit nicht mehr blicken lassen. Pierre hatte mehr als einmal mit dem Gedanken gespielt, nach ihm zu suchen und den Vorschlag für die Ausbildung zu machen, doch immer wieder war er im letzten Moment zurückgezuckt.
Als Pierre den erstaunten Ausdruck auf Rising Smokes Gesicht sah, bemerkte er, dass er völlig nackt vor ihm stand. Wegen der Sommerhitze hatte er unbekleidet geschlafen und war auch so direkt zur Tür geeilt. Die Stimme des Jungen war dringlich.
„Schnell. Du musst mitkommen. Ein Tor!“
Pierre schossen unzählige Gedanken durch den Kopf. Als er hier in die Neue Welt kam, hatte er sich nie wieder einspannen lassen wollen für Andere und sein eigenes Leben und seine Pläne durchkreuzen lassen. Aber welche Pläne hatte er denn? Er war alleine und viele andere Menschen brauchten ihn. Auch dieser Junge vor ihm. Was soll’s. Er zuckte mit den Schultern und warf das Gewehr auf das Bett. Für das, was er jetzt vorhatte, war es sowieso nutzlos. Schnell zog er sich eine Hose und die Mokassins über. Rising Smoke stand zappelnd an der Tür.
„Zum Fluss. Dort ist ein Kanu.“
Schweigend rannte Pierre hinter dem Jungen her. Als sie den Fluss erreicht hatten, war Pierre trotz seiner guten Kondition außer Atem. Unten am Ufer lag eines der großen Birkenrindenkanus und daneben standen abwartend zwei Indianer. Als sie die beiden Läufer sahen, schoben sie das Kanu in den Fluss und besetzten es schon einmal. Rising Smoke und Pierre stürmten ins Wasser und bestiegen das Kanu. Noch bevor sie sich richtig setzen konnten, waren sie schon unterwegs.
„Was ist passiert? Wo ist das Tor?“
„Beim Tanzplatz. Es gab eine große Geisterbeschwörung. Sehr schrecklich.“
Pierre schüttelte den Kopf. Echte Geisterbeschwörungen führten fast immer zum Öffnen eines Tores. Wer auch immer das gewesen war, er hatte wahrscheinlich genau gewusst, was er tat. Was eine große Geisterbeschwörung war, wollte er sich gar nicht ausmalen.
Die beiden Indianer paddelten aus Leibeskräften und Pierre und Rising Smoke hatten sich ebenfalls Paddel gegriffen um sie zu unterstützen. Das Kanu flog förmlich über den Fluss.
„DA!“
Schon vom Flussufer aus war das helle Leuchten eines Tores zu sehen. Im Gegensatz zu den anderen Toren die Pierre bisher gesehen hatte, war das Oval nicht liegend, sondern stehend. Bei einer Breite von etwa sechs Metern war es fast neun Meter hoch. Pierre wusste, was das bedeutete, obwohl noch niemand in den letzten vierhundert Jahren so ein Tor entdeckt hatte. Aus uralten Aufzeichnungen war bekannt, was jetzt kommen musste.
Der Lärm vor dem Tor war fast unbeschreiblich. Mindestens ein Dutzend Rallorian waren auf dem großen Platz verteilt. Drei Gothmar schritten mit lautem Tuten durch das Chaos, einige wenige grüne Blitze zuckten und über dem ganzen schwebten zwei Finsterrochen, von denen einer gerade, von zwei Blitzen getroffen, wie ein Stein zu Boden fiel.
Am Rande des Chaos stand Black Hawk und sah mit versteinerter Miene hinüber zum Tor. Pierre eilte zu ihm hinüber, dicht gefolgt von Rising Smoke.
„Du weißt, was es bedeutet?“
Der alte Mann nickte wortlos. Dann drehte er sich zu Pierre und sah ihm direkt in die Augen. Er sagte einen Satz in seiner Sprache, der wie eine Frage klang und Pierre brauchte gar nicht auf die Übersetzung warten, doch Rising Smoke erfüllte seine Aufgabe.
„Kannst du es schließen? Kein Kreis möglich.“
Ja, dachte Pierre, ein großes Beschwörungsritual war hier in dem Chaos nicht mehr möglich. Die Rallorian würden alle Kreise in der Nähe sofort auseinandertreiben. Er müsste ein kleines Ritual versuchen, am besten mit drei Bannmagiern und einem weiteren Astralmagier, aber er hatte beim letzten Mal schon den Verdacht gehabt, dass sie hier keine Astralmagier hatten, zumindest keine ausgebildeten. Er würde also das große Tor alleine zentrieren müssen.
„Schnell, ich brauche drei Mann, die das Schließritual durchführen und drei Mann, die einen Zauber zum Festhalten wirken. Sie müssen stark und schnell sein.“
Rising Smoke runzelte etwas die Stirn, aber dann sprach er schnell auf Black Hawk ein. Der alte Mann nickte heftig und schrie Anweisungen nach hinten. Rasch sammelte sich eine kleine Gruppe von sechs Leuten, alle mit blauen Kriegsbemalungen. Erst jetzt verband Pierre die Farben der Krieger mit den traditionellen Farben der Magieschulen und war überrascht. War das Zufall oder gab es da Zusammenhänge, die sich ihm noch nicht erschlossen hatten. Egal. Er sah zu, wie Black Hawk zwei Gruppen einteilte und spürte, wie sich die einzelnen Zauber langsam aufbauten.
Pierre wusste, für das was er vorhatte, brauchte er Kraft. Die Kraft des Glaubens, die Kraft der Überzeugung, die Menschheit retten zu können und zu wollen. Die, die er nicht mehr hatte. Als er sich umsah, bemerkte er, wie Rising Smoke ihn ansah. Die dunkelbraunen Augen waren bittend auf ihn gerichtet, fast bettelnd. Pierre schloss seine Augen, doch der Anblick hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Langsam nickte er.
Langsam ließ sich Pierre auf den Boden sinken und nahm die gleiche Haltung wie die ihn umgebenden Indianer ein.
Er reinigte seinen Geist und konzentrierte sich auf das, was vor ihm war. Ein Tor zur Welt des Bösen. Er versuchte, es im Geist aufzufassen und festzuhalten, doch immer wieder entglitt ihm das Bild vor seinem inneren Auge, er konnte das ihm innewohnende Mana nicht bündeln. Die Kraft, die er aus seinem Glauben heraus schöpfen sollte, schien ihn verlassen zu haben. Wie hatte er damals zu Abbé Joseph gesagt?
„ER hat ihn mir genommen.“
Und der alte Mann in der schwarzen Kutte hatte nur bedauernd den Kopf geschüttelt.
„Nein, mein Sohn. Du selbst hast dich im Zorn von ihm getrennt. Du darfst ihn nicht hassen, weil er dich verlassen hat. Er hat dich über alles geliebt und das getan was er musste. Er hat sein Leben für deines gegeben. Gib niemandem eine Schuld dafür. Liebe ihn umso mehr.“
Pierre saß immer noch am Boden, doch sein Blick war in weite Fernen gerichtet. Er war hier hergekommen um zu vergessen, doch seine Vergangenheit hatte ihn eingeholt. Überall, wo es Menschen gab, egal welcher Nation oder welchen Glaubens, gab es Gut und Böse. Auf immer und ewig würde jemand da sein müssen, um das Gute im Menschen zu wecken und das Böse zu bekämpfen.
Pierre fühlte sich ausgebrannt. Seine Zukunft war ihm egal, aber die der anderen Menschen? Waren sie es wert gerettet zu werden? Selbstverständlich, denn jeder hat das Recht auf ein Leben in Frieden und Glück. Doch ich bin hier am Ende meines Glücks angelangt.
Pierres Gedanken gingen noch einmal zurück zu Robert. Sie kannten sich schon lange vor Pierres Berufung und sie hatten zusammen auch schon vorher die Freuden der Liebe entdeckt. Als Pierre ins Kloster kam zur Ausbildung, hatte er Abbé Joseph so lange genervt, bis Robert geprüft wurde und tatsächlich sein Ritter werden konnte. Sie waren unzertrennlich gewesen, doch erst jetzt erkannte Pierre, dass Robert seine Aufgabe sehr ernst genommen und über ihre Liebe gestellt hatte.
„Das solltest du auch tun, Pierre. Ich habe dich geliebt wie nie einen Menschen zuvor. Und ich habe dir alles gegeben was ich konnte. Ich habe mein Leben für deines eingetauscht, weil ich ohne dich nicht hätte leben können. Außerdem bist du jetzt hier viel wichtiger als ich. Tu, was du musst. Gedenke meiner als deiner großen Liebe, behalte mich immer in Erinnerung, aber halte mich nicht fest. Ich gebe dir die Freiheit für dein weiteres Leben mit einer neuen Liebe, so lange du mich nicht gänzlich vergisst. Und jetzt tue deine Pflicht.“
Pierre riss entsetzt die Augen auf. So deutlich hatte er Roberts Stimme gehört, als ob er neben ihm stehen würde. Doch war alles nur ein Traum? Pierre dachte über Roberts Worte kurz nach. Glaube, Liebe und Hoffnung. Doch die Liebe ist die Stärkste unter ihnen.
Noch einmal schloss Pierre die Augen und konzentrierte sich auf das Tor. Jetzt konnte er es spüren. Er bemerkte das Pulsieren der Energie und versuchte sie zu fassen. Mit aller Macht wehrte sich das Tor und Pierre pumpte seine letzte Energie in einen verzweifelten Versuch, das Tor zu fassen und mit der Energie des Trennzaubers zu verbinden. Er spürte, wie sich die beiden Energien gegenseitig blockierten, sich die Waage hielten und er spürte auch, dass ihm etwas Wichtiges fehlte. Ihm fehlte die Lebensenergie, die ihn immer begleitet hatte, sein eigenes Bewusstsein, dass da die Liebe eines anderen Menschen war. Voller Verzweiflung versuchte er seine letzten Energiereserven zu mobilisieren, aber das Tor hielt stand.
Ganz sanft spürte Pierre plötzlich eine Berührung an seinem Rücken. Er spürte, wie ein nackter Körper sich an seinen schmiegte und er wusste sofort wer es war. Ein leichtes Zittern durchlief Pierres Körper, als sich zwei Arme von hinten um seinen Brustkorb schlangen und ihn fest hielten. Dann spürte er den Kuss in seinem Nacken. ‚Doch die Liebe ist die Stärkste unter ihnen.’ Pierre fühlte, wie eine ungeheure Liebe seinen Körper durchströmte. Voller Zuneigung dachte er kurz an die dunkelbraunen Augen, um dann seine eigene Energie zu bündeln, das Tor zu markieren und es dann zu schließen. Doch eine neue Macht hatte sich dazwischen gedrängt, ein absolut dunkler Schatten beherrschte den Durchgang der Dimensionen. Pierre öffnete die Augen.
Im strahlenden Licht des Tores stand eine riesige Gestalt. Ein plumper Körper mit einer Schulterhöhe von über vier Metern. Darüber auf einem fast drei Meter langen biegsamen Hals der grauenerregende Kopf, bestehend im Wesentlichen aus sechs Augen, zehn Zentimeter langen Fangzähnen und Stachelhörnern. Die Haut glänzte metallisch und war von rasiermesserscharfen Stacheln bedeckt. Die vier Beine des Dämonen endeten in jeweils drei scharfen Krallen.
Jegliche Bewegung auf dem Tanzplatz war beim Erscheinen der Kreatur erstarrt. Alle Blicke wanderten hinüber zum Tor. Da bemerkte Pierre eine leichte Bewegung in seinem Rücken. Rising Smoke war mit seinem Kopf etwas höher gerutscht und nun mit seinem Mund direkt neben Pierres rechtem Ohr. Ganz leise, aber deutlich artikuliert, hörte Pierre ihn flüstern.
„Ich liebe dich.“
Der daraufhin folgende Schrei ertönte so laut über den Tanzplatz, dass sich sogar die Gothmar herumdrehten.
„PORTA!“
Pierre hatte sich erhoben und mit wie zum Segen ausgebreiteten Armen stand er dort, während aus beiden Händen ein goldgelber Blitz hervorbrach, der sich kurz vor dem Tor vereinte und den Ring in ein gelbes Licht verfärbte. Im Gegensatz zu anderen Toren wurde dieses nicht kleiner, sondern es begann zu pulsieren, während es dann plötzlich in tausende kleiner Lichtpunkte auseinanderbrach, die langsam verglühten. Alle Dämonen verschwanden auf der Stelle und Pierre brach bewusstlos zusammen.
Als Pierre erwachte, hatte er Kopfschmerzen und war etwas orientierungslos. Ratlos sah er sich um, bis er bemerkte, dass er in einem Wigwam lag. Direkt neben sich, einen Arm über seine Brust gelegt, schlief friedlich Rising Smoke. Schlagartig kam Pierre die Erinnerung an den Kampf und das Tor zurück. Voller Liebe wanderte sein Blick über Rising Smoke, der sich jetzt, nur halb von der Decke verhüllt, eng an Pierre anschmiegte. Pierres freie Hand wanderte über Schulter und Rücken des Jungen langsam herunter, als dieser die Augen aufschlug und ihn zärtlich ansah.
„Ich liebe dich.“
„Ich weiß, mein Kleiner. Ich liebe dich auch.“
Köln, Deutschland, Anno Domini 2017
„Ich glaube, ich weiß, was du meinst.“
Lucas hatte das kleine Buch geschlossen und spielte gedankenverloren damit.
„Du hättest eine Möglichkeit, vielleicht jemanden zu finden und die Schule könnte wirklich ihre Ausfälle begrenzen, Abgesehen davon, dass einem Kampfmagier eine Enttäuschung erspart bliebe.“
„Du meinst also, es wäre möglich?“
„Keine Ahnung, aber wir werden es herausfinden. Wir werden jetzt jemanden fragen, der darauf eine Antwort geben kann.“
„Ehrlich? Wer?“
„Wirst du gleich sehen. Aber dazu brauchen wir zuerst Max.“
Max war von der Idee nicht so sehr begeistert. Nicht, dass er Christian es nicht gönnen würde, einen neuen Partner zu bekommen, doch die Idee von Lucas, seinen Vater damit zu behelligen, passte ihm gar nicht.
„Ich weiß nicht. Ich kann doch jetzt nicht den ganzen Dienstweg umgehen, nur weil mein Vater General ist.“
„Max, wenn wir den Dienstweg einhalten, braucht sich Christian wegen einem neuen Partner keine Sorgen mehr zu machen, bis zu seiner Rente hat er nämlich noch keinen. Außerdem läuft der Unterricht an der Schule schon seit einem halben Jahr. Wenn die tatsächlich solche Probleme mit den Magiern haben, sollte Christian so schnell wie möglich dort hin.“
Max seufzte tief und fixierte dann Lucas grinsend.
„Na gut. Aber nur dieses eine Mal. Außerdem kostet das was.“
Lucas konnte sich bei dem breiten Grinsen schon denken, worum es ging.
„Okay, was ist es?“
„Wir tauschen. Du erinnerst dich an den Weihnachtsmorgen?“
Lucas erinnerte sich gut und nickte lachend. Christian sah ihn fragend an und Lucas flüsterte ihm etwas zu.
„Tatsächlich? Du lässt dich… Ich hätte eher gedacht, dass du…“
„Was? Immer nur Top ist langweilig.“
Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2017
Als sie nur drei Tage später den Weg hinauf zum alten Kloster gingen, war Christian die ganze Zeit über schweigsam. Vor dem Tor seufzte er leise. Lucas sah ihn prüfend an.
„Ich weiß, die Erinnerungen. Bist du sicher, dass du das wirklich willst? Letzte Chance umzudrehen.“
„Lucas, wir haben das nun schon so oft durchgekaut. Ja, ich will es wirklich. Du weißt, meine drei Gründe: Ich kann und will nicht alleine sein. Es war zwar eine sehr kurze Zeit aber ich habe ihn wirklich geliebt, trotzdem geht das Leben weiter. Dann habe ich geschworen, das Böse zu bekämpfen. Du erinnerst dich bestimmt an die Zeremonie. Es war und es ist mir immer noch sehr ernst damit. Aber das kann ich nicht alleine.“
Nach einer kleinen Pause sah Lucas Christian fragend an.
„Und drittens?“
„Drittens möchte ich nicht, dass hier noch jemand enttäuscht wird. Wenn sie tatsächlich so viele Kampfmagier übrig haben, ist es ein bisschen unfair, alle nach Hause zu schicken.“
Lucas schüttelte den Kopf und grinste.
„Erst mal abwarten, was hier wirklich los ist.“
Die Kontrolle am Tor war routiniert und gründlich. Im Gegensatz zu seinem ersten Eintreffen vor wenigen Jahren konnte Lucas jetzt die meisten versteckten Sicherheitseinrichtungen erkennen.
Nach ihrer Anmeldung wurden sie direkt zum Büro des Direktors gebeten. An Doktor Berg schien die Zeit fast spurlos vorübergegangen zu sein.
„Meine Herren, ich freue mich, sie wieder hier begrüßen zu dürfen, auch wenn der Anlass ein trauriger ist.“
Christian sah den Direktor an.
„Herr Doktor Berg, ich will ehrlich sein. Es ist schwer, seinen Partner zu verlieren, doch mein Leben geht weiter, genau wie meine Aufgabe in diesem Leben. Mit Hilfe meiner Freunde habe ich es geschafft, den Verlust zu verarbeiten. Sie haben mich auch in meiner Überzeugung bestärkt, dass ich weiter machen soll in unserer Organisation, doch dazu benötige ich einen neuen Partner.“
Im Laufe seiner kleinen Rede konnte Christian es nicht verhindern, dass ihm ein paar Tränen hinunterliefen und er hielt seinen Kopf gesenkt.
Dr. Berg blätterte gedankenverloren in einem kleinen Stapel mit Briefen, als Lucas sich räusperte und so die etwas gedrückte Stimmung unterbrach.
„Herr Doktor Berg, wir haben durch Zufall erfahren, dass in diesem Durchgang mehrere Magier ausgefallen sind, so dass nun schon nach kurzer Zeit Kampfmagier überzählig sind. Es ist vielleicht etwas ungewöhnlich, aber Leutnant Lundquist hat ein Gesuch eingereicht, ob er hier noch einmal nach einem Partner suchen darf. Das Einsatzkommando hat den Vorschlag befürwortet und er wurde angewiesen, hier herzukommen. Mit ihrer Erlaubnis möchte ich Leutnant Lundquist während der ersten ein oder zwei Monate noch hier begleiten.“
„Ja, ich habe hier ein ähnlich lautendes Schreiben des Einsatzkommandos vorliegen. Die Personalabteilung hat zugestimmt, ebenso der Stiftungsrat sowie der Exekutivrat.“
Lucas war überrascht. Der Exekutivrat mit dem Großmeister an der Spitze war das höchste Gremium ihrer Organisation in Europa. Die Bezeichnung des Großmeisters stammte noch aus der Zeit als die Organisation ein Bruderorden war. Er hatte nicht geglaubt, dass eine solche Entscheidung auf so hoher Ebene getroffen würde.
„Ich sehe an ihren Gesichtern, dass sie überrascht sind, ich war es auch. Es ist ein wenig Neuland für uns, obwohl es Aufzeichnungen darüber gibt, dass ein Magier nach dem Verlust seines alten Partners sich mit einem neuen Partner verbunden hat. Die meisten jedoch haben sich zurückgezogen und haben entweder ein neues Leben angefangen oder arbeiten in den verschiedensten Unterstützungsabteilungen als Single. Bisher ist allerdings noch niemand auf die Idee gekommen, diese Schule deswegen noch einmal zu durchlaufen. Nun ja, der Altersunterschied ist ja auch nicht so groß und unser Mangel an Magiern ist in dieser Größenordnung bisher auch noch nie dokumentiert worden.“
Jetzt sah Dr. Berg Lucas direkt an.
„Im Übrigen habe ich den dringenden Verdacht, dass sie und ihr Partner diese Aktion ins Rollen gebracht haben, wie so vieles während ihrer zwei Jahre hier.“
Der Blick über die goldgeränderte Brille traf Lucas etwas überraschend.
„Nun, Herr Direktor. Kevin und ich versuchen nur denjenigen zu helfen, die vom Schicksal getroffen wurden oder werden.“
„Gut, dann werde ich ihnen in ein paar kurzen Worten unsere jetzige Situation schildern. Der geplante Schuljahresbeginn 2015 ist um ein Jahr verschoben worden, weil wir nicht einmal die Hälfte der notwendigen Schüler zusammenbekommen haben.“
Lucas hob erstaunt die Augenbrauen. Dr. Berg hob etwas resignierend die Hände.
„Das liegt in den letzten Jahren hauptsächlich daran, dass das Finden von Begabten in der modernen Welt von Überwachung und Kontrolle durch staatliche Organe immer schwieriger wird. Zum anderen liegt es auch an einer immer häufiger werdenden, mangelnden körperlichen und geistigen Eignung.“
Lucas schüttelt ungläubig den Kopf.
„Mitte letzten Jahres sind zum neuen Schuljahresbeginn 16 Schüler eingetroffen. Diesmal also leider kein Heiler. Schon in der ersten Woche ist einer der beiden Astralmagier während des Sportunterrichts ausgefallen. Eine eingehende Untersuchung ergab, dass er an einem Herzfehler leidet, der bei den Voruntersuchungen nicht festgestellt worden ist. Das ist eigentlich sehr selten, kann aber passieren, wie mir erklärt worden ist. Nach etwa zwei Monaten mussten wir einen der Elementare nach Hause schicken. Er hatte starke psychische Probleme mit der Tatsache, dass er magisch begabt ist. Je mehr er darüber erfuhr, desto hektischer wurde er, was zu regelrechten Panikattacken führte. Bei seinem letzten Unterricht hätte er beinahe seinen Lehrer und seinen Mitschüler mit einem Feuerball verletzt.“
Christian schüttelte ungläubig den Kopf. Die Magie war eine Gabe, kein Fluch. Nichts, wovor man sich fürchten musste, man musste nur vorsichtig und bedacht damit umgehen.
„Ja, und der Dritte, einer der Bannmagier ist ein Kapitel für sich. Wir haben es den Schülern nicht erzählt und ich möchte sie bitten, es auch nicht zu tun, denn dieser junge Mann hat uns nach etwa vier Monaten kommentarlos verlassen. Er ist der Überwachung entkommen und spurlos verschwunden.“
Lucas sah erstaunt auf.
„Er ist der Überwachung entkommen?“
Dr. Berg verzog etwas peinlich berührt das Gesicht.
„Ja. Wie sie ja vielleicht noch wissen, ist es den Schülern erlaubt, außerhalb der Unterrichtszeit das Schulgelände zu verlassen. Normalerweise werden sie von unserer Security, den Magiern des Stabes oder von freien Mitarbeitern überwacht. Solange sie nicht vereidigt sind, liegt das im Interesse der Schule und dient auch der Sicherheit der Schüler.“
Lucas nahm sich vor, einmal mit Lars oder Hendrik darüber zu sprechen.
„Wie auch immer, der besagte junge Mann hat es, absichtlich oder unabsichtlich geschafft, der Überwachung zu entkommen. Das Interessante jedoch ist, dass etwa vier Wochen später bei einem Einsatz ganz in der Nähe hier, nach dem Schließen eines Tores, die Leiche des Jungen dort entdeckt wurde. Den Spuren nach zu urteilen, scheint er es selbst geöffnet zu haben.“
Lucas und Christian sahen sich verblüfft an.
„Weiß man etwas über ein Motiv oder den Hintergrund?“
„Nichts. Wir haben, wie gesagt, auch nichts veröffentlicht und auch keine Befragung oder sonst etwas durchgeführt. Ich muss sie also noch einmal Bitten, nichts darüber verlauten zu lassen.“
Lucas und Christian nickten simultan. Doktor Berg legte sich jetzt etwas in seinem Schreibtischstuhl zurück.
„Das führte also dazu, dass wir jetzt, nach erst sechs Monaten drei Magier zu wenig haben. Das Verhalten der Schüler untereinander hat sich seit ihrem Eintreffen merklich geändert. Bis auf ein einziges Paar hat sich noch niemand zu einer Partnerschaft entschlossen. Bei den Kampfmagiern scheint ein harter Konkurrenzkampf ausgebrochen zu sein. Das persönliche Verhalten untereinander hat sich merklich abgekühlt. Bei den anderen Magiern scheint sich ein sehr promiskuitives Verhalten herausgebildet zu haben. Irgendwelche Beziehungsprobleme werden fast an jedem zweiten Morgen lautstark in der Cafeteria ausgetragen.“
Dr. Berg sah Christian nachdenklich an.
„In welcher Form sich das ändert, sobald sie dort eingetroffen sind, weiß ich nicht. Ich werde sie heute im Laufe des Tages vorstellen und auch den Grund bekanntgeben, warum sie hier sind.“
Christian nickte zustimmend.
„Herrn Lanz-Ravensberg werden wir als ihren Begleiter vorstellen und wenn er nichts dagegen hat, könnte er vielleicht ein paar kleine Vorlesungen halten über Astralmagie oder Kampftaktiken.“
Lucas hob die Augenbrauen, nickte aber zustimmend.
„Ein Letztes noch. Da sie ja keine Schüler mehr sind, sich aber meistens bei ihnen aufhalten, möchte ich sie bitten, hier auf dem Schulgelände ihre Uniformen zu tragen. Jetzt, ab dem Frühjahr, dürfte die kurze Version ausreichend sein.“
Christian grinste Lucas an.
„Endlich hab‘ ich auch mal recht behalten.“
Dann wandte er sich an Dr. Berg.
„Wir sind darauf vorbereitet. Wann wollen sie uns vorstellen?“
„Meine Herren, wir haben Sie heute hier zu diesem ungewöhnlichen Termin zusammengerufen, weil ich eine Ankündigung zu machen habe, die Ihre gesamte Klasse betrifft.“
Dr. Berg stand hinter dem Rednerpult in der Aula, zwei Schritte hinter ihm standen Lucas und Christian in ihren Uniformen. Die kurzärmelige Sommerversion bestand aus schwarzer Hose und weißem Hemd mit den farbigen Dienstgradabzeichen auf den Schultern. Die Schüler saßen in zwei Reihen vor dem Pult.
„Wie Sie sehen können, haben wir zwei Besucher aus dem Bereich des Einsatzkommandos. Der Anlass ist eigentlich ein trauriger. Leutnant Lundquist,“ damit trat Christian einen Schritt nach vorne, „hat in einem Gefecht gegen die Dämonen seinen Partner und Kampfmagier verloren.“
Ein leises Raunen ging durch die beiden Stuhlreihen.
„Auf seinen eigenen Wunsch hin, haben das Einsatzkommando und die Schule erlaubt, dass er hier bis zum Ende des Schuljahres etwas Zeit verbringen darf. Er wird das Lehrpersonal ein wenig unterstützen. Oberleutnant Lanz-Ravensberg wird ihn während der ersten vier bis sechs Wochen als persönlicher Freund begleiten, uns dann aber verlassen. Vielen Dank.“
Als sich die Schüler erhoben, sah Lucas viele neugierige Blicke und auch die Blicke einiger Kampfmagier, die an Christian hängen blieben. Anscheinend hatten einige begriffen, warum er hierhergekommen war. Als die Schüler langsam den Raum verließen, fiel Lucas noch etwas anderes auf. Bei den verbliebenen dreizehn Schülern waren anscheinend mehr Große als normalerweise. Er sah mindestens drei, die er auf über 1,90 Meter schätzte. In seiner Klasse waren es damals auch drei, aber sie waren achtzehn Schüler gewesen.
„Na, schon was entdeckt?“
Lucas sah zu Christian herunter.
„Wieso ich? Ich habe einen. Eigentlich sogar zwei. Wenn man es recht bedenkt, sind wir sogar ein ganzes Rudel.“
Christian sah zu Lucas auf.
„Ich weiß. Ich bin euch auch sehr dankbar für das, was ihr alle für mich getan habt. Aber so ganz verstehe ich eure Beziehungen zueinander doch noch nicht.“
Er seufzte leise.
„Zuerst muss ich wohl mit mir selber ins Reine kommen. Ich weiß, ich habe dem Plan zugestimmt, aber jetzt, wo ich die Jungs gesehen habe… Die sind drei oder sogar vier Jahre jünger als ich. Das ist für viele schon ein Generationensprung. Außerdem, hast du gesehen? Da sind so einige einen ganzen Kopf größer als ich.“
Lucas grinste wieder herunter.
„Ach so? Ich wusste gar nicht dass du damit ein Problem hast. Kevin ist auch nicht viel größer als du, aber der hat sich schnell dran gewöhnt. Und ich bin doch auch nicht so abschreckend oder?“
Christian blickte nachdenklich nach oben.
„Hmmm, wenn ich mir das so recht überlege…“
Lachend wich er dem spielerischen Schlag von Lucas aus. Der deutete jetzt mit dem Daumen zur Tür.
„Außerdem, ob jünger oder nicht, die sind mit der gleichen Absicht hierhergekommen wie wir vor vier Jahren.“
„Magie zu lernen?“
„Ja, das natürlich auch.“
Das Abendessen war die erste gemeinsame Veranstaltung bei der Lucas und Christian den Rest der Schüler wiedersahen. Vorher hatten sie ihre Stuben im Zentralgebäude bezogen, dann hatten sie sich noch kurz bei Lucas getroffen.
„Lucas, ich weiß nicht. Irgendwie habe ich etwas Angst vor der Situation.“
„Hey, kein Problem. Die Welpen beißen nicht, die wollen nur spielen.“
Christian sah Lucas amüsiert an.
„Du bist deutlich zu viel mit Robin zusammen. Aber mal im ernst. Vielleicht ist das ja das Problem, dass die nur spielen wollen. Ich bin nicht bereit, mit irgendjemandem mal so probeweise ins Bett zu hüpfen.“
„Ganz ruhig. Das verlangt ja auch niemand von dir. Du bist nicht gezwungen, irgendetwas zu machen. Wenn ich dir einen Rat geben sollte, würde ich sagen, du verhältst dich ruhig und schweigsam, etwas zurückgezogen, aber freundlich. Dann müssen die Jungs, die es interessiert, schon auf dich zukommen. So und jetzt hab‘ ich Hunger.“
In der Cafeteria erstarben fast alle Gespräche, als die beiden hereinkamen und sich an der Essensausgabe anstellten. Die beiden Jungen vor ihnen versuchten krampfhaft, sich nicht umzudrehen oder auch nur ein Wort zu sagen.
Schweigend gingen Lucas und Christian zu einem Tisch in einer der hintersten Ecken. Von hier aus konnte man gut den gesamten Speisesaal überblicken.
Das erste was Lucas auffiel war, dass nur ein einziger Tisch mit vier Mann voll besetzt war. An den anderen Tischen saßen maximal zwei, sehr oft auch nur eine Person.
„Sehr soziales Zusammenleben hier“, grummelte Christian nach einem kurzen Rundblick.
„Jep. Alle auf der Pirsch nach dem Märchenprinzen. Wird nicht einfach.“
Ein paar Minuten später bemerkte Lucas, dass sie von dem Vierertisch aus beobachtet wurden. Ein schlanker Junge mit goldblonden halblangen Haaren und einem blauen T-Shirt sah eine ganze Zeit lang aufmerksam zu ihnen herüber. Zwischendurch unterhielt er sich mit seinem Nebenmann in einem roten T-Shirt. Die beiden anderen am Tisch konnte Lucas nicht erkennen, weil sie mit dem Rücken zu ihm saßen, doch beide trugen ebenfalls ein rotes T-Shirt.
Christian erhob sich.
„Ich geh‘ schon mal rüber auf meine Bude. Ich weiß echt nicht, wie du so viel futtern kannst.“
Damit deutete er auf den Teller mit den aufgehäuften Bratkartoffeln.
„Alles für die Muckis.“
Lucas winkelte den rechten Arm an und deutete mit der linken auf seinen Bizeps. Christian lachte laut.
„Okay, verstanden. Dann iss mal schön weiter. Wenn du nichts dagegen hast, komm ich nachher noch mal kurz vorbei.“
„Okay, bis dann.“
Lucas futterte gedankenverloren seine Bratkartoffeln, als er einen Schatten neben seinem Tisch wahrnahm. Erstaunt sah er auf. Vor seinem Tisch stand der blondgelockte Bannmagier, der ihn schon vorhin beobachtet hatte. Mit einem kurzen Rundblick bemerkte Lucas auch den Kampfmagier, mit dem dieser sich unterhalten hatte. Der stand jetzt etwas unschlüssig neben der Tablettrückgabe und starrte neugierig herüber.
„Entschuldigen Sie bitte, Herr Oberleutnant, aber dürfte ich Sie etwas fragen?“
Lucas seufzte innerlich. Fünf Jahre Altersunterschied und zwei Streifen schienen hier ja zwei Welten zu trennen.
„Ja, bitte. Aber erstens darfst du Platz nehmen. Zweitens, eine Anrede mit dem Dienstgrad ist nur für förmliche Anlässe. Und das ist beim Essen bestimmt nicht der Fall. Die Streifen kennzeichnen im täglichen Dienst lediglich den Ausbildungsstand und später die Führungsebene. Also, mein Name ist Lucas. Was führt dich her?“
Der Junge vor ihm starrte Lucas mit großen blauen Augen an. Zögernd nahm er auf dem Stuhl, vor dem er stand, Platz. Unsicher sah er sich um.
„Ach so, ja. Warum hast du deinen Partner zurückgelassen? Ich beiß‘ nicht. Und wenn ja, wäre er doch wahrscheinlich besser mitgekommen. Ihr solltet euch schon hier daran gewöhnen alles, aber auch wirklich alles, gemeinsam zu machen. Erspart auch viele Erklärungen.“
Mit einem deutlichen Aufatmen drehte sich der Bannmagier um und winkte seinem Partner. Zögernd kam dieser näher.
„Vielen Dank für Ihre… äh, deine Zeit. Mein Name ist -„
Und jetzt grinste er Lucas breit an
„Luca, ohne ‚s‘ am Ende. Und dies hier ist Lennart, mein Partner.“
Der Kampfmagier war groß, schlank und hatte zu einer sehr hellen Haut hellrote Haare, die Lucas sofort an etwas erinnerten.
„Konichiwa, Ichigo-kun.“
Ohne zu zögern verbeugte sich der Junge.
„Konichiwa, sensei.“
Alle drei brachen in leises Lachen aus.
„Nimm ruhig Platz, Lennart. Wie ich gerade erklärt habe, sind auch ältere Jahrgänge an einen formlosen Umgang gewöhnt.“
Mit hochgezogenen Augenbrauen nahm sich Lennart den Stuhl neben seinem Partner und setzte sich.
„So, was führt euch zu mir. Da ihr abgewartet habt bis Christian weg war, nehme ich an, es geht um ihn.“
Luca wurde rot und sah auf die Tischplatte. Lennart sah ihn kurz an, grinste ein wenig und nickte dann deutlich.
„Ja. Seit heute Nachmittag herrscht der Ausnahmezustand. Die Kampfmagier drehen alle ab, naja, einige zumindest. Es ist sogar schon zu einer Schlägerei gekommen.“
„Was?! Alles wegen Christian? Ich fürchte wir haben die Dynamik hier deutlich unterschätzt.“
Luca sah wieder von der Tischplatte hoch.
„Ich weiß, es klingt etwas ungehörig, aber könnte eh… Christian seine Wahl ziemlich schnell treffen? Selbst bei den anderen Magiern ist Unruhe. Heute Nachmittag war an Unterricht nicht zu denken. Die beiden anderen waren so aufgedreht, dass unser Lehrer den Thaumaturgieunterricht abgebrochen hat.“
Lucas dachte angestrengt nach. Die ganze Sache lief deutlich aus dem Ruder. So war das alles nicht gedacht gewesen.
„Vielen Dank für die Info. Ich spreche heute Abend mit Christian und wir werden eine Lösung finden. Euch beiden noch einen schönen Abend, wir sehen uns spätestens morgen früh beim Frühstück.“
Etwa eine Stunde nach dem Abendessen war Christian bei Lucas erschienen und beide lagen jetzt, komplett bekleidet, nebeneinander auf dem Bett. Christian hatte die Erfahrung gemacht, dass man so am besten Informationen austauschen konnte, man behielt die Nähe zu seinem Gesprächspartner, sah ihn aber nicht an um den Inhalt der Informationen nicht durch Mimik oder Gestik vorzuinterpretieren.
Als Lucas von seinem Gespräch berichtete war Christian auffällig still.
„Was ist? Was hältst du von der Situation?“
„Ich hab‘ das so nicht gewollt. Ich hätte nie geglaubt, dass sich wegen mir ein gutes Dutzend Jungs mal in die Haare bekommen würden. Das ist doch alles Mist. Ich bin ja jetzt fast gezwungen, mich schnell für irgendjemanden zu entscheiden. Das kann ich doch gar nicht. Ich kenne ja keinen wirklich richtig.“
„Na, so wirklich wirst du jemanden auch erst nach Jahren kennenlernen. Was wäre denn dein Märchenprinz?“
Christian drehte sich zu Lucas herum.
„Mein Märchenprinz? Ich bin da völlig offen. Es müssen mehr die inneren Werte sein. Aber so gefragt, hm…, also ein bisschen sportlich, nicht all zu groß und … ach was weiß ich.“
Lucas stand vom Bett auf und sah auf Christian herab.
„Steh‘ mal bitte auf.“
Kommentarlos erhob sich Christian. Lucas stellte sich etwa einen halben Meter vor ihn.
„Jetzt schau mir mal in die Augen.“
Christian hatte schon weit mehr Merkwürdigkeiten mit Lucas und den anderen erlebt, als dass er diese Aufforderung in Frage stellen würde.
Als Christian ihn ansah ging Lucas langsam in die Knie. An einer bestimmten Stelle hielt er an.
„So, das ist die Höhe, in der du jemanden in die Augen sehen kannst ohne den Kopf merklich zu heben. Das sind etwa zehn Zentimeter. Dein Märchenprinz sollte also nicht größer als 1,85 sein.“
Christian sah Lucas merkwürdig an.
„Das soll helfen?“
„Ha. Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, es sind diesmal auffallend viele große Jungs dabei. Ich glaube, so können wir schon zwei oder drei ausschließen.“
„Lucas, du bist blöd. Vielleicht ist ja gerade doch der richtige dabei. So geht das nicht.“
Lucas nickte.
„Du hast ja Recht. Irgendetwas wird uns aber schon noch einfallen. Ich geh jetzt schlafen. Du kannst gerne hierbleiben.“
Damit verschwand er im Bad. Als er nach ein paar Minuten wieder herauskam hatte sich Christian schon unter die Bettdecke gekuschelt. Auf dem Stuhl am Schreibtisch lagen säuberlich gestapelt seine Sachen. Mit einem kurzen Blick darauf lächelte Lucas und zog sich dann ebenfalls komplett aus. Danach schlüpfte auch er unter die Bettdecke und zog Christian sanft an sich.
„Es wird schon wieder, Kleiner.“
Christian antwortete nur mit einem tiefen Seufzer.
Lucas hatte sich entschieden, am Sportunterricht teilzunehmen. Auf seinen Wunsch hin hatte der Sportlehrer die Klasse geteilt und die Kampfmagier spielten jetzt unter sich Basketball. Lucas stand an eine Seitenwand gelehnt und beobachtete das Spiel. Es lief nicht besonders gut, denn mindestens die Hälfte der Spieler ließ sich durch die Anwesenheit des Astralmagiers ablenken. Zum Teil war daran auch die Tatsache schuld, dass Lucas sich das Sporthemd ausgezogen und über die Schulter gelegt hatte.
Zur Kennzeichnung der Mannschaften trug auch von den Kampfmagiern die Hälfte nur die knappe Sporthose. Lucas ließ seinen Blick offen schweifen.
Einen kannte er bereits. Ichigo-kun hatte ihn beim Hereinkommen mit
„Hallo, Lucas“, begrüßt und jede Menge erstaunte Blicke geerntet.
Von der sportlichen Seite betrachtet waren die Jungs nicht gerade der Renner. Die Großen hätten beim Basketball eigentlich einen Vorteil haben sollen, doch ihre Bewegungen waren etwas unkoordiniert und ungeübt. Bis auf Lennart, den Ichigo-Verschnitt, konnte nur noch ein weiterer einigermaßen Basketball spielen. Es war, wie Lucas schnell feststellte, der zweite rothaarige in der Truppe. Dieser hier hatte dunklere Haare als Lennart oder Lucas, fast schon kastanienrot, so wie Lucien. Die Farbe genau zu bestimmen war schwer, denn die Haare waren ziemlich kurz gehalten.
Ein weiter Junge fiel Lucas auf, weniger durch sportliches, mehr durch unsportliches Verhalten. Gerade jetzt hatte er den Ball abgenommen bekommen und hakte dem davoneilenden Spieler hinterher. Dieser konnte sein Gleichgewicht nicht mehr halten und fing an, mit den Armen zu rudern. Dabei schlug er dem kleinen Rothaarigen mit dem Ellenbogen mitten ins Gesicht.
Lucas war schon bei ihm, als er gerade auf dem Boden aufschlug.
„Ist dir was passiert?“
„Nee, geht schon. Er hat Gott sei Dank nicht die Nase getroffen.“
Dafür fing die linke Wangenseite unterhalb des Jochbeins an, anzuschwellen.
„Komm mit, das muss gekühlt werden.“
Widerstandslos ließ der kleine Kampfmagier sich auf die Beine helfen und Lucas schob ihn in Richtung der Umkleidekabinen.
Dort angekommen, schnappte sich Lucas eines der Handtücher aus dem Bereitschaftsspind und hielt es unter kaltes Wasser. Dann legte er dem Jungen das kalte Handtuch auf die linke Gesichtshälfte. Der zuckte erst etwas zusammen, aber dann presste er selbst das Handtuch fester an die Wange.
„So, sag‘ mal, wie heißt du eigentlich?“
„Ich? Oh, ich bin Leon. Leon Freiberger. Und du bist Lucas, stimmt’s?“
Lucas nickte grinsend. Anscheinend waren doch nicht alle so zurückhaltend, wie es beim Essen erschienen war.
„Stimmt. Hat sich das herumgesprochen?“
„Ja, klar. Ich bin meistens mit Luca und Lennart zusammen. Wir sind die Triple-L. Die anderen Magier sind ja so bescheuert, die reden nur ein paar Worte mit einem und drehen sich gleich um zum Nächsten. Und die lieben Kollegen der Kampfmagie sind noch schlimmer. Wenn man mal ein Wort mit einem Magier wechselt, wird man fast abgedrängt.“
Lucas sah zu dem leicht angeschwollenen Gesicht mit den leichten Sommersprossen herunter und seufzte. Das würde schwierig werden. Er würde sich etwas einfallen lassen müssen. Am besten er sprach noch einmal mit Lennart und Luca.
Tatsächlich, die Halle war leer. Lucas griff um die Ecke und schaltete das Licht ein.
„Oh, wir wussten gar nicht, dass hier noch eine Halle ist.“
„Ist ja auch gut versteckt. An der Tür muss man schon ein bisschen stärker ziehen.“
Neugierig traten Lennart und Luca näher. Die ersten Dinge die Auffielen, waren die Trainingsmatte in der Mitte der Halle und die Hochsprungmatte an der Stirnseite.
Lucas deutete nach links.
„Hinter den beiden Toren sind die Geräte und hinter der unscheinbaren Holztür befinden sich Umkleidekabinen mit Spindraum, Duschen, Toiletten und ein Kraftraum. Das Ganze ist auch von außen erreichbar. Schlüssel gibt’s in der Verwaltung.“
Lennart sah ihn mit großen Augen an.
„Woher… ach so, ich nehme an ihr habt damals die Halle hier auch genutzt.“
„Damals? Hallo, es ist noch nicht einmal zwei Jahre her, dass wir hier weg sind. Aber richtig. Wir haben uns hier mit einem kleinen Kreis getroffen, Sport gemacht, Probleme gewälzt und ein wenig gefeiert.“
Lucas erzählte von den Abenden und Nächten in der Halle, vom Kennenlernen, von Problembewältigungen und von Alexanders Geburtstag.
„Wie, du willst damit sagen, ihr habt fast eine ganze Nacht hier mit zehn Mann splitternackt auf der Matte gelegen? Und nichts ist passiert?“
Lucas grinste ihn an.
„Wer hat denn gesagt, dass nichts passiert ist. Aber auch wenn du in einer größeren Gruppe zusammen bist, bleibt die Paarbildung dominant. Es gab schon mal kleinere Gruppen in denen sich quer durcheinander aneinander gekuschelt wurde, aber eine Orgie? Nein, definitiv nicht.“
Lennart sah Luca fragend an, der zuckte nur mit den Schultern. Innerhalb weniger Sekunden hatte sich Lennart komplett entkleidet und auf die Hochsprungmatte geworfen.
Luca sah ihn erstaunt an. Das hatte er von seinem sonst etwas zurückhaltenden Partner nicht erwartet. Lucas sah auf den nackten Jungen herab und erkannte in dem herausfordernden Blick eine kleine Provokation. Ohne zu zögern zog sich Lucas aus und legte sich neben Lennart.
Luca sah auf die beiden herab. Fast genau gleich groß, war Lennart deutlich schlanker. Seine Arme und Beine wirkten an dem großen Körper etwas dünn und im Gegensatz zu dem sportlich muskulösen Lucas war Lennart in den Schultern fast nur halb so breit. Lennarts Haare waren karottenrot, während die von Lucas etwas dunkler waren, mehr fuchsrot. Die helle Haut konnte keiner von den beiden verstecken.
Mit einem Grinsen entledigte sich auch Luca jetzt seiner Sachen. Nachdenklich sah er auf die beiden herab. Lucas beobachtete ihn genau.
„So, Luca. Jetzt kannst du mir mal verraten, warum du mit Lennart eine Partnerschaft eingegangen bist. Du hast einen bestimmten Kampfmagier gewählt, obwohl eine ganze Reihe zur Auswahl stand. Warum diesen?“
Lennart sah erschrocken zu Lucas hinüber, doch Luca nickte.
„Ganz einfach. Er ist zwar nicht der schönste…“
„Hey, sieh dich vor.“
„… aber ich liebe ihn. Ich habe es ihm noch nie so deutlich gesagt, aber es ist sein Auftreten, sein Umgang mit mir, mit Anderen, seine Toleranz, auch mir gegenüber, wenn ich mal ausraste. Alles das macht ihn für mich nicht nur zum idealen Partner, sondern auch zu meinem liebsten Menschen.“
Lennart sah ihn erstaunt an, dann erhob er sich halb und zog Luca zu sich herunter auf die Matte. Sie fanden sich zu einem langen Kuss.
Lucas sah an den beiden herunter und räusperte sich.
„Okay, wie schon gesagt, keine Orgien, bitte.“
Lennart und Luca sahen ebenfalls an sich herunter und erröteten, was Lucas echt niedlich fand.
„Jetzt kann ich dazu kommen, was ich euch eigentlich fragen wollte, nachdem ihr das hier gesehen habt. Gibt es noch ein Paar oder vielleicht ein oder zwei Mann, mit denen ihr hier gerne etwas Freizeit verbringen würdet. Schwerpunkt in einer Sporthalle ist nun mal Sport. Wir könnten hier Leichtathletik oder Geräteturnen üben und uns dabei besser kennenlernen.“
Lennart sah Luca an. Der zuckte mit den Schultern. Doch dann gab er impulsiv ein paar Ideen von sich.
„Klar, auf jeden Fall Leon. Hm, dann vielleicht dieser Astralmagier. Der ist sehr nett und umgänglich.“
„Du meinst den Dicken?“
„Der ist nicht dick. Er ist etwas korpulent, zugegeben, aber er hat, seit er hier angekommen ist, eine ganze Menge abgenommen. Er trainiert, hab‘ ich gehört, mit einem Kampfmagier zusammen, ich weiß aber nicht mit wem. Wären die nichts?“
Lucas schoss die Erinnerung an Timo durch den Kopf, als dieser Dorian und Alexander abgekanzelt hatte, weil sie seinen Namen nicht wussten.
‚Wir sind nur achtzehn Schüler und wir haben uns grüppchenweise abgekapselt, ohne unsere Nachbarn zu beachten. Wäre nicht der Zwang der Partnersuche, würde wahrscheinlich niemand den Namen des anderen wissen‘.
Anscheinend war es hier genauso, möglicherweise war es ja sogar in jedem Schuljahr so.
„Stimmt, die Jungs haben Felix schon mal damit aufgezogen, ob er auf Fatboys steht, darauf hat es für Oliver unschön was aufs Maul gegeben. Leon hat die beiden dann getrennt. Der ist sehr auf friedliches Zusammenleben geeicht.“
„Ja, richtig. Leon ist ja auch ganz niedlich. Wenn ich nicht schon einen hätte…“
Ein kurzer Schlag auf den Hinterkopf beendete abrupt Luca‘s Ausführungen. Beide Jungen lachten sich an, dann fanden sie sich wieder zu einem Kuss.
Lucas grinste und stützte sich auf einen Arm.
„Hey, wie gesagt, keine Orgien.“
Lennart und Luca sprangen auf und wie abgesprochen stürzten sie sich auf Lucas. Ein wildes Gerangel entwickelte sich auf der Matte, bis Lucas ein Einsahen hatte und sich von Luca auf den Rücken pinnen ließ. Ohne Lucas zum Luftholen kommen zu lassen, senkte Luca seinen Kopf und gab auch Lucas einen langen intensiven Kuss. Plötzlich merkte Lucas, dass Lennart Luca von ihm herunterdrängte. Etwas gespannt wartete er auf eine Reaktion von Luca, der sich prompt auf die Seite fallen ließ. Dann erschien Lennart in seinem Blickfeld.
„Hey, lass mir auch noch was.“
Damit senkte Lennart ebenfalls seinen Kopf zu einem Kuss. Luca betrachtete die beiden grinsend und sah dann an ihnen herab. Bei dem Anblick von Lucas weiteten sich seine Augen erstaunt.
„Hey, Lucas, ich dachte keine Orgien?“
Christian drehte sich zu Lucas herum und sah ihn fragend an.
„Und? Was ist dann passiert?“
Lucas drehte sich jetzt ebenfalls zu Christian. Die beiden hatten entspannt auf dem Rücken nebeneinander in Christians Bett gelegen und Lucas hatte von seinem Tag erzählt.
„Nicht viel mehr. Was hast du denn gedacht? Das Thema lautete ‚keine Orgien‘. Und daran haben wir uns auch gehalten.“
Christian seufzte.
„Warum muss das so kompliziert sein?“
„Das ist nicht kompliziert, das ist Liebe. Oder eben gerade keine. Lass es einfach auf dich zukommen. Irgendwann oder irgendwie kommt die Erleuchtung.“
„Ja, irgendwann.“
Darauf folgte noch ein tiefer Seufzer von Christian.
Lucas legte seinen Arm über Christian. Der drehte sich einmal um und kuschelte sich mit seiner Rückseite an Lucas‘ Sixpack. Lucas gab ihm einen Kuss in den Nacken.
„Gute Nacht, Kleiner.“
„Gute Nacht.“
Der nächste Abend fing ruhig an. Lucas und Christian waren schon in der Sporthalle und hatten sich ihre Geräte ausgesucht. Lucas hatte sich für die Bodenmatte entschieden und machte eine paar einfache Übungen zum Aufwärmen. Christian übte vorsichtig ein paar Sprünge auf dem Trampolin.
Die kleine Stahltür öffnete sich und Christian sah zwei Jungs mit fragenden Gesichtern, die von zwei anderen energisch hereingeschoben wurden.
Die beiden ersten waren fast gleich groß, einer dunkelblond, der andere hatte braune oder fast schwarze Haare. Beide trugen das kurze Sportzeug und Hallenschuhe. Direkt dahinter kam, im gleichen Outfit, ein Paar, in dem Christian aus den Erzählungen von Lucas Lennart und Luca erkannte.
Mit einem Salto landete Christian auf einer der seitlichen Bodenmatten und auch Lucas hatte die Ankömmlinge bemerkt.
„Hi, Lucas. Wir haben es geschafft, die beiden zu überreden. Das sind Daniel und Felix. Daniel ist unser letzter Astralmagier und Felix sein Kampfmagier. Leon kommt wohl etwas später, der kriegt noch Nachhilfe in Latein.“
Lucas begrüßte die beiden und dachte an den Kommentar von Lennart. Doch wie Luca es formuliert hatte, Daniel war nicht dick, er war korpulent. Felix sah etwas sportlicher aus, doch Lucas schätzte, dass die beiden keine 10 kg auseinander lagen.
„Schön, dass ihr erschienen seid. Das hier ist Christian. Er ist ja vom Direktor vorgestellt worden. Die beiden sind Lennart und Luca.“
„Hab‘ ich mir fast gedacht. Herzlich willkommen im Reich des Sports. Es wird niemand zu etwas genötigt. Jeder darf sich frei entfalten. Alle Geräte sind benutzbar, wir können aber auch kleine Ballspiele oder irgendetwas andres machen.“
Daniel sah sichtlich erleichtert aus und Felix grinste ihn an. Lennart gab Daniel einen kleinen Stoß an die Schulter.
„Siehste, ist nicht so schlimm, wie du dachtest. Ich hab doch gesagt, die beiden sind ganz locker.“
„Na, ja. Ich hab das auch schon ganz anders kennengelernt.“
Auf die fragenden Blicke hin zuckte Felix mit den Schultern.
„Na, mal ehrlich. Gut die Hälfte meiner lieben Kameraden mit den roten Hemden sind Armleuchter. Du natürlich nicht, Lennart. Aber nimm doch mal Oliver. Der ist einfach nur rücksichtslos. Sowohl beim Sport, als auch sonst. Gestern hat er ja durch seine dämliche Aktion Leon umgelegt beim Basketball und seine Kommentare über Daniel sind auch nicht gerade sehr freundlich. Oder nehmt mal Jan. Der schnappt sich alles was er kriegen kann. Neulich hat er zu Torben gesagt: 'Ich fick dich, bis du bewusstlos wirst‘.“
„Was?“
Lennart starrte Felix überrascht an. Bevor er noch mehr sagen konnte, öffnete sich die Tür und eine weitere Person betrat die Halle. Christian musterte den Neuzugang aus schmalen Augen und lächelte ein wenig. Aus den Beschreibungen von Lucas wusste er, dass dies nur Leon sein konnte. Die kurzen, roten Haare, die leicht geschwollene linke Gesichtshälfte und die Sommersprossen ließen keinen anderen Schluss zu.
„Ah, da ist ja der Nächste. Chris, das ist Leon.“
„Er sieht genauso aus, wie du ihn beschrieben hast.“
Leon war näher gekommen und hatte die Bemerkung von Chris gehört.
„Huh? Ihr redet über mich? Was hab‘ ich verbrochen?“
Lucas hob beide Hände.
„Nichts. Gar nichts. Ich habe Christian nur von deinem etwas unglücklichen Ende beim Basketball erzählt.“
Leons Gesicht nahm die Farbe seiner Haare an.
„Das war die Schuld von Oliver. Der Idiot kann nicht mal anständig verlieren.“
„Siehste, hab‘ ich doch gesagt.“
Die anderen nickten zustimmend zu Felix‘ Kommentar.
„Na gut, aber was machen wir heute Abend hier?“
Lucas wollte nicht einfach etwas bestimmen und versuchte, alle an einer Entscheidung zu beteiligen, doch die Antwort war nur Schweigen. Christian seufzte auf.
„Wie wär’s, wenn du eine Vorführung machst? Pauschenpferd?“
Lucas sah Christian säuerlich an, aber dann holten sie tatsächlich das Pferd aus dem Stall. Obwohl Lucas schon längere Zeit nicht mehr trainiert hatte, klappten die Grundübungen noch einigermaßen.
Die Jungen waren erstaunt und auch begeistert, besonders Daniel.
„Oh, Mann. Sowas möchte ich auch mal können.“
Lucas sah ihn nachdenklich an, dann winkte er ihn heran.
„Warum nicht? Ihr könnt es alle einmal versuchen. Wir machen nur ein paar ganz einfache Bewegungen.“
Eine gute Stunde später saßen sechs etwas erschöpfte junge Männer auf der Matte neben dem Pferd und grinsten sich an. Das war eine schöne Herausforderung gewesen und alle, sogar Daniel, hatten sich gar nicht so ungeschickt angestellt.
Luca schielte hinüber zur Sprungmatte und tuschelte mit Lennart. Der nickte grinsend. Luca stand auf und sah auf die anderen herab.
„So, wir machen noch ein kurzes chill-out auf der Sprungmatte. Jeder darf mitkommen, aber nur unter einer Bedingung.“
Alle machten ein ratloses Gesicht, bis auf Lucas, der etwas vermutete.
„Die Bedingung ist: Keine Klamotten auf der Sprungmatte.“
Lennart grinste breit, ging hinüber, zog sich aus und hechtete auf die Matte. Luca folgte ihm nur Sekunden später. Felix und Daniel sahen sich ratlos an, während Leon den beiden ohne zu Zögern auf die Matte folgte.
Christian sah Lucas vorwurfsvoll an.
„Das hast nicht etwa du angezettelt?“
„Oh nein. Ich habe gestern nur davon erzählt, was wir hier vor zwei Jahren alles in der Halle erlebt haben.“
Christian seufzte.
„Ja, das war ja auch Gesprächsstoff in der ganzen Klasse. Ich habe es nie ganz verstanden, was es heißt, zu lieben und doch zu teilen. Aber das ist ja hier auch nicht der Fall. Kommst du auch mit?“
Lucas grinste Chris nur kurz an und zog sein Hemd über den Kopf. Als er vor der Sprungmatte auch den Rest ablegte, war er sich ungeteilter Aufmerksamkeit sicher.
„So, Leute. Nur ganz wenige, kurze Regeln. Die Matte ist zum Entspannen und zum Reden da. Wie sich jeder einzelne entspannt, ist seine Sache, aber er hat seinen Nebenmann zu respektieren. Dann noch eines, keine Orgien. Wenn ihr mehr wollt als reden oder ein wenig kuscheln, nehmt euch eine Bude zu zweit, zu dritt oder wie viele auch immer, aber nicht hier.“
„Schon klar, aber wie wir gestern bereits festgestellt haben, ist entspannen in der Gruppe gar nicht so schlecht.“
Lennart rutschte etwas zu Lucas rüber und legte ihm seinen Kopf auf die Brust, während Luca einfach seinen Partner von hinten umarmte. Daniel und Felix sahen sich nochmals an, dann begann Daniel sich ebenfalls zu entkleiden, während Felix etwas verloren daneben stand.
„Komm her. Die beißen alle nicht. Und es passiert nichts. Du bist hier sicher.“
Bei der letzten Äußerung hob Christian etwas fragend den Kopf und auch Lucas, der nun gedankenverloren bei Lennart in den Haaren kraulte, drehte vorsichtig seinen Kopf. Leon hatte sich zwischen Lucas und Christian gedrängelt, so dass er seinen Kopf ebenfalls bei Lucas auf die Brust legen konnte, während seine Rückenpartie sich an Christian Vorderseite anschmiegte.
Zögern kam Felix nun näher und Daniel zog ihn hinunter auf die Matte.
Lucas bewegte sich vorsichtig, um Leon und Lennart nicht von sich herunter zu schieben, dann entspannte er sich und sah einfach nur zur Hallendecke.
„Um die kleine Versammlung hier ein wenig aufzulockern, werde ich einfach eine kleine Geschichte aus meinem Leben zum Besten geben. Es ist, wenn ich zurückblicke, eigentlich noch gar nicht so lange her. Da war ich auch erst siebzehn und bin abends in den Park gegangen um jemanden kennenzulernen. Ist dann aber gehörig danebengegangen.“
Lucas erzählte in knappen Worten die Geschichte, wie er überfallen worden war und sich dann noch knapp retten konnte. Auch die weitere Geschichte mit Pfarrer Scherer fügte er an. Als er geendet hatte, war erst einmal längeres Schweigen.
„Dann werde ich euch auch mal eine Geschichte erzählen, allerdings eine von Liebe und Tod.“
„Chris, das brauchst du nicht. Niemand muss hier etwas erzählen. Es reicht, wenn der Körper nackt ist, die Seele braucht nicht auch noch offenbart zu werden.“
„Schöne Formulierung, Lucas, aber ich möchte, dass zumindest einige hier wissen, wie ich mich fühle.“
Christian begann mit der Schule, jener, an der sie jetzt alle waren. Mit seiner Schüchternheit und seiner Begegnung mit Kevin. Mit der kleinen Starthilfe, die Robert und ihn zusammengebracht hatte. Dann kamen das Offiziersseminar in Schweden und die Einsatzkompanie. Mit fester Stimme erzählte Christian auch in allen Details ihren letzten Einsatz, bei dem Robert sein Leben gelassen hatte.
Während seiner Geschichte hatte Leon sich von Lucas gelöst und ganz zu Christian gedreht. Zum Ende hin spürte Christian, wie sich der Kampfmagier eng an ihn klammerte, so als wolle er ihm einen Halt geben. Anscheinend unbewusst streichelte Leon auch ganz leicht Christians Rücken.
Auch Lucas hatte die Reaktion von Leon bemerkt und sich so seine Gedanken gemacht.
Am Ende von Christians Geschichte war das Schweigen sogar noch länger als bei Lucas. Während der Erzählung hatten sich die Paare eng aneinandergedrängt, denn es war ihnen wohl bewusst geworden, dass auch ihnen ein solches Schicksal zustoßen könnte. Felix seufzte laut.
„Ich glaube, ich bin noch nicht so weit, aber, wenn wir wieder mal hier zusammen sind, werde ich euch auch meine Geschichte erzählen können.“
„Felix, das brauchst du nicht.“
Felix sah Daniel liebevoll an.
„Doch. Dann muss ich…, müssen wir es nicht alleine tragen. Es ist mir egal, was die anderen sagen, ich möchte nur nicht, dass es weiter in mich hineinfrisst.“
Lucas schob Lennart nun sanft zurück zu Luca und richtete sich auf.
„Dann werden wir öfter solche Abende machen. Ich bin zwar nicht lange hier, aber Chris wird auf jeden Fall länger bleiben. Los, es ist schon spät.“
Der erste, der in Reichweite war, war Leon und so bekam er den leichten Schlag auf sein Hinterteil, was ihn zu einem empörten Ausruf veranlasste.
„Hey, warum ich?“
Chris grinste ihn an.
„Damit du dich an diesen Abend erinnerst.“
„Oh, das werde ich ganz bestimmt auch so.“
Gleich am nächsten Abend war Lucas alleine in der kleinen Halle, als Leon ebenfalls alleine hereinkam.
„Hey, Hallo. Wo ist denn der Rest?“
„Wir haben etwas früher frei bekommen, aber die Magier machen noch den normalen Unterricht zu Ende.“
„Ach so. Und was führt dich so früh hierher?“
Leon druckste ein wenig herum.
„Also, um ehrlich zu sein, wollte ich mit dir reden.“
„Okay, worüber denn?“
Leon wurde rot, dann fing er etwas an zu stottern.
„Also… also, es geht da um, ich meine… naja, um den Sex halt.“
Jetzt glühte Leon wie eine Tomate. Lucas sah ihn erstaunt an. Dann wurde er sich bewusst, dass der Junge vor ihm ja erst siebzehn war und möglicherweise nicht so Erfahren wie er, mit seinen alten und weisen zweiundzwanzig.
„Komm mit auf die Matte. Und diesmal darfst du die Sachen anbehalten.“
Leon sah Lucas etwas merkwürdig an, folgte ihm aber auf die Sprungmatte und legte sich hin. Dann starrte er auf die Hallendecke.
„Also, was ist es?“
„Ich habe doch gar keine Erfahrung. Also, ich meine, ich finde Christian echt nett, aber er ist ja nun auch schon älter und hatte jemanden. Ich hatte noch nie einen festen Freund und ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich alles so einfach ist.“
Lucas drehte sich auf die Seite und sah Leon an.
„Was meinst du mit – einfach.“
„Na, der Sex halt. Alles eben. Wir sind damals ja nicht über… über das Wichsen hinausgekommen.“
Lucas schüttelte den Kopf.
„Meinst du nicht, dass das etwas ist, was du besser Chris fragen solltest?“
„Was? Nein! Ich kann ihn doch nicht fragen, ob er mich mag oder sogar, ob er mich haben will und dann gleichzeitig sagen, dass das mit dem Sex wohl noch dauern wird.“
Lucas legte sich wieder zurück und verdrehte dann die Augen, so dass Leon ihn nicht sehen konnte.
„Leon, wenn er dich mag, dann wird er hundertprozentig auf dich eingehen und auch langsam mit dir zusammen erkunden, was du möchtest, wie du es möchtest und wann du es möchtest.“
Leon schluckte schwer.
„Meinst du, er mag mich?“
Jetzt drehte sich Lucas wieder zu Leon. Der Junge lag wie ein Brett auf der Matte, von Entspannung keine Rede.
„Ich weiß es nicht, aber du magst ihn, nicht wahr?“
Leon nickte zögernd.
„Okay, du weißt, was dann auf dich zukommt? Ein Leben mit einem Elementar? Du musst seine Fähigkeiten ebenso lernen, wie er deine kennt. Ein Elementar ist wohl am vielseitigsten. Er kann Feuerbälle werfen, genauso wie er durch Feuer laufen kann. Er kann Wasser in alle seine Aggregatzustände bringen, genauso, wie er unter Wasser atmen kann. Er kann Stein in Sand umwandeln und auch umgekehrt.“
Leon hatte sich nun ebenfalls zu Lucas gedreht und sah ihn mit großen Augen an.
„Ein Elementar hat im Gefecht die Aufgabe, die Ritualmagier zu beschützen, wenn sie die Tore schließen. Ihr werdet die einzigen sein, die dann noch zwischen irgendeiner Bedrohung und den wehrlosen Bannmagiern stehen. Ihr werdet zu den Paaren gehören, bei denen beide Partner über die größte Auswahl an zerstörerischen Zaubern verfügen. Das wird zunächst dein Leben sein.“
Leons Gesichtsausdruck hatte von erstaunt zu strahlend gewechselt. Doch Lucas fuhr fort.
„Das ist die eine Seite. Die andere ist eure persönliche Beziehung. Ich kenne Chris nicht so gut wie die Jungs aus meiner eigenen Gruppe, aber ich weiß, dass er sehr empfindsam ist. Im Moment hat er sich eine Aufgabe gestellt, die er entschlossen durchführt, aber er hat einen weichen Kern. Und wehe dir, du spielst nur rum oder verletzt seine Gefühle.“
Leon sah verschreckt zu Lucas.
„Nein, nein. Ich spiele nicht herum. Ich weiß doch gar nicht, ob ich ihm überhaupt gefalle. Er hat mich doch gestern Abend nur kurz gesehen, als wir hier beim Sport waren. Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt sein Typ bin.“
Schnell erhob sich Leon und zog seine Sachen aus.
„Meinst du, das ist ausreichend?“
Lucas schüttelte den Kopf und musste wider Willen lachen.
„Ausreichend wofür? Es geht doch hier nicht um Äußerlichkeiten. Du kennst doch Luca und Lennart. Würdest du die beiden für ausgesprochen schön halten? Oder nimm Felix und Daniel. Die beiden halten zueinander, trotz der gehässigen Bemerkungen. Es geht nicht immer um tolles Aussehen. Die Persönlichkeiten müssen zueinander passen.“
Leon wurde nachdenklich und Lucas betrachtete ihn nun in Ruhe. Auf den Größenunterschied hatte Lucas nicht so geachtet, doch jetzt schätzte er, dass Leon etwa genauso groß war wie Chris. Seine Erscheinung schien auf sportliche Betätigung zu schließen, denn es waren die Ansätze zu einem Sixpack erkennbar. Leon war nicht etwa muskulös, eher durchtrainiert. Die helle Haut, mit denen wohl fast alle Rothaarigen zu kämpfen hatten, zeigte an den Schultern etliche Sommersprossen und vom Bauchnabel abwärts einen schmalen Streifen roter Haare.
Lucas grinste und deutete nun auf Leons Körpermitte.
„Um auf deine Frage zurückzukommen. Der dürfte ja wohl ausreichen.“
Leons Kopf ruckte nach unten und sein Blick fiel auf das fragliche Körperteil, das sich nun stolz präsentierte. Automatisch zuckten seine Hände nach vorne.
„Du brauchst dich nicht zu verstecken. Du bist hübsch. Steh‘ dazu.“
Bei der letzten Bemerkung grinste Lucas etwas zweideutig.
Mit einem etwas dümmlichen Grinsen setzte Leon sich wieder auf die Matte. Lucas hatte ihn gestern schon nackt gesehen, wenn auch nicht gerade in diesem Zustand. Aber es stimmte wohl, es war nichts, wofür er sich schämen müsste. Ganz im Gegenteil, er konnte stolz auf seinen Körper sein, auf jedes einzelne Teil davon.
Lucas sah auf die Uhr an der Hallenwand und dann zu Leon.
„Die scheinen ja heute wirklich länger zu machen. Was hast du eigentlich an Sport so gemacht? Vor dieser Schule hier.“
„Oh, zuhause war ich fast immer nur Radfahren oder Schwimmen.“
„Hm, für das Schwimmen ist es jetzt wohl etwas zu spät und Radfahren wird hier an der Schule leider nicht angeboten. Aber es gibt hier einen Kraftraum und wir könnten ja die Geräte nutzen, bis die anderen erscheinen.“
Später am Abend lagen Lucas und Christian wieder angezogen nebeneinander auf Christians Bett und erzählten von ihrem Tag.
„Fachmagie war irgendwie ätzend heute. Es ist ja nur noch ein Schüler da, genau wie bei den Astralmagiern, doch der Junge ist irgendwie daneben. Irgendetwas hat ihn heute wohl vollkommen abgelenkt. Hat mich fast an den Tag erinnert, an dem ich mir meine Augenbrauen abgesengt habe.“
„Ach so? Also Daniel ist da vollkommen pflegeleicht. So wie ich das sehe, sind die Ausbilder da schon weiter im Plan als vorgesehen.“
„Du warst heute noch in der Halle? Bei uns war leider erst so spät Schluss.“
Lucas erzählt Christian von dem Gespräch mit Leon. Zumindest gab es eine bereinigte Version ohne anatomische Einzelheiten.
„…und dann hat er mir gesagt, dass er dich mag. Mehr hat er sich nicht getraut.“
„Oh, was hast du ihm gesagt?“
„Gar nichts, das ist ja wohl deine Sache. Außerdem weiß ich nicht, ob du ihn auch magst.“
„Na ja. Also, als er da gestern Abend so neben mir lag, fand ich es schon sehr angenehm. Er ist irgendwie niedlich.“
„Niedlich? Hast du ihn dir mal genau angesehen? Der Junge ist richtig sportlich. Ich hab‘ ihn ja beim Basketball und gestern Abend bei den Fitnessgeräten erlebt. Der kann ohne weiteres mit dir mithalten. Ich werde morgen mal sehen, was die Nahkampfausbildung macht. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass er auch da gut aussieht.“
Christian lachte leise.
„Hey, ich will keine kleine Kampfmaschine. Sicherlich, beim Einsatz wäre das natürlich ideal, aber zu Hause brauche ich auch jemanden zum Kuscheln und zum Reden.“
Lucas dachte etwas wehmütig an Kevin und dann auch an den Rest des Rudels.
„Mir geht es ja ebenso. Ich bin aber mal gespannt, ob sich noch jemand von den Kampfmagiern so dicht an dich herantraut.“
Christian sah Lucas mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Was soll das denn heißen?“
„Na, wenn die mitbekommen, dass er dich etwas näher kennt, werden wahrscheinlich alle aus dem Knick kommen, die ihn ausstechen wollen.“
„Da kann ich gerne drauf verzichten.“
„Wart’s mal ab. So, ich werd‘ dann mal rübergehen. Ist schon spät.“
„Kannst auch bei mir bleiben. Um ehrlich zu sein, ich schlafe nicht gerne alleine.“
Lucas stand auf und ging in Richtung Bad. Vor der Tür drehte er sich noch einmal um.
„Ich weiß. Besonders beliebt ist da ein kuscheliges Wolfsfell.“
„Idiot!“
Lucas wich geschickt dem fliegenden Kopfkissen aus.
Als er aus dem Bad kam, ging Christian dort hinein. Unter der Bettdecke schoss Lucas durch den Kopf, dass jetzt vielleicht ein netter kleiner Kampfmagier gerne mit ihm tauschen würde.
Einige Tage später scheuchte Lucas Christian am Morgen aus dem Bett.
„Los, du Langschläfer. Wenn wir noch Frühstück haben wollen, müssen wir los.“
Christian erhob sich müde und wurde durch ein paar schmerzende Körperpartien daran erinnert, was letzte Nacht passiert war. Sicherlich, Christian und Lucas hatten schon oft miteinander gekuschelt und auch in Köln war Christian den Jungs ziemlich nahe gekommen, doch niemals hatte er richtigen Sex mit ihnen gehabt. Gestern Abend hatte ihn das Gefühl einfach überwältigt und jemanden wie Lucas neben sich zu haben, war auch nicht gerade hinderlich. Lucas hatte nur ein einziges Mal gezögert.
„Willst du das wirklich?“
Christian hatte stumm genickt und Lucas einen Kuss gegeben.
„Ja. Irgendwann muss ich auch diesen Teil meines Lebens wieder so leben können, wie ich es will. Sei mir bitte nicht böse, wenn ich dich jetzt sozusagen als Versuchskaninchen nehme, aber ich fühle mich bei dir geborgen und sicher.“
Lucas lachte leise.
„Du weißt, dass aus dem Versuchskaninchen auch leicht ein Rammler werden kann. Sag mir einfach, wenn es für dich unangenehm wird oder du es dir anders überlegst.“
Christian überlegte es sich nicht anders und am nächsten Morgen wurde er bei jedem seiner Schritte deutlich an die letzte Nacht erinnert.
In der Cafeteria waren so ziemlich alle Tische besetzt und Lucas stieß Christian an, um ihn an einen Tisch zu lotsen, der mit zwei Jungen in roten Hemden besetzt war. Der eine der beiden war Leon, wie Christian feststellte, den anderen hatte er zwar schon hier gesehen, aber noch nie mit ihm geredet.
„Guten Morgen. Dürfen wir?“
Leon sah auf und strahlte, während der andere Junge hoch sah und leicht rot anlief. Leon wedelte mit einer Hand, während er kaute und Lucas interpretierte das als Zustimmung.
Die beiden Kampfmagier saßen sich gegenüber und so setzte sich Lucas neben Leon, während Christian ihm gegenüber platznahm. Leon hatte inzwischen seinen Mund leer.
„Hey, guten Morgen. Also das ist Tim und das sind Lucas und Christian.“
„Äh, ja. Ich habe Sie… euch bei der Vorstellung gesehen. Ich bin Tim Krantz. Kampfmagier, aber das sieht man…“
Zum Ende hin wurde Tims Stimme immer leiser und die leichte Röte seines Gesichts immer dunkler. Leon schüttelte leicht den Kopf.
„Tim ist etwas… zurückhaltend. Während der Kampfausbildung ist er echt geil, aber sonst eher ruhig.“
Lucas bedachte Tim mit einem leichten Lächeln.
„Ist doch nicht schlimm. Auch in den etwas ruhigen…“
Tim warf entnervt sein Messer neben den Teller und sprang auf.
„Nicht schlimm? So ein Mist! Die verdammten Ruhigen werden hier doch nur noch an die Wand geklatscht!“
Wutentbrannt nahm er sein Tablett und stampfte davon.
Lucas und Christian sahen ihm erstaunt nach und Leon zog etwas den Kopf ein.
„Was war das denn?“
„Oliver hat ihn gestern Abend wieder mal ausgezählt. Ob er denn überhaupt einen hoch kriegt oder ob er beim Ficken einschläft. So ruhig wie er ist, könnte man ja einen Gangbang machen, ohne dass er merkt, was los ist.“
Lucas und Christian sahen sich an.
„Ich würde sagen, es ist Zeit, sich einmal mit Oliver zu unterhalten.“
Oliver zu erwischen war schon etwas schwieriger. Laut Stundenplan war am Nachmittag wieder Sport vorgesehen und Lucas und Christian gingen beide hin. Nach dem Aufwärmtraining wurden die ersten Übungen für das Sportabzeichen durchgeführt, danach entschlossen sich die Jungen für Hallenfußball.
Um zwei gleich starke Mannschaften zu erhalten, spielte Lucas nicht mit, sondern sah sich das Spiel von der Seitenlinie aus an. Es lief eigentlich ganz gut, bis zu dem Moment in dem Oliver bis vor das gegnerische Tor dribbelte und dann von Leon ganz einfach den Ball abgenommen bekam. Oliver drehte ab. Er riss Leon am Arm herum und brüllte ihn an.
„Eh, du blöder Arsch. Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Meinst du etwa, du kannst das besser wie ich?“
Leon sah ihn erstaunt an, dann schüttelte er die Hand ab.
„Besser als ich. Da du Deutsch anscheinend genauso schlecht kannst wie Fußball, hab ich da keine Sorgen.“
Leon hatte eigentlich nicht beabsichtigt, Oliver hochzufahren, doch der sah bereits rot. Mit geballten Fäusten begann er, auf Leon einzuschlagen, der sich auf den Boden warf und zusammenrollte.
Der Sportlehrer war schon auf dem Weg, doch Lucas und Christian waren schneller. Lucas zog Oliver einfach von Leon weg und als Oliver dann auch versuchte, auf Lucas einzuschlagen, drehte der Olivers rechten Arm auf den Rücken, bis der Junge laut aufschrie.
„Aua! Was soll das denn. Au, das tut weh!“
„Dann verhalt‘ dich jetzt ganz ruhig. Wenn du nicht mehr zappelst, tut es auch nicht weh.“
„Lass mich sofort los, du Arsch!“
Lucas drehte noch einmal etwas an dem Arm und Oliver verstummte prompt.
Christian hatte sich inzwischen zu Leon heruntergebeugt, doch der richtete sich bereits wieder auf.
„Nichts passiert. Er hat mich nicht getroffen.“
Christian nickte und wandte sich dann an Lucas.
„Wir werden mit dem jungen Herrn jetzt mal ein paar Worte reden.“
Damit deutete er auf die Stahltür zur kleinen Halle.
Ohne viel Anstrengung schob Lucas Oliver vor sich her und Christian folgte ihnen wortlos. In der Halle gingen sie in stillem Einvernehmen bis zur großen Sprungmatte. Dort ließ Lucas Oliver los, der mit schmerzverzerrtem Gesicht sein Schultergelenk ausprobierte.
„Und was soll jetzt der Scheiß?“
„Wir wollen mit dir reden. Nimm ruhig Platz.“
Lucas deutete auf die Matte und setzte sich selbst dort auf den Rand. Oliver folgte ihm zögernd in einigem Abstand und betrachtete Lucas misstrauisch. Christian blieb mit verschränkten Armen vor den beiden stehen und musterte Oliver mit einem strengen Blick.
„Es ist ganz einfach. Ich weiß, warum du hier die Sau rauslässt. Du bist der Meinung, der Beste, Stärkste und Größte bekommt nachher garantiert einen ab. Dann lass mich weiter raten. Du gehörst zu den Kids, die immer erzählt bekommen haben, sie können nichts und sie werden nichts. Sie wären der letzte Dreck und endeten sowieso in der Gosse.“
Oliver lief knallrot an und starrte zornig zu Christian.
„Den Scheiß muss ich mir nich‘ anhören.“
„Doch, musst du. Weißt du eigentlich, wie du rüberkommst? Bei uns, bei den anderen Schülern, selbst bei den Lehrern. Nämlich tatsächlich wie der letzte Dreck. Die anderen sind aus den verschiedensten Gründen hier, doch einer dieser Gründe, nein zwei sogar, verbindet sie alle. Der eine ist die Magie. Sie ist etwas Besonderes, etwas Einmaliges auf dieser Welt und sie sind ein Teil davon. Der andere hängt direkt damit zusammen, nämlich, dass sie schwul sind. Sie haben ein Leben akzeptiert, das Verachtung und Diskriminierung bedeutet, denn sie haben erkannt, dass sie etwas unendlich Besseres dafür bekommen können.“
Oliver sah nun erstaunt zu Lucas hinüber.
„Und dann kommst du daher und zerstörst mit deinem Auftritt das Bisschen Selbstachtung, dass sie sich bewahrt haben. Du bist hier nicht der King, du bist der Looser.“
„Ey, Alter…“
Christian lief jetzt ebenfalls rot an und wurde etwas lauter.
„Und du bist hier nicht mehr auf der Straße! Kapier’s endlich, dass dein Auftreten abtörnt. Niemand will jemanden wie dich als Partner. Nicht so jedenfalls, wie du hier rumzickst.“
Oliver wurde blass.
„Aber, aber…“
Lucas legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Du musst dir schon selber darüber klar werden, wer du wirklich bist. Nicht, wer du sein willst oder wie du dich vielleicht selber siehst, sondern du musst erkennen, wie dich die anderen sehen. Du bist derjenige, der seine eigenen Kameraden lächerlich macht, der beim Sport nicht verlieren kann oder der sogar beim Unterricht beim Schummeln erwischt wird.“
Christian warf Lucas einen fragenden Blick zu, sagte aber nichts. Oliver schwieg ebenso. Erst nach einer ganzen Weile sah er Christian an.
„Ich will nicht zurück, niemals. Ich will nicht mehr herumgeschubst werden, jeden zweiten Tag was aufs Maul bekommen. Ich kann das einfach nicht mehr. Das hier ist meine einzige Chance zu entkommen.“
Seine Stimme klang etwas brüchig und er versuchte sich zu beherrschen, doch zwei vereinzelte Tränen rannen nun über seine Wangen.
„Ich will doch auch nur jemanden haben, der mich… mich…“
„Der dich liebt? Der dir das Gefühl gibt, für dich da zu sein und dir Geborgenheit und Sicherheit gibt? Dazu gehören aber immer noch zwei. Bist du bereit, das ebenfalls zu geben?“
Jetzt verbarg Oliver sein Gesicht in den Händen und Lucas zog ihn zu sich heran, umarmte ihn und hielt ihn fest. Olivers Schluchzen schüttelte nun seinen ganzen Körper.
Christian setzte sich neben ihn und hielt ihn von der anderen Seite.
„Ruhig, Kleiner. Wir würden es dir gönnen, dass du jemanden findest. Jemanden, den du auch lieben und beschützen kannst, als Kampfmagier ja sogar beschützen musst. Doch dazu musst du dein wahres Ich zeigen. Zeig‘ allen wer du bist, wenn du liebst, nicht wenn du verzweifelt bist. Zeig‘ ihnen, dass du sie magst, auch wenn das nicht gleich dazu führt, dass dich jeder sofort mag. Gib ihnen eine Chance, dich kennenzulernen, so wie du sie kennen solltest.“
Oliver hatte sich etwas beruhigt, doch auf einmal schüttelte er vehement den Kopf.
„Sie müssen mich ja jetzt alle hassen, meine Kameraden und auch die Magier. So wie ich die letzte Zeit…“
„Nein, das tun sie bestimmt nicht. Warte mal bitte einen Moment.“
Christian stand auf und verließ die Halle, dann kehrte er nach kurzer Zeit zusammen mit Leon wieder. Leon stand nun vor Oliver und sah ausdruckslos auf ihn herab. Oliver war immer noch sehr blass und betrachtete Leon zögernd.
„Ich… ich möchte mich entschuldigen. Bei dir und auch bei allen anderen. Ich weiß, dass ich ein Arschloch gewesen bin, aber ich brauche, äh…“
Oliver senkte den Kopf und seine Aussprache wurde leiser.
„…ich brauche Hilfe, falls ich wieder zurückfallen sollte in mein… naja, also mein Auftreten als Arsch.“
Leon sah Oliver vollkommen überrascht an, dann Lucas und Christian.
„Was habt ihr mit ihm gemacht?“
Christian lachte leise.
„Wir? Gar nichts. Wir haben ihm nur die Realität gezeigt und darauf vertraut, dass er sie ebenfalls erkennt.“
„Die Realität? Also so, wie er die ganze Zeit gewesen ist?“
Leon sah Oliver nachdenklich an, bis dieser sich zögernd von Lucas löste und langsam aufstand. Betreten sah er zu Boden.
„Ich versteh schon. Ich hab’s versaut und nun ist es vorbei. Vielleicht hatten die zu Hause ja doch recht und ich krieg wirklich nichts hin.“
Leon sah ihn erstaunt an.
„Wer sagt denn, dass du nichts hinkriegst? Es wird zum Anfang wahrscheinlich nur etwas schwierig werden, dich davon abzuhalten, wieder in dein altes Verhalten zurückzufallen, aber wir werden es versuchen.“
„Wir?“
„Ja klar. Die Triple-L. Leon, Luca und Lennart. Du hast nicht einmal mitbekommen, was alles um dich herum vorgeht. Ich könnte dir da eine Menge erzählen.“
Oliver sah Leon verblüfft an.
„Was denn noch alles?“
„Was hier in der Freizeit alles vor sich geht, wer sich mit wem trifft…“
Leon warf einen prüfenden Blick auf Lucas und Christian.
„Dürfen wir die Matte benutzen?“
Lucas grinste.
„Natürlich. Aber du kennst die Regeln.“
„Deshalb habe ich ja gefragt.“
Mit ein paar schnellen Handgriffen hatte sich Leon seiner Kleidung entledigt und war auf die Matte gesprungen. Erwartungsvoll sah er zu Oliver, der ihn mit großen Augen ansah.
„Na los, komm her.“
„Was? So?“
„Jep. Wenn es um die Freizeit geht und um tiefgründige Gespräche, ist die Matte ideal. Und vor kurzem hat jemand mal so etwas gesagt, wie: Wenn du deine Seele nackt machst, kannst du das mit deinem Körper genauso.“
Christian schüttelte leicht den Kopf, während er innerlich grinste. Oliver stand zögernd neben der Matte, bis er sich kurzentschlossen von seinen Sachen trennte und sich dann mit einem kleinen Abstand neben Leon legte.
Während Lucas und Christian leise die Halle verließen, nutzte Leon die Gelegenheit, Oliver in Ruhe zu betrachten. Die sportliche Gestalt war wohl etwas schmaler als Leon, aber der wusste, dass Oliver ein paar andere Sportarten als er betrieb. Meist war er auf dem Sportplatz beim Laufen zu sehen, manchmal traf er ihn auch in der Schwimmhalle. Die weizenblonden Haare waren kurz gehalten, wohl wegen des Schwimmens, ebenso wie der komplett rasierte Körper, wie Leon erstaunt feststellte.
„Warum versuchst du, dich zu verstellen. Du siehst gut aus, bist sportlich und im Unterricht für Kampfmagie einer der Besten. Wenn du auch noch freundlich und zuvorkommend wärst, würden dir die Magier wahrscheinlich von alleine hinterherlaufen.“
Oliver sah verblüfft an sich herab und dann zu Leon.
„Ich bin doch nichts Besonderes.“
„Doch. Jeder ist für sich etwas Besonderes. Es wird jemanden geben, der das erkennt und dann wirst auch du einen Partner haben.“
Oliver musterte nun auch Leon genauer. Es war ihm vorher nie in den Sinn gekommen, einen Kampfmagier anders als einen Konkurrenten zu betrachten. Oliver schluckte schwer.
„Du, Leon. Also… also wenn du kein Kampfmagier wärst…“
Leon sah Oliver überrascht in die Augen und lächelte.
„Vielen Dank. Ich werte das als Kompliment.“
Oliver rückte etwas näher und fuhr mit der Hand über Leons Brust und dann über den Sixpack. Leon fasste sanft nach der Hand und hielt sie fest.
„Nicht, dass ich dich nicht nett finden würde, aber es gibt hier leider ein paar kleine Regeln, die ich versprochen habe, einzuhalten.“
Oliver hob die Augenbrauen und Leon erklärte ihm die Regeln.
„Schade eigentlich.“ - „Jep.“
Die nächsten Tage verliefen relativ ruhig, bis es dann ausgerechnet bei den Elementaren zu einem elementaren Zwischenfall kam.
Dr. Bernhard Kauscher war Lehrer für Elementarmagie. Es war bei ihm, ähnlich wie bei den beiden Lehrern für Kampfmagie, eine tägliche Gratwanderung. Je mehr die Schüler lernten, desto gefährlicher wurde der Unterricht, solange sie nicht begriffen, mit welchen Urgewalten sie umgingen.
Es waren unter normalen Umständen pro Schuljahr ohnehin nur zwei Schüler, doch die reichten vollkommen aus, Dr. Kauscher an den Rand seiner Geduld zu bringen. Gerade in den vergangenen vier Monaten war so viel geschehen, dass ihm nichts übrig geblieben war, als dem Direktor die Ablösung eines Schülers zu empfehlen.
Das Arbeiten mit einem einzelnen Schüler war zwar nicht sehr herausfordernd, aber immerhin ließ sich das Einhalten der Sicherheitsbestimmungen besser überwachen. Das Hinzukommen eines ausgebildeten Elementars zu den Schülern hatte Dr. Kauscher mit Skepsis hingenommen. Er war sich nicht vollkommen sicher, ob der junge Mann nach seiner schrecklichen Erfahrung auch geistig stabil genug war, um dem Unterricht in gebührendem Maße zu folgen.
Doch nun dankte Dr. Kauscher dem Herrn, dass der junge Leutnant am Unterricht teilnahm. Sein einziger Schüler, Niklas Brauns, hatte so ziemlich alle Vorsichtsmaßnahmen vergessen und den beabsichtigten Feuerball mit so viel Energie versehen, dass es zu einem elementaren Flächenzauber kam.
Flächenzauber wurden durch absichtliche Überladung erzeugt, die meisten davon waren Bestandteil der Elementarmagie. Der einzige andere war ein Kampfzauber, für den man mindestens zwei Kampfmagier benötigte und der die Bezeichnung ‚Höllenfeuer‘ trug.
Der elementare Flächenzauber für Feuer erzeugte im Klassenraum einen etwa fünf Meter durchmessenden Kreis reinen Feuers, das sofort alles in Brand setzte, was brennbar war. Niklas stand wie gelähmt mitten in diesem Kreis und starrte auf das Feuer, während Christian auf ihn zusprang und Dr. Kauscher den Alarm auslöste.
Christian packte den jungen Magier an der Schulter und drehte ihn zu sich herum. Er starrte ihm in die Augen und sah nur eine völlige geistige Abwesenheit. Um den Magier von seiner Anwendung zu trennen, hätte es eines Bannmagiers bedurft, doch Christian wusste sich auch anders zu helfen. Er schlug ziemlich hart zu und Niklas kippte stumpf um, während das Feuer ringsum erlosch. Lediglich ein paar Möbel brannten weiter, die aber von Dr. Kauscher mittels Magie sofort gelöscht wurden.
Das Response-Team für den Alarm traf ein, bestehend aus einem Elementar und zwei Bannmagiern.
„Was ist passiert?“
„Ein Flächenzauber. Wir haben alles unter Kontrolle. Sagen Sie bitte im Hospital Bescheid, Sie möchten den jungen Herrn abholen. Er ist nur bewusstlos, sonst wohl keine Schäden. Danke.“
Das Response-Team zog kommentarlos wieder ab und Dr. Kauscher dreht sich zu seinem letzten verbliebenen Schüler um.
„Was war das denn jetzt? Ich kann mich nicht erinnern, etwas über Flächenzauber erzählt zu haben.“
„Sie brauchen mich nicht anzusehen. Ich habe auch nichts davon erwähnt. Er sollte doch nur einen ganz normalen Feuerball erstellen.“
„Allerdings. Doch so wie es aussah, hat er einfach immer mehr Energie hineingepumpt, ohne die anderen Parameter zu ändern. Das sind doch Grundlagen der ersten Stunden. Wie kann denn so etwas passieren?“
Christian dachte flüchtig an seinen eigenen verhunzten Feuerball vor zwei Jahren und dann wieder an Niklas und seinen leeren Ausdruck in den Augen.
„Er hat anscheinend die Konzentration verloren. Er muss von nirgend etwas dermaßen abgelenkt worden sein, dass ihm sogar die unbewusste Kontrolle entglitten ist.“
„Unglaublich. Wenn das noch einmal vorkommen sollte, werde ich auch ihn dem Direktor melden müssen.“
„Erst einmal bitte noch nicht. Ich möchte ganz gerne mit ihm sprechen und versuchen herauszubekommen, was los war.“
„Sehr gerne. Ich hoffe, Sie haben Erfolg.“
Der Vorfall bei den Elementaren war natürlich nicht unbemerkt geblieben und schon während des Mittagessens geisterten die wildesten Gerüchte durch die Schule.
Lucas und Christian hatten gerade an einem großen Tisch platzgenommen, als Leon herankam, sein Tablett schwunghaft auf den Tisch knallte und sich ohne Kommentar gegenüber von Christian hinsetzte. Dann musterte er ihn intensiv.
„Ist dir was passiert?“
Christian starrte entgeistert zurück, während Lucas beinahe sein Essen über den Tisch prustete. Mit der Gabel zeigte Lucas auf Leon.
„Erstens, guten Tag, lieber Leon. Zweitens, ja, du darfst dich zu uns setzen und drittens, guten Appetit.“
Erst jetzt sah Leon zu Lucas und lief mal wieder rot an. Dann sah er mit zusammengekniffenen Lippen auf sein Tablett und erhob sich halb. Christian erwischt ihn am Arm und zog ihn wieder runter.
„Du hörst nicht zu. Du darfst sehr gerne bei uns sitzen und vielen Dank der Nachfrage, aber nein, mir ist nichts passiert. Es ist auch nichts passiert, was wirklich erwähnenswert gewesen wäre. Zufrieden?“
Leon lächelte schüchtern und sah mehr auf sein Tablett als zu Christian. Lucas beugte sich zu Christian und flüsterte ihm ins Ohr
„Beschützermodus“, was Christian dazu brachte, leicht zu erröten und unauffällig zu Leon zu sehen.
Alle drei sahen auf, als es in der Cafeteria plötzlich still wurde. Niklas war hereingekommen und hatte sich an der Essensausgabe angestellt. Ringsum setzte verstärktes Flüstern ein. Niklas stand mit seinem Tablett etwas verloren in dem großen Raum, als Christian sich erhob und ihn vor sich her schiebend an seinen Tisch dirigierte.
Wortlos ließ Niklas sich nieder und spielte mit der Gabel in seinem Essen.
„Niklas.“
Nervös fuhr der Junge hoch.
„Iss was. Wie sollst du sonst groß und stark werden?“
Leon musste kichern und auch Christian grinste. Niklas war wohl knapp einen oder zwei Zentimeter kleiner als Lucas, aber lange nicht so muskulös. Er wirkte eher etwas mager, doch das lag an den überproportional langen Armen und Beinen.
Auch über Niklas‘ Gesicht huschte ein kurzes Lächeln, doch es verschwand sofort wieder. Christian seufzte.
„Niklas, möchtest du über etwas reden?“
Niklas sah ganz kurz zu Leon und schüttelte vehement den Kopf. Christian sah ebenfalls zu Leon und traf dann eine schnelle Entscheidung.
„Wenn du mit mir reden möchtest, ist Leon auch mit dabei. Er gehört zu mir.“
Leon starrte Christian mit großen Augen an und von Lucas kam ein lautes Husten, denn er hatte sich diesmal tatsächlich an seinem Essen verschluckt. Auch Niklas sah nun Leon an, dann wieder hinüber zu Christian.
„Na, dann herzlichen Glückwunsch. Bei euch hat‘s ja anscheinend geklappt.“
Mit versteinertem Gesicht sah er wieder auf seinen Teller und die Tränen begannen zu rollen. Lucas gab Christian und Leon ein Zeichen und beide reagierten sofort. Sie nahmen ihr Tablett und gingen einen Tisch weiter. Lucas beobachtete weiterhin Niklas, ohne mit ihm zu reden.
Als Leon und Christian mit dem Essen fertig waren, brachten sie ihr Tablett zur Rückgabe. Dort drehte sich Leon zu Christian.
„War das vorhin dein Ernst?“
„Mit so etwas scherze ich nicht.“
„Du willst also…, also, ich meine, du und ich?“
Christian nickte langsam und ernsthaft und schob während des kurzen Gespräches Leon in die Mitte der Cafeteria.
„Bist du bereit, allen zu zeigen, dass wir nun ein Paar sind?“
„Was?“
Christian stellte sich direkt vor Leon und sah ihm in die Augen. Grüne Augen, dachte er, genau wie die von Lucas. Sie waren beide in etwa gleich groß, wobei Leon wohl noch ein paar Zentimeter wachsen und Christian dann überragen würde.
Christian fasste Leon sanft im Nacken und zog ihn zu sich. Dann fanden sich beide zu einem Kuss, der für Leon eine gefühlte Ewigkeit dauerte. Als sie sich voneinander lösten, konnte man zum zweiten Mal heute in der Cafeteria eine Stecknadel fallen hören. Einige der Kampfmagier starrten fassungslos zu ihnen hinüber und von einem der Tische kamen laute Beifallsrufe. Leon erkannte dort Lennart, Luca und Oliver.
Am Abend bekam Lucas Besuch auf seiner Stube. Lennart und Luca kamen herein und sahen sich neugierig um.
„Hey, genauso wie bei uns. Ich dachte, man bekommt nachher was Besseres.“
Lucas betrachte Lennart etwas ungnädig.
„Das einzige was du bekommst, ist den Arsch versohlt. Was führt euch her?“
Luca konnte es sich nicht verkneifen und klatschte kurz seinem Partner auf den Hintern, während er Lucas angrinste.
„Die Neugier. Stimmt es wirklich, dass Christian und Leon…“
Lucas hatte schon abwehrend die Hände gehoben.
„Fragt sie doch selber. Ich bin nicht die Auskunft. Aber wo ihr gerade hier seid, weiß irgendjemand etwas Genaues über Niklas?“
Luca schüttelt den Kopf, während Lennart überlegte.
„Also, ich weiß nichts wirklich genaues, aber er klebt im Moment ein Bisschen an Jan. Vorher hat er wohl so ziemlich alle Kampfmagier durchgehabt.“
Mit einem kurzen Seitenblick auf Luca murmelte er dann noch.
„Ich hab auch schon mal mit ihm.“
„Was? Wann denn das?“
„Ganz am Anfang. Der hat sich sofort auf alle gestürzt, die da waren. Sogar ein paar Magier haben sich mit ihm eingelassen. Soll sogar mal eine kleine Orgie gestartet sein.“
Lucas winkte ab.
„Geschenkt. Am Anfang haben fast alle ein Bisschen Orientierungsschwierigkeiten. Aber nach vier bis sechs Wochen sollte sich das gelegt haben. Sagt mal, ist dieser Jan nicht der Typ mit der großen Fresse?“
„Jep. Mister ‚Ich kriege sie alle‘. Hat es gestern wieder mal mit jemandem unter der Schwimmbaddusche getrieben. Ich verstehe nicht, wie jemand dem nachlaufen kann, nicht mal jemand wie Niklas. Und vor zwei Monaten war es Kay, der andauernd an ihm geklebt hat.“
„Kay?“
Lucas konnte den Namen mit keinem Gesicht verbinden.
„Na, das war der Bannmagier, der nicht mehr wiedergekommen ist. Wir haben uns schon alle gewundert wo der abgeblieben ist, aber der Direktor hat kein Wort drüber verloren.“
Lucas horchte auf. Hier war der erste Bezug zu diesem Bannmagier, der tot aufgefunden worden war. Und der hatte eine wohl ziemlich einseitige Beziehung zu Jan. Genau wie Niklas. Was hatte der noch gesagt? Bei euch hat‘s ja anscheinend geklappt. Bei ihm anscheinend nicht.
„Sagt mal, welchen Vorteil verspricht sich dieser Jan denn eigentlich davon, wenn er sich so damit brüstet, jeden zu bekommen?“
Lennart zuckte mit den Schultern
„Keine Ahnung. Einige von den Magiern gehen ihm ja auch schon aus dem Weg. Da bleibt nicht mehr viel. Luca und Daniel sind vergeben, zwei fehlen sowieso und Christian kam ja wohl von Anfang an nicht in Frage. Sind dann ja nur noch drei. Mit Niklas hat er anscheinend ein Problem und Torben hatte er gestern unter der Dusche im Schwimmbad. Bleibt also nur noch Prasong. Was mit dem ist, weiß ich nicht.“
Luca grinste breit.
„Aber ich. Prasong ist mit Abstand unser bester Bannmagier. Er ist nett, freundlich, gebildet und äußerst hilfsbereit. Allerdings hat er auch gewisse Grundsätze. Und die hat er Jan gleich am Anfang ziemlich deutlich klar gemacht. Er wird nicht gleich mit jedem ins Bett hüpfen, nur weil der grade Bock auf ihn hat. Er sucht sich seine Partner selber aus.“
„Eine sehr positive Einstellung.“
Das Gesicht von Luca verlor alle Freundlichkeit.
„Ja. Einige von uns haben sich auch ein Beispiel daran genommen. Das hat dann allerdings dazu geführt, dass die Magier immer mehr abgeblockt haben und die Kampfmagier immer mehr angefangen haben aufzudrehen. Bei Oliver hat das ja wohl dazu geführt, dass er versucht hat, mit den falschen Werten zu beeindrucken und Jan hat immer mehr damit angegeben, wie gut er im Bett ist. Oder wo auch immer er es mit jemandem treibt.“
Lennart brummte ungehalten.
„Stimmt. Wie gesagt, die Schwimmbaddusche war nicht nur der Platz zum Anmachen, nein, die beiden haben da vor aller Augen tatsächlich rumgefickt.“
Luca sah seinen Partner mit verkniffenen Augen an.
„Das kann man auch anders formulieren. Aber was ich damit sagen wollte, Prasong ist der einzige, den Jan noch nicht rumgekriegt hat. Ich weiß gar nicht, ob er überhaupt mit jemandem…“
Lennart pustete seine Backen auf.
„Ich sollte es eigentlich nicht verraten, aber er hat. Florian hat sich mal verquatscht und mich gebeten, es nicht weiterzuerzählen, sonst würde Prasong ihm die Hölle heiß machen.“
Luca sah Lennart erstaunt an.
„Florian? Na, meinetwegen. Aber sonst lässt er ja jeden abblitzen. Jan hat es immer noch auf ihn abgesehen. Obwohl Prasong ihn schon am Anfang ziemlich heftig abgebügelt hat, versucht er es immer wieder.“
„Aha. Also, dieser Jan versucht immer wieder an Prasong heranzukommen, obwohl der ihm klar gemacht hat, dass er nichts von ihm will. Dann hat er selbst einige Verehrer, die ihn ziemlich bedrängen, wobei einer davon spurlos verschwunden ist und der andere ein nervliches Wrack.“
Lennart und Luca sahen Lucas merkwürdig an.
„Glaubst du, da besteht ein Zusammenhang?“
Lucas schüttelte unwillig den Kopf.
„Ich weiß es nicht. Irgendetwas ist da, etwas, das ich nicht greifen kann.“
Leon besuchte derweil Christian auf seinem Zimmer.
„Hallo, welch netter Besuch. Komm ruhig rein.“
Leon trat vorsichtig näher und schloss leise die Tür. Er hatte peinlich zu vermeiden versucht, dass ihn jemand sah, wie er Christians Zimmer betrat. Er war sich völlig unsicher, wie er Christian alleine gegenübertreten sollte.
„Komm her oder hast du auf einmal Angst vor mir?“
Leon schluckte schwer und trat näher zu Christian, der auf dem Stuhl am Schreibtisch saß.
„Leon. Es fällt dir sichtlich schwer. Bevor du etwas sagst, möchte ich dir kurz ein paar Informationen geben.“
Leon öffnete angstvoll die Augen.
„Es ist nichts Tragisches. Ich habe mit Lucas gestern Abend noch gesprochen und er hat mir erzählt, worüber ihr geredet habt.“
Jetzt schloss Leon die Augen und senkte den Kopf.
„Hey, Kleiner. Es ist doch nicht schlimm. Es ist nun einmal so, dass ich schon einmal einen Partner hatte und wir hatten Sex, mit allem was dazugehört. Aber du, du bist noch, na, unschuldig würde ich gerade nicht sagen, aber doch mit weniger Erfahrung. Sieh mal, ich weiß nicht genau, wie weit ich mit dir gehen kann oder darf. Du musst mir schon sagen, was du machen möchtest und dann probieren wir es einfach aus.“
Leon hob den leuchtend roten Kopf und sah Christian fragend an.
„Aber das ist ja nicht das Wichtigste. Du hast gesagt, du magst mich. Das ist wichtig. Ich mag dich nämlich auch und damit müssen wir anfangen. Heute Abend werden wir ein wenig reden und uns kennenlernen.“
Leon nickte, dann sah er sich um. Christian lachte, stand auf und schob Leon zu dem großen Bett. Leon sah zögernd auf das Bett herab und dann Christian fragend an.
„Nein, nicht was du jetzt denkst. Du hast doch erlebt, wie angenehm es ist, neben jemandem zu liegen und zu erzählen oder zuzuhören. Also, um es einfach zu machen, erzähl doch einfach mal, wie du zu diesem Verein gekommen bist.“
Immer noch etwas zögernd ließ sich Leon auf dem Bett nieder, während Christian sich auf der anderen Seite neben ihn legte. Leon sah Christian eine ganze Weile an, bis der dann bemerkte, wie Leons Blick immer abwesender wurde, während er in seine Vergangenheit eintauchte.
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