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Dämonenjäger
Teil 11
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Informationen
- Story: Dämonenjäger
- Autor: Mondstaub
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out, Fantasy und Mystery, Historisch
Inhaltsverzeichnis
- Bangkok, Thailand, Anno Domini 2014
- Bangkok, Thailand, Anno Domini 2017
- Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2017
- Bangkok, Thailand, Anno Domini 2017
- Köln, Deutschland, Anno Domini 2017
- HQ Gestaltwandler-Korps, Deutschland, Anno Domini 2017
- Köln, Deutschland, Anno Domini 2017
Bangkok, Thailand, Anno Domini 2014
Flame seufzte ergeben und machte sich ebenfalls auf den Weg hinaus. Er fand Maew im Schulgarten, weinend gegen einen Baum gelehnt. Langsam ging er auf ihn zu und legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter.
„Fass mich nicht an!“
Maew wischte die Hand mit einer wütenden Bewegung weg und schrie Flame an.
„Was soll das alles?! Wollt ihr mich alle verarschen?! Wofür das Ganze? Was willst du mir noch alles erzählen? Lachen schon alle über mich oder ist das eine neue Show um mich in dein Bett zu kriegen?“
Flame erstarrte. Es kostete ihn seine gesamte Beherrschung, um nicht ebenfalls loszuschreien, aber das hätte fatale Folgen gehabt. Er war darauf angewiesen, ein ausgeglichenes Wesen zu haben und ein ausgeglichenes Wesen zu sein, damit er immer sein tierisches Inneres unter Kontrolle hatte.
„Ich versuche nicht, dich in mein Bett zu kriegen. Nicht, wenn du es nicht willst. Aber wer hat denn heute Morgen noch erklärt, dass er mich liebt? Ich habe dir geglaubt und glaube es immer noch. Das hier hat nichts mit der Beziehung zwischen uns beiden zu tun. Das eine ist unsere private Beziehung, das andere ist die Arbeit. Ich bitte dich noch einmal, mir zu glauben. Nimm doch erst einmal alles so hin, wie es gesagt wird. Im Laufe der Zeit wirst du dir dann eine eigene Meinung bilden können.“
Maew sah ihn mit verweinten Augen an.
„Ja, ich habe gesagt, dass ich dich liebe“, flüsterte er, “und es stimmt auch. Ich spüre es ganz deutlich. Ich habe den Eindruck dass uns nichts trennen kann und doch mutest du mir Sachen zu, die mich innerlich fast zerreißen.“
Vorsichtig umarmte er Flame und küsste ihn.
„Oh, Entschuldigung…“
Maew sah hoch und über die Schulter von Flame hinweg erkannte er zwei der Jungen aus der Sporthalle, die ihnen anscheinend gefolgt waren. Der eine war der große Koreaner, jetzt mit weißer Sporthose und einem gelben Sporthemd, der andere war ein etwas kleinerer Junge mit ebenfalls deutlich koreanischen Gesichtszügen und einem roten Sporthemd.
„Wir wollten nicht stören, wir haben nur die heftige Reaktion bemerkt und wollten uns erkundigen, ob alles in Ordnung ist. Wir gehen auch sofort wieder.“
Flame drehte sich um und zog Maews Arme an beiden Seiten zu sich nach vorne, so dass Maew hinter ihm mit dem Kopf über seine Schulter zu stehen kam.
„Nein, bitte bleibt noch. Ich bin nicht so gut im Erklären und Maew ist zu recht verwirrt. Aber zuerst, Maew, dies sind Jun und Tsu, also eigentlich Park Jung-Hwa und Cheong Hyun-Su. Und dies hier ist Nongchai Tanasugarn oder besser Maew, mein…“
Ein kurzer Blick zu Maew und dieser nickte. „…mein Boyfriend.“
Die beiden Neuankömmlinge verbeugten sich schon wieder formell und wieder wunderte sich Maew über die höflichen Umgangsformen.
„Ihr seid sehr freundlich. Aber müsstet ihr nicht beim Unterricht sein, anstatt nach uns zu sehen?“
Sofort sahen die beiden etwas verschämt zu Boden, bis Flame sie erlöste.
„Es ist ihr Auftrag, mir, das heißt jetzt uns, zu folgen und für unsere Sicherheit zu sorgen. Es gibt ein Team, mit dem ich in Zukunft dauerhaft zusammenarbeiten soll und die beiden sind ein Teil davon.“
„Okay…“
Maew erinnert sich daran, alles erst einmal anzunehmen und dann zu bewerten, wenn er weitere Informationen hatte. Dann schoss ihm wieder ein Gedanke durch den Kopf.
„Ein Team? So wie das letzte Woche?“
„Ja. Das war ein aktives Einsatzteam hier aus der Gegend. Ich werde manchmal angefordert, wenn ein etwas schwieriger Einsatz ansteht, aber eigentlich bin ich noch hier zur Beendigung meiner Ausbildung. Und um ein eigenes festes Team aufzubauen.“
Maew seufzte. Nach kurzem Zögern kam ein zweites „Okay…“
Flame sah ihn etwas belustigt von der Seite an.
„Ich habe gerade versucht, Maew etwas über Magie zu erzählen, aber das kam nicht so gut an. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.“
Jung-Hwa lächelte jetzt und sah Maew prüfend an.
„Darf ich dich anfassen?“
„Huh?“
Als die drei anderen lachten, kam Maew sich etwas blöd vor, nickte aber.
„Nur die Hand. Wenn du dich bitte vom Tian…, ich meine von P’Flame lösen kannst, komm zu mir herüber.“
Mit leichtem Bedauern löste sich Maew von Flame, ging die paar Schritte zu Jung-Hwa und tauschte mit Hyun-Su die Plätze. Dieser stand jetzt rechts neben Flame.
Jung-Hwa nahm jetzt Maews linke Hand in seine Rechte und deutete mit der anderen auf die Beiden gegenüber.
„Was siehst du?“
„Ich sehe Flame und deinen… Partner oder Freund?“
„Beides, er ist mein Partner und mein Freund, aber jetzt sieh noch mal hin.“
Als Maew wieder nach vorne sah, schien es, als ob alles grau und verschwommen geworden wäre. Die beiden Körper vor ihnen waren etwas schwerer zu erkennen, etwas schattenhafter, doch da, wo etwa das Herz war, glühte bei beiden ein kleiner gelber Punkt.
„Was ist das?“
Maew flüsterte unwillkürlich und Jung-Hwa flüsterte zurück.
„Die Essenz des Lebens. Das, was uns neben unserem Körper ausmacht. Sie sind beide ziemlich ruhig, doch ich möchte dir zeigen, wie Menschen auf Gefühle reagieren. Sag etwas zu P’Flame.“
Maew sah unverwandt nach vorne und ebenso leise flüsterte er „Flame, ich liebe dich.“
Trotz der geringen Lautstärke hatte Flame ihn gehört und Maew sah jetzt mit großem Erstaunen, wie sich der gelbe Punkt in seiner Farbe veränderte und größer wurde. Wie eine Blüte entfaltete sich der Punkt zu einem strahlenden orangefarbigen Stern.
Ohne das ganze Geschehen auch nur im Geringsten in Frage zu stellen, ließ Maew die Hand von Jung-Hwa los, was seine Sicht sofort in den Normalbereich verschob und er ging hinüber zu Flame, um ihn zu umarmen.
„Kannst du mir verzeihen? Ich habe ein wenig an dir gezweifelt, doch jetzt weiß ich, dass du mich liebst.“
Flame sah ihn merkwürdig an, dann sah er hinüber zu Jung-Hwa.
„Was hast du gemacht?“
„Nur die Astralsicht, sonst nichts.“
„Und das geht so einfach bei ihm?“
„Ja, natürlich. Sein Aura hat einen magischen Kern.“
„Was?! Welchen denn?“
„Das ist das Problem. Ich habe noch nie so einen gesehen.“
„Kann mir einer verraten, worum es hier geht?“
„Ja, allerdings sind wir dann schon wieder dicht an der Wohlfühlgrenze. Du bist magisch begabt. Allerdings wissen wir nicht, welche Begabung es ist.“
Es dauerte fast den ganzen Nachmittag, um Maew mit dem Konzept der Magie vertraut zu machen. Er hörte aufmerksam zu und nickte nur, sagte aber kein Wort. Als sie dann wieder zurück in der Sporthalle waren, war diese längst von den anderen verlassen worden.
Flame sah sich suchend um, doch Hyun-Su zuckte nur mit den Schultern.
„Macht nichts. Wir machen eh nur eine kurze Demo. Am besten, wir nehmen die Basic-Dummys. Das reicht für eine statische Vorführung und gibt einen Eindruck der Ziele.“
Maew sah Hyun-Su von der Seite an und wunderte sich, warum der sonst so ruhige Junge plötzlich das Kommando übernahm. Doch dann erinnerte sich Maew an die Farben. Das rote Hemd kennzeichnete Hyun-Su als Kampfmagier, während Jung-Hwa mit seinem gelben Hemd ein Astralmagier war. Was jetzt kam, war also das Metier der Kampfmagier.
Hyun-Su ging in die zentrale Überwachungskabine und betätigte ein paar Knöpfe. Aus einer Seitenwand schoben sich auf einer Schiene drei lebensgroße Dummys heraus. Mit aufgerissenen Augen starrte Maew auf die drei Darstellungen und hoffte, sie wären irgendeiner Fantasie entsprungen, doch Hyun-Su belehrte ihn eines Besseren.
„Was du hier siehst, sind die Darstellungen der drei in unserer Gegend am häufigsten auftretenden Dämonen. Die Darstellungen entsprechen in Aussehen und Größe den Originalen. Ganz links, mit der blauen Haut, ein sogenannter Rallorian. Das rote ist ein Gothmar und die schwarze Spinne wird als Jehuthra bezeichnet.“
Maew lief ein Schauer über den Rücken und er war froh, dass die Dinger ein paar Meter weg waren. Er wusste nicht, wie er reagieren würde, wenn die sich tatsächlich bewegen würden.
Während Flame Hyun-Su mit einer Fachfrage bedachte, spürte Maew zwei kräftige Hände auf seinen Schultern, wobei die Daumen seine Schultermuskeln massierten.
„Ganz ruhig. Die sind weder echt, noch gefährlich. Es ist der erste Anblick. Wenn du dich daran gewöhnt hast, geht es.
Maew sah dankbar zu Jung-Hwa auf, der mit der Massage aufgehört hatte, was Maew ein wenig bedauerte. Hyun-Su hatte sich vor den Dummys aufgestellt und kommentierte ein paar Trefferzonen, dann bedeutete er Maew, sich neben ihn zu stellen.
„Der häufigste Kampfzauber ist ein Energieblitz.“
Hyun-Su hob den rechten Arm und aus der Hand brach ein grüner Blitz hervor, der den blauen Rallorian traf. An der Einschlagstelle konnte man deutlich schwarz verbranntes Material erkennen. Maew war zunächst zusammengezuckt, sah nach vorne, dann wieder zu dem Kampfmagier. Wortlos nahm er dessen rechte Hand und besah sie sich. Hyun-Su lächelte leicht.
„Nichts passiert. Aber das ist Übungssache. Am Anfang kann es schon mal passieren dass man sich die Hand verbrennt. Doch jetzt ein Betäubungsblitz.“
Diesmal schoss ein roter Blitz nach vorne, der ohne jegliche Wirkung einschlug.
„Der Betäubungsblitz wirkt bei Menschen auf das Wachbewusstsein. Ist fast wie einschlafen. Die dritte Version ist ein Lähmungsblitz.“
Diesmal war der Blitz orangefarben und traf ebenfalls ohne sichtbaren Schaden.
„Diese Version ist etwas spektakulärer. Wirkt auf das Nervensystem und führt zu Ausfällen in den Extremitäten. Du kannst zwar noch alles hören und sehen, aber nichts mehr machen.“
Maew nahm alles zur Kenntnis, kommentierte jedoch immer noch nichts.
„Damit ich meinen Partner nicht nur aktiv, sondern auch passiv schützen kann, gibt es für Kampfmagier einen Schutzzauber, den er auf sich selber oder andere anwenden kann. Möchtest du es ausprobieren?“
Maew nickte.
„Gut, stell dich einfach hier hin.“
Maew wollte schon eine Frage stellen, als er bemerkte, dass ihn ein diffuses gelbes Leuchten umgab, das eng am Körper anlag. Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung und dann raste schon ein Baseballschläger heran um ihn am Kopf zu treffen. Maew sah, dass der Schläger ihn traf, aber er spürte nichts. Lediglich die kinetische Energie beim Auftreffen wurde übertragen und trieb ihn einen halben Schritt zurück. Flame wurde der Schläger förmlich aus der Hand geprellt.
Als das Leuchten verblasste, sah Maew anklagend auf Flame herab, doch der grinste ihn an.
„Letzte Lektion für heute Nachmittag. Die beiden sind, zusammen mit vier anderen Magiern, das Team, das auf mich während eines Kampfes aufpassen muss. Die Gestalt eines Drachen schützt nicht vor Angriffen von hinten oder vor Fallen oder was auch immer. Ich muss ihnen vertrauen auf mich aufzupassen, so wie sie auf mich vertrauen, dass ich sie bei Gefahr beschütze. Ich habe Hyun-Su vertraut, dass er den Schutzzauber, nennt sich übrigens Panzer, einwandfrei anwendet. Ich habe ihm dein Leben anvertraut, so wie ich ihm meins anvertraue.“
Maew sah erst nachdenklich zu Flame dann zu Hyun-Su. Dann ging er hinüber zu dem kleineren Koreaner, beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
„Danke.“
Flame und Jung-Hwa sahen sich kurz an, dann lächelten beide. Maew kam hinüber zu Flame, umarmte ihn und flüsterte ihm ins Ohr.
„Mach das nicht noch mal ohne Vorwarnung.“
Dann hob er Flame an und drehte ihn einmal im Kreis.
„Wo muss ich unterschreiben?“
„Huh? Was…“
„Um bei euch hier mitzumachen!“
Der Abend verlief deutlich ruhiger. Flame hatte Maew eingeladen, die Nacht bei ihm zu verbringen und Maew hatte zugestimmt. Flames Eltern waren bei seinen Großeltern und im Gegensatz zu Maew hatte er keine kleinen Geschwister. Maew hatte noch immer gewisse Bedenken, wie weit er bei Flame gehen würde, doch auch hier sagte er sich, dass er es entscheiden würde, wenn es so weit war.
Sie hatten vor einer Spielekonsole gesessen und waren Autorennen gefahren. Flame hatte das Abendessen gemacht und Maew wunderte sich, wie gut sein Freund kochen konnte. Sein Freund - wie sich das anhörte. Aber um nichts auf der Welt würde er ihn jetzt aufgeben wollen. Der entscheidende Moment kam erst, als Flame vor dem Zubettgehen aus der Dusche kam. Er trug nichts weiter als ein weißes Handtuch und Maew sah erst peinlich berührt weg. Doch dann siegte seine Neugier. Er hatte Flame nun schon ein paarmal nackt gesehen, doch nie so bewusst wie jetzt, auch unter dem Aspekt der Sexualität. Der schlanke Körper war sportlich, doch nicht durchtrainiert. Die übriggebliebenen Wasserperlen auf der Haut lösten in Maew etwas aus, was er gerne erst noch vermieden hätte. Doch unbewusst glitt seine Hand unter die Bettdecke während Flame wissend lächelte.
Ohne zu zögern ließ er das Handtuch fallen und Maew starrte ihn an.
„Du, du bist wunderschön.“
Flame errötete tatsächlich etwas, beugte sich über das Bett und zog Maew langsam die Bettdecke weg. Obwohl Maew noch eine Unterhose trug, konnte Flame deutlich erkennen, wie die Reaktion auf seine Erscheinung war. Unsicher faltete Maew jetzt die Hände vor seinem letzten Kleidungsstück. Beschämt senkte er den Kopf.
„Ich habe keine Ahnung. Ich habe so etwas noch nie gemacht.“
Beruhigend lächelte Flame ihm zu, als er sich langsam neben ihn legte.
„Keine Angst. Wir müssen beide noch lernen.“
Als Maew am nächsten Morgen erwachte, sah er als erstes Flames schlafende Gestalt neben sich. Maew lächelte bei der Erinnerung an die Nacht. Es war ihm unbegreiflich, warum er je an seiner Liebe zu diesem Jungen gezweifelt hatte.
Flame hatte ihm verraten, dass zwei der vier fehlenden Teampartner von Jung-Hwa und Hyun-Su von ihrem Kurzurlaub zurück waren und sie sich heute zu einem Probetraining treffen wollten. Das letzte Paar würde erst noch ausgewählt werden.
Maew war mehr als interessiert, die beiden kennenzulernen und so machten sie sich wieder auf den Weg zur Schule. Es gab etliche Schüler, die bereits am frühen Morgen auf dem Gelände Sport trieben oder zusammen lernten.
„Hauptsächlich die Auswärtigen. Es gibt einige, die aus verschiedenen Ländern im Umkreis kommen. Unsere beiden Urlauber kommen aus dem nördlichen Thailand, deswegen haben sie einmal im Monat ein verlängertes Wochenende.“
Als sie die Sporthalle betraten, sah Maew, dass die vier Jungen bereits vor ihnen dort waren.
Jung-Hwa und Hyun-Su begrüßten sie mit einer kurzen Verbeugung, die beiden anderen standen abwartend daneben.
„Maew, dies sind Nom und Ae, Panomyaong Charoensum und Anatapong Panyaratchun. Sie sind erst vor kurzem für dieses Team ausgewählt worden und wir sind mit ihnen erst in der Vorbereitungsphase. Dies ist Maew, mein Boyfriend.“
Die beiden jungen Männer verbeugten sich nun ebenfalls und Maew war es immer noch peinlich, so förmlich begrüßt zu werden.
„Wir haben die Sporthalle heute den ganzen Vormittag und wollen etwas ausprobieren. Du kannst dich erinnern, dass Jung-Hwa einen magischen Kern bei dir festgestellt hat? Wir haben eine Vermutung, was es sein könnte, deshalb tu mir bitte den Gefallen und mach das, was ich von dir möchte. Ich will und kann dir nicht verraten wozu es gut ist, aber ich bitte dich, mir zu vertrauen.“
Maew nickte zögernd. Er war sich nicht vollkommen sicher was auf ihn zukam, doch nach dem gestrigen Tag vertraute er Flame voll und ganz.
„Dann möchte ich dich bitten, dich umzuziehen, genauso wie die vier anderen. Sie werden dir zeigen wie man den Kampfpanzer richtig an- und ablegt. Ich werde so lange etwas meditieren.“
Flame zog sich in eine Ecke zurück und die vier Jungs brachten jeweils eine Segeltuchtasche in die Halle und Maew glaubte, eine ähnliche schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Jung-Hwa trug gleich zwei solcher Taschen.
„Dies ist deine. Wir haben die Größe nach P’Flames Angaben fertigen lassen.“
Neugierig packte Maew die Tasche aus.
Zunächst gab es da einen sogenannten Patch-Suit, einen dünnen, äußerst strapazierfähigen, körperengen Overall der auch hier, wie in fast allen anderen Einheiten in denen er eingeführt worden war, nach wenigen Sekunden den Spitznamen ‚Ganzkörperkondom‘ weg hatte. Dazu gab es spezielle Aufsatzteile - die sogenannten Patches - als Panzerungen für Brust, Rücken, Schultern, Oberarme, Unterarme, Oberschenkel und Unterschenkel und dann die Stiefel. Nicht zu vergessen die beiden Halbschalen für den Unterkörper. Die Panzerungen waren aus einem leicht flexiblen, mattschwarzen Material über dessen Herkunft oder Zusammensetzung niemand etwas sagen konnte oder wollte.
Die Panzerungen hatten auf ihrer Innenseite eine Gel-Polsterung und eine Beschichtung die auf dem Jump-Suit ohne weitere Befestigung haftete. Der einzige Nachteil war, dass jedes dieser Teile einzeln individuell angepasst werden musste.
Als es daran ging den Patch-Suit anzulegen, war es Maew deutlich peinlich, sich vollkommen auszuziehen und es half auch nicht wirklich, dass ihm vier inzwischen nackte Jungs dabei zusahen. Anscheinend vollkommen ungerührt half Nom Maew beim zurechtziehen des Anzugs. Erst als er fertig war, fingen die vier anderen an, sich den Patch-Suit anzuziehen. Maew hatte ausreichend Gelegenheit die Jungen zu betrachten. Obwohl Maew durch sein europäisches Erbe ziemlich groß war, überragte ihn Jung-Hwa noch um fast zehn Zentimeter. Hyun-Su war deutlich kleiner, aber dafür breiter in den Schultern. Er schien viel Sport zu treiben. Die beiden anderen waren ebenfalls sehr unterschiedlich. Nom war so groß wie Maew, aber deutlich schwerer und muskulöser. Ae war fast gleich groß, aber schlanker.
Als nächstes kamen die Pads der Panzerung an die Reihe. Die beiden Paare legten sie sich gegenseitig an und Maew sah interessiert zu. Jeder bedankte sich bei seinem Partner mit einem leichten Kuss auf die Wange. Maew wurde wieder rot bei dem Anblick, aber auch etwas nachdenklich.
Jetzt halfen ihm Jung-Hwa und Nom mit seinen Pads. Es war sehr ungewohnt und zu Anfang etwas unbequem. Die einzelnen Teile würden wohl noch genauer an seine Körpermaße angepasst werden müssen. Maew war es furchtbar peinlich als Nom vor ihm kniete und das letzte Pad vorn an seinem Unterkörper befestigte. Einem unbestimmten Gefühl nachgebend zog er Nom an sich, als dieser Aufstand und gab ihm einen Kuss auf die Wange, ebenso danach einen für Jung-Hwa.
„Ich sehe, du hast dich bereits eingewöhnt.“
Die fröhliche Stimme von Flame ließ Maew herumfahren. Flame stand vollkommen nackt vor ihm und grinste ihn an. Bewundern glitt Maews Blick an dem Körper herunter, den er in der vergangenen Nacht so oft liebevoll an sich gezogen hatte. Flames Stimme unterbrach seine Erinnerungen.
„Es kann losgehen. Bitte alle an die Wand.“
Sofort zogen sich die vier Magier an die Hallenwand zurück und Maew folgte ihnen. Dann verfolgte er fasziniert, wie sich Flame in die Mitte der Halle begab und anfing zu verwandeln. Erst in die Mittelform, dann in den gut zwölf Meter langen riesigen Drachen. Jung-Hwa klopfte Maew auf die Schulter.
„Komm mit.“
Wortlos folgte ihm Maew, bis sie dicht neben dem Körper des Drachen zum Stehen kamen. Flame – nein, der Tian Long – hatte sich flach auf den Boden gelegt. Der lange, schlangenförmige Körper hatte einen Durchmesser von gut anderthalb Metern, der Kopf war fast zwei Meter hoch. Maew sah nach oben und blickte in die goldgesprenkelten Augen. Fast schien es, als ob der Drachen ihm zublinzelte.
„So, ich werde dir jetzt hochhelfen. Direkt hinter dem Kopf, am Körperansatz des Tian Long ist eine kleine Vertiefung, dort kannst du sitzen, fast wie auf einem Pferd. Und direkt am Kopf sind hinten zwei goldene Schuppen, die aussehen wie Hörner. Die einzigen goldenen Schuppen zwischen all den roten. Sie stehen etwas hervor. Halte dich daran fest und warte, was passiert.“
Maew sah Jung-Hwa an, als ob er ihn aufgefordert hätte, aus dem siebten Stock zu springen, doch dann erinnerte er sich an die Worte von Flame. Ich bitte dich, mir zu vertrauen.
Wortlos nickte er Jung-Hwa zu, der ihn an den Hüften packte und anscheinend mühelos hochhob. Maew saß jetzt kniend auf dem Körper des Drachen, dann sah er die Vertiefung vor sich, die Jung-Hwa gemeint hatte. Vorsichtig rutschte er etwas nach vorne und setzte sich mit gespreizten Beinen hin. Es war tatsächlich eine Mulde, wie für einen Reiter gemacht. Und jetzt sah Maew auch vor sich die beiden goldenen Drachenschuppen. Sie lagen nicht zusammen mit den anderen in der Panzerung, sondern ragten hervor wie kleine Hörner, an denen man sich festhalten konnte. Zögernd griff Maew danach.
Ein leises Pulsieren durchlief die Hörner und Maew spürte, wie sein aufgeregter Herzschlag sich diesem Pulsieren anpasste. Mit einem Mal wusste er, dass dies der Herzschlag des Drachen war und ihre Herzen schlugen jetzt im selben Takt. Maew nahm auf einmal den Körper des Drachen wahr wie seinen eigenen. Der lange Körper – unwillkürlich streckte er sich. Die vier Beine mit den jeweils sechs Krallen – seine Hände verkrampften sich um die Hörner. Der lange Schwanz – unbewusst bewegte Maew sein Hinterteil hin und her. Und dann ertönte eine Stimme in seinem Kopf.
„Na, gefällt dir auch dieser Körper?“
Mit einem Aufschrei ließ Maew die Hörner los. Der Drachen ließ ein unwilliges Brummen hören. Hastig ergriff Maew wieder die Hörner.
„Flame?“ flüsterte Maew leise.
„Ja, ich bin Flame. Und ich bin auch Tian Long – denn wir sind eins. Du bist Maew. Und du bist auch der Drachenreiter. Zusammen jedoch sind wir mehr als der Himmelsdrache.“
„Aber, aber wieso? Warum?“
Ein leises Kichern ertönte.
„Du brauchst nicht zu reden. Denke einfach an das, was du sagen willst.“
„Etwa so? Was hat es mit dem Himmeldrachen auf sich?“
„Ja, sehr gut. Der Himmelsdrache ist die höchste Stufe in der Inkarnation eines Drachen. Er bekommt Flügel, sobald er tausend Jahre alt ist und dann kann er sich in den Himmel erheben. Doch es gibt noch einen anderen Drachen. Einen, der etwas kann, was sonst Drachen nicht können. Der Ying Long ist eine einzigartige Ausnahme. “
„Was soll das sein?“
„Ying Long heißt wörtlich übersetzt, der antwortende Drachen. Er kann sprechen. Du bist die Verbindung eines lebenden Drachen zu seiner Welt. Wir sind der Ying Long.“
Als Maew sich seiner Umgebung wieder bewusst wurde, bemerkte er links neben dem Drachen vier Gestalten, die erwartungsvoll zu ihm hoch sahen. Er winkte ihnen zu, dann erhob er sich und lief leichtfüßig balancierend den Körper des Drachen entlang bis zum ersten Beinpaar. Rutschend ließ er sich hinunter und ging hinüber zu den beiden Paaren, die ihn immer noch aus einer Mischung aus Angst und Neugier ansahen.
Jung-Hwa konnte seine Neugier nicht mehr zügeln.
„Und?“
„Wir sind Ying Long. Wir sind…“
Weiter kam Maew nicht. Mit offenem Mund sah er zu wie sich alle vier Jungen vor ihm auf den Boden knieten und sich mit hoch erhobenen Händen verbeugten, wie es nur einer Anbetung vorbehalten war.
Peinlich berührt machte Maew einen Schritt nach vorne und zog jeden einzelnen wieder vom Boden hoch.
„Was soll das? Hört sofort auf damit.“
„Du bist die Stimme des Ying Long. Die großen Himmelsdrachen hat es schon immer gegeben, doch die antwortenden Drachen sind weitaus seltener. Seit die Geschichte der Drachen aufgezeichnet wurde, noch vor der Zeit des ersten Kaisers, seit die Drachen zugestimmt haben, den Kampf für das Gute zu unterstützen, bist du die dritte Stimme.“
Maew schwindelte und Nom fasste ihn an den Schultern, um ihn zu stützen. Maews Welt war innerhalb von zwei Tagen auf den Kopf gestellt worden und er wusste nicht, was er denken oder sagen sollte.
Ein Schatten fiel auf die fünf Jungen herab und als sie nach oben sahen, erkannten sie den Kopf des Drachen der sich nach unten geneigt hatte und Maew besorgt betrachtete. Maew sah nach oben und winkte.
„Es geht mir gut. Alles in Ordnung.“
„Es war wohl alles etwas viel auf ein Mal.“
Maew wollte etwas sagen, doch nur ein leichtes Quieken kam über seine Lippen. Die anderen sahen ihn fragend an, doch er sah nur nach oben.
„Es funktioniert auch ohne Kontakt?“
„Anscheinend. Auch das ist neu. Die alten Aufzeichnungen haben nie etwas darüber berichtet.“
„Darf ich es ihnen sagen?“
„Wenn du es möchtest, ja. Sie werden es ja früher oder später ohnehin bemerken. Denn sie werden uns weiter begleiten.“
Ein leises Kichern ertönte bei Maew im Kopf und er wurde sich bewusst, dass auch Stimmungen und Gefühle übertragen wurden.
„Frag doch die anderen einmal, ob sie nachher mit uns duschen möchten.“
Ein plötzliches Gefühl von Eifersucht überschwemmte Maew. Doch dann spürte er wie Zuneigung und Liebe ihn einhüllten.
„Sei dir gewiss, dass nichts unser Band mehr trennen kann. Aber ich habe vorhin deine Blicke beim Umziehen bemerkt. Wir werden uns sehr wahrscheinlich noch öfter in solchen oder ähnlichen Situationen wiederfinden.“
Erstaunt bemerkten die vier Jungen, die immer noch um Maew herumstanden, dass er erst eine ganze Weile wie erstarrt nach oben blickte um dann rot anzulaufen.
Maew löste sich von dem Blick nach oben und sah etwas unsicher in die Runde, doch dann lächelte er.
„Flame möchte wissen, ob ihr mit uns duschen wollt.“
Die Blicke der Vier waren unbezahlbar. Ae hatte die Augen aufgerissen und starrte Maew an. Noms Blick ruckte fragend nach oben zum Drachen und Hyun-Su machte eine Handbewegung, als ob er böse Geister verscheuchen wollte. Lediglich Jung-Hwa nickte Maew zu und sah hinüber zu ihren Sachen an der Hallenwand.
„Dann lass uns mal wieder ablegen.“
Als Maew mühsam den engen Patch-Suit abgestreift hatte, spürte er eine Berührung an seiner Schulter. Ohne sich umzudrehen wusste er, dass es Flame war, der seine Rückverwandlung abgeschlossen hatte. In der kurzen Zeit, die er mit dem Ablegen der Panzerung verbracht hatte, war ihm ein weiterer Gedanke gekommen.
„Geht es auch in jeder Form?“
Er spürte, wie sich Flames Hand auf seiner Schulter kurz verkrampfte, dann aber schnell entspannte. Sanft fuhr sie den Rücken hinunter bis zu den Hinterbacken und Maew erschauerte.
„Mach das bitte nicht, wenn die Rückverwandlung noch nicht abgeschlossen sein sollte. Wenn du mich erschreckst, geben die Krallen richtig schöne Narben.“
Maew fuhr herum und umarmte Flame stürmisch. Dann löste sich Flame und betrachtete Maew eingehend. Er hatte ihn zwar schon in der vergangenen Nacht unbekleidet gesehen, aber hier konnte er ungehindert und ohne abgelenkt zu werden, den sportlichen Körper bewundern. Auch die anderen vier hatten sich, nach dem sie sich aller Sachen entledigt hatten, wieder um den Drachen und seinen Reiter versammelt. Flame sah Maew noch einmal an, dann ging er hinüber zu Jung-Hwa, stellt sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn kurz auf den Mund.
„Willkommen bei den Kriegern des Ying Long.“
Danach kam Hyun-Su an die Reihe, bei dem er sich nicht zu strecken brauchte.
Maew sah ihm erstaunt zu, dann dämmerte ihm, was hier gerade geschah und welche Rolle ihm dabei zukam. Er atmete tief ein, dann trat er ebenfalls vor Jung-Hwa. Als er sich näherte um ihn zu küssen, berührten sich ihre Körper und Maew erschauerte. Dann erfasste ihn eine tiefe innere Ruhe und er lächelte Jung-Hwa an.
„Willkommen, Krieger des Ying Long.“
Ebenso grüßte er die anderen mit den gleichen Worten. Bei Hyun-Su ließ er spielerisch eine Hand den Rücken herunterwandern, was diesen zu einem erstaunten Blick veranlasste. Ae wurde nach dem Kuss auf den Mund noch mit einem Kuss auf die Nasenspitze bedacht und bei Nom fuhr der nun mutig gewordene Maew mit dem Zeigefinger über eine Brustwarze.
„Schnell in die Dusche bevor uns jemand hier so sieht.“
Etwas verwirrt sah sich Maew um, bis er bemerkte, dass die Interaktionen nicht ohne Folgen geblieben waren und er nun ebenfalls freudig erregt in Richtung Dusche eilte.
Das Duschen selber beschränkte sich zum größten Teil auf die Körperpflege, wenn auch alle Körperteile ausgiebig gepflegt wurden. Alle Jungen tauschten hin und her, so dass Maew am Ende jeden der fünf anderen Körper ausgiebig mit seinen Händen erkundet hatte, ebenso wie alle anderen auch von einem zum anderen getauscht hatten.
Jun sah auf die Uhr im Umkleideraum und wurde hektisch.
„Leute, wir müssen uns beeilen. Wir haben nur noch eine Viertelstunde bis zur Vorstellung.“
Während des kleinen Dauerlaufes zum Klassenraum wurde Maew von Flame ins Bild gesetzt.
„Gestern sind die ausgewählten Neuzugänge aus dem ganzen Einzugsbereich angekommen. Es sind dreizehn Paare, darunter sieben Paare Bannmagier. Wir sollen von denen ein Paar auswählen, das zu uns kommen soll, während der Rest in die normale Ausbildung kommt.“
Maew überlegte, wie das wohl vor sich gehen sollte, als sie auch schon ihren Klassenraum erreicht hatten.
In dem Raum hatten sich 26 neue Schüler eingefunden und die Schultische waren paarweise zusammengeschoben worden. Auf den ersten Blick konnte Maew die einzelnen Magieschulen nicht unterscheiden, denn die Schüler trugen schon die weißen Hemden der Schuluniform. Erst auf den zweiten Blick sah er einen kleinen Anstecker auf dem linken Kragen, der hauptsächlich das Schulemblem, den Drachen, darstellte, der aber in verschiedenen Farben hinterlegt war.
Die Neuen sahen erstaunt auf, als die Sechsergruppe eintrat, doch niemand sagte etwas. Jung-Hwa gab seiner kleinen Truppe ein Zeichen, sich direkt vor der Tafel aufzustellen. Im Vorbeigehen sah Maew, dass die anderen vier ebenfalls einen Anstecker hatten, lediglich Flame und er selbst trugen keinen.
Pünktlich mit der Klingel erschien der Direktor, gefolgt von dem buddhistischen Mönch, den Maew schon gestern kennengelernt hat. Sofort erhob sich die Klasse und grüßte mit einem respektvollen Wai. Auch die sechs an der Tafel verbeugten sich.
„Meine Herren, Sie wurden hier an unser Institut geschickt, um Ihre Ausbildung abzuschließen. In einem halben Jahr werden Sie auf Ihre jeweiligen Einheiten verteilt werden, um dann Ihren Beitrag dafür zu leisten, dass nicht das Leid in dieser Welt überhandnimmt. Doch bevor dies passiert, haben wir noch eine kleine Besonderheit. Sie alle haben wahrscheinlich mitbekommen, dass wir sieben Paare Bannmagier hier haben und nicht sechs, wie die Zusammenstellung der magischen Schulen es erforderlich machen würde. Ich möchte die Paare bitten, sich zu erheben.“
Etwas zögernd erhoben sich, quer durch den Raum verteilt, sieben Paare von ihren Stühlen. Maew sah Gesichter, die das ganze Spektrum der Herkunft aus Südostasien abdeckten. Er fragte sich immer noch, wie die Auswahl von statten gehen sollte, als er Flames Gedanken hörte.
‚Gib mir deine Hand und dann schließ die Augen. Ich werde dich durch die Reihen führen‘.
Maew zögerte unmerklich. Warum sollte ausgerechnet er die Auswahl treffen und dann auch noch mit geschlossenen Augen. Doch dann spürte er schon, wie Flame seine rechte Hand ergriff und ihn langsam mit sich zog. Die Augen geschlossen, den Kopf gesenkt, folgte er dem Ying Long, denn nichts anderes war Flame in diesem Moment. Langsam spürte Maew die Präsenz des riesigen Drachen neben sich, der ihn wie ein Geist begleitete. Er nahm wahr, wie der Drachen sich umsah und jedes der sieben Paare eindringlich musterte. Auch wenn Maew die Paare nicht sehen konnte, spürte er, was der Ying Long spürte und er erkannte, wonach der Drache suchte. Plötzlich ‚sah‘ Maew seine Umgebung mit den Augen des Drachen und er erblickte mit diesen Augen mehr Farben, als er je zu beschreiben gewusst hätte. Das Auffälligste in diesem Meer von Farben waren im Moment zwei hellviolette Flammen, die nebeneinander im Takt ihrer Herzen ziemlich schnell pulsierten. Fast automatisch steuerte Maew auf die beiden Flammen zu und bewunderte die Kraft der Farbe. Der Drachen neben Maew stieß ein nur für ihn hörbares Brummen aus und Maew wusste, dass sie an ihrem Ziel angelangt waren. Das gleichmäßige pulsieren der violetten Flammen hatte zugenommen, wohl vor Aufregung, dann öffnete Maew seine Augen. Die Farben um ihn herum verblassten rasch, doch das erste was er sah, war ein paar strahlend blauer Augen.
„Wie es aussieht, ist die Wahl getroffen. Ich danke euch für die Mühe. Der Rest darf sich wieder setzen, denn wir werden gleich mit dem Unterricht beginnen.“
Während sich die anderen sechs Paare wieder setzten, gab Flame dem vor ihm stehenden ein Zeichen, ihm zu folgen. Mit einer knappen Verbeugung vor Lehrer und Mönch verließen sie nun den Klassenraum in einem, wie es Maew vorkam, ungebührlich schnellen Tempo.
Vor dem Klassenraum hielt Flame an, atmete tief ein und aus und sah sich dann um.
„Entschuldigung, aber das war etwas viel. Alle drei Astralmagier haben auf mich zugegriffen und ich musste sie zum einen abblocken, zum anderen mich nicht aus der Ruhe bringen lassen. So, dann mal zu unseren Neuerwerbungen.“
Die beiden ‚Neuerwerbungen‘ sahen Flame ebenso neugierig an, wie er sie. Jung-Hwa wedelte mit einer Hand und bekam die entsprechende Aufmerksamkeit.
„Ich schlage vor, wir gehen runter in einen der Übungsräume, da sind wir ungestört.“
Flame nickte und bedeutete allen, ihm zu folgen. Die beiden Neuen wunderten sich etwas, dass anscheinend der Kleinste der Gruppe jetzt das sagen hatte.
In einem der leeren Sportübungsräume ließen sich alle auf den Matten nieder. Maew hatte nun die Ruhe, die beiden Neuen näher zu betrachten.
Der kleinere der beiden, der mit dem roten Anstecker, kam deutlich nicht vom Festland. Maew tippte auf Indonesien oder die Philippinen. Genauso groß wie Hyun-Su, war er aber deutlich kompakter gebaut und hatte halblange, schwarze Haare und braune Augen. Sein Partner war etwas ganz anderes. Bis auf Jung-Hwa überragte er alle anderen, außerdem war er sichtlich muskulöser als der schlanke Koreaner. Das für Maew herausstechendste Merkmal aber waren seine goldblonden Haare und seine blauen Augen. Er war es auch, der als erster sprach.
„Bevor mich jemand fragt, ich heiße Peter Cunningham und stamme aus Singapur. Meine Vorfahren lebten dort seit über hundertfünfzig Jahren und ich bin ebenso ein Eingeborener meines Landes wie ihr.“
Flame lächelte und Maew wusste, warum.
„Es hat niemand bis jetzt das Gegenteil behauptet. Hast du damit ein Problem?“
„Ja, hab‘ ich. Ich bin während meiner Ausbildung schon mindestens ein Dutzend Mal gefragt worden, was ich hier will. Die freundlichste Version war, ob ich mich nicht verlaufen hätte.“
„Das ist jetzt nicht mehr wichtig. Du hast dich nicht verlaufen, denn du bist bei uns angekommen. Der Reiter hat euch erwählt.“
„Der Reiter?“
„Ja, der Reiter des Ying Long. Ihr seid ab jetzt Krieger des Ying Long.“
Bangkok, Thailand, Anno Domini 2017
Team 3
Die Besucher saßen inzwischen im Konferenzraum des Hauptquartiers, zusammen mit der einheimischen SMU und lauschten gebannt der Geschichte der Gründung. Lucien rutschte nervös hin und her. Sein Blick war auf Flames schmaler Gestalt hängen geblieben.
„Das heißt also, du bist wirklich ein Drache als Gestaltwandler?“
Alle Mitglieder der SMU lächelten leicht, denn sie wussten, worauf die Frage hinauslaufen würde. Prompt erhob sich auch Flame von seinem Stuhl.
„Kommt mit nach draußen. Ihr werdet es sehen.“
Zögernd erhoben sich die Besucher und dann auch die restlichen Mitglieder der SMU. Flame führte sie hinaus vor das Gebäude und dann quer durch etwas unwegsames Gelände in eine kleine Senke. An den Wipfeln der umgebenden hohen Bäume war ein Tarnnetz angebracht, so dass man von oben keinen Einblick auf das Gelände hatte.
„Offiziell ist das unser Parade- und Übungsplatz. Da es sichtgeschützt ist, können wir auch mit dem Ying Long hier üben.“
Pete wies auf weitere Sichtschutzzäune hin, zuckte aber mit den Schultern.
„Im Prinzip ist es nicht notwendig. Die Park-Ranger bestehen aus einer Einsatzkompanie und sichern zum einen unser eigenes Gelände, zum anderen arbeiten sie tatsächlich als Park-Ranger und patrouillieren durch den Park, machen Unterricht für Schulklassen und sind nicht zuletzt Polizeiorgan im Park für alle Personen, die sich darin befinden.“
Auf den fragenden Blick von Tobias seufzte Pete ein wenig.
„Es sind tatsächlich meistens die Touristen, die Ärger machen. Wir haben insgesamt drei Ferienresorts im Park und es gibt alle möglichen Vorkommnisse, von Ruhestörung über Umweltverschmutzung bis hin zu Brandstiftung.“
Die vier Besucher schüttelten fassungslos den Kopf, bis Flame unbekümmert mitten auf dem freien Platz begann, seine Kleidung abzulegen. Lucien sah ihm mehr als interessiert zu, trat dann aber zwei Schritte zurück, als die erste Verwandlung begann. Der Drache in seiner Halbform rief die unterschiedlichsten Reaktionen hervor.
Die menschliche Gestalt war mit dem Kopf, den Krallen und dem Schwanz eines Drachen modifiziert, die Haut war einem roten Schuppenkleid gewichen.
„Sagenhaft.“
Lucien war tatsächlich fast sprachlos. Maew nahm ihn an der Hand und führte ihn hin, bis kurz vor die knapp zwei Meter große Gestalt. Und wie auch Maew bei seinem ersten Mal, legte Lucien seine Hand vorsichtig auf die Brust des Drachens. Er spürte die flexiblen Schuppen, die Wärme des Körpers und den Schlag des Herzens. Maew nahm Luciens Hand herunter und zog ihn etwas zurück.
„Wir müssen etwas weiter weg, damit nichts passiert.“
Als die endgültige Verwandlung durchgeführt wurde, standen alle nur daneben und sahen schweigend zu. Der riesige Drache streckte sich ein wenig und dann blickte er hinüber zu seinen Besuchern. Langsam ging er auf die kleine Gruppe zu und sah auf sie hinab.
Lucien schien es, als ob der Drache genau ihn ansah, aus seinen braunen, goldgesprenkelten Augen, die er schon zuvor an Flame bemerkt hatte. Mit etwas merkwürdigen, langsamen Schritten kam der Drache auf seinen kurzen Beinen noch näher, blieb direkt vor Lucien stehen und entblößte ein Gebiss von hunderten nadelscharfen Zähnen. Maew grinste leicht.
„Hm, sieht so aus, als ob der Ying Long Hunger hätte.“
„WAS!?“
Lucien quiekte förmlich und das Gelächter um ihn herum zeigte ihm, dass er einem Witz aufgesessen war. Sogar seine eigenen Kameraden lachten laut.
Maew lauschte ein wenig in sich hinein, dann nickte er.
„Der Ying Long möchte, dass du dich ausziehst.“
Lucien hob erstaunt die Augenbrauen, aber Maew schien die Sache diesmal ernst zu meinen und so legte er seine Sachen ab, wie zuvor Flame. Nun stand er vollkommen nackt vor dem Drachen, der ihn immer noch musterte. Plötzlich schoss aus dem Maul des Drachen eine meterlange Zunge hervor und leckte einmal an Luciens Vorderseite komplett von unten nach oben. Lucien erschauerte, während der Rest lachte, aber dann sah er, dass die Rückverwandlung einsetzte. Langsam ging er auf die Halbform zu, reckte sich etwas und strich dem Drachen sanft über die Nüstern. Er spürte förmlich, wie die Gestalt mit ihren roten Schuppen erschauerte. Langsam begann auch dort wieder die Verwandlung und Lucien sah nun auf Flame herab, der ihn anlächelte und mit seinen braunen, goldgesprenkelten Augen intensiv ansah. Entschlossen griff Flame nach Luciens Hand und führte ihn in Richtung des Haupthauses.
Wortlos sahen alle anderen die beiden nackten Gestalten entschwinden und Maew sah Tobias achselzuckend an.
„So sind sie, die Drachen. Bleibt uns ja wohl nichts übrig, als hinter ihnen herzuräumen.“
Ohne weiteren Kommentar sammelte er Flames Sachen auf und Tobias suchte Luciens Klamotten zusammen.
„Wir bringen das Zeug zu mir auf die Bude. Sag mal, ich habe gehört, du hast den Spitznamen Top nicht umsonst bekommen?“
Tobias wunderte sich über den abrupten Themenwechsel, dann warf er Prasong noch einen bösen Blick zu.
„Zumindest hat sich bis jetzt noch niemand beschwert.“
Maew lachte, dann zeigte er kommentarlos in Richtung der Unterkunftsgebäude. Prasong und Florian sahen ihnen etwas verloren hinterher, als die drei anderen Paare nähertraten.
„Es wird wohl eine längere Pause geben, bevor wir heute Abend die nächste Besprechung haben. Möchtet ihr euch zusammen zurückziehen oder können wir uns noch näher kennenlernen?“
Florian war etwas überrascht von der, wie er meinte, deutlichen Einladung, doch ein kurzer Blick zu Prasong verriet ihm dessen Absicht. Mehr als offensichtlich sah er hinüber zu dem großen hellblonden Peter. Florian war etwas unentschlossen, doch seine Zeit mit Prasong hatte ihn etwas geprägt. Er wandte sich an Nom und Ae, auch weil er neugierig war, denn er verband Asiaten immer mit etwas Zierlichem, nicht mit einem Muskelpaket wie Nom.
Jun und Tsu lächelten freundlich und wünschten einen ruhigen Nachmittag, während sie sich auf den Weg zum Hauptquartier machten. Florian sah ihnen fragend hinterher. Ae lächelte.
„Die beiden haben jetzt eine Wachschicht. Ein Paar würde ja mindestens übrigbleiben und das ist dann eben dran mit Schicht.“
Florian war tatsächlich sehr angetan von den beiden jungen Thailändern und besonders von Nom, der ihn ein wenig an Lucas erinnerte. Groß, stark und doch sanft. Allerdings wollte er Nom nicht im Einsatz erleben, denn außer Karate oder Taek-wan-do, die auch in Deutschland unterrichtet wurden, erlernten sie zusätzlich das traditionelle Muay-Thai, das Thai-Boxen.
Florian hatte sich gerade gemütlich zwischen Nom und Ae eingekuschelt, als die Tür aufgerissen wurde und Hyun-Su seinen Kopf hereinsteckte.
„Alarm! Polizeieinsatz im Danali-Resort! Gebt ihm eine von unseren Uniformen. Abmarsch in fünfzehn Minuten.“
Nom und Ae sprangen auf und suchten hektisch nach ihren Uniformen, während sie zwischendurch Florian ein paar Bekleidungsteile zuwarfen.
Ähnlich erging es Prasong, der sanft zwischen Pete und Rod entschlummert war. Hier wurde die Suche hektischer, denn Prasong würden von keinem der beiden irgendwelche Uniformteile passen.
Tobias und Maew waren noch wach und Jung-Hwa wurde mit einem erregenden Anblick belohnt, doch die Nachricht beendete alle ihre Tätigkeiten sehr rasch. Maew sah sich schnell um.
„Luc kriegt eine von meinen. Dir müssten Flames Sachen passen. Los, rüber.“
Es dauerte keine fünfzehn Minuten, bis alle zwölf Mann ordnungsgemäß bekleidet in die beiden Geländewagen stiegen und losfuhren. Lucien und Tobias hatten sogar noch ein paar Dienstgradabzeichen verpasst bekommen. Flame winkte ab.
„Sieht immer gut aus. Hier wird viel auf Rang und Abstufungen geachtet. Ohne Abzeichen wirst du nicht viel.“
Jung-Hwa und Hyun-Su hatten sich aufgeteilt und berichteten in jedem Wagen vom kommenden Einsatz.
„Es gab eine Anzeige vom Leiter des Danali-Resorts. Anscheinend ist einer der Houseboys vergewaltigt worden. Da muss tatsächlich was vorgefallen sein, wenn er freiwillig Anzeige erstattet.“
Flame brummte erzürnt und wandte sich an Lucien und Tobias.
„In den Resorts arbeiten Jungen als Houseboys, also als Zimmerservice und Reinigungskraft. Eigentlich dürfen sie erst ab sechzehn beschäftigt werden, doch das sehen die Arbeitgeber nicht so eng und stellen schon mal vierzehn- oder fünfzehnjährige ein. Die Jungs versuchen hier auf dem Land ihre Familien finanziell zu unterstützen, was manchmal auch dringend notwendig ist. Deshalb lassen sich auch einige auf mehr ein, als nur Houseboy zu sein.“
„Freiwillig?“
„Wenn du dringend Geld brauchst, ist das freiwillig? Abgesehen davon ist es hier in jedem Fall strafbar, freiwillig oder nicht. Auch das Alter spielt keine Rolle. Was für bestimmte Touristen allerdings kein Hinderungsgrund darstellt.“
„Aber wieso dann jetzt der Einsatz?“
„Ich weiß es noch nicht genau, aber die Situation ist immer ein bisschen kompliziert. Die Jungen sagen nichts und die Betreiber der Resorts oder Hotels schließen einfach die Augen. Wenn jemand, wie jetzt, Anzeige erstattet hat, muss etwas sehr Schlimmes vorgefallen sein, was sich nicht mehr vertuschen lässt.“
Etwas Ähnliches erklärte Maew jetzt auch im zweiten Wagen Florian und Prasong.
„Und warum sollten wir mit?“
„Hu? Oh, einen Moment.“
Maew konzentrierte sich und sprach mit Flame, während dieser Rücksprache mit der Einsatzzentrale hielt. Dann lächelte er schwach.
„Es handelt sich anscheinend um mehrere Täter und diese kommen wohl aus Deutschland. Ich möchte euch bitten, während des Einsatzes nicht Deutsch zu sprechen. Vielleicht erfahren wir ja etwas, nur durch Zuhören.“
Florian und Prasong nickten. Florian kam sich etwas verloren vor, denn Prasong konnte sich problemlos auf Thai unterhalten, seine Sprachkenntnisse waren da etwas beschränkter. Lucien und Tobias würden sich wohl ganz zurückhalten müssen.
Die Fahrt dauerte knapp zwanzig Minuten und endete vor einem der Gästehäuser des Resorts, vor dem bereits zwei Wagen der Park-Ranger und ein Rettungswagen standen.
Flame gab Maew ein Zeichen und deutete auf den Rettungswagen, während er seine Truppe sortierte. Prasong würde ihn begleiten, Florian bei Maew bleiben, ebenso wie Nom und Ae. Der Rest folgte Flame ins Gebäude.
In einem der großzügigen Wohnräume standen vier europäisch aussehende Männer, lediglich mit ihren Unterhosen bekleidet und mit Handschellen versehen. Vier Park-Ranger mit grimmigen Gesichtern bewachten sie, bis sie Flame erkannten und ihn freundlich begrüßten.
Die gefesselten Männer sahen sich fragend an, denn die Neuankömmlinge schienen noch arg jung für jemanden, der Entscheidungen zu treffen hatte. Doch zunächst wollte Flame die Fakten von den Rangern haben.
„Der Resort-Manager hat uns alarmiert, als einer der Houseboys verschwunden zu sein schien. Er hätte die Nachmittagsschicht haben sollen, war aber nirgends aufzutreiben. Darauf hat der Manager einen weiteren Houseboy mit der Suche beauftragt, zunächst ohne Erfolg. Dieser Raum hier war verschlossen, deshalb ging man davon aus, dass niemand hier sei. Als der Houseboy auf Suche allerdings laute Stimmen hörte, näherte er sich über die Terrasse und konnte durch einen Spalt der Sonnenblenden erkennen, was vor sich ging. Darauf alarmierte er den Manager.“
Flame hob fragend die Augenbrauen und auch im Hintergrund wurde leise mit Pete, Lucien und Tobias geflüstert.
„Gang-Bang. Alle vier Männer haben den Jungen hintereinander und mehrfach missbraucht, bis er bewusstlos wurde. Dann hat man anscheinend weitergemacht, so dass der Junge einen Kreislaufzusammenbruch erlitten hat, zusätzlich dazu wohl auch mehrere andere Verletzungen.“
Flame blickte zunächst in die Runde seiner Truppe, doch alle schienen sich bei der Nachricht ganz gut zu halten. Dann versuchte er Kontakt mit Maew herzustellen.
Der befand sich draußen im Rettungswagen und sprach mit dem Arzt, der ebenfalls alarmiert worden war. Die Sanitäter hatten den Jungen versorgt und nun schlief er, in Decken gehüllt im Rettungswagen.
„Kreislaufzusammenbruch wegen langandauernder Beanspruchung des Kreislaufs. Dammriss durch Einführen eines Fremdkörpers in das Rektum. Hodenquetschung durch äußere Gewalteinwirkung und Verletzung beider Brustwarzen durch scharfkantige Gegenstände.“
Maew schüttelte den Kopf und informierte Flame. Nom übersetzte für Florian die Diagnosen des Arztes. Dann übermittelte Maew, was er drinnen erfahren hatte. Florian sah sich suchend um.
„Und wo ist der Typ, der ihn gefunden hat? Sollte der nicht auch hier irgendwo sein?“
Nom und Ae trennten sich wortlos und machten sich auf die Suche. Nach nur wenigen Schritten blieb Nom wie angewurzelt stehen. Hinter einem Gebüsch, mit Blick auf den Rettungswagen saß ein Junge an eine Mauer gelehnt und weinte bitterlich. Langsam näherte sich Nom und ging in die Hocke.
„Und wer bist du?“
Der Junge heulte weiter, bis Nom langsam und vorsichtig seinen Kopf anhob. Der Junge war vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt und trug die kurzärmelige Uniform der Houseboys.
„Hey, ich bin Nom. Wie heißt du?“
„Ich… ich bin Ohm.“
„Kennst du den Jungen im Rettungswagen?“
Ohm sah Nom nur einen kurzen Moment an, dann schüttelte ihn ein weiterer Weinkrampf.
„Das ist Nang, mein kleiner Bruder.“
Inzwischen hatte sich Flame den vier gefesselten Männern zugewandt. Da keiner von ihnen Thai sprach, wurde die Unterhaltung in Englisch geführt.
„Sie wissen, was Ihnen vorgeworfen wird?“
Einer der vier, ein etwas Größerer und trotz seines unbekleideten Zustandes anscheinend besser situierter Mann, sah zweifelnd zu Flame.
„Ich bin Anwalt und deutscher Staatsbürger. Ich will meinen Konsul sprechen.“
„Das lässt sich arrangieren. Demnächst. Doch zuerst will ich Sie mit den Fakten vertraut machen. Der junge Mann, der hier zusammen mit Ihnen aufgefunden wurde, ist schwer verletzt. Es steht noch nicht fest, ob er überleben wird.“
Drei der Männer wurden blass, lediglich der Anwalt schien ruhig zu bleiben. Leise begannen die anderen drei miteinander zu tuscheln. Prasong trat vor, ging zu Flame, grüßte zackig und übergab ihm einen Zettel, den dieser kurz betrachtete und dann einsteckte. Prasong blieb neben Flame stehen. Das Manöver hatte lediglich dazu gedient, unauffällig nach vorne in Hörweite der vier Verdächtigen zu kommen.
„Wir hätten vorsichtiger sein sollen.“
„Wer wollte denn immer noch einmal. Die Nippelklemmen waren auch deine Idee.“
„Aber er war doch schon…“
„Verdammt, wenn der abkratzt, kann auch das Konsulat nichts mehr…“
„Haltet doch mal die Klappe.“
Flame wandte sich in Thai an Prasong.
„Geh nach hinten und schreib auf, was du gehört hast. Dann komm gleich wieder zurück.“
Prasong salutierte und marschierte zurück, wo sich kurz Notizen machte, dann kehrte er zurück zu Flame und gab ihm den Zettel.
„Nun, meine Herren, der Konsul lässt leider noch etwas auf sich warten, doch Sie werden wahrscheinlich auch dringend einen einheimischen Anwalt brauchen.“
Der deutsche Anwalt straffte sich und schüttelte den Kopf.
„Das veranlasst alles das Konsulat.“
„Wie Sie meinen. Wissen Sie eigentlich, dass es einen Zeugen gibt? Sie wurden beobachtet, bevor der Manager Ihre Versammlung hm… aufgelöst hat.“
Das Tuscheln wurde hektischer.
„Wieso denn Zeuge, ich dachte, wir hätten alles dicht gemacht.“
„Verdammt, wenn jemand gesehen hat, dass wir den armen Kerl hintereinander durchgeknallt haben…“
„Armer Kerl? Wer hat ihn denn bequatscht und so viel Geld geboten?“
„So wie der mit dem Arsch gewackelt hat? Da musste man einfach zugreifen.“
„Ja, klar. So hart, dass du ihm die Eier geklemmt hast. Wenn der abnippelt, sind wir dran. Gibt es hier eigentlich die Todesstrafe?“
„Was!? Aber wir haben doch bloß…“
„Schluss jetzt! Die wollen uns doch nur verunsichern.“
„Bedaure, aber wir reden nur noch mit unserem Anwalt.“
„Wie Sie wünschen.“
Flame sah sich nach den Rangern um, die vor ihnen angekommen waren, dann zurück zu den vier Verdächtigen.
„Sie werden jetzt nach Bangkok verlegt und dort der Polizei übergeben. Sie können davon ausgehen, dass ein Mitarbeiter des Konsulats Sie dort aufsuchen wird. Ebenso haben Sie dort die Möglichkeit, mit einem Anwalt zu sprechen. Alle Protokolle und Beweismittel werden ebenfalls der Polizei in Bangkok übergeben.“
Abrupt drehte sich Flame um und mit einem kurzen Hinweis an die Ranger verließ er, gefolgt von seinem Team und seinen Besuchern, das Gästehaus. Heftig ausatmend wandte er sich an Prasong.
„Was hast du alles gehört und mitschreiben können?“
Prasong reichte ihm den Zettel mit seinen Notizen, doch Flame sah etwas irritiert aus, als er sie betrachtete.
„Oh, sorry.“
Hastig nahm Prasong den Zettel wieder entgegen und schrieb den Text noch einmal in Thai unter seine deutsche Mitschrift.
„Aha. Das dürfte wohl zumindest für den Untersuchungsrichter reichen. Sexuelle Handlungen mit Minderjährigen, Körperverletzung, hm, vielleicht sogar schwere Körperverletzung.“
Neugierig sahen alle Flame an, bis dieser die Informationen weitergab, die er von Maew über den Zustand des Jungen erhalten hatte. Vor dem Gästehaus war der Rettungswagen bereits verschwunden und Florian stand mit Nom und Ae in einer kleinen Gruppe zusammen und diskutierte heftig.
Lucien sah sich suchend um.
„Wo ist Maew?“
„Er ist mit dem Rettungswagen mitgefahren.“
Schnell berichtete er auch noch von dem Bruder des Opfers und dass Maew darauf bestanden hatte, dass dieser ebenfalls ins Krankenhaus mitgenommen wurde.
„Für uns ist hier nichts weiter zu tun. Die Spurensicherung kommt aus der Provinzhauptstadt Kanchanaburi und das wird wohl noch eine Weile dauern. Dahin ist übrigens auch der Rettungswagen unterwegs. Dort befindet sich das einzige Krankenhaus mit einer forensischen Abteilung.“
„Okay, was machen wir jetzt?“
„Wir fahren zurück zum Hauptquartier. Dort werden alle Protokolle und Unterlagen zusammengestellt, die wir dann nach Bangkok schicken. Tut mir leid, dass ihr ausgerechnet da mit hereingezogen wurdet, aber auch das ist leider ein Teil unserer Arbeit hier. Eigentlich gehört sie zu unserer Tarnung, aber wir haben uns inzwischen damit arrangiert.“
Tobias wandte sich kopfschüttelnd an Lucien.
„Da bin ich ja richtig froh, dass wir eine Computerfirma als Tarnung haben.“
Im Hauptquartier wurden die besagten Protokolle erstellt, zusätzlich mit Vernehmungen der Zeugen und einer eidesstattlichen Erklärung von Prasong über die wahrheitsgemäße Aufzeichnung fremdsprachlicher Äußerungen.
Zum Abend hin gab es ein ausgiebiges Essen, bei dem Maew immer noch fehlte.
„Er ist noch im Krankenhaus. Er möchte die Operation gerne abwarten.“
Lucien und Tobias nickten gleichzeitig, bis Flame zu Tobias ging und ihn lächelnd ansah.
„Wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich mich auch mit dir ein wenig unterhalten.“
Tobias lächelte leicht, erhob sich und folgte Flame in dessen Zimmer.
Jung-Hwa sah sich am Tisch um und fixierte Florian.
„Die Nachtschicht übernimmt die Einsatzkompanie. Wir haben also heute Abend frei und könnten dir die Gegend zeigen.“
Florian sah zu Prasong, der sich leise mit Nom und Ae unterhielt und dabei schon eine Hand auf Noms Schulter gelegt hatte. Florian nickte.
„Ich würde ganz gerne alles hier kennenlernen.“
Jun und Tsu lachten leise und alle drei verließen den Tisch, an dem Lucien gedankenverloren in die Luft starrte. Pete kam zu ihm und stieß ihn an.
„Heute so nachdenklich?“
„Ja, die Sache heute Nachmittag hat mich doch irgendwie mitgenommen.“
„Du solltest nicht allzu lange darüber nachdenken. Wenn du willst, können wir dich auf andere Gedanken bringen.“
Etwas aus seiner Stimmung gerissen, sah Lucien nun hoch zu Pete.
„Hm, andere Gedanken wären nicht schlecht. Wobei… Du bist ganz schön groß.“
Pete lächelte unergründlich.
„Einen Meter und sechsundachtzig. Aber das wolltest du sicherlich nicht wissen oder?“
Lucien hat den Anstand, ein wenig rot zu werden. Pete lächelte immer noch.
„Aber wir haben die Möglichkeit, nachzumessen. Ich nehme an, du möchtest das übernehmen.“
Lucien nickte wortlos und folgte Pete und Rod.
Die Nacht verlief ruhig, zumindest gab es keinen Alarm. Maew war zu später Stunde eingetroffen und hatte sich kommentarlos zwischen Flame und Tobias eingekuschelt.
Während des Frühstücks machte Flame eine Ankündigung.
„Die ersten Informationen über den Auftrag unserer Gäste sind eingetroffen. Nach dem Frühstück Briefing im Lagezentrum.“
Lucien und Tobias waren ganz froh, dass es nun endlich irgendwelche Ergebnisse gab. So schön es hier auch war, sie hatten einen Auftrag zu erfüllen.
Der Briefingraum war noch nach dem klassischen Modell eingerichtet mit einem Lesepult vorne und mehreren Stuhlreihen.
Flame ließ auf der Leinwand vorne eine Zusammenfassung der gesammelten Daten ablaufen.
„Eine Person namens Christof Schneider, geboren am 12. Februar 1968 in Freiburg/Breisgau, ist am 13. September 2009 in Thailand eingereist und zwar per Schiff in Laem Chabang. Danach wurde er in Bangkok in einem Hotel registriert und dann, wenige Tage später, wurde eine offizielle Krankenakte bei einem Sexualtherapeuten angelegt. Der Arzt gehörte zu einer kleinen Privatklinik, die sich auf geschlechtsangleichende Operationen spezialisiert hatte.“
„Ich höre immer ‚hatte‘. Gibt’s den Laden nicht mehr?“
„Nein. Die Privatklinik wurde 2011 auf Betreiben der Gesundheitsbehörden geschlossen, weil es eine ungewöhnlich hohe Anzahl von Todesfällen während Operationen gab. Als die Klinik geschlossen wurde, kamen auch zahlreiche Anzeigen von Personen herein, bei den die vorgesehenen Operationen verpfuscht worden waren.“
Florian sah erstaunt auf.
„Wie kann man denn so etwas verpfuschen?“
Flame wurde etwas unruhig und sah hilfesuchend zu Maew, der nun aufstand und nach vorne ging.
„Wenn du es genau wissen willst, bemüh einfach mal Herrn Google. Aber um es kurz zu machen, es ist alles eine aufwendige plastische Operation. Stell dir vor, man hat bereits Penis und Hodensack entfernt, um dann festzustellen, dass man nicht weitermachen kann oder will. Was glaubst du, wie derjenige nachher damit klar kommt?“
„Was?!“, quiekte Florian auf und legte unbewusst beide Hände schützend vor die erwähnten Teile.
„Ja, ich weiß auch nicht, was da passiert war, aber es soll sogar noch schlimmere Ergebnisse gegeben haben. Man hat alles so gut wie möglich totgeschwiegen, denn das war ja nun nicht gerade eine Werbung für unser Gesundheitssystem.“
Lucien tuschelte mit Tobias, dann sah er zu Maew.
„Müssen vor solchen Operationen nicht jahrelange psychologische Betreuungen und Hormonbehandlungen durchgeführt werden?“
„Richtig. Das ist es, was uns auch wundert. Irgendetwas ist hier ganz merkwürdig gelaufen. Es gibt keine Nachweise über irgendwelche Beratungen, Betreuungen oder etwas Ähnliches. Ebenso wurden anscheinend keine Rezepte über Hormonpräparate für einen Patienten namens Christof Schneider ausgestellt oder eingelöst.“
„Also ist er irgendwann zwischen 2009 und 2011 hier spurlos verschwunden.“
Flame schüttelte den Kopf.
„Spurlos würde ich nicht sagen. Es fällt immer auf, wenn Europäer versuchen, sich irgendwo niederzulassen. Bei den offiziell registrierten war er nicht, also nehme ich an, er hat einen anderen Namen angenommen und ist irgendwo untergetaucht.“
„Das geht so einfach?“
„Nein, natürlich nicht. Alle brauchen ordnungsgemäße Papiere. Leider muss ich zugeben, dass hier im Land immer noch einzelne Personen existieren, die schon mal ihren finanziellen Vorteil höher erachten, als den Dienst am Staat.“
„Bestechung?“
Maew seufzte und zuckte mit den Schultern.
„Möglich. Allerdings würde das bedeuten, dass Christof Schneider eine neue Identität bekommen hat, mit der er alle medizinischen Maßnahmen absolviert hat, möglicherweise sogar eine erfolgreiche Operation. Danach kann sie sich dann mit einer Einbürgerung überall im Land niedergelassen haben. Allerdings wären das dann schon mehrere Stationen, an denen Unterlagen gefälscht, Beamte bestochen und vielleicht Zeugen ruhiggestellt worden sind. Aus anderen Vorgängen lässt sich da ein Schätzwert abgeben und der liegt nicht unter 300.000 €.“
„Boa hey, hat der im Lotto gewonnen? Aua, was denn?“
Lucien stöhnte auf, als Tobias ihm den Ellenbogen in die Seite stieß.
„Lass bei uns einen Abgleich machen mit dem Deutschen Lottoblock. Das dürfte ja an Christof Schneider gegangen sein.“
Lucien sah Tobias mit großen Augen an, dann sah er zu Flame, der zustimmend nickte.
Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2017
Als gleich zu Beginn der Sommerferien sechs der Schüler aus Haus Birkenstein als Praktikanten zur SMU abgeordnet worden waren, hatte sich das Internat fast schlagartig geleert. Die restlichen Schüler waren ebenfalls abgereist und auch der größte Teil des Lehrpersonals hatte Urlaub. Lediglich die Techniker und das Security-Personal waren noch in halber Besetzung vorhanden.
Die einzigen beiden Schüler, die noch verblieben waren, saßen nebeneinander an jeweils einer großen IT-Station und durchforsteten ein Spezialarchiv der Organisation. Sie hatten beide während der Ferien nicht das Internat verlassen, sondern die Genehmigung erhalten, besondere Nachforschungen betreiben zu dürfen.
Oliver hatte Torben natürlich doch von dem Tagebuch erzählt und auch der erkannte, welche Brisanz immer noch in den darin enthaltenen Informationen steckte. Die Schule hatte, ähnlich wie einige andere Einheiten der Organisation, Zugang zu bestimmten Archiven und Daten, die sonst nicht öffentlich waren oder die es sonst überhaupt nicht gab.
Professor Heilmann war nicht im Geringsten überrascht, als am Tag nach dem ersten Gespräch Oliver zusammen mit Torben auftauchte.
„Man hat keine Geheimnisse vor seinem Partner, erst recht nicht, wenn man ihn für bestimmte Sachen mit einspannen will.“
Und so hatte ihnen der Professor das Transskript weiterhin überlassen, mit der Erlaubnis, dass sie in den Ferien daran arbeiten durften.
„Aber nur Archivarbeiten. Keine aktiven Einsätze, das ist zu gefährlich. Hm, wenn ich es recht überlege, haben ja wohl alle Schüler des Jahrganges mitbekommen, was los gewesen ist. Sollte also noch jemand während der Ferien Langeweile haben, könnt ihr ruhig eure Kameraden fragen, ob sie noch langweiligere Recherche machen wollen.“
Oliver sah das zwar nicht als langweilig an, doch Torben hatte Schwierigkeiten, sich über längere Zeit zu konzentrieren. Am dritten Ferientag fiel Oliver beim Mittagessen etwas auf.
„Sag mal, sind wir wirklich die einzigen Schüler hier? Ich dachte, ich hätte gerade eben ein rotes T-Shirt an der Essensausgabe gesehen, aber da ist niemand im Saal.“
Torben stand kommentarlos auf und ging zur Essensausgabe. Als er zurückkam, grinste er schwach.
„Du hattest Recht. Es gibt jeden Mittag zweimal Essen zum Abholen. Da wollte wohl jemand nicht zwischen den ganzen Technikern und dem Security-Personal essen.“
„Und wer ist es?“
„Stube 408 und 416.“
Oliver stutzte einen Moment, dann grinste auch er.
„Das sind Tim und Basti. Warum sind die denn nicht weg?“
„Oliver, du bist ein Ignorant. Tim ist zu Hause rausgeflogen, bevor er herkam und Basti kommt aus dem Heim.“
„Oh, äh, ja, richtig.“
Oliver war es tatsächlich etwas peinlich, dass er Tims Vergangenheit nicht genau kannte, aber zu Anfang hatte er mehr Probleme mit sich selbst gehabt und dann wurde alles ziemlich hektisch.
„Wir können sie ja mal fragen, ob sie ein Bisschen Zeit haben.“
Torben grinste schon wieder.
„Die beiden sind wohl ziemlich mit sich selbst beschäftigt.“
„Das war am Anfang so, aber jetzt hat sich das etwas beruhigt. Die ersten zwei Tage ist Tim sogar beim Unterricht eingeschlafen.“
Torben verdrehte die Augen.
„Na los, komm mit.“
Als sie bei Stube 408 klopften, kam keine Antwort, also zogen sie weiter zu 416. Dort gab es ein kurzes ‚Herein‘.
Tim und Sebastian sahen erstaunt auf, als Oliver und Torben eintraten.
„Nanu? Hoher Besuch?“
„Nee, nix mit hoher Besuch. Wir wollten nur wissen, ob ihr beiden an Langeweile leidet.“
„Soll das jetzt eine Anmache sein oder was?“
Tim klang etwas säuerlich, doch Sebastian legte ihm eine Hand auf den Arm.
„Hey, du brauchst mich nicht beschützen. Das sind die Guten. Nu lass die beiden doch mal ausreden.“
Es dauerte eine ganze Weile, bis Oliver die ganze Geschichte und auch ihren Auftrag abgespult hatte. Tim wusste, worum es ging, doch Sebastian hörte das alles zum ersten Mal.
„Und ihr habt die Überreste tatsächlich so gefunden, wie sie vor – wieviel? – über siebzig Jahren dort gestorben sind?“
„Ja. Haben wir. Hier, das ist eine Abschrift des Tagebuches von Michael. Du kannst es dir gerne durchlesen. Wir sind erst mal bei mir auf der Bude, auf 411.“
Wortlos verließen Oliver und Torben Tim und Sebastian. Etwas zögernd begann Sebastian zu lesen, während Tim ihm von hinten über die Schulter sah.
Auf Stube 411 hatten sich Oliver und Torben auf das Bett gelegt und diskutierten einen Moment, ob die beiden anderen Jungen wohl herüberkommen würden. Die Zeit verging und nach etwa zwei Stunden beschlossen sie, sich die Zeit ein wenig anders zu vertreiben.
Als es dann doch noch klopfte, war es eigentlich ein sehr ungünstiger Zeitpunkt, doch Oliver rief einfach ‚herein‘ und Tim und Basti traten ein.
Mit großen Augen sah Tim zu Oliver und Torben, während Sebastian nur leicht grinste. Oliver sah zu Tim und verdrehte die Augen.
„Ist ja nichts, was du nicht schon gesehen oder gemacht hättest, oder?“
Basti nahm Tim am Arm und flüsterte mit ihm. Tim sah ihn erstaunt an.
„Was? Ernsthaft?“
„Irgendwie müssen wir uns ja entschuldigen für die Unterbrechung.“
„Ihr wollt uns also wirklich helfen?“
Eine geraume Zeit nach der ‚Entschuldigung‘ lag Oliver etwas unbequem auf dem Bett und strich sanft durch Bastis Haare. Der hatte seinen Oberkörper halb auf Olivers Bauch liegen und sein Kopf lag auf dessen Brust.
„Ja. Wir haben das Tagebuch gelesen und lange darüber diskutiert. Es geht uns nicht nur darum, die Vorgänge von vor über siebzig Jahren aufzuklären, sondern auch herauszufinden, ob es immer noch Menschen gibt, die für ihren eigenen Vorteil jemanden wie uns gefangen nehmen, foltern und schließlich umbringen.“
Tim hatte sich in Seitenlage vor Torben eingerollt und eng an ihn gekuschelt.
„Ich verstehe es immer noch nicht. Der eine hat für seine politische Überzeugung gelebt und hat Sachen gemacht, die ich nicht nachvollziehen kann. Der andere hat sich ausgelebt, obwohl er dabei immer Strafen und auch Schlimmeres riskiert hat. Was hat die beiden dazu getrieben?“
Oliver ruckelte ein wenig hin und her, um Sebastians Gewicht etwas zu verlagern.
„Zugegeben, das ist heutzutage schwer nachzuvollziehen. Ich glaube, dass Michael nur das gemacht hat, was viele andere auch gemacht haben. Er ist mit der Masse gerannt und hat dann erkannt, dass er gut dabei war und etwas werden konnte. Wer würde heutzutage nicht eine Chance nutzen, wenn er bei etwas gut ist? Bei Daniel bin ich mir nicht so sicher. Vielleicht hat er schon früh erkannt, dass ihm in dieser Gesellschaft nicht viel Zeit blieb, alles zu erleben und alles auszuleben, so wie er es wollte. Dann muss irgendwann auch noch die Erkenntnis über seine Begabung hinzugekommen sein. Wir werden wohl nie erfahren, was die beiden wirklich gefühlt haben.“
Oliver spürte plötzlich etwas Feuchtes auf seiner Brust und bemerkte, dass Sebastian ein paar Tränen herunterliefen.
„Wie kann eine Gesellschaft nur eine Familie dermaßen trennen? Ich hatte nicht einmal die Möglichkeit, einen Bruder zu haben.“
Oliver zog Sebastian fest an sich und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
„Wir sind deine Familie, Kleiner.“
Sebastian schniefte noch einmal laut, dann rollte er sich von Oliver herunter und sah Tim in die Augen.
„Bist du mir böse, dass ich dich, ohne dich zu fragen, in diese… äh… Situation gebracht habe?“
Tim lächelte.
„Nein. Ich war nur etwas überrascht. Aber das lag wohl eher daran, dass Oliver bis vor kurzem einen ziemlich schlechten Ruf hatte. Es war ein merkwürdiges Gefühl, aber auch sehr schön. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass wir plötzlich alle vier eine Einheit sind, zusammen gehören. Fast, als ob sich unsere Magie miteinander verbunden hätte und zu einem Ganzen geworden ist.“
Torben runzelte die Stirn.
„Das dürfte eigentlich nicht möglich sein. Es sei denn, wir würden unbewusst eine Form von Magie wirken, die unser Mana für eine gewisse Dauer oder einen gewissen Zweck bindet. Nein, nicht bindet, das würden wir merken. Eher…“
Tim drehte sich zu Torben um.
„…eher abstimmt. So wie eine Amplitudenverschiebung beim Abstimmvorgang.“
„Hä?“
„Vergiss es. Wir bringen uns sozusagen auf die gleiche Frequenz.“
Torben seufzte.
„Irgendwie ist es unpassend, über Mana zu reden, als wäre es ein Radiosender. Es ist Lebensessenz, Magie, vielleicht sogar ein Teil deiner Seele.“
Tim schwieg eine Weile. Dann küsste er Sebastian, krabbelte über ihn herüber und fuhr dann bei Oliver mit einem Finger über dessen Brust. Sebastian hingegen kuschelte sich an Torben an, so wie Tim gelegen hatte, mit seinem Rücken an Torbens Bauch.
„Na Kleiner, bequem so?“, flüsterte ihm Torben ins Ohr. Sebastian nickte.
„Oh, ja. So können wir anfangen.“
Der nächste Morgen war etwas unbequem für Tim, denn als er erwachte, war er zwischen Sebastian und Oliver eingeklemmt. Ein vorsichtiger Rundblick sagte ihm, dass Torben fehlte, doch dann hörte er die Dusche nebenan.
Nachdenklich begann Tim die letzten Stunden zu reflektieren. Was war passiert? Sie hatten Sex, okay. Aber was bedeutete das? Vor Tim tauchten einige Szenen aus den letzten Stunden auf und er fühlte – was? Liebe, Zuneigung, Anziehung, Zärtlichkeit? Es war von jedem etwas, was er spürte, wenn er Basti und auch Oliver ansah. Selbst die Erinnerung an Torben rief diese Gefühle in ihm hervor, die bei ihm nun auch schon wieder zu einer körperlichen Reaktion führte, die er im Moment so gut wie möglich zu ignorieren versuchte. Basti und Oliver. Hätte er nicht Eifersucht spüren müssen? Doch da war nichts als Zuneigung und auch ein wenig Erotik.
„Verdammt, geht das Ding denn überhaupt nicht mehr runter?“
„Wenn du das willst, geh‘ einfach kalt duschen.“
Tim zuckte zusammen, denn er hatte weder bemerkt, dass Torben zurückgekehrt war, noch dass er seinen letzten Satz laut ausgesprochen hatte.
Sein Blick auf Torbens nackten Körper war allerdings auch keine große Hilfe. Der braunhaarige Bannmagier war schlank und gut proportioniert. Nicht ganz so sportlich wie Tim oder gar der muskulösere Oliver, eher wie Sebastian. Tim seufzte und schlug die Bettdecke zurück.
„Was mach ich jetzt damit?“
Obwohl die Frage mehr nach einer Aufforderung geklungen hatte, sprang Torben nicht darauf an.
„Wie gesagt, geh‘ kalt duschen. Tut mit echt leid drum, aber wenn wir noch was zu Frühstücken haben wollen, müssen wir sehen, dass wir bald loskommen.“
Damit zog er dem ihm an nächsten liegenden Oliver die Bettdecke weg und klatsche mit der flachen Hand auf dessen Hinterteil. Dann suchte er sein Heil in schneller Flucht.
Sie hatten es tatsächlich noch rechtzeitig zum Frühstück geschafft. Torben bewunderte hauptsächlich Sebastian, der sich schon den zweiten Nachschlag geholt hatte und immer noch fröhlich vor sich hin mampfte. Oliver war gedanklich schon etwas weiter.
„Mit vier Mann können wir unsere Recherche natürlich erheblich ausweiten. Wir können vier verschiedene Themenblöcke gleichzeitig bearbeiten und dann die Ergebnisse nach einem bestimmten Zeitraum miteinander abstimmen.“
Tim sah interessiert von seiner Kaffeetasse hoch.
„Was wären denn das für einzelne Themen?“
Torben zählte sie an den Fingern seiner Hand auf.
„Alles zur Historie und dem Betrieb des Konzentrationslagers Sachsenhausen und seiner sämtlichen Außenlager, insbesondere das von Köpenick. Macht euch auf Arbeit gefasst, denn das waren in Laufe der Zeit fast fünfzig Stück.“
Sebastian starrte Torben ungläubig an, doch der ließ sich nicht unterbrechen.
„Dann die Protokolle der Polizei von Berlin, inklusive aller Daten der ‚Rosa Listen‘, die in direktem oder indirekten Zusammenhang mit Daniel stehen.“
Tim pustete seine Wangen auf, sagte aber nichts.
„Drittens, die Biografie dieses Dr. Robert Feldermayr. Alles was wir kriegen können. Jugend, Ausbildung, beruflicher Werdegang, private Kontakte, Zusammenarbeit mit der Partei und besonders wichtig, verbleib nach dem Krieg.“
Oliver knirschte etwas mit den Zähnen.
„Den krieg‘ ich“ murmelte er.
„Und dann natürlich das schwierigste Kapitel. Das Archiv der Organisation aus dem Zeitraum überprüfen, ob und wenn ja, welche Kontakte damals zu irgendwelchen Organisationen des Staates oder der Partei bestanden haben und warum. Außerdem nachprüfen, ob damals etwas bekannt war über Sicherheitslücken oder versuchte Unterwanderungen.“
Torben sah in die Runde.
„Wer möchte was machen? So wie ich Oliver gerade verstanden hat, ist er auf der Jagd nach Dr. Feldermayr. Tim?“
Tim sah Sebastian unsicher an.
„Ich glaube, ich nehme die Fleißaufgabe. Die Geschichte eines Konzentrationslagers dürfte nicht gerade erfreulich werden, aber werde es versuchen.“
„So, Basti, dann bleibt nur noch die Polizei von Berlin oder das Organisations-Archiv.“
„Ich nehme die Polizei. Ich möchte auch gerne wissen, wie die Jungs damals lebten und wie sie in dieser Umgebung überleben konnten.“
Sebastian erschauerte und seine Kaffeetasse zitterte in seinen Händen.
„Ich glaube, ich hätte ebenso wie Daniel gehandelt. Niemals verstecken und alles aus meinem Leben herausholen, was geht.“
Die Arbeitsstationen mit den Rechnern und ihren riesigen Bildschirmen befanden sich in der IT-Abteilung von Haus Birkenstein und die vier jungen Männer hatten eine befristete Zugangserlaubnis zur Anlage und für den Zugriff auf das Hauptarchiv bekommen.
Der erste Arbeitstag dort bedeutete für Tim und Basti zunächst, ihre Suchbegriffe und Anfragen zu formulieren und dann auf die ersten Ergebnisse zu warten. Mitten während einer kleinen Zwangspause erklang an Bastis Rechner plötzlich Musik.
Ich bin was ich bin, und was ich bin,
ist ungewöhnlich.
Komm schau mich nur an, akzeptier dann
mich ganz persönlich.
Ich lebe
Und ich will mich nicht dafür genieren
Lebe
Und will keinen Augenblick verlieren.
Es hat keinen Sinn, wenn man nicht sagt,
hey Welt, ich bin was ich bin
Ich bin was ich bin, ich will kein Lob
ich will kein Mitleid.
Ich lebe für mich ich bin kein Snob,
will meine Freiheit.
Wen stört es, dass ich Federn liebe
Glanz und Flitter,
ich mag's so
Sonst wär mein Leben trüb und bitter
Es hat keinen Sinn
Wenn man nicht sagt,
hey Welt, ich bin was ich bin
Ich bin, was ich bin und was ich bin
ist kein Geheimnis
ich stehe für mich, wünsche mir nur
ein wenig Fairness
Ein Leben
kann man ohnehin nur einmal leben
Warum soll es für mich keine Chance geben
Es hat keinen Sinn,
wenn man nicht sagt
hey Welt, ich bin, was ich bin.
(Aus: La Cage aux folles, © Original Text und Musik Jerry Herman)
Schon bei der zweiten Strophe hörten alle Sebastians klaren Tenor, der vollkommen sicher mitsang und zur dritten Strophe hatten dann alle eingesetzt, sogar Oliver mit einem tragenden Bariton. Am Ende sah Sebastian in die Runde und nickte.
„Ich glaube, es hätte ihm gefallen.“
Am späten Nachmittag gab es die erste Besprechung über irgendwelche Zwischenergebnisse.
Torben stand auf einmal im Mittelpunkt, denn die drei anderen sahen ihn erwartungsvoll an.
„Hey, ich habe von der ganzen Sache genauso wenig Ahnung wie ihr, aber ich kann’s ja mal versuchen. Also Tim, gibt es irgendetwas, das nicht schon mal irgendwo veröffentlicht wurde oder das in einem geheimen Keller schlummert?“
Tim sortierte seine Blätter.
„Also, zunächst mal was allgemeines zu Sachsenhausen, was möglicherweise im Detail noch interessant wird. 1936 gegründet war es nicht nur Gefangenenlager, sondern es gab auch ein Ausbildungslager für die Wachmannschaften. Außerdem waren dort der Inspekteur und die Verwaltung aller Konzentrationslager untergebracht. Es sollen angeblich über 200.000 Menschen dort eingeliefert worden sein, von denen aber nur knapp über 140.000 offiziell registriert worden sind. Schwerpunkt bei den Häftlingen waren Juden, Homosexuelle, Zigeuner, Asoziale und Bibelforscher. Es gab wohl auch eine groß angelegte Einrichtung für medizinische Experimente. Dann noch ein Eintrag, auf den ich gleich noch mal zurückkommen werde. Zwischen Juni und September 1942 wurden fast alle homosexuellen Insassen umgebracht, nach Zeugenaussagen bis zu 200 Personen.“
Oliver, Torben und Sebastian sahen sich betroffen an. Lediglich ein paar kurze Sätze und wenige Zahlen eröffneten schon einen Blick in einen grauenhaften Abgrund. Sebastian runzelte die Stirn.
„Bibelforscher?“
„Ja, Zeugen Jehovas, Wehrdienstverweigerer. Auf die paar Soldaten mehr hätte die Wehrmacht auch verzichten können, aber man wollte wohl ein Exempel statuieren.“
Tim nahm jetzt einen Schnellhefter hervor, dessen grauer Deckel einen roten Diagonalbalken hatte.
„Jetzt kommen wir zu den weniger bekannten Sachen.“
Tim entnahm dem Schnellhefter ein einzelnes Blatt und reichte es herum.
RFSS und ChdDtPol
Berlin, 11. Jun 1942
An
Lagerkommandant
Sachsenhausen
1. Alle Schutzhäftlinge des Lagers Sachsenhausen mit Kennzeichnung ‚Homosexueller‘ sind ab sofort aus Sicherheitsgründen von den übrigen Lagerinsassen zu trennen.
2. Der oben genannte Personenkreis ist innerhalb von 3 Monaten ausnahmslos zu exekutieren.
3. Die Maßnahmen sind unter größter Geheimhaltung durchzuführen.
Heil Hitler!
Gez. Himmler
RFSS u CdDP
„Was soll das denn? Die Anweisung kam von ganz oben?“
„Richtig. Und jetzt wird es interessant.“
Tim gab ein weiteres Blatt in Umlauf.
Geheime Kommandosache
Reichssicherheitshauptamt
Amt VII
Berlin, 1. Feb 1944
An
Lagerkommandant
Sachsenhausen
Auf Befehl des RFSS ergeht folgende Weisung:
1. Das Außenlager Berlin-Köpenick wird zum 15. Feb 1944 wieder aktiviert. Dem Lager ist ein Trupp der Wachabteilung zuzuordnen.
2. Der OStuBaF Dr. Feldermayr ist dem Lagerleiter Köpenick weisungsbefugt. Seinen Weisungen ist unbedingt nachzukommen.
3. Alle eintreffenden Schutzhäftlinge der Sonderabteilung ‚Erleuchtung‘ sind unverzüglich dem AL Köpenick zu überstellen.
4. Diese Maßnahmen sind unter allergrößter Geheimhaltung durchzuführen. Das Wachpersonal des AL Köpenick kehrt nach Abschluss der Operation ‚Erleuchtung‘ nicht wieder ins Hauptlager zurück, sondern wird von dort der Waffen-SS für die Ostfront überstellt.
5. Alle die Operation ‚Erleuchtung‘ auftretenden Fragen sind unverzüglich an den Leiter RSHA VII C3 zu richten.
Heil Hitler!
Gez. Dittel
Obersturmbannführer
Oliver betrachtete misstrauisch das Blatt.
„Was heißt denn ‚geheime Kommandosache‘?“
„Das war damals noch geheimer als ‚Streng Geheim‘.“
Torben sah Tim an.
„Okay, was will uns denn das jetzt alles sagen?“
„Nun, das durch das Tagebuch bekannte Außenlager Berlin-Köpenick ist für einen ganz bestimmten Zweck benutzt worden, nämlich die Operation ‚Erleuchtung‘. Ein gewisser Dr. Feldermayr ist für diese Operation weisungsbefugt. Das Ganze ist als Geheime Kommandosache eingestuft worden und auf persönlichen Befehl von Himmler veranlasst worden. Die Abteilung VII C3 im Reichssicherheitshauptamt ist eine Besonderheit an sich. Sie trägt die Bezeichnung: Wissenschaftliche Sonderaufträge. Ihr Leiter, ein gewisser Obersturmbannführer Levin, war von Himmler mit einer Sonderuntersuchung beauftragt worden und zwar mit dem H-Sonderauftrag.“
„Hä?“
„Nicht hä, sondern H. Eine wissenschaftliche Untersuchung der Hexenverfolgung. Himmler wollte beweisen, dass die Kirche mit der Hexenverfolgung altgermanisches Kulturgut vernichtet hat.“
„Nicht wirklich, oder?“
„Doch, ernsthaft. Dazu wurden quer durch Deutschland in über 200 Bibliotheken Forschungen betrieben. Die haben alles aufgestöbert, was auch nur im Entferntesten nach Hexerei ausgesehen hat.“
„Oh, oh. Ist dabei etwa irgendetwas hochgekommen?“
„Darauf komm ich gleich. Jedenfalls hat dieser Levin am 19. Januar 1944 die Arbeit an dem Projekt eingestellt mit dem Kommentar, dass ‚jetzt andere politisch aktuelle Fragen sehr drängen‘.“
Oliver sah zu Torben, dann zu Sebastian, zum Schluß zu Tim.
„Ich habe einen dunklen Verdacht, dass ich weiß, was da jetzt für eine Frage gedrängt hat.“
Tim seufzte und zog seine Notizen zu Rate.
„Vielleicht. Es wurde nämlich eine sogenannte Kartothek über diese Hexenprozesse angelegt und zwar eine Personengebundene. Dazu gab es eine Urkunden-, Orts-, Personen-, Literatur-, Archiv- sowie ‚Problemkartei I–VIII‘. Wozu die Problemkartei diente, können sich die Wissenschaftler bis heute nicht erklären. Aber vielleicht weiß Torben ja etwas.“
Torben grinste schwach.
„Allerdings. Es gibt einen Hinweis aus dem Zentralarchiv unserer Organisation. Das Archiv des RSHA wurde 1943 nach Theresienstadt verlagert und dort 1945 vernichtet. Das betraf hauptsächlich die Unterlagen der Schutzhaft, das heißt, der Konzentrationslager. Die Unterlagen des H-Sonderauftrags, insbesondere die Kartothek wurden im Schloss der Grafen Haugwitz in Glogau eingelagert. Dort hat sie den Krieg unbeschadet überstanden.“
„Und was heißt das für uns?“
„Ganz einfach. In der Problemkartei fehlt ein ganzer Abschnitt. Und zwar der, in dem Männer der Hexerei beschuldigt wurden, die auch gleichzeitig der Sodomie angeklagt waren. Diese 87 Karten befinden sich jetzt in unserem Archiv.“
Oliver bekam einen panikartigen Gesichtsausdruck.
„Das bedeutet, sie haben etwas geahnt und auf Grund dessen diese medizinischen Experimente durchgeführt?“
Torben und Tim nickten simultan.
„Wir sollten Professor Heilmann informieren.“
Bangkok, Thailand, Anno Domini 2017
Team 3
Die Auskunft über den Deutschen Lottoblock lief über die Datenbank der Organisation und war während des Mittagessens aufgelaufen.
„Hier, der einzige Christof Schneider im System. Ein Gewinn im Januar 2009 in Höhe von 1.329.417,-- € beim Lotto-Block Nordrhein-Westfalen.“
Flame sah Lucien über die Schulter
„Wieso denn da? Ich dachte, er stammt aus Freiburg.?“
„Das passt schon. Er war beim Einsatzbataillon II in Aachen und das liegt in Nordrhein-Westfalen.“
Lucien drehte sich nun zu Flame um.
„Und was bedeutet das jetzt für uns? Ist er gänzlich untergetaucht?“
„Das kommt darauf an, was ihr von ihm wollt. So wie ich euch verstanden habe, sollt ihr doch lediglich herausfinden, ob besagter Christof Schneider noch lebt und wenn ja, wo er sich aufhält. Von zurückbringen war nicht die Rede, oder?“
„Nein. Obwohl er als Magier eines aktiven Einsatzbataillons verschwunden ist, hätte es ihm natürlich frei gestanden jederzeit zu kündigen. Warum er es nicht getan hat, kann ich nicht beurteilen, habe aber eine Vermutung.“
„Er wollte nicht, dass jemand von dem Geld erfährt. Er hat sich wahrscheinlich damit seinen eigenen Traum erfüllt.“
Lucien nickte Tobias zu, dann wandte er sich wieder an Flame.
„Wir sollen lediglich den Aufenthaltsort feststellen und sicher gehen, dass durch seine Handlungen die Geheimhaltung nicht gefährdet worden ist.“
Flame drehte sich um und sah suchend über seine Truppe.
„Pete, wir machen ein Suchraster. Residente Europäer seit 2009 mit den Parametern weiblich oder Kathoey.“
Pete nickte und machte sich an einer der Arbeitsstationen ans Werk, während Tobias Flame fragend ansah. Der ahnte schon was die Frage sein würde und sah hinüber zu Prasong.
„Du solltest es besser in Deutsch erklären. Selbst in Englisch gehen da einige Feinheiten verloren.“
Prasong machte einen etwas gequälten Gesichtsausdruck, nickte aber zustimmend.
„Kathoey ist ein Thai-Wort, das man nur sehr schlecht übersetzen kann. Es beinhaltet das Verhalten und Aussehen von Personen, die ihre Geschlechterrolle getauscht haben.“
„Tunten?“
„Nein, Lucien. Das ist es eben nicht. Ich muss wohl etwas weiter ausholen. Die Darstellung einer anderen Geschlechterrolle gibt es schon seit Jahrhunderten in der thailändischen Kultur. Kathoey bedeutete ursprünglich sogar Zwitter. Ja, es gab ganz offiziell eine dreigliedrige Geschlechterteilung in Mann, Frau und Kathoey. Ganz früher war es hauptsächlich das Annehmen einer weiblichen Rolle durch Männer, die sich sowohl in Kleidung als auch Benehmen geäußert hat. Das ging bis hin zum Annehmen der Position der Frau in einem Haushalt einschließlich sämtlicher Rechte und Pflichten.“
„Wie, nicht nur äußerlich, sondern auch im täglichen Leben?“
„Ja. Nimm zum Beispiel die Sprache. In Deutsch fällt es nicht auf, aber in Thai gibt es etliche Begriffe, für die von Männern und Frauen unterschiedliche Worte genutzt werden. Nimm zum Beispiel nur einmal eine Begrüßung. Während ein Mann höflicherweise sagt: Sawadee krap, würde eine Frau sagen Sawadee ka.“
Lucien bemerkte mit erstaunen, dass Prasong vor dem letzten Wort eine deutliche Pause ließ, als ob er darüber nachdenken musste, was er tat.
„Es soll der Sage nach irgendwann sogar einmal einen Prinzen gegeben haben, der sich einen jungen Mann geangelt hat und diesen dann tatsächlich als Prinzessin geheiratet hat.“
Lucien seufzte laut und bekam prompt von Tobias den Ellenbogen zu spüren.
„Dieses schlüpfen in eine andere Geschlechterrolle ist mal mehr oder mal weniger ausgeprägt. Das kann sich heutzutage auf das schlichte tragen von Kleidern beziehen oder auch nur auf auffälliges Benehmen. Die Bandbreite reicht von geschlechtsangleichenden Operationen auf der einen Seite bis hin zu einem Auftreten als schwuler Mann auf der anderen Seite. Das wohl bekannteste, aber auch berüchtigtste, Beispiel sind die sogenannten Lady-Boys.“
„Und wieso war es hier möglich, dass sich so etwas entwickelt hat und nicht bei uns?“
Prasong warf Lucien einen bedauernden Blick zu.
„Frag mal die Kirche. Nach buddhistischer Vorstellung ist das Leben als Kathoey eine Auswirkung eines früheren Verhaltens auf deine Wiedergeburt. Es ist ihnen sozusagen bestimmt, dass sie so sind. Kathoey sollten bedauert, aber nicht verachtet oder gar verdammt werden, denn es ist nicht ihre Schuld.
„Puh, aber gibt es auch heute noch jemand, der traditionell die Rolle einer Frau übernimmt?“
Prasong sah sich um und wiederholte die Frage in Englisch. Ae nickte sofort.
„In dem Dorf, aus dem ich komme, gab es eine alleinstehende Frau, die dieser Tradition entstammte. Sie war im Dorf hoch angesehen und arbeitete als Heilerin und Hebamme.“
Lucien schüttelte unwillkürlich den Kopf, doch dann erinnerte er sich daran, was Prasong gesagt hatte. Die Rolle einer Frau mit allen Rechten und Pflichten. Es zählte also die soziale Rolle, das eigene Empfinden, eben das, was den Menschen ausmacht und nicht das, was er zwischen den Beinen hat.
„Wie lange wird denn die Suche dauern?“
„Nicht sehr lange. Die meisten der Europäer leben im Großraum Bangkok, da gibt es sehr zuverlässige Daten. In den weiter entfernt liegenden Provinzen wird es wohl etwas schwieriger mit den Daten, aber dort leben auch deutlich weniger Europäer.“
Florian sah Pete neugierig bei der Erstellung der Suchmasken zu, bis er sich an Flame wandte.
„Viele Leute, die untertauchen, neigen dazu, bei ihren neuen Namen Anlehnungen an den alten Namen zu benutzen. Erstens kann man sich das zu Anfang leichter merken, zweitens reagiert man eher drauf, wenn man angesprochen wird.“
Prasong musterte seinen Partner erstaunt, was diesem natürlich nicht verborgen blieb.
„Na, hab‘ ich dir doch erzählt, als in Köln vor ein paar Jahren dieser Serienmörder gesucht wurde, der sich als Jupp Schmitz getarnt hatte.“
Lucien runzelte die Stirn. Jupp Schmitz? Da war doch was. Tobias lachte laut.
„Nicht wirklich, oder? Die haben in Köln nach einem Jupp Schmitz gesucht?“
Die vier wurden durch einen Ausruf von Peter unterbrochen.
„Da sind die ersten Ergebnisse. Hm, war zu erwarten. Der größte Teil lebt in Bangkok. Aber da gibt es nur ein halbes Dutzend, die direkt als Kathoey eingetragen sind. Moment, im Norden ist was. Hier, Provinz Chiang Mai.“
Maew seufzte.
„Na klar, weiter weg ging ja nicht.“
Peter grinste.
„Sei froh, dass es nicht Narathiwat ist.“
Tobias sah Prasong an.
„Chiang Mai ist ganz im Norden, an der Grenze zu Myanmar. Das sind etwa 700 km von hier aus. Narathiwat ist ganz im Süden, an der Grenze zu Malaysia. Das sind von hier aus etwa…“
Ein kurzer Blick zu Pete und er hatte die Antwort.
„Gute 1200 km.“
Lucien rechnete nach.
„Hey, wie groß ist Thailand denn eigentlich?“
Maew grinste.
„Thailand hat etwa 513.000 qkm und ist damit knapp anderthalb mal so groß wie Deutschland, hat aber mit etwa 68 Millionen gut Zwanzig Prozent weniger Einwohner.“
„Also müssen wir 700 km nach Norden?“
Flame schüttelte den Kopf.
„Einen Moment. Wie lautet denn das Ergebnis aus Chiang Mai?“
„Ein Eintrag im Amphoe Doi Tao. Name Taylor, Vorname Chrissy, Gender Kathoey, Beruf Krankenschwester.“
Lucien klappte das Kinn herunter.
„Chrissy Taylor? Christof Schneider? Dämlicher ging's ja nun wirklich nicht.“
„Hier, der Eintrag stammt von einem Tambon mit elf Dörfern. Das ist ein äh…“
„Ein Unterbezirk, meist eine Großgemeinde mit mehreren Dörfern.“
Ergänzte Prasong. Ae nickte zustimmend.
„Die Dörfer da oben haben so zwischen 500 und 700 Einwohnern. Landwirtschaft ist nicht so fürchterlich verbreitet. Es wird schon langsam gebirgig, denn im Norden sind schon die ersten Ausläufer des Himalaya.“
„Ist es da kalt?
Alle Ranger sahen Lucien erstaunt an.
„Kalt? Was hältst du denn für kalt? Wir haben Regenzeit. Selbst da oben sind die Tagestemperaturen so bei 30 bis 32 Grad. Bei einer Luftfeuchtigkeit von etwa 80 Prozent.“
„Boa ey. Ich gehe hier noch ein.“
„Was glaubst du denn, warum die meisten Touristenzentren weiter im Süden sind und direkt am Meer?“
Flame unterbrach die Diskussion mit einer schnellen Handbewegung.
„Wir machen es folgendermaßen. Luc und Tob werden mich und Maew nach Doi Tao begleiten. Wir nehmen einen Inlandsflug von Bangkok nach Chiang Mai und dann lassen wir uns einen Wagen der Park-Ranger von Mae Ping geben. Das dürfte am unauffälligsten sein. Wenn jemand fragt, wollen wir unseren Gästen aus Deutschland den Mae Ping-Park und den Doi Tao Stausee zeigen. Rod, mach bitte die Buchungen für morgen fertig. Ae, setz‘ dich bitte mit Mae Ping in Verbindung.“
Der Inlandsflug war äußerst unspektakulär und am Flughafen von Chiang Mai stand wie versprochen, ein Land Rover der Parkverwaltung von Mae Ping bereit. Für die noch folgenden 100 km brauchte Maew durch das unwirtliche Gelände fast drei Stunden, doch dann standen sie am Eingang eines Dorfes, wie Lucien es bisher nur auf Bildern oder bei National Geographic kennengelernt hatte.
Ohne zu zögern ging Flame auf eines der am schönsten geschmückten Häuser zu und befragte die vor dem Haus arbeitende Frau, die auch bereitwillig auf ein in der Nähe stehendes Wohnhaus wies.
Vor dem Haus blieb Lucien unwillkürlich stehen. Über der Eingangstür waren zwei Flaggen aufgemalt. Zur linken die blau-weiß-roten Streifen Thailands und gleich daneben die schwarz-rot-goldenen Streifen Deutschlands.
Flame trat an das Haus heran und rief etwas, was von drinnen beantwortet wurde. Sofort trat eine Frau heraus, die ihre Besucher erstaunt musterte, dann tief aufseufzte. Die Frau war etwa 50 Jahre alt und hatte halblange, hellblonde Haare. Sie trug die für die Gegend üblichen weiten Hosen und eine helle Bluse. Alles in allem eine gepflegte Frau im besten Alter.
Flame begann die Unterhaltung nun in Englisch.
„Mrs. Taylor, wir hätten nur ein paar kurze Fragen an Sie.“
„Bitte kommen Sie herein.“
Die vier folgten der Frau in die Wohnküche, wobei Lucien und Tobias noch schnell dem Beispiel der anderen folgten und ihre Schuhe auszogen.
Die Frau deutete auf die Stühle um den großen Küchentisch.
„Nehmen Sie ruhig Platz, ich denke, es wird länger dauern.“
Lucien schüttelte den Kopf.
„Ich denke nicht. Ich bräuchte bitte von Ihnen nur die Bestätigung, dass Sie der 2009 eingewanderte ehemalige Christof Schneider, geboren am 12. Februar 1968 in Freiburg/Breisgau, sind.“
„Und was passiert, wenn ich Ihnen das bestätige?“
„Nichts. Wir werden das zur Kenntnis nehmen und wieder gehen.“
Tobias übersetzte inzwischen die kurze Unterhaltung für Flame und Maew.
Etwas ungläubig musterte Mrs. Taylor nun Lucien und auch die drei anderen Besucher.
„Nichts?“
Flame schüttelte ebenfalls den Kopf.
„Nein, nichts. Für unsere Besucher aus Deutschland ist ihr Auftrag damit abgeschlossen. Für uns hier in Thailand hätte ich nur eine Bitte, keine Forderung.“
„Und was sollte das wohl sein?“
„Ein wenig nach der Jugend auszuschauen. Selbst hier auf dem Land kommt es vor, dass jemand die Gnade einer Begabung wiederfährt. Unsere nächsten Residenten sind leider erst in Chiang Mai.“
Ein leises Lächeln umspielte die Lippen der Frau, als sie sich erhob und ihnen winkte, zu folgen. Hinter dem Haus war ein kleiner Garten, dahinter begannen ein paar Felder, die jetzt während der Regenzeit brach lagen. Im Garten war ein junger Mann dabei, einen kleinen Kräutergarten mit einer Hacke zu bearbeiten.
„Pueng! Komm bitte einmal her.“
Die folgende Unterhaltung musste Maew jetzt übersetzen.
„Dies ist Rachotai Vajarodaja, gerufen wird er Pueng. Er arbeitet manchmal hier für mich, denn seine Eltern können eine weitere Schule nicht bezahlen.“
Lucien konnte sich erinnern, dass Prasong erzählt hatte, dass nur die ersten sechs Schuljahre im Prinzip kostenfrei sind, obwohl die Schulpflicht neun Jahre dauerte.
Der Junge kam näher und verbeugte sich förmlich. Er war fünfzehn oder sechzehn Jahre alt und da er im Garten gearbeitet hatte, trug er lediglich eine kurze Hose. Der Körper war kräftig und braun gebrannt, es schien Lucien, dass er dunkler war, als bei vielen üblich.
„Pueng, zeige den Herren doch bitte einmal, womit du gesegnet wurdest.“
Erstaunt sah Pueng Mrs. Taylor an, dann sah er unsicher zu den vier Besuchern in ihren Uniformen.
„Keine Angst, sie kennen so etwas.“
Etwas zögernd streckte Pueng eine Hand aus und auf der Handfläche erschien eine kleine Flamme.
„Ein Elementar.“
Chrissy Taylor nickte schweigend.
„Pueng, möchtest du eine Schule in Bangkok besuchen und lernen, damit umzugehen? Dabei auch andere Jungen kennenlernen, die etwas Ähnliches können?“
Mit großen Augen sah der Junge nun zu Mrs. Taylor, die lächelnd nickte.
„Lasst uns nach drinnen gehen und darüber reden.“
Während sich alle umwandten, legte Mrs. Taylor Lucien eine Hand auf seinen Unterarm. Er spürte sofort die latente Begabung eines Bannmagiers. Sie musste es ebenfalls bemerkt haben, denn sie drehte sich nun ganz zu ihm herum.
„Ich war mir sicher, sie würden einen Bannmagier schicken. Sagen Sie bitte… nein, sagen Sie ihm nichts. Er hätte es nie im Leben verstanden.“
Lucien wusste, dass sie ihren Partner meinte, den sie vor etlichen Jahren völlig kommentarlos verlassen hatte.
„Sagen Sie dem Rat, ich war einmal Christof Schneider, aber das ist lange her. Erheblich länger schon, als ich hier bin. Ich war noch keine Dreißig, da habe ich mich von dem alten Körper bereits geistig getrennt und dann hatte ich die Möglichkeit es auch körperlich zu machen. Ich lebe hier, ich arbeite hier und nun beobachte ich hier. Das ist mehr als ich mir gewünscht habe.“
Leicht legte Lucien seine andere Hand auf ihre, die auf seinem Unterarm lag.
„Ich werde es ihnen sagen. Und ich beneide Sie, dass Sie den Mut gefunden haben, Ihren eigenen Traum zu verwirklichen.“
Sie lachte laut auf, trennte sich von ihm und ging voran ins Haus.
Direkt nach der Landung in Frankfurt hatte Lucien das Gefühl, dass es kalt und grau war. Welch ein Unterschied zu der Wärme und dem Sonnenschein, na gut und etlichen monsunartigen Regenfällen.
Der letzte Abend in Thailand war eine kleine Überraschung geworden. Vor dem Abendessen gab es eine offizielle Verabschiedung mit der angetretenen Einsatzkompanie zur abendlichen Flaggenparade.
Danach folgte ein traditionelles Abendessen für die Mitglieder der Special Mission Units. Und dann machte Flame einen Vorschlag für die Nacht.
„Wir möchten euch gerne die Kampfmagier entführen. Tob und Flo kommen mit mir und Tsu, Pete und Nom. Dafür dürft ihr beiden Bannmagier unsere Kampfmagier haben, Rod, Ae, Jun und natürlich Maew.“
Die Besprechung dauerte nur wenige Sekunden, bis Lucien einfach zu Jun an den Tisch hinüberging und dem Koreaner auffordernd über die kurzen schwarzen Haare strich.
Flame lachte laut und ging zu Florian, der ihm schon erwartungsvoll entgegensah. Das Problem war der nächste Morgen, denn sie hätten beinahe das Flugzeug nach Deutschland verpasst.
Köln, Deutschland, Anno Domini 2017
„Wieso ist das eigentlich so kalt hier?“
Kevin fixierte Lucien mit einem bösen Blick. Selbst während einer Einsatzbesprechung hatte der immer noch etwas herumzumeckern. Der vorläufige Bericht des Teams 3 war an die Division übermittelt worden und Kevin hatte alle in die Einsatzzentrale geholt, damit sie auch den nicht offiziellen Erzählungen von Lucien, Tobias, Prasong und Florian lauschen konnten.
Mit dem endgültigen Bericht von Lucien würde Kevin den ersten Auftrag der SMU komplett abschließen können. Sie würden dann wohl warten müssen, was als nächstes folgte.
„Ein Drache“, murmelte Robin. Dann sah er noch einmal zu Lucien.
„Du hast mit einem Drachen geschlafen.“
Lucien wedelte großzügig mit einer Hand.
„Na ja, nicht direkt. Er hatte ja schließlich seine menschliche Form. Aber auch die Halbform war schon echt geil.“
Dabei verlor sich Luciens Blick etwas entrückt ins Unendliche. Unsanft wurde er von Tobias und dessen Ellenbogen wieder zurückgeholt.
„Krieg dich wieder ein.“
Alle grinsten, während Kevin nun Thomas bat, noch einmal aufzustehen.
„So, noch einmal für unsere Auslandsrückkehrer. Dies ist Thomas Mertens. Er ist nicht magisch begabt und theoretischer Thaumaturg. Er untersteht fachlich dem Magie-Corps, militärisch gesehen untersteht er uns, obwohl er das ganze nächste Schuljahr Haus Birkenstein besuchen wird, für eine Spezialausbildung. Die näheren Hintergründe könnt ihr euch von Kyan erzählen lassen. Vielen Dank, Thomas.“
„Da es jetzt schon etwas eng geworden ist, haben wir Thomas vorübergehend im Gästezimmer einquartiert, aber da ziehen ja nun Prasong und Florian wieder ein. Würde es euch etwas ausmachen, Thomas auf dem Zimmer mit unterzubringen? Sind ja nur noch ein paar Tage bis zum Ende der Ferien.“
Prasong und Florian nickten sofort, auch Thomas lächelte.
„Gut, das wäre dann geklärt. Was noch nicht ganz geklärt ist, wäre unsere Auftragslage. Ich gehe davon aus, dass die Schüler von Haus Birkenstein bis zum Ende der Ferien hier bleiben und etwas Freizeit genießen können. Die drei Einsatzteams dürfen ebenfalls frei nehmen, sollten sich aber nicht sehr weit von hier entfernen. Von Team 3 brauche ich natürlich noch den kompletten abschließenden Bericht.“
Lucien und Tobias sahen sich nur an und zuckten dann mit den Schultern.
Es dauerte keine weiteren zwei Tage, bis die ersten Befehle für die SMU eintrafen. Kevin und Lucas diskutierten lange über die Anweisungen, bis Lucas endlich Kevin überzeugt hatte, dass es für sie alle so am besten war, wie die Divisionskommandeure es geplant hatten.
HQ Gestaltwandler-Korps, Deutschland, Anno Domini 2017
Das Vorzimmer des Kommandeurs war mit einem jungen Mann besetzt, den Robin und Kyan nicht richtig einschätzen konnten. Er war wohl noch keine zwanzig, groß gewachsen und so viel man erkennen konnte hatte er eine sehr sportliche Figur. Was Robin am meisten irritierte waren die dichten, weißblonden Haare und ein etwas gehetzter Blick, der fast alle paar Augenblicke auf die große Wanduhr fiel. Dazu trug der junge Mann die Sommeruniform mit den Schulterklappen eines Anwärters des Gestaltwandler-Korps, während Robin und Kyan in Zivil erschienen waren.
„Leutnant Wolff und Anwärter von Södern. Wir haben einen Termin beim Kommandeur.“
Wieder ein Blick auf die Wanduhr.
„Äh, ja. Das ist richtig. Aber erst in zwei Minuten.“
Robin sah den jungen Mann erstaunt an, dann sah er hinüber zu Kyan, der nur die Schultern zuckte.
„Ich werde euch jetzt anmelden.“
Hastig sprang der junge Mann auf, eilte zur Bürotür des Kommandeurs und ging ohne zu Klopfen hinein. Wenige Augenblicke war er wieder draußen und sauste zu seinem Schreibtisch.
„Der Kommandeur lässt bitten.“
Robin schüttelte nur den Kopf, während Kyan neben dem Schreibtisch kurz stehenblieb.
„Weißes Kaninchen?“
Der junge Mann warf Kyan erst einen wütenden, dann einen resignierenden Blick zu, schüttelte dann aber energisch den Kopf.
„Nein, Schneehase.“
Während sie zur Tür gingen, zischte Robin zu Kyan
„Was war das denn?“
„Lies‘ mal ‚Alice im Wunderland‘.“
Hinter dem Schreibtisch saß ein älterer Mann, etwa um die vierzig und sah Robin und Kyan erwartungsvoll entgegen. Er trug ebenfalls die Sommeruniform der Organisation mit orangefarbigen Dienstgradabzeichen auf den Schultern des kurzärmligen weißen Hemds. Kyan bemerkte sofort die Veränderung. Die vier breiten Streifen hatten zwei noch breiteren Streifen Platz gemacht, zwischen denen ein einzelner Stern prangte.
„Nehmen Sie ruhig Platz, meine Herren. Wie Sie sehen, Herr von Södern, hat es im Gestaltwandler-Korps seit Ihrer kurzen Abwesenheit einige Veränderungen gegeben und daran haben Sie sogar einen Anteil. Der Exekutivrat hat den Gestaltwandlern einen neuen Stellenwert zugemessen und ist bereit, alle Wandler, gemäß ihren Fertigkeiten, in den verschiedensten Einheiten einzusetzen. Bedingung dafür ist allerdings eine vorausgehende spezielle schulische Ausbildung. Ihre Vorschläge wurden eingehend begutachtet und auch teilweise berücksichtigt.“
Kyan sah erstaunt zu Robin, dann wieder zu dem inzwischen beförderten Brigadegeneral.
„Herr Wolff. Wir haben uns ja auch schon einmal getroffen. Ich nehme an, Sie erinnern sich noch an Ihre Prüfung am Offiziersseminar?“
Robin nickte wortlos.
„Auch Ihre Einlassungen über die Ausbildung oder besser, die fehlende Ausbildung der Werwölfe wurde berücksichtigt.“
„Es sieht nun folgendermaßen aus, dass alle Gestaltwandler eine einjährige schulische Ausbildung bekommen, in der ihnen ein ihren vorherigen Leistungen entsprechender Schulabschluss garantiert wird. Der sprachliche Schwerpunkt wird auf Englisch liegen. Während dieses Jahres werden zusätzlich Gestaltwandel in Theorie und Praxis, Geschichte und Struktur der Organisation und Magietheorie unterrichtet. Danach folgt das Ihnen bereits bekannte Offiziersseminar ohne Einschränkungen im gleichen Umfang wie für die Magier. Lediglich wird hier der Fachmagieteil durch Gestaltwandel ersetzt.“
Robin und Kyan saßen schweigend vor dem Schreibtisch des Kommandeurs.
„Nun, ich dachte, die Nachrichten würden Sie erfreuen, denn Sie hatten einen nicht geringen Anteil an der Planung der Ausbildung.“
Robin sah kurz zu Kyan und räusperte sich dann.
„Äh, ja. Vielen Dank Herr General. Aber was ist mit den Gestaltwandlern, die bereits im Einsatz sind?“
„Denen ergeht es genauso wie dem Anwärter von Södern. Sie bekommen die Möglichkeit, Ihre Qualifikation als Ausbildung am Arbeitsplatz zu machen. Sozusagen ein Fernstudium.“
Brigadegeneral Kayser beugte sich ein wenig vor und sah Kyan an.
„Ich habe hier einen Antrag auf Aufnahme in das Gestaltwandler-Korps von einem gewissen Fynn Seibert. Wandlung in Vulpes vulpes. Ist Ihnen davon etwas bekannt, Herr von Södern?“
Kyan zuckte zusammen, doch er nickte.
„Jawohl, Herr General. Es war eine zufällige Begegnung.“
„Keine Panik. Ich habe auch einen ausführlichen Bericht von einem Oberstudienrat Kunze bekommen. Es ist schon in Ordnung, dass Sie sich für das Gestaltwandler-Korps engagieren. Allerdings habe ich im Zusammenhang mit unserem schulischen Ausbildungsprogramm mit einem gewissen Doktor Berg gesprochen und ich möchte nicht, dass Sie sich verpflichtet fühlen, unsere Schule ganz alleine mit Anwärtern zu füllen, so wie es wohl in Ihrer Einheit manchmal üblich zu sein scheint.“
Robin und Kyan grinsten breit, als sie daran dachten, wie Kevin und Lucas Dr. Berg manchmal an den Rand seiner Geduld brachten.
„Aber nun zu dem eigentlichen Punkt, warum Sie hier sind. Ich habe die Absicht, Sie Ihrer Einheit für die nächsten drei Monate abzuschwatzen, damit Sie hier mit Schulbeginn helfen können, den ersten Jahrgang der Gestaltwandlerklasse zusammenzufügen. Ich möchte gerne, dass Sie die Schwierigkeiten aufzeigen, die sich ergeben, wenn etliche verschiedene Wandler aufeinander treffen. Es steht bereits fest, dass es elf Schüler sein werden, es werden nur zwei Tierarten jeweils zweimal vorkommen, also neun Arten vorhanden sein, wobei einige in Ihrer Tierform die Jagdbeute einer anderen Spezies sind.“
Robin sah den Kommandeur fast entsetzt an, während Kyan kurz die Augen schloss, um sie danach sofort wieder aufzureißen. Sein Blick ruckte herum zur Tür ins Vorzimmer.
„Der Schneehase…“
„Ja. Marcel wird einer der Schüler sein.“
Kyan sah Robin spöttisch an.
„Stell dir mal vor, dein Wolf begegnet einem metergroßen Hasen.“
Robin schluckte schwer. Dann senkte er seinen Kopf.
„Das wird schwierig“, murmelte er.
„Sie sehen, meine Herren, Sie stehen vor einer großen Herausforderung.“
Köln, Deutschland, Anno Domini 2017
Zurück in ihrem Hauptquartier berichteten Robin und Kyan von den Umstellungen im Gestaltwandler-Korps und auch von ihrem beabsichtigten Einsatz dort für die nächsten drei Monate. Kevin schien nicht besonders glücklich darüber zu sein, doch dann nickte er.
„Das macht irgendwie Sinn. Robin hat schließlich eine komplette Offiziersausbildung durchlaufen und nicht nur den alten Einweisungslehrgang bei den Gestaltwandlern. Er sollte in der Lage sein, eine solche Klasse zu begleiten. Außerdem hattet ihr ja schon die Gelegenheit, in beiden Formen miteinander zu agieren. Allerdings würde ich empfehlen, für die erste Zeit noch einen oder zwei Bannmagier mitzunehmen.“
Robin und Kyan sahen sich erstaunt an, bis Kevin lachte.
„Was glaubst du, wie lange es dauert, die beiden zu trennen, wenn tatsächlich ein Wolf über den Schneehasen herfällt.“
Robin wurde blass und Kyan rot.
„Wenn die sich wandeln, würde ich zu Anfang immer einen Bannmagier dabei haben wollen, der kann die beiden problemlos voneinander trennen oder einem von beiden auch eine individuelle physische Barriere verpassen.“
Robin machte ein nachdenkliches Gesicht.
„Hast du dabei jemanden Bestimmten im Auge?“
Kevin lachte und lehnte sich etwas zurück.
„Ich wollte eigentlich noch nichts verraten, aber Lucien und Tobias werden wohl einige Zeit zu Haus Birkenstein gehen. Oliver und Torben haben dort ein paar Sachen ausgegraben, die sie jetzt, wenn die Schule wieder beginnt, nicht mehr so ausführlich verfolgen können. Professor Heilmann zu Folge, wäre es aber notwendig, dort am Ball zu bleiben. Könnte sogar sein, dass das in einem aktiven Einsatz für uns endet.“
„Also Michael und Rafael. Aber dann bist du ja ganz alleine mit Lucas.“
Kevin wand sich etwas auf seinem Stuhl.
„Nicht ganz. Wir werden für drei Monate einen Lehrgang besuchen.“
„Hu? Was denn für einen Lehrgang?“
Kevin seufzte theatralisch.
„Den Stabsoffizierslehrgang. Der aktuelle Durchgang findet an der Offiziersschule in Schweden statt.“
„Stabsoffizier? Jetzt schon? Ihr seid doch noch gar nicht dran. Außerdem – würdet ihr dann nicht die SMU verlassen müssen?“
„Ja und nein. Der Lehrgang findet nicht sehr oft statt und eine Teilnahme ist besser früher als später angesagt. Gibt auch Punkte für die nächste Beförderung. Und nein, selbst wenn wir befördert werden würden, müssten wir die SMU nicht verlassen. Die Leitung einer SMU ist nicht an den Dienstgrad gebunden. Selbst wenn alle Magier weg wären, könnte sogar Robin als vorübergehender Leiter hier Entscheidungen treffen.“
Robin sah erstaunt aus, doch Kyan dachte über etwas anderes nach.
„Lucien und Tobias gehen also mit unseren Praktikanten nächste Woche zurück zur Schule, ebenso Thomas. Wir sollen wohl Anfang Oktober erst anfangen. Wann geht ihr?“
„Zum zweiten Oktober, bei euch fängt das ja wohl erst am vierten an. Dabei fällt mir gerade etwas ganz anderes ein. Habt ihr die Prüfungsunterlagen an die Personalabteilung abgegeben?“
Kyan seufzte laut.
„Jawohl, Herr Oberleutnant. Ausgefüllt und abgegeben. Das hat mich mehr schlaflose Nächte gekostet als mit… oh.“
„So genau wollte ich es nicht wissen. Nur, der späteste Abgabetermin ist am fünfzehnten und ich möchte nicht von irgendeiner Verwaltung eine Mahnung bekommen.“
„Was ist eigentlich mit Max?“
„Das müssen wir noch irgendwie klären. Eigentlich müsste er ja hier bleiben, denn falls irgendwelche Nachfragen zu unserer Tarnfirma kommen, ist er der einzige, der sie beantworten kann. Das werden wir alle zusammen noch einmal besprechen.“
Die Besprechung fand am Sonntagnachmittag im Lagezentrum statt, bevor am Dienstag für die meisten wieder die Schule beginnen würde.
„So, Leute. Damit kennt ihr die Fakten. Jeder ist ja bereits im Vorfeld über seine Planung unterrichtet worden, es sollte nur noch einmal zusammenfassend für alle dargestellt werden. Wir sind also von Oktober bis Anfang Januar nicht einsatzbereit, was nicht besonders tragisch ist. Die Personalabteilung hat ihre Sonderermittlungstruppe inzwischen zusammengestellt, so dass uns weitere Personensuchen hoffentlich erspart bleiben.“
Kevin sah hinüber zu Robin und Kyan.
„Bei dieser Truppe sind übrigens die beiden ersten Stellen für ‚Gestaltwandler Komma Nicht-Wolf‘ eingerichtet worden.“
„Hä?“
Max grinste breit.
„Ein neuer Personalbegriff. Gestaltwandler werden ab sofort in ‚Gestaltwandler, Wolf‘ und ‚Gestaltwandler, Nicht-Wolf‘ unterschieden. Die Wölfe gehen wohl weiterhin in die Einsatzeinheiten, die meisten anderen zu Spezialeinheiten, so wie eben zu G1.“
Lucas nickte, während Robin und Kyan etwas das Gesicht verzogen. Kevin warf Lucas noch einen undefinierbaren Blick zu, während er tief Luft holte.
„Wir haben da immer noch das Problem mit Max, der ja nun leider gute drei Monate hier alleine bleiben müsste. Es gibt einen Vorschlag unserer Kommandeure, der allerdings vorher besprochen werden kann, bevor eine Entscheidung getroffen wird.“
Kevin sah wie gebannt auf seine Uhr, als es tatsächlich an der Haustür klingelte. Max sprang auf, doch Kevin bedeutete ihm, sitzen zu bleiben. Stattdessen ging Lucas zur Tür.
Ein paar Minuten später traten zwei ältere Herren ins Lagezentrum, worauf alle aufsprangen. Die sechs ‚Praktikanten‘ zögerten nur einen winzigen Moment, waren aber ebenfalls aufgestanden. Lucien war mal wieder der erste, der auch den jüngeren Herren hinter dem ersten Paar wahrgenommen hatte.
„Was denn nun schon wieder“, murmelte er.
Tobias stieß ihn an.
„Klappe.“
Kevin wandte sich an die neu Angekommenen.
„Guten Abend, die Herren Generäle. Ich sehe, Sie haben einen Gast mitgebracht.“
„Guten Abend meine Herren, aber bitte behalten Sie Platz.“
Ludwig Hofstätter drehte sich kurz zu seinem Partner.
„Dein Auftritt.“
Matthias Harder lächelte schwach, sah aber dann prüfend über die große Versammlung.
„Wie ich sehe, ist die Special Mission Unit rapide angewachsen. Für alle, die uns noch nicht kennen sollten, ich bin Generalmajor Matthias Harder und dies ist mein Partner Generalmajor Ludwig Hofstätter. Wir sind die Kommandeure der Division Westeuropa.“
Alles schwieg, lediglich Florian lies ein leises Stöhnen hören.
„Unser heutiger Besuch wird sehr kurz sein und betrifft nur zwei Punkte. Der erste Punkt ist, dass die Special Mission Unit in den nächsten drei Monaten disloziert ist und keine aktiven Einsätze durchführen kann. Deshalb haben wir beschlossen, einige notwendige Änderungen in der Material- und Personalstruktur in dieser Pause durchzuführen. Die letzten Einsätze haben gezeigt, dass die Einheit zu wenige Fahrzeuge hat, die für die unterschiedlichen Einsatzprofile geeignet sind. Deshalb werden Sie drei weitere Fahrzeuge erhalten, die fast alle erforderlichen Profile abdecken können. Bitte, Herr Keller.“
Der junge Mann hinter ihnen trat hervor und Lucien wurde bei den hellblonden Haaren automatisch an Michael und Rafael erinnert, obwohl er nicht so groß war, wie die beiden.
„Bei den drei Fahrzeugen handelt es sich zunächst um einen 8-Sitzer mit einer speziellen Ausrüstung. Das Fahrzeug hat eine verstärkte Federung und einen stärkeren Antrieb erhalten, da die Außenverkleidung ringsum gepanzert wurde. Sie hält ohne weiteres den Beschuss aus Handwaffen stand, aber keinen panzerbrechenden Geschossen.“
Lucien riss erstaunt die Augen auf.
„Das zweite Fahrzeug ist ein 3,5 to Transporter, ebenfalls mit verstärkter Federung und einem verstärkten Antrieb. Der Grund hierfür ist die zusätzliche Innenausstattung mit einer mobilen Einsatzleitzentrale und diversen Überwachungseinrichtungen.“
Nun begann auch Max runde Augen zu machen.
„Das dritte Fahrzeug ist ein Geländewagen mit maximal ausgebauter Geländefähigkeit, dessen Spezifikationen die eines serienmäßigen Geländefahrzeuges deutlich überschreiten.“
Generalmajor Harder dankte dem jungen Mann mit einem Kopfnicken und sah dann wieder in die Runde.
„Dies war der materielle Teil, kommen wir jetzt zum personellen Teil. Der junge Mann, der gerade so sachkundig die Fahrzeuge vorgetragen hat, ist Unteroffizier Martin Keller vom Logistik-Corps. Er ist ausgebildeter Kfz-Mechatroniker und könnte, wenn Sie es wünschen, Ihren gesamten Fahrzeugpark betreuen.“
Die Reaktionen waren äußerst unterschiedlich, auch wenn niemand zunächst ein Wort sagte. Dann erhob sich Tobias langsam.
„Was wäre denn die Alternative, wenn er nicht bleibt.“
„Das ist ganz einfach. Ihre privaten Fahrzeuge und die beiden Kombis der Firma können in jeder beliebigen Werkstatt gewartet und instandgesetzt werden. Bei den drei eben erwähnten Fahrzeugen geht das nicht. Für jede Wartung oder Reparatur müssten Sie aus Gründen der Geheimhaltung zurück zu einer Spezialfirma.“
Kevin erhob sich und sah die beiden Generäle an, dann Unteroffizier Keller, der irgendwie einen angespannten Eindruck machte.
„Das ist ganz einfach. Wenn es uns überlassen ist, werden wir darüber abstimmen.“
Abrupt drehte er sich zu seiner versammelten Einheit um.
„Auch die Abstimmung ist ganz einfach. Wer dagegen ist, dass Unteroffizier Keller hier bleibt, der möge sich erheben.“
Alle drehten ihre Köpfe, als Lucas sich langsam erhob. Kevin hob fragend seine Augenbrauen.
„Ich bin nicht dagegen, sondern ich möchte vorher wissen, um wen es sich da eigentlich handelt. Herr Unteroffizier Keller besitzt nämlich eine ungeprägte magische Aura.“
Fast automatisch wandten sich alle Gesichter den beiden Generälen zu. Ludwig Hofstätter lächelte beschwichtigend.
„Richtig erkannt. Das ist auch einer der Gründe, warum wir ihn lieber hier hätten, als in einer der Werkstätten der Organisation. Wir wissen nicht, was diese Aura bedeutet und auch die Spezialisten des Magie-Corps haben keine ausreichende Erklärung dafür. Sollten Sie sich entscheiden, dass er bleibt, wäre Ihre Aufgabe, herauszufinden wobei es sich bei dieser Aura handelt.“
Kevin sah nur kurz zu Lucas, als dieser sich prompt hinsetzte. Dann wandte er sich wieder an die Kommandeure.
„Meine Herren Generäle, ich darf Ihnen mitteilen, dass die Einheit einen Neuzugang akzeptiert hat.“
Wortlos reichte General Harder seinem Partner einen Hundert-Euro-Schein.
„Entschuldigen Sie, aber haben Sie darauf gewettet, ob er genommen wird?“
„Keinesfalls. Wir waren uns fast hundertprozentig sicher, dass er genommen wird. Wir haben lediglich darüber gewettet, wer einen Einspruch erheben wird.“
Die jüngeren Herren sahen sich alle fragend an, lediglich Max betrachtete seinen Vater mit offenem Mund. Der sah es und winkte im grüßend zu.
„So und jetzt zum zweiten Teil unseres Besuches. Ich bitte die Leutnante Driberg, Lehrke, Kerner und Nochterville nach vorne zu kommen. Der Rest erhebt sich bitte.“
Generalmajor Hofstätter zückte einen Zettel.
„Mit sofortiger Wirkung ernenne ich im Namen des Exekutivrates die Leutnante Rafael Driberg, Michael Lehrke, Tobias Kerner und Lucien Nochterville zum Oberleutnant. Herzlichen Glückwunsch.“
„Was, aber wir…“
Die Generäle schüttelten reihum den frisch beförderten die Hände.
„So und jetzt bitte die Oberleutnante Böttcher und von Lanz-Ravensberg.“
Kevin bedachte Lucas mit einem merkwürdigen Blick, folgte ihm aber nach vorne.
Mit sofortiger Wirkung ernenne ich im Namen des Exekutivrates die Oberleutnante Kevin Böttcher und Lucas von Lanz-Ravensberg zum Hauptmann. Herzlichen Glückwunsch.“
„Aber wir haben doch…“
Generalmajor Harder sah Kevin streng an.
„Wollt ihr eigentlich bei jeder Beförderung lamentieren?“
Kevin zuckte zusammen und nahm automatisch eine militärische Grundstellung ein.
„Nein, Herr General.“
„Na also. Wir haben noch zwei schwierige Fälle vor uns. Oder sollte ich besser sagen, zwei schwierige Felle? Leutnant Wolff, vortreten.“
Robin hatte die Bemerkung schon verstanden und kam eilig nach vorne.
„Im Namen des Exekutivrates ernenne ich den Leutnant Robin Wolff mit Wirkung zum 01. Oktober 2017 zum Oberleutnant des Gestaltwandler-Corps.“
Robins Gesicht leuchte vor Freude, als er die Glückwünsche der Generäle entgegennahm.
„Und nun noch eine Besonderheit. Ich bitte, den Anwärter von Södern vorzutreten.“
Kyan sah sich etwas verloren um, als ob er nicht verstanden hätte, dass er gemeint war. Doch dann trat er zögernd nach vorne.
„Im Namen des Exekutivrates ernenne ich den Anwärter Kyan von Södern nach erfolgreich absolvierter Ausbildung am Arbeitsplatz mit Wirkung zum 01. Oktober 2017 zum Leutnant des Gestaltwandler-Corps.“
„Bevor die Party losgeht, haben wir noch einen.“
Generalmajor Hofstätter reichte seinem Partner den Zettel.
„Unteroffizier Harder, vortreten.“
Wortlos trat Max vor seinen Vater.
„Im Namen des Exekutivrates ernenne ich den Unteroffizier Maximilian Harder mit Wirkung zum 01. Oktober 2017 zum Feldwebel des Logistik-Corps.“
Statt der üblichen Glückwünsche fiel Max seinem Vater um den Hals.
Die kleine Party verschob sich nun von der Einsatzzentrale in das etwas gemütlichere Wohnzimmer, das nur aber auch ziemlich eng dafür wurde.
Die Generäle hatten in weiser Voraussicht diesmal etwas mehr ‚ausländisches‘ Bier mitgebracht und blieben auch noch zu einem kurzen Umtrunk.
Kyan saß direkt zwischen Max und Generalmajor Hofstätter, wobei er immer wieder kurz den General ansah, dann aber seinen Kopf senkte. Max sah ihm eine Weile dabei zu, dann platzte er heraus.
„Nu frag‘ ihn doch endlich. Ist ja nicht mit anzusehen.“
Kyans Kopf ruckte hoch und er funkelte Max an.
„Das ist nicht so einfach, wie du glaubst.“
„Doch, ist es. Hey, Dad, warum wurde Kyan so schnell befördert?“
Ludwig Hofstätter sah den Adoptivsohn seines Partners grinsend an.
„Weil er nicht so eine vorlaute Klappe hat wie du? Nein, im Ernst. Zunächst wurde der theoretische Teil begutachtet und in keinem der Fächer waren es weniger als 90 Prozent. Dann kam der praktische Teil. Das Verhalten im Einsatz war tadellos und auch die Nachbereitung war sehr gut. Er hat, wie alle seines Teams, eine Belobigung wegen herausragender Leistung bei einem Einsatz bekommen. Dazu kommen die Beteiligung bei der Rekrutierung eines Spezialisten und die Rekrutierung eines Gestaltwandlers. Den größten Anteil an seiner Beförderung hatte er jedoch, ebenso wie Robin, durch seine Beteiligung an der Neuordnung der Ausbildung der Gestaltwandler. Noch Fragen?“
Kyan schüttelte wortlos den Kopf und warf Max einen dankbaren Blick zu.
Eine knappe Stunde später waren die Generäle gegangen und die Aufmerksamkeit im Wohnzimmer richtete sich auf einmal auf Martin Keller, der ganz im Hintergrund ruhig auf einem Stuhl saß und bis jetzt kommentarlos zugehört hatte.
Als er bemerkte, dass ihn alle ansahen, wurde er zunächst unruhig, dann begann er leicht zu Zittern.
Lucas sprang auf und stellte sich vor ihn.
„Seid ihr alle bescheuert? So geht das nicht.“
Schnell packte er den erschreckten Martin an einer Hand und zog ihn aus dem Wohnzimmer. Draußen führte er ihn in den Park und ließ dann seine Hand los.
„Geht’s wieder?“
Martin nickte wortlos.
„Ja, danke. Ich… ich weiß nicht, was los war. Aber auf einmal hatte ich Angst.“
„Angst? Angst vor uns?“
„Na ja, Angst vor dem, was vielleicht kommen würde.“
„Angst vor dem, was vielleicht…“
Lucas fuhr herum und sah Martin in die Augen.
„Du bist schwul. Du musst es sein, sonst hättest du nicht diese Aura. Aber du hast Angst… Du bist noch – äh, ich meine, du hast noch nie mit einem Jungen geschlafen?“
Martin schüttelte wortlos den Kopf, Lucas ebenso, aber aus einem anderen Grund.
„Ich bin Astralmagier. Du weißt, was das bedeutet?“
„Äh, so ungefähr. Bei uns hat niemand den allgemeinen Magieunterricht besonders interessiert verfolgt. Wir würden ja ohnehin nur in einem Stab oder einer Firma landen.“
Lucas stöhnte innerlich auf. Irgendwie kam ihm das alles sehr bekannt vor.
„Ich kann unter anderem deine Aura wahrnehmen, also deine Gefühle interpretieren. Deine Angst war vorhin fast körperlich greifbar. Deine Gefühle äußern sich für mich in einem Farbspektrum und die waren schon bei hellrot.“
Martin verkniff etwas sein Gesicht.
„Ich weiß nicht, ob ich es über mich bringen kann, mit einem Mann ins Bett zu gehen. Einerseits finde ich den Gedanken daran…, andererseits habe ich Angst vor den Schmerzen und… ach, ich weiß auch nicht genau.“
„Schmerzen? Warum verbindest du denn Sex mit Schmerzen?“
Martin sah nun etwas erstaunt zu Lucas.
„Nun ja, nach allem, was ich bisher so gehört habe, soll es doch sehr schmerzhaft sein, wenn man so… ich meine…“
Lucas hatte eine dunkle Ahnung um was es ging und versuchte Martin etwas aus der Reserve zu locken.
„Wenn man gefickt wird?“
Martins Gesicht zeigte erst Überraschung, dann Erschrecken. Rasch senkte er seinen Kopf.
„Martin, bitte, sieh mich an.“
Langsam hob der junge Mann seinen Kopf.
„Ich weiß nicht, wer dir so etwas erzählt hat, aber Sex besteht nicht nur aus diesem Einen. Hast du dich nie selbst befriedigt?“
Martin schüttelte fast verzweifelt den Kopf.
„Nicht, bevor ich von zu Hause weggekommen bin“, flüsterte er. Dann sah er Lucas direkt in die Augen.
„Es war die Hölle, obwohl immer behauptet wurde, die Hölle sei ringsum und der Leibhaftige stecke in jedem Detail. Wir waren sieben Geschwister, vier Jungen und drei Mädchen. Unsere Eltern sind fundamentale Christen. Wir wurden fast ausschließlich im Haus behalten, außer zu den Schulbesuchen und auch da durften wir nicht an allen Unterrichten teilnehmen.“
Lucas sah sich um und entdeckte einen Mauerrest der alten Parkanlage. Wortlos setzte er sich und zog Martin mit sich.
„Es gab kein Fernsehen und kein Radio für uns, es sei denn, ein Programm mit irgendwelchen Fernsehpredigern. Das Internet war streng zensiert und jeder unserer Zugriffe wurde genau überwacht.“
Während er redete lehnte sich Martin immer mehr an Lucas an, bis der ihn mit beiden Armen umfasste und festhielt.
„Selbstbefriedigung war verboten und den Jungs wurden schon ab zehn die Höllenqualen beschrieben, die sodomitisches Treiben mit sich bringen würden. Wobei wir damals noch gar nicht wussten, was das war.“
Lucas saß wie erstarrt und lauschte entsetzt der Erzählung.
„Das alles hat sich nur geändert, weil Noah, mein ältester Bruder achtzehn wurde und bei Nacht und Nebel das Haus verlassen hatte. Zwei Wochen später stand das Jugendamt vor der Tür und wollte Auskunft von meinen Eltern über angebliche Repressalien gegenüber ihren Kindern. Sie haben sie natürlich nicht hereingelassen, was schlussendlich zu einem Polizeieinsatz führte. Man wollte unseren Eltern die Erziehungsberechtigung entziehen, was nicht ohne Klagen abging und schließlich bei irgendeinem Oberlandesgericht entschieden wurde. Die Kinder wurden ausnahmslos in Pflegefamilien gegeben und unsere Eltern wurden angeklagt wegen Kindesmisshandlung.“
Wenn Martin am Anfang seiner Geschichte noch leise und ruhig gesprochen hatte, wurde seine Stimme zum Ende hin hart und betont.
„Ich war da gerade sechzehn und lernte plötzlich eine ganz andere Welt kennen. Am erschreckendsten für mich war, als ich entdeckte, dass ich Jungs mochte, nicht nur als Freund, sondern auch körperlich begehrte. Niemals habe ich mich getraut, mich jemandem zu nähern. Da habe ich auch meine Lehre begonnen. Die Berufswahl war ganz merkwürdig. Ich war zufällig mit meinem Pflegevater zu einer Autowerkstatt gefahren, weil ein elektronischer Fehler aufgetreten war. Als ich in der Halle stand, spürte ich, nein, wusste ich hundertprozentig, dass die Arbeit hier genau das war, was ich wollte.“
Lucas spürte in diesem Moment noch etwas ganz anderes. Die ungeprägte magische Aura, die sich für den Astralmagier als grauer Schatten darstellte, fing plötzlich an zu leuchten und verstrahlte ein sanftes Gelb. Lucas überlegte schnell. Was hatte Martin als Letztes erzählt? Autos. Was wusste Lucas über Autos?
„Sag mal, wie funktioniert eigentlich ein Dieselmotor?“
Die Fülle an Informationen, die jetzt auf Lucas einprasselten, versuchte er erst gar nicht aufzunehmen. Viel mehr interessierte ihn die Aura, die jetzt in einem hellen Rot erstrahlte. Lucas war mehr als erstaunt. Wenn Technik eine magische Begabung sein sollte, wie würde diese sich dann praktisch Äußern?
„Hörst du mir überhaupt zu?“
„Oh, ja. Aber das war ein bisschen viel auf einmal. Ich bin noch ganz verwirrt.“
Martins Verhalten hatte sich geändert. Er strahlte, man merkte förmlich seine Begeisterung.
„Ich möchte dich ungerne unterbrechen, aber wir sind ursprünglich wegen etwas anderem hergekommen.“
Martins Strahlen erlosch und sein Blick wurde ernst.
„Zunächst ein paar kurze Worte zu den Beziehungen untereinander hier bei uns. Die Magier haben alle einen festen Partner. Die Gestaltwandler nicht, ebenso wenig wie Max, unser anderer Mitarbeiter des Logistik-Corps. Einen festen Partner zu haben, bedeutet für die Magier sehr viel, denn er ist derjenige, der sie ein ganzes Leben lang begleiten und beschützen wird. Die Liebe zueinander ist das eine, das andere ist die Beziehung innerhalb unserer Gemeinschaft. Wir haben uns bisher eigentlich ganz gut zusammengefunden und die Beziehungen außerhalb der Paare sind manchmal erstaunlich eng. Das schließt auch das körperliche Zusammensein mit ein.“
Martin sortierte für sich erst einmal die etwas umständliche Formulierung. Dann erkannte er, was Lucas ihm sagen wollte.
„Aber, aber das ist Chaos. Das ist unzüchtig. Das widerspricht der Ordnung…“
Er unterbrach sich und stellte entsetzt fest, dass er fast alles das wiederholt hatte, was man ihm seit frühester Kindheit versucht hatte, beizubringen.
„Die Ordnung? Die von Mann und Frau? Es gibt keine Frauen hier, also auch nicht die Ordnung, die darauf abzielt, Kinder zu zeugen. Seid fruchtbar und mehret euch? Wie denn? Und hauptsächlich wozu? Es geht hier um Gefühle. Wenn ich jemanden mag, zeige ich es ihm auch. Und wenn ich jemanden sehr mag, kann ich mit ihm auch Sachen machen, die wir beide gerne mögen. Außerdem gibt es da unendlich viele Möglichkeiten, die Spaß machen und keine Schmerzen verursachen. Liebe sollte nicht weh tun. Nicht einmal im Herzen.“
Martin sah nun Lucas zögernd an, beugte sich langsam vor, zögerte dann wieder. Lucas war sich ebenfalls nicht so ganz sicher, ob er das richtige machte, als er sich zu Martin beugte und ihm einen leichten, flüchtigen Kuss gab.
„So leid es mir tut, aber eines muss noch erwähnt werden. Du bist derjenige, der bestimmt, was du machen möchtest und was nicht. Niemand kann und darf dich zu etwas zwingen. Es ist zu Anfang vielleicht etwas schwer zu entscheiden was man möchte, aber es besteht ja auch keine Notwendigkeit, sich zu beeilen.“
Martin lächelte etwas.
„Zwei Dinge noch zum Schluss. Wir werden dich wohl mit Max zusammen unterbringen, weil ihr ohnehin eine Zeitlang alleine hier sein werdet. Er ist recht nett und eigentlich sehr offen. Lass dich nicht von seinem Äußeren täuschen. Aber das solltest du selber in Erfahrung bringen. Dann noch ein Wort zu den anderen Mitgliedern des Teams. Wenn ein Neuer eintrifft sind sie natürlich neugierig und wollen ihn kennenlernen. Sie werden bestimmt alle im Laufe der nächsten Tage auf dich zukommen und mit dir reden. Obwohl, hm, bei einigen wenigen bin ich mir nicht sicher, ob das Reden nicht im Bett anfängt. Aber keine Sorge, wie gesagt, du bestimmst, was passiert. Das gilt übrigens auch umgekehrt. Du kannst gerne auf jeden zugehen und mit ihm reden oder auch ihn einladen, etwas mehr als zu reden. Du wirst dann schon eine entsprechende Antwort bekommen.“
Martin wirkte etwas überrascht und bei den letzten Sätzen schien er etwas verlegen zu werden.
„So, wollen wir wieder reingehen?“
Martin nickte, zunächst nachdenklich, doch dann fest entschlossen.
Später am Abend schnappte sich Lucas als ersten Max. Ausführlich berichtete er ihm von dem Gespräch mit Martin, während sich das Gesicht von Max immer weiter verdüsterte.
„Okay, ich weiß jetzt, worauf ich zu achten habe. Wird zu Anfang ein bisschen Schwierig werden. Kennt er die Gestaltwandler? Nicht dass ihm auf dem Flur ein Wolf begegnet. Außerdem werde ich mir mit Robin oder Kyan wohl ein anders Eckchen suchen müssen.“
Lucas wurde blass.
„Verdammt, das hab‘ ich ganz vergessen. Das müssen wir auf jeden Fall nachholen, sonst passiert noch ein Unglück.“
Im Wohnzimmer sah Lucas Martin gerade im Gespräch mit Robin und er bemerkte auch den irritierten Gesichtsausdruck in Martins Gesicht. Schnell ging er hinüber und unterbrach etwas unhöflich die Unterhaltung.
„Martin, entschuldige bitte, aber ich habe etwas Wichtiges vergessen. Robin, würdest du uns beide bitte entschuldigen.“
Robin sah Lucas merkwürdig an, entfernte sich dann aber.
„Ich habe vorhin draußen doch einmal kurz die Gestaltwandler erwähnt. Du weißt doch aus deiner Ausbildung beim Logistik-Corps, worum es sich handelt.“
Martin nickte zögernd. Das war einer der Punkte gewesen, die für ihn am Schlechtesten verständlich gewesen waren. Wie konnte jemand gleichzeitig ein Mensch und ein Tier sein?
„Wir haben in unserer Einheit zwei Gestaltwandler.“
Martin sah sich erstaunt um.
„Ich habe noch keinen bemerkt.“
„Sie sind ja auch in ihrer Menschengestalt hier. Es sind Menschen, die sich vorübergehend in ein Tier wandeln können, nicht müssen. Wir haben einen Wolf und einen Luchs. Damit geklärt ist, wer es ist und wie er als Tier aussieht, werden wir dir gleich von jedem der beiden eine Wandlung vorführen. Es könnte nämlich sein, dass dir einer hier im Haus in dieser Gestalt begegnet und da möchte ich eventuellen Schwierigkeiten vorbeugen.“
Martin sah sich neugierig um. Seiner Vorstellung nach müsste sich die Tiergestalt auch schon im Menschen äußern, doch ihm fiel niemand auf, der dazu hätte passen können. Deshalb sah er nun erstaunt zu Robin, mit dem er gerade gesprochen hatte und auf den Lucas gerade einredete.
Überraschung und auch etliche andere Gefühle durchzuckten Martin, als Robin begann, sich auszuziehen. Wie gebannt starrte Martin auf den nackten Körper bis er bemerkte, dass eine Verwandlung begann. Mit aufgerissenen Augen blickte Martin auf den Wolf, um sich dann panikartig umzudrehen und wegzurennen. Hinter ihm jedoch hatte sich Max aufgebaut und fing ihn ab.
„Nicht so schnell. Sieh ihn dir wenigstens noch einmal an.“
Zögernd drehte sich Martin wieder um und sah der Bestie in die Augen. Robin bemühte sich inzwischen, sich so friedlich wie möglich zu verhalten, was ihm extrem schwer fiel, denn die Angst von Martin war deutlich zu riechen und sein Jagdinstinkt setzte ein.
Je länger Martin auf den Wolf herabsah, desto ruhiger wurde er. Das Tier schien ihm nichts zu tun und als Robin den Kopf schräg legte, lächelte Martin sogar ein wenig.
„Ist ja eigentlich ganz friedlich für ein wildes Tier.“
Martin zuckte zurück, als Robin laut zu grollen begann und Max packte Martin an den Schultern. Der hörte, wie ringsum einige Zuschauer nach Luft schnappten.
„Was…“
„Martin, dieses ‚Tier‘, wie du eben gesagt hast, ist immer noch Robin. Er hat sein Bewusstsein und alle seine Sinne behalten, auch in dieser Form. Er kann dich ebenso hören wie sehen und versteht auch, was du sagst.“
Erschüttert von der Aussage beobachtete Martin, wie ein rothaariger junger Mann auf den Wolf zuging und sich vor ihm hinhockte. Mit beiden Armen umfasste er den Hals des Wolfes und ‚flüsterte‘ ganz laut.
„Hör nicht auf ihn, Robin. Du bist immer noch der, der du schon immer warst. Außerdem bist du echt süß.“
Damit gab ihm der junge Mann einen Kuss auf die Nasenspitze, was der Wolf mit einem Niesen quittierte. Die Umstehenden lachten.
„Ja, Leon. Selber schuld.“
Martin drehte sich zu Max um.
„Was kann ich – nein, wie kann ich mich entschuldigen?“
„Geh hin und sag’s ihm selber.“
Langsam drehte sich Martin um und betrachtete Robin. Vorsichtig trat er auf ihn zu und hockte sich ebenfalls hin, wie der junge Mann zuvor.
„Es tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe. Ich möchte später gerne mit dir darüber reden, wenn du noch willst, heißt das.“
Martin kam sich am Anfang etwas blöd vor, doch als er Wolf aufmerksam seiner kurzen Rede lauschte, wurde er sicherer. Gänzlich überrascht war er allerdings, als der Wolf zum Ende hin würdevoll nickte. Martin erhob sich und ging zurück zu Max, der lächelte ihm aufmunternd zu.
„Du weißt, dass wir noch einen Gestaltwandler haben?“
Martin nickte tapfer.
„Dann dreh dich mal um.“
Langsam drehte sich Martin um und sah nun neben dem Wolf einen großen Luchs liegen. Der Luchs sah Martin genauso neugierig entgegen. Wie dieser dem Luchs. Er kannte Luchse nur aus dem Lehrbuch und war sofort fasziniert von dem Kopf mit den hoch aufstehenden Ohren. Er wollte schon Max etwas fragen, doch da fiel ihm ein, wie der Wolf reagiert hatte. Martin ging vor dem Luchs in die Hocke und sah ihm in die Augen.
„Darf ich dich streicheln?“
Zu seiner Überraschung drehten Wolf und Luchs ihre Köpfe und sahen sich an, dann sah der Luchs zurück zu Martin und nickte. Vorsichtig fuhr Martin der großen Raubkatze über den Halsansatz und den Rücken. Seufzend erhob er sich dann und drehte sich um. Plötzlich stutzte er und drehte sich wieder zurück.
„Danke.“
Als Antwort streckte sich der Luchs und verwandelte sich. Es war der rotblonde junge Mann mit den Locken, den Martin vorhin schon von weitem bewundert hatte. Jetzt kam er auf ihn zu und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Martin erschauerte etwas und das lag nicht nur an der nackten Gestalt vor ihm. Rasch drehte er sich zurück zu Max.
„Das war jetzt alles etwas viel für mich. Kannst du mir mein, nein Entschuldigung, unser Zimmer zeigen?“
Max lächelte.
„Ja, gerne. Und du brauchst dich nicht immer zu entschuldigen. Es ist alles neu für dich und wir werden schon dafür sorgen, dass du dich schnell eingewöhnst.“
Noch am gleichen Abend hielt Lucas eine kurze Besprechung mit Kevin, Michael, Lucien und Thomas ab. Er schilderte die Vorkommnisse mit der ungeprägten Aura.
„Wir müssen dieses Phänomen im Auge behalten. Wir haben den Auftrag herauszufinden, worum es sich dabei handelt und ich bin mir fast sicher, dass es eine intuitive Gabe ist, ähnlich des Kampfsinns bei den Kampfmagiern. Aber das muss sich erst noch herausstellen. Einer von euch sollte sich mit dem Magie-Corps in Verbindung setzen und versuchen herauszufinden, ob es so etwas schon vorher gegeben hat.“
Automatisch sahen alle zu Thomas.
„Was? Ich? Ich habe doch keine Ahnung was ich denen sagen soll.“
Lucien grinste ihn an.
„Immerhin, du gehörst fachlich zum Magie-Corps. Das wäre doch schon mal ein schöner Einstand. Außerdem sind wir ja auch in Birkenstein. Ich werde dir zu Anfang schon helfen.“
„Gut, dann ist das ja geklärt. Ich wünsche eine allseits gute Nacht.“
Im seinem Zimmer sah sich Martin etwas ratlos um. Das große Doppelbett war sicherlich für zwei Personen ausreichend, dennoch würde es für ihn das erste Mal sein, zusammen mit jemandem in einem Bett zu schlafen. Max hatte ihm seinen Schrank gezeigt und war dann ins Bad entschwunden. Nicht, nachdem er sich vorher bis auf ein paar Boxershorts ausgezogen hatte. Martin hatte ihm etwas distanziert, aber doch auch etwas fasziniert dabei zugesehen. Am meisten hatte ihn irritiert, dass Max es sehr wohl registriert hatte, dass er beobachtet wurde, aber in keiner Weise darauf reagiert hatte.
Die einzige Reaktion war in Martins eigener Hose erfolgt und er war sich völlig unsicher, was es bedeutete. War es Lust? Sein Trieb, der ihn über jeden herfallen ließ? Oder war es nur die schüchterne Bewunderung seines Gegenübers. Der schlanke, fast hagere Körper mit der hellen Haut, die so stark zu den schwarzen Haaren kontrastierte war schon interessant. Martin ertappte sich dabei, wie er in Gedanken diesen Körper berührte.
„So, du bist dran.“
Martin zuckte zusammen, als Max wieder ins Zimmer trat. Diesmal hatte er überhaupt nichts mehr an und Martins Blick ruckte fast automatisch in Max‘ Körpermitte. Hektisch fuhr Martin herum und rannte fast bis zum Badezimmer, hoffend, das niemand den feuchten Fleck bemerkte, der sich vorne in seiner weißen Unterhose ausbreitete.
Max hatte ihn bemerkt und seufzte leise. Das würde schwierig werden mit dem Typ. Denn so schlecht sah der gar nicht aus. Er war deutlich muskulöser und schwerer als Max, aber wer war das hier nicht. Ein paar Zentimeter größer als Kevin oder Lucien. Das erstaunlichste jedoch waren seine ziemlich kurz geschnittenen hellblonden Haare, die so gar nicht zu der braunen Haut passen wollten. Er würde darauf achten, ob Martin wirklich am ganzen Körper so braun war.
Einige Zeit später kam Martin wieder zurück in das Schlafzimmer und hatte sich ein Handtuch umgebunden. Etwas unsicher sah er zu Max herüber, der bereits unter seiner Bettdecke lag.
„Es ist vollkommen egal, du entscheidest, was du nachts anziehst.“
Martin sah noch einmal zu Max und wurde dann mutig.
„Was hast du an?“
Als Antwort schlug Max kurz die Bettdecke zurück und enthüllte, dass er sich für keine weitere Kleidung entschieden hatte. Martin grinste schwach, legte das Handtuch ab und schlüpfte unter seine Bettdecke. Max erhaschte noch einen Blick auf einen nahtlos braunen Körper mit hellblonden Haaren.
„Wenn du fertig bist, kann das Licht aus.“
„Fertig.“
Max grinste und löschte die Deckenbeleuchtung mit einer Fernbedienung.
Nach einer ganzen Weile kam von Martin ein leises
„Schläfst du schon?“
„Ja.“
„Oh.“
Dann brachen beide in leises Gelächter aus. Nach einer kurzen Pause ertönte noch einmal Martins leise Stimme.
„Darf ich… zu dir kommen?“
„Ja.“
Martin robbte auf die andere Seite und krabbelte unter die Decke. Vorsichtig legte er seinen Kopf auf Max‘ Brust. Genauso vorsichtig legte Max einen Arm über Martins Schulter und dann auf seinen Rücken. Martin seufzte vernehmlich. Max überlegte, ob er noch etwas sagen sollte, aber dann hörte er die gleichmäßigen, ruhigen Atemzüge von Martin und verschob alles auf den nächsten Morgen.
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