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Dämonenjäger
Teil 16
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Informationen
- Story: Dämonenjäger
- Autor: Mondstaub
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out, Fantasy und Mystery, Historisch
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2018
- Nordrhein-Westfalen, Deutschland, Anno Domini 2018
- Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2018
- Nordrhein-Westfalen, Deutschland, Anno Domini 2018
- Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2018
- Nordrhein-Westfalen, Deutschland, Anno Domini 2018
- Hessen, Deutschland, Anno Domini 2018
Vorwort
Mit diesem Kapitel endet die Geschichte der Dämonenjäger. Ich danke allen, die sich dafür begeistern konnten und mir ein aufmunterndes Feedback gegeben haben. Wie man am Schluss erkennen kann, ist der Abschied möglicherweise nicht endgültig, aber – ein neuer Anfang braucht viiiiieeel Zeit.
Es gibt im Moment andere Projekte, die mich beschäftigen. Deshalb habe ich hier den Cut gemacht, um die Abstände zwischen den Kapiteln nicht unendlich weit hinauszuziehen.
Wie gesagt, vielen Dank an alle Leser, die es mit mir ausgehalten haben. Bis bald.
Mondstaub (Joachim)
Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2018
Am Samstag vor den Osterferien gab es eine weitere Überraschung für Leon. Christian suchte ihn in der Sporthalle auf, wo er im Fitnessraum sein Konditionstraining durchführte.
„Wir haben Besuch.“
„Was? Wer denn?“
Wirst du gleich sehen, Los, komm mit.“
„Ich muss noch erst duschen.“
„Das kannst du auf der Bude.“
Leon sah Christian merkwürdig an, folgte ihm dann aber hinüber zu den Unterkünften. Als er die Tür öffnete, stutzte er merklich. Der Rehbock gehörte eigentlich nicht zu ihrem Inventar.
„Simon!“
Rasch lief er hinüber zu dem Rehbock, der zunächst etwas zurückschreckte, sich dann aber umarmen ließ.
„Einen Moment noch, ich muss erst noch duschen.“
Rasch legte Leon sein Sporthemd ab, als er plötzlich etwas Weiches und Feuchtes auf seiner Brust spürte. Simon leckte die Brust ab und schien Gefallen daran zu finden.
„Hey, hör auf! Das kitzelt.“
Doch Simon schnupperte noch an den Achseln und dem Bauchnabel. Christian konnte sich vor Lachen nicht mehr einkriegen.
„Es ist dein Schweiß. Er riecht das Salz und leckt es ab.“
Leon versuchte den Rehbock abzuwehren und sich gleichzeitig aus seinen restlichen Sachen zu schälen.
„Das würde ich an deiner Stelle wo anders machen.“
„Warum?“
Das merkte Leon, als sich Simon weiter herunter arbeitete und mit der Schnauze jetzt zwischen den Oberschenkeln schnupperte.
„Nein!“
Doch Simon hatte schon mit seiner langen Zunge zugeschlagen und schleckte genüsslich das Salz. Aufquiekend entwand sich Leon der Schleckattacke und rettete sich in das angrenzende Badezimmer. Simon wandelte sich und fiel dann schwer atmend auf das Bett.
„Hoffentlich ist er nicht allzu verärgert, aber ich konnte einfach nicht anders.“
Christian lachte immer noch, kam aber nun näher und legte sich zu Simon auf das Bett. Dann gab er ihm einen kurzen Kuss.
„Keine Angst, der ist nicht verärgert. Pass mal auf, der erscheint gleich so schnell er kann.“
Simon beugte sich zu Christian, um ihn etwas ausdauernder zu küssen, als sich auch schon die Badezimmertür wieder öffnete und Leon herausschaute.
„Hey, Chris. Falscher Anzug. Ich muss mich nur noch abtrocknen.“
Simon zupfte schon an Christians Sachen und bald war auch er so nackt wie die beiden anderen. Schon bald fand er sich zwischen den beiden jüngeren Herren wieder, wobei diese feststellen mussten, dass auch Christian nichts von seiner Sportlichkeit und Ausdauer verloren hatte.
Eine ganze Zeit später kraulte Leon in Simons Haaren, während er sich an Christian ankuschelte, der ihn mit einem Arm umfasst hatte.
„Sag mal Simon, was führt dich eigentlich so unverhofft her?“
Simon warf erst Leon, dann auch Chris einen langen Blick zu.
„Also, abgesehen davon, dass ich euch sehr gerne wiedergesehen hätte, habe ich mir Gedanken um meine Zukunft gemacht.“
„Oh?“
„Ja, oh. Ich weiß, es klingt ein wenig selbstsüchtig, aber glaubt ihr, ich könnte in die gleiche Einheit kommen wie ihr auch?“
Es folgte erst einmal eine ganze Zeit tiefes Schweigen, dann seufzte Chris.
„Ja und nein. Die Verteilung in die Einheiten macht die S1-Abteilung des Divisionsstabes. Wie das mit den Gestaltwandlern funktioniert, kann ich nicht sagen. Es gibt natürlich die Möglichkeit, ein Gesuch zu stellen, aber ob das funktioniert, kann ich nicht sagen.“
Simon nickte und sah Chris nun direkt an.
„Dann werde ich es versuchen. Natürlich nur, wenn ihr es wollt. Ich möchte wirklich gerne mit euch zusammen sein. Es klingt jetzt vielleicht so, als ob ich mich zwischen euch schieben wollte, aber das ist nicht ganz richtig. Ich habe lange darüber nachgedacht und bin mir eigentlich bis jetzt noch nicht völlig im Klaren darüber, was mich da antreibt. Okay, ich gebe zu, dass ich mich schlagartig in Leon verknallt habe, aber mit Christian war das etwas anderes. Die langen Gespräche haben irgendwie zu einer Harmonie geführt, die ich noch nie vorher gespürt habe.“
Simon seufzte.
„Ist das einigermaßen zu verstehen? Ich verstehe es eigentlich nicht einmal selber.“
Chris nickte ernsthaft und erzählte noch einmal die Geschichte von Kevin, Lucas und Robin.
„Du bist zwar kein Welpe, aber durch deine Begabung ziemlich einsam, was die Auswahl an Partnern betrifft. Außerdem ist deine Tiergestalt ebenfalls ein Rudeltier. Wenn du es möchtest, werden wir dich aufnehmen. Nicht als dritten Mann, sondern als Drittel einer Partnerschaft und einer Beziehung. Leon?“
Leon drehte sich um zu Christian und gab ihm einen sinnlichen Kuss.
„Ja, ich will.“
Dann sprang Leon mit einer kurzen Drehung über Simon hinweg und schob ihn in die Mitte. Ein Kuss zu Dritt ist etwas schwierig, aber es war der Wille, der zählte und so kam es, dass sie alle drei einige Stunden später etwas erschöpft, aber sehr glücklich in den Armen der anderen einschliefen.
Nordrhein-Westfalen, Deutschland, Anno Domini 2018
Beim Frühstück legte Robin einen Stapel Papier neben Kevin ab.
„Das ist heute Nacht aus Amerika eingetroffen. Es handelt sich hauptsächlich um die Zusammenfassung der Polizeiprotokolle aus Portland.“
Kevin überflog kurz das Deckblatt und nickte.
„Das wird wohl alle interessieren. Wir werden warten, bis unsere Truppe aus Lourdes wieder da ist. Da kann Lucien auch noch ein paar Erklärungen abgeben, falls noch Fragen sein sollten.“
Die Präsentation des Berichtes aus den USA fand dann auch zwei Tage nach der Rückkehr der Reisenden statt. Nach einer kurzen Diskussion zwischen Max und Lucien fand sich Lucien am Rednerpult wieder.
„Ich geb‘ erst mal die Protokolle zum Besten und dann die Ermittlungsergebnisse der SMU aus Nordamerika. Also, auf dem Grundstück, das zu diesem Farmgebäude gehört, hat die Polizei insgesamt siebzehn Skelette gefunden. Den Gerichtsmedizinern zufolge, alle von männlichen Personen zwischen vierzehn und zweiundzwanzig Jahren. Trotz des ziemlich schlechten Zustands und der verstrichenen Zeit konnten fünfzehn der Leichen identifiziert werden. Es handelt sich, wie bereits von uns vermutet, um junge Männer, die zwischen 1956 und 1964 als vermisst gemeldet wurden. Die beiden nicht identifizierten Skelette konnten niemandem zugeordnet werden, da ihre geschätzten Daten auf niemanden passten.“
Es gab so einiges Kopfschütteln bei den Zuhörern.
„Dann kommen wir jetzt zu einem sehr interessanten Teil, denn Robert Dairyfield hat ein Tagebuch geschrieben. Schien ja damals ziemlich beliebt gewesen zu sein. Er hat tatsächlich jedes einzelne der siebzehn Opfer beschrieben, aber ohne Namen zu nennen. Sie alle hatten seine Romane gelesen und ihm geschrieben, dass sie möglicherweise eine übersinnliche Begabung an sich entdeckt hätten, was sich nach weiterer Überprüfung allerdings als Falsch herausstellte.“
Lucien sah etwas unsicher umher und wandte sich dann an Kevin.
„Bist du sicher, dass ich alles vortragen soll?“
Kevin nickte ernsthaft und Lucien seufzte.
„Besagter Dairyfield wollte es genau wissen. Seines Erachtens kamen ja nur schwule Jungs in Frage, deshalb hat er alle seine Opfer zunächst mit schwulem Sex konfrontiert. Zunächst etwas oberflächlich, bei einer Weigerung sogar bis hin zur Vergewaltigung.“
„Also war er doch schwul?“
„Nein. Oder vielleicht. Für diese Aufgabe, die er als ‚unter seiner Würde‘ bezeichnete, hatte er einen Stricher aus San Francisco engagiert, den er später als Mitwisser erpresste. Wie gesagt, zunächst der Test, ob sie schwul waren. Dann endlose Tests mit selbst entwickelten Geräten, alle eine Abart eines Enzephalographen. Wenn das nichts brachte, kam reine physische Folter dazu, die bei den Meisten dann zum Tod führte.“
Lucien spürte das Schweigen wie ein Gewicht auf seinen Schultern. Entschlossen wandte er sich zu einem weiteren Bericht.
„Bei der als Thomas Hardee bekannten Person handelte es sich um einen gewissen Stanley Paxson, 41 Jahre alt. Die andere Person im Haus war Michael Hardee, 72 Jahre alt, beide weder verwandt, noch verschwägert. Es gibt keinerlei Hinweise oder Unterlagen, in welchem Verhältnis die beiden zueinander standen, aber es gibt Zeugenaussagen, nach der der jüngere unter dem Namen Thomas Hardee im Alter von etwa 11 Jahren in das Haus eingezogen sein soll.“
Tobias sah auf.
„Lass mich raten. Nein, lass mich nicht raten. Ich glaub‘, das will ich gar nicht so genau…“
Der Satz erstarb in einem leisen Murmeln.
„Es gibt ein psychologisches Profil, doch das beruht auch nur auf Vermutungen. Sicher ist jedoch, dass Michael Hardee die Person gewesen ist, die Robert Dairyfield in San Francisco angeworben hat. Er wusste genau, was sich auf dem Grundstück befand, denn er hatte alle selbst dort begraben. Als der Sheriff auftauchte und in der Erde buddelte, war ihm klar, was das bedeutete.“
„Das heißt, sie haben auf den Sheriff geschossen, mit der Absicht, in einem Feuergefecht getötet zu werden?“
„Vermutlich. Zumindest Michael Hardee hat sich jedoch mit einem Kopfschuss selbst getötet. Thomas Hardee wurde am Fenster vom Karabiner des Deputy erwischt.“
„Gibt es Aufzeichnung von Dairyfield aus seiner Vergangenheit in Deutschland?“
Lucien verzog etwas schmerzlich das Gesicht.
„Keine. Nichts. Überhaupt nichts. Entweder hat er sie entsorgt oder sie sehr gut versteckt.“
Gabriél nickte nachdenklich.
„Oder er hat sie bereits an jemanden weitergegeben.“
Lucien starrte Gabriél hilflos an.
„Ja. Aber dann sind wir wirklich am Ende angekommen. Es gibt keinerlei Hinweise. Wenn er etwas weitergegeben hat, das Hinweise auf die Organisation enthält, sind wir – am Arsch.“
Bevor jemand einen Kommentar loswerden konnte, wedelte Lucas mit den Händen.
„Was ist mit den Unterlagen der Organisation in Nordamerika?“
„Ah, ja. Nett, dass du fragst, aber leider sind die sehr unergiebig. Die identifizierten Opfer wurden mit den vorhandenen Karteien aus dem Zeitraum abgeglichen. Lediglich drei der fünfzehn Personen waren nach der damaligen Einschätzung latent homosexuell. Nicht einer von ihnen war magisch begabt.“
„Was heißt das jetzt für uns?“
„Die Nachforschungen nach dem Verbleib des Robert Feldermayr sind abgeschlossen. Offen ist der Verbleib seiner sämtlichen Unterlagen, sei es aus Forschung oder auch privat, mit Ausnahme der drei vorliegenden Bände Tagebücher. Mit der Operation in Zusammenhang steht die Aufklärung von mindestens fünfzehn Vermisstenfällen aus den USA und die Rekrutierung eines Stabsdienstsoldaten für die SMU Nordamerika.“
„Oh, sie wollen Danny behalten?“
„Jep. Er geht im Sommer auf das College der Organisation und wird dann S1-Corporal.“
Nach der Mittagspause ging es sofort weiter. Lucien und Timo trugen die Vorkommnisse während ihres Aufenthaltes in Lourdes vor. Nach den beiden Vorträgen herrschte langes Schweigen.
„Warum bleibt so etwas immer an uns hängen?“
Alle drehten sich zu Rafael. Lucien und Lucas wollten schon etwas sagen, doch Kevin hob eine Hand.
„Das ist es, wofür unsere Einheit gebildet wurde. Das ist der Teil, der sich ‚Special Mission‘ nennt. Ich weiß, dass wir dafür nicht ausgebildet und nur unzureichend vorbereitet wurden, doch auf solche Situationen kann man sich nicht vorbereiten. Außerdem möchte ich behaupten, dass wir uns bis jetzt ganz gut geschlagen haben.“
„Ich weiß, aber es ist nicht leicht, solche Fälle zu bearbeiten. Manchmal wünsche ich mir, einfach nur auf Dämonenjagd zu gehen. Nicht dass ich mir wünsche, dass die Dinger wirklich hier erscheinen sollen.“
Kevin lehnte sich etwas nachdenklich zurück.
„Rafael. Ich kann deinen Wunsch gut verstehen. Ich wünsche mir manchmal auch, nicht mit all diesem – wie soll ich sagen – diesem Mist konfrontiert zu werden. Aber sieh es einmal so: Diese Einheit wurde gegründet, um solche Fälle zu untersuchen. Es bestand also eine Notwendigkeit, überall dort einzugreifen, wo Dinge passieren, die unseren Zielen und Idealen nicht gerecht werden. In jeder Gesellschaft, auch in der Organisation, läuft nicht alles so ab, wie es geplant ist und wie man sich das idealerweise vorstellt. Die Menschen haben Schwächen, die sie absichtlich oder unabsichtlich zu Handlungen führen, die nicht mehr toleriert werden können. Jede Gemeinschaft hat jemanden oder etwas, das diese Gemeinschaft schützt oder ihre Auswüchse beseitigt. Wir schützen mit unserer Arbeit die Organisation und korrigieren mit unseren Einsätzen die Fehler, die sich aus dem Einsatz der Dämonenjäger ergeben.“
Rafael nickte und sah etwas erleichtert zu Kevin.
„Es ist mir schon klar, was wir hier tun, aber es muss mir nicht unbedingt gefallen. Zumindest bin ich froh, dass du mir nicht gesagt hast, ich könnte einen Versetzungsantrag stellen.“
Michael schnappte nach Luft und auch Kevin und Lucas sahen sich bestürzt an. Kevin erhob sich und gab Lucas, Michael und Rafael ein Zeichen, ihm zu folgen. Während sie die Einsatzzentrale verließen, ging Kyan nach vorne, um den Rest auf den neuesten Stand zu bringen, was die Angelegenheit mit dem Landbesitz des Schlosses anbetraf.
Besonders Tobias war sehr erstaunt, als er von den Verwicklungen hörte, die die Verpachtungen des Landes mit sich brachten.
„Wir müssen die Sache so schnell wie möglich abwickeln. Es nützt denen nichts, wenn sie keine rechtliche Absicherung haben. Ich hätte gerne eine Karte mit den in Frage kommenden Flächen. Lucien und ich könnten einen kurzen Ausflug machen und uns die Gegend mal ansehen.“
Kyan blätterte in einem Ordner.
„Kein Problem. Hier sind die Flurkarten mit drin. Wann wollt ihr los?“
„Nach dem Mittagessen. Wir machen dann eine kleine Rundreise. Falls noch jemand etwas aus dem Ort braucht, können wir das auch gleich mitbringen.“
Gabriel sah auf.
„Ich möchte gerne mit dem Leiter des Supermarktes sprechen.“
Lucien nickte Gabriel zu. Anscheinend hatten sie bereits neue Pläne für die Verpflegung gemacht.
Kevin und Lucas kehrten zurück, Michael und Rafael fehlten.
„Bevor jemand fragt: Die beiden sind oben und reden miteinander. Hätten sie schon viel früher machen sollen. Michael war nur etwas überrascht, dass Rafael ein Problem hat. Leute, wenn jemand Probleme mit unserer Arbeit oder mit jemand anderem hat, kommt zu mir oder zu Lucas. Wenn ihr das nicht wollt, kann ich auch Pater Anselm zu einem Besuch einladen.“
Einige betroffene Blicke wechselten hin und her.
„Dass wir hier schon einige Zeit zusammen leben heißt nicht, dass wir uns auch gut genug kennen. Ich bin mir klar darüber, dass die meisten sich körperlich sehr gut kennen, aber was ist mit der Persönlichkeit, dem Menschen. Es hat zum Beispiel über zwei Jahre gedauert, bis ich wusste, dass Tobias Angst vor großen Hunden hatte. Bei einem Einsatz hätte das möglicherweise tragische Folgen haben können. Redet mehr miteinander, teilt eure Hobbies oder was auch immer. Robin nutzt ja wohl dazu die, wie sagte er, Pausen in der Nacht.“
Einige lachten leise, während Robin etwas verlegen zu Tobias sah.
„Bei der Gelegenheit. Ich werde mich heute noch mal mit Robert treffen. Soll ich ihn wirklich auf Felix ansprechen?“
Lucas nickte.
„Ja, bitte. Aber völlig unauffällig. So nach dem Motto: Übrigens hat der Bürgermeister bei seinem Besuch auch seinen Sohn mitgebracht. Du brauchst nur auf seine Reaktion zu achten. Dann kannst du ihn auch gleich einladen, hier bei uns beim Sport mitzumachen. Du brauchst ihm ja nicht zu erzählen, dass Felix auch erscheint.“
Tobias hatte sich von Kevin dessen privaten Geländewagen geliehen, weil an den firmeneigenen Fahrzeugen inzwischen ein Werbeschriftzug angebracht worden war. Er wollte nicht unbedingt bei seiner Erkundungstour sofort erkannt werden.
Schon bei der Anfahrt stellte Tobias fest, dass die Land- und auch die Kreisstraßen in einem guten Zustand waren, die Zugangswege der Gemeinde hingegen waren in einem denkbar schlechten Zustand.
Mit den Karten bewaffnet wollte Tobias zunächst die gesamten zehn Hektar besichtigen, die Torsten Gebhardt gepachtete hatte. Stumm stand er neben dem Wagen und ließ seinen Blick über die Ackerfläche schweifen.
„So, das hier ist die kleinste Fläche. Knapp zwei Hektar. Hier ist noch nichts draußen. Ich nehme an, hier soll der Mais hin. Das wird wohl erst Mitte April was werden. Lasst uns weiterfahren.“
Die nächste Fläche war erheblich größer.
„So, das sind etwas mehr als drei Hektar. Seht ihr den grünen Schimmer? Das ist der Sommerweizen. Er ist ein gewisses Risiko eingegangen mit der Aussaat in Hinsicht auf die Pacht.“
An der dritten Ackerfläche war gerade Betrieb. Ein großer Traktor zog eine Drillmaschine in endlos erscheinenden Bahnen über den Acker. Tobias kniff etwas nachdenklich die Augen zusammen und bückte sich. Aus dem frisch angesäten Stück klaubte er ein einzelnes Samenkorn auf.
„Hafer!“, sagte er erstaunt.
Lucien und Gabriél sahen ihn verwirrt an.
„Ja und? Darf er das nicht?“
„Doch, doch. Aber Hafer braucht sehr viel Wasser, besonders am Anfang. Ich kann mir nicht vorstellen…“
„Da hinten ist doch der Bach. Kann er den denn nicht nutzen?“
Tobias bedachte Gabriél mit einem fast mitleidigen Blick.
„Dazu bedarf es der Wasserrechte. Und die gehören, soviel ich mitbekommen habe, ebenfalls dem Schloss. Wenn er keinen Vertrag über die Wasserentnahme hat, darf er den nicht nutzen.“
Das Geräusch des näherkommenden Traktors wurde lauter und erstarb dann. Ein junger Mann stieg aus der Fahrerkabine und kam auf die drei Besucher zu.
„Kann ich Ihnen helfen?“
„Möglicherweise. Mein Name ist Tobias Kerner und ich gehöre zu DIGISOFT DEVELOPMENT. Wir sind gerade unterwegs um die Ackerflächen zu besichtigen, die wir zusammen mit dem Schloss erworben haben. Sobald wir alles gesehen haben, werden auch die Pachtverträge neu geschlossen.“
Der junge Mann von dem Traktor sah etwas skeptisch zu Tobias.
„Wenn Ihnen das weiterhilft, gerne. Ich bin Torsten Gebhardt.“
Er gab den drei Besuchern reihum die Hand.
„Sie haben die anderen beiden Stücke schon gesehen?“
Tobias nickte und sah sich nachdenklich um.
„Der Sommerweizen ist ja schon draußen. Aber sind Sie sicher, mit dem Hafer hier?“
Torsten Gebhardt zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
„Hafer?“
Tobias lächelte schwach und öffnete die linke Handfläche, in der noch immer das einzelne Samenkorn ruhte.
Torsten Gebhardt hob die Augenbrauen, lächelte aber dann.
„Okay. Was heißt das für mich? Hafer ist sehr gewinnträchtig. Wenn die Einnahmen steigen, steigt auch die Pacht oder wie?“
„Nicht unbedingt. Für einen höheren Gewinn braucht man erst einmal einen höheren Ertrag. Das wird schwierig mit dem Wasser hier draußen.“
Torsten Gebhardt zögerte einen Moment, dann nickte er.
„Richtig. Aber ich werde ihnen mal etwas zeigen. Folgen sie mir einfach bis zu den Bäumen dort hinten.“
Wortlos stapften die drei hinter Herrn Gebhardt hinüber zu einem kleinen Hain von etwa zehn Bäumen. Tobias bemerkte darunter auch zwei Weiden.
Als sie angelangt waren, sahen alle vier immer noch schweigend in einen Teich von der Größe eines Wettkampfschwimmbeckens.
Tobias war irritiert und blätterte in seinen Unterlagen.
„Der ist nirgendwo verzeichnet. Den Plänen nach wäre hier die Ackerfläche.“
„Richtig. Dieser Teich ist künstlich angelegt worden, vor etwa 30 Jahren. Er ist nie ins Kataster eingetragen worden und gehört eigentlich zur Grundfläche des Ackers auf dem wir jetzt stehen. Der Vater des Bürgermeisters hat ihn damals angelegt, als er der Pächter hier war.“
„Aha. Und dann?“
„Na ja. Dann lief alles seinen Gang. Es wurde geflüstert, aber niemand hat etwas gesagt. Bis eben vor drei Jahren der Besitzer des Schlosses gewechselt hat. Die Pachtverträge waren ausgelaufen und der Herr Herdacker war so von dem Fortgang überzeugt, dass er sich nur am Rande drum gekümmert hat. Ich habe damals etwas mehr geboten und die Pacht bekommen. Der alte Herdacker hat so geschäumt, dass er sogar den Verpächter verklagt hat. Bis zum Landgericht ist er gezogen, aber er hat keinen Erfolg gehabt.“
Tobias schüttelte nur den Kopf.
„Und dann haben sie versucht, den Verkauf des Schlosses geheim zu halten. Zuerst hat der Herdacker es selbst kaufen wollen, aber das war sogar für ihn zu teuer. Dann wurde der ganze Verkauf heimlich still und leise abgewickelt. Ich habe es aber trotzdem mitbekommen, denn die Tochter vom Herdacker ist mit, äh…“
„Dem Bruder ihres Lebenspartners zusammen. Wir haben uns ein wenig erkundigt.“
Torsten Gebhardt schwieg einen Moment.
„Äh, ja. Sie hat uns vom Verkauf berichtet und daraufhin bin ich los um mich zu erkundigen wie denn die Rechtslage mit der Pacht ist. Zum Glück ist unser Notar in der Kreisstadt.“
Tobias sah sich noch einmal um.
„So, wie das aussieht, ist das eine ideale Lage. Mal eine andere Frage. Wozu braucht ihr denn den Mais? Wie ich gehört habe, habt ihr Viehzucht und Milchwirtschaft komplett aufgegeben.“
Torsten Gebhardt grinste.
„Das ist Auftragsarbeit. Wir liefern das Häckselgut für ein Fahrsilo. Von der Aussaat bis zum Abdecken alles inklusive.“
„Ihr habt einen Häcksler?“
„Jep. War teuer genug. Aber es lohnt sich inzwischen. Den größten Teil unserer Zeit verbringen wir eh mit Lohnarbeit. Etliche der kleinen Betriebe kommen hauptsächlich während der Erntezeit auf unsere Dienste zurück.“
Torsten Gebhardt schlug mit der Faust gegen eine der Weiden.
„Selbst da hat sich der Herdacker eingemischt. Wollte Harm Janßen die Sache mit dem Silomais ausreden. Opa Janßen kommt eigentlich aus Ostfriesland und hat hier eingeheiratet. Seinen Humor hat er aber mitgebracht. Als der Herdacker ihm erzählte, dass er den Mais ja von zwei Schwulen kaufen würde, hat er nur mit den Achseln gezuckt und gesagt ‚Tja, ich glaub schon, dass meinen Kühen das egal ist. Und mir genauso. Kümmer di um dien eigen Schiet un nu runner vun min Hoff.“
Alle lachten leise und Lucien konnte sich gut vorstellen, wie das abgelaufen war. Tobias war ebenso davon überzeugt, dass man Torsten Gebhardt unterstützen sollte.
„Sehr gut. Herr Gebhardt, wir werden wieder verschwinden. Ich werde unserem Leiter empfehlen, die Pachtverträge abzuschließen, so wie gewünscht.“
Torsten Gebhardt war sichtlich erleichtert. Vielleicht hatte er ja ein paar Verbündete gefunden in seinem Kleinkrieg mit dem Bürgermeister.
Robin hatte es tatsächlich geschafft, Robert zum Training zu überreden. Zunächst hatte der keine große Lust, sich nach der Arbeit noch körperlich zu betätigen, aber Robin konnte sehr überzeugend sein. Als sie auf dem Vorwerk eintrafen, war in der Sporthalle noch alles dunkel. Robin nahm die Halle in Betrieb und zeigte Robert die Ausstattung an Fitness-Geräten.
„Das ist ja fast besser als im Fitness-Center. Wozu habt ihr denn hier so eine große Anlage. Ich dachte, hier wird hauptsächlich mit dem Kopf gearbeitet.“
„Eben. Die Jungs brauchen schon mal was zum Austoben. Es gibt Phasen, da sind fast alle hier drin. Besonders bei wichtigen Projekten. Immer abwechselnd Körper und Geist in Bewegung halten.“
Robert lachte und die beiden durchliefen an den Geräten ein regelrechtes Trainingsprogramm. Nach einer Weile waren Geräusche in der Umkleidekabine zu hören und kurze Zeit später traten Lucas und Felix in den Übungsraum. Robert musste zweimal hinsehen.
„Felix?“
„Robert?“
„Ah ja. Die Herren kennen sich. Da brauche ich sie ja nicht vorzustellen.“
Robert und Felix starrten sich eine ganze Weile gegenseitig an, bis Lucas mit dem Trainingsprogramm für Felix begann. Robin und Lucas schenkten den beiden nichts und so waren sie am Ende der Stunde ganz schön ausgepowert.
„So, ab unter die Dusche und dann noch rüber an die Bar. Im Spielecenter gibt es eine kleine Auswahl von Wasser und Säften.“
Bei Felix und Robert dauerte es eine Weile, bis sie im Duschraum eintrafen. Lucas und Robin standen bereits unter einem Duschkopf und Robin seifte Lucas den Rücken ein. Die beiden Besucher blieben etwas peinlich berührt stehen und sahen ihnen zu. Robin grinste, ging zu Robert und zog ihn unter den nächsten Duschkopf. Lucas nahm Felix an der Hand.
Als Felix von Lucas eingeseift wurde, blieb eine Reaktion nicht aus. Robert starrte neugierig hinüber und hatte sofort das gleiche Problem. Er wusste nicht, wie weit Robin hier gehen würde, doch die Anwesenheit von Felix irritierte ihn sehr.
Lucas bemerkte, wie Felix immer nervöser wurde. Alle paar Sekunden starrte er hinüber zu Robin und Robert. Als Robin vor Robert abkniete stieß Felix zischend seinen Atem aus. Also doch. Hätte er ihn damals bloß gefragt.
Robin bemerkte trotz seiner Bemühungen um Robert, was mit Felix los war. Robin erhob sich wieder und zog Robert langsam zu den beiden anderen hinüber. Hier begann er Lucas und Felix gleichermaßen einzuseifen. Robert sah ihm zunächst fasziniert dabei zu, dann griff er ebenfalls nach dem Shampoo. Nach einer Weile konzentrierten sich alle drei auf Lucas und der brummte wohlig. Robert griff mutig mit beiden Händen zu und flüsterte: „Unglaublich. Das muss doch schwierig sein, sich von so etwas…“
„Alles Übungssache. Und natürlich eine Frage der Vorbereitung“, flüsterte Robin.
„Was? Hast du etwa…?“
Robin nickte wortlos, während Lucas grinste. Behutsam zog er Robin an sich und küsste ihn.
Robert konzentrierte sich deshalb mehr auf Felix. Nach einer Weile standen sie beide alleine eng umschlungen unter dem Duschkopf. Das Wasser prasselte auf sie herab während ihre Hände ruhelos hin und her wanderten und dann ihr Ziel fanden. Leise stöhnend ergaben sich beide fast gleichzeitig in ihre Glücksgefühle. Ohne sich von dem Wasser stören zu lassen, küssten sie sich ausgiebig.
„Ein Glück, dass sie schon unter der Dusche stehen“, kam es von Gegenüber.
Irritiert trennten sich Robert und Felix, so dass der Strahl der Dusche die Zeugnisse ihrer heftigen Zuneigung hinwegspülte. Beide sahen an sich herab, dann sahen sie sich in die Augen und küssten sich noch einmal.
Robin und Lucas aktivierten nun ebenfalls den Duschkopf unter dem sie standen, um auch bei ihnen die weiß-silbern glänzenden Spuren zu entfernen.
Abtrocknen und Umkleiden ging schweigend von statten. Felix und Robert hatten nur noch Augen füreinander und waren irgendwie geistig wegegetreten. Robin schüttelt leicht den Kopf, doch Lucas grinste nur.
„Hey, ihr beiden.“
„Was? Wer?“
„Ja, ihr beiden. Wir gehen jetzt rüber zur Bar und trinken noch etwas. Wenn ihr wollt, könnt ihr gerne mitkommen. Außerdem haben wir drüben im Gästehaus noch ein paar Zimmer. Wenn ihr wollt, könnt ihr auch hier übernachten.“
Felix und Robert sahen Lucas und Robin schweigend hinterher. Ein kurzes Gespräch später folgten sie ihnen zur Bar. Ach ja, und übernachtet haben sie auch im Gästehaus.
Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2018
Haus Birkenstein lag im Dunkel der Nacht. Es war langsam Ruhig geworden auf dem Gelände und auch in den Häusern brannte kein Licht mehr. Lediglich die Angehörigen der Security drehten ihre Runden. Zunächst unbemerkt von den beiden Streifengängern schwang sich eine dunkel gekleidete Gestalt über eine der Mauern und fiel nicht gerade lautlos auf den weichen Rasen dahinter. Auf einen kurzen Ruf folgten weitere dunkle Gestalten über die Mauer, die mehr als ungeschickt versuchten, sich eine Tarnung auf der unbebauten Rasenfläche zu suchen.
Das Eindringen war natürlich nicht unbemerkt geblieben. Die Aufsicht im Sicherheits-Center setzte den Alarm der Bewegungsmelder zurück und justierte die Infrarotkameras neu. Auf dem Rasen an der südlichen Mauer kauerten jetzt mehr als zehn mit Sturmhauben bekleidete Personen und versuchten sich zu orientieren.
Die Aufsicht zückte den Alarmplan und löste den internen Alarm für unbefugtes Eindringen aus. Die Streife würde sofort zurückkehren und die Ruheschicht wurde geweckt. Nur wenige Minuten nach Auslösen des Alarms kam der Leiter der Security in das Sicherheits-Center. Er wurde in die Lage eingewiesen und beobachtete die Eindringlinge. Die ganze Gruppe bewegte sich nun langsam durch das Gelände in Richtung des Hauptgebäudes. Der Leiter nickte langsam, als ob er etwas Ähnliches erwartet hätte.
„Intruder-Alarm für das Stammpersonal. Team 1 geht zum Unterkunftsgebäude, Team 2 zum Hauptgebäude. Sie sollen, wenn möglich, Kontakt mit den Eindringlingen vermeiden. Die Schüler müssen um jeden Preis gesichert werden. Wer ist Teamleiter 1?“
Die Aufsicht rief den Schichtplan auf.
„Oberleutnante Meinhardt und Simonsen.“
„Sehr gut. Warten wir nur noch…“
Der erwartete Leiter der Bildungseinrichtung kam gerade durch die Tür.
„Herr Eberding, was haben wir?“
„Eindringlinge über die Südmauer. Elf Personen, teilweise getarnt, Bewaffnung unbekannt. Magische Aktivitäten konnten bisher nicht festgestellt werden.“
Doktor Berg nickte. Das hätte er auch bemerkt.
„Was ist ausgelöst worden?“
„Intruder. Team 1 Unterkunftsgebäude, Team 2 Hauptgebäude.“
„Elf Leute sind eine ganze Menge und wir wissen nicht, ob oder wie sie bewaffnet sind. Gibt es einen Hinweis auf ihr Ziel?“
Die Aufsicht ließ einen Lageplan auf dem großen Monitor erscheinen.
„So, wie es aussieht, laufen sie im Zickzack. Aber ich würde sagen, sie wollen zu Gebäude 4.“
Doktor Berg haderte mit seinem Schicksal. In den letzten zehn Jahren, in denen er hier Leiter war, hatte es nicht einen Zwischenfall gegeben. Und jetzt das. Elf Eindringlinge! Allerdings benahmen sie sich nicht besonders professionell.
„Alarmieren sie das nächstgelegene Einsatzbataillon. Ich brauche mindestens eine Kompanie hier. Und dann lassen sie von Team 1 die Schüler wecken. Notfalls müssen sie sich selbst verteidigen.“
Der Leiter der Security war etwas erstaunt von dem zweiten Teil der Anordnung, doch er machte sich sofort an die Arbeit. Etwas irritiert sah er nun zum Schulleiter.
„Team 1 ist dabei die Schüler zu wecken und Gruppenweise eine Verteidigung zu organisieren. Das Bataillon ist im Shut-Down und auf Eigensicherungen. Alle Kompanien sind auf dem Weg zum Bataillonsstab.“
Doktor Berg wurde blass.
„Was? Was ist denn da passiert? Haben wir noch was anderes in der Nähe?“
Der Leiter der Security schüttelte den Kopf, doch da machte sich die Aufsicht bemerkbar.
„Entschuldigung, aber wir haben noch eine temporäre Stationierung hier angezeigt.“
„Wieso temporär? Wo denn?“
„Das sind Einheiten, die sich an einem Ort aufhalten, der nicht ihr ursprünglicher Stützpunkt ist. So wie es markiert ist, ist es eine Ausbildungseinheit.“
„Wir haben keine Ausbildungseinheit hier in der Nähe.“
„Moment, bitte, Herr Direktor. Hier, Ausbildungscamp Alpha, GWS.“
Der Leiter der Security hob seine Augenbrauen.
„GWS? Das ist die Gestaltwandlerschule. Was machen die denn hier?“
Doktor Berg verdrehte die Augen. Die hatte er ja ganz vergessen.
„Die machen eine Geländeausbildung. Gestaltwandler in ihrer natürlichen Umgebung oder so etwas Ähnliches. Das Ausbildungscamp ist drüben am anderen Ende des Sees.“
Der Leiter der Security blickte erstaunt auf den Monitor.
„Wieso erfahre ich das nicht? Sollen wir sie auch benachrichtigen? Vielleicht sind sie ja ebenfalls Ziel eines Überfalls.“
„Ja, natürlich! Erhöhte Aufmerksamkeit ist auf jeden Fall angebracht.“
„Was machen wir mit denen hier?“
Der Blick der Anwesenden fiel wieder auf den Lageplan, wo elf kleine rote Punkte sich immer weiter auf das Unterkunftsgebäude zubewegten.
Im Ausbildungscamp der Gestaltwandler herrschte tiefste Ruhe.
Doktor Gerald Brüggen, der Direktor der Gestaltwandlerschule war von dem Ausflug in die freie Natur nicht besonders begeistert gewesen, hatte aber schlussendlich zugestimmt.
Die Idee zu der Exkursion war vom Gestaltwandler-Korps gekommen. Major Niedermüller von der Abteilung Rekrutierung hatte den Ausflug vorgeschlagen. Hintergrund war, dass seine Abteilung das Einsatzspektrum eines Gestaltwandlers beurteilen sollte, wenn sich jemand bewarb oder vorgeschlagen wurde.
„Nein, nein. Wir wollen die Bewerber nicht auf ihre Tierform reduzieren. Wir wollen so objektiv wie möglich beurteilen, wofür eine Tierform im täglichen Leben eingesetzt werden kann.“
Doktor Brüggen machte immer noch ein skeptisches Gesicht.
„Sehen sie, ein Werwolf kann sich in seiner Wolfsform noch ein klein wenig verändern. Gewicht und Farbe sind vorgegeben, aber zum Beispiel die Form von Schnauze und Läufen kann in Nuancen geändert werden. Einige Werwölfe sind so gut darin, dass sie sogar als großer Hund durchgehen. Das können nicht alle Gestaltwandler. Möglicherweise liegt es an der magischen Begabung.“
„Sie wollen doch nicht alle Tierformen in der Öffentlichkeit einsetzen? Ich meine, ein Rehbock in der Großstadt wäre schon deutlich zu auffällig, abgesehen von einem 40 Kilo schweren Schneehasen.“
Major Niedermüller musste bei der Vorstellung lachen.
„Richtig. Deshalb möchten wir ja dieses Camp veranstalten. Wir wollen sehen, wie und wo ein Einsatz einer Tierform sinnvoll ist. Ebenso gibt es eine alte Aktennotiz, die darauf hinweist, dass einige Gestaltwandler auch in ihrer menschlichen Form bedingt auf ihre tierischen Fähigkeiten zurückgreifen können.“
„Wie bitte? Wie soll ich das denn verstehen?“
„Ganz einfach. Bevor die eigentliche Wandlung von Statten geht, erfolgt eine Konzentrationsphase. Die ist bei geübten Gestaltwandlern nicht mal zwei Sekunden lang. Die Magie wird gesammelt und in die Wandlung übergeleitet. Wenn man die Konzentrationsphase ausdehnt und nicht zur Wandlung nutzt, bleibt das Mana aktiviert und man kann teilweise die tierischen Sinne nutzen.“
„Was heißt – teilweise?“
„Oh, man muss sich stark darauf konzentrieren, was man macht. Außerdem verbraucht sich das Mana auch sehr rasch. Das ist wohl auch der Grund, warum der überwiegende Teil der Gestaltwandler keine Ahnung von diesen Möglichkeiten hat. Wir haben einen kleinen Versuch gemacht und das Ergebnis an das Magie-Korps übersandt. Möglicherweise kommt von dort ja bald eine Anfrage an sie.“
Doktor Brüggen hob fragend die Augenbrauen und Major Niedermüller grinste.
„Ich habe einen Selbstversuch gemacht. Mein Geruchssinn war da so ausgeprägt, dass ich erkannt habe, was auf dem Frühstücksbrötchen eines Kollegen war – und der saß drei Zimmer weiter.“
So war zu dem ‚Ausbildungsabschnitt natürliches Habitat‘ – wie er offiziell hieß, auch Major Niedermüller mit einem seiner Mitarbeiter erschienen. Die beiden anderen Begleiter stellte die Special Mission Unit. Dort war es zu einer kleinen Diskussion gekommen.
Beim Abendessen legte Kevin einen Zettel auf den Tisch und sah in die Runde.
„Das ist die Bitte der Gestaltwandlerschule um Unterstützung bei einer Ausbildungsmaßnahme. Soweit ich das sehe, möchten sie eine Art Biwak veranstalten mit Ausbildung in der freien Natur. Dazu hätten sie gerne einen Bannmagier als Aufsicht.“
Michael und Lucien sahen sich verblüfft an.
„Warum denn ausgerechnet einen Bannmagier?“
Kevin las noch einmal die Anforderung.
„Wie es aussieht, wollen sie wohl etwas Neues ausprobieren, was mit der erweiterten Verwendung von Mana zu tun hat. Sie brauchen wohl einen Bannmagier, der die Anwendung trennt, sollte etwas schief gehen.“
„Aha. Und was ist mit uns?“
Robin deutete auf sich und Kyan.
„Von euch ist hier nicht die Rede. Hier ist nur von einem Bannmagier und einem eventuellen Begleiter die Rede. Das bleibt dann wohl an Michael oder Lucien hängen.“
„Nimm Michael. Ich muss mit Robin noch die Alarmpläne durchgehen und Toby muss noch die Angelegenheit mit unserem Pächter zum Abschluss bringen.“
Kevin schüttelte den Kopf.
„Ich wollte mit Rafael die neue Stellenbesetzung durchgehen. Wir müssen uns entscheiden, ob wir jetzt nachbesetzen oder noch ein Jahr auf den nächsten Durchgang der Offiziersausbildung warten wollen.“
Lucien zuckte mit den Schultern.
„Na und? Dann nimm doch einen anderen Kampfmagier dazu. Ist ja nicht so, dass wir nicht öfter mal die Partner tauschen.“
Das brachte ihm von Tobias einen leichten Schlag auf den Hinterkopf ein, doch Kevin lächelte und blickte am Tisch entlang.
„Stimmt. Wie wär’s mit… hm, Alexander?“
Alexander sah etwas erstaunt von seinem Teller auf. Er wechselte einen kurzen Blick, zunächst mit Dorian, dann mit Timo.
„Hm, meinetwegen. Ich habe da kein Problem, wenn Micha einverstanden ist.“
Der große blonde Bannmagier wechselte ebenfalls nur einen kurzen Blick mit seinem Partner und nickte dann.
„Also gut. Wann müssen wir wo sein?“
Untergebracht waren die Gestaltwandler in mehreren kleinen Ferienhütten am Rande eines Sees in fast unmittelbarer Nähe von Haus Birkenstein. Doktor Brüggen wollte kein Risiko eingehen und einen nahe gelegenen Rückzugsort haben, sollten Schwierigkeiten auftreten. Ihre Anwesenheit war mit Doktor Berg abgesprochen worden.
Zur ersten Einweisung hatten sich Ausbilder und Schüler in der kleinen Gemeinschaftshütte des Ferienlagers versammelt. Zunächst trat Michael vor. Sie alle kannten ihn ja schon von ihren ersten Ausbildungstagen, staunten aber dann, als er Alexander als Begleiter vorstellte.
„Rafael hat in der Einheit noch ein paar fachliche Aufgaben zu erledigen und deshalb hat er mit Alexander getauscht.“
„So, so. Getauscht.“
Michael sah grinsend durch die Reihen. Er hatte die Stimme erkannt.
„Dominik, möchtest du uns damit etwas Bestimmtes sagen?“
„Wie? Äh, nein, nein.“
„Dann ist es ja gut. Davon abgesehen kennen Alex und ich uns seit unseren ersten Tagen in der Organisation und wir haben schon mal öfter getauscht. Und das nicht nur bei der Arbeit. Zufrieden?“
Dominik Lübbert lief rot an und blickte zu Boden. Tristan sah seinen Partner nur stumm an und schüttelte den Kopf.
„So, wenn das dann geklärt ist, möchte ich den fachlichen Leiter der ganzen Veranstaltung vorstellen. Herr Major Niedermüller ist Leiter der Abteilung Rekrutierung beim Gestaltwandler-Korps. Er hat einen seinen Mitarbeiter mitgebracht und wird auch gleich selbst erklären, warum er hier ist und was der Schwerpunkt dieses Ausbildungsabschnitts sein wird.“
Der Begleiter von Major Niedermüller war eine kleine Überraschung für die Schüler.
„Meine Herren, dies ist Leutnant Sendler. Er ist Gestaltwandler wie sie und arbeitet schon seit einigen Jahren im Stab des Gestaltwandler-Korps. Er hat seine militärische Ausbildung als praktische Ausbildung im Stab gemacht und ist ab dem nächsten Durchgang als Ausbilder für die Gestaltwandlerschule vorgesehen.“
Leutnant Sendler war Mitte zwanzig und von durchschnittlicher Größe. Seine dunkelblonden Haare standen etwas unordentlich ab und seine grauen Augen betrachteten nachdenklich die Schüler. Major Niedermüller nickte ihm zu.
Der Leutnant erhob sich und legte seine Bekleidung ab. Er hatte einen etwas kompakten Körperbau bei dem die Muskeln nicht so auffielen, aber in unbekleidetem Zustand deutlich erkennbar waren. Die Wandlung dauerte nicht lange und alle starrten überrascht nach vorne.
„Oha.“
„Meles meles“, murmelte eine Stimme im Hintergrund.
„Richtig. Da hat jemand beim Unterricht gut aufgepasst. Meles meles, der europäische Dachs. Er gehört zu den marderartigen Raubtieren Europas. Wie sie sehen können, haben wir hier ein Problem, das bei vielen Gestaltwandlern auftritt. Die gewandelte Gestalt ist viel zu groß für das normale Tier. Leutnant Sendler wiegt 79 Kilo, der Dachs somit etwa 40 Kilo. Echte Dachse in freier Wildbahn bringen es auf maximal 14 bis 17 Kilo. Vielen Dank.“
Der Dachs tappte flink durch die Reihen der Schüler und schnupperte mal hier oder da. Die Fellzeichnung, besonders der schwarz-weiße Kontrast am Kopf war sehr ausgeprägt. Ludwig Mostrau fand ihn sogar ausgesprochen hübsch. Gespannt verfolgte er auch die Rückwandlung.
Manuel Sendler war sich bewusst, dass die Schüler ihn nicht nur in seiner Tiergestalt genau betrachteten und er hatte vorhin beim Schnuppern jemanden gefunden, der ihn ebenso interessierte. Sein Blick wanderte hinüber und er begegnete dem des jungen Mannes. Beide wandten ihren Blick ab, um sich sofort darauf noch einmal anzusehen. Sie wurden jedoch von Major Niedermüller unterbrochen.
„Ähnlich wie bei Herrn Franckh oder Herrn Bekker hat das Gestaltwandler-Korps zunächst eine Eignung für einen Einsatz in Frage gestellt. Dabei müssen wir uns immer vor Augen halten, was denn der Einsatz eines Gestaltwandlers für die sogenannten Einsatzeinheiten beinhaltet. Es ist nicht das Schließen eines Tores, zumindest nicht aktiv und direkt. In unserer heutigen Welt ist es schon schwierig genug, überhaupt an ein Tor heranzukommen. Die Möglichkeiten der Verstecke werden immer zahlreicher. Früher waren es Höhlen in abgelegenen Wäldern, heute sind es vielleicht Tiefgaragen. Wie komme ich da hin? Wie kann ich meine Leute tarnen und ungesehen wieder verschwinden? Wie kommt nötigenfalls ein Team zur Spurenbeseitigung an den Tatort?“
Die Zuhörer sahen sich staunend an.
„Die Gestaltwandler haben bei ihrer militärischen Ausbildung den Schwerpunkt auf nachrichtendienstlichen Tätigkeiten. Anschleichen, Beobachten, Analysieren und Beraten. Und das in beiden Formen. Hm, Beraten natürlich nur in menschlicher Form. Sie werden den Kompaniechefs, den Bataillons- und Regimentskommandeuren zugeordnet und beraten diese bei einem entsprechenden Bedarf.“
Jetzt schnappten einige der jungen Gestaltwandler deutlich nach Luft. Tristan sah nach vorne.
„Na, mit Anschleichen ist ja bei Robert und mir nicht so viel zu machen.“
Es gab ein allgemeines Gelächter, doch Major Niedermüller winkte ab.
„Das würde ich so nicht sagen. Was ist denn in dem Fall, wenn sich ihr Ziel auf einer Insel befinden würde? Oder sie sollen Bewegungen in der Nähe der Küste oder eines Hafens überwachen? Außerdem ist ihre Aufgabe ja auch Analysieren und Beraten. Es hat niemand gesagt, dass sie alles selber machen sollen.“
Tristan schien nicht überzeugt zu sein, doch er nickte langsam. Major Niedermüller sah in die Runde.
„Dann können wir zum eigentlichen Grund kommen, warum sie sich hier in diesem Ausbildungscamp aufhalten.“
Mit wenigen Worten erklärte der Major nun, was er auch schon Doktor Brüggen vorgestellt hatte. Die Gestaltwandler würden zunächst in ihrer Tiergestalt die Fähigkeiten des Tieres vorführen. Dabei lag der Schwerpunkt auf Sinneswahrnehmungen, welche die eines normalen Menschen überstiegen. Dann würde ein Übungsabschnitt erfolgen, in dem die Gestaltwandler lernen, ihr Mana besser zu erkennen und zu kontrollieren. Und zum Schluss würde dann der Einsatz von tierischen Fähigkeiten in Menschengestalt kommen.
„Jo mei, dös wird lustig.“
Alles lachte und drehte sich zu Maximilian.
„Was glaubt ihr denn? Mein Geruchssinn ist zwar sehr ausgeprägt, aber nicht sehr weit reichend. Ich hab‘ keine Lust, mit meiner Nase im Boden zu graben wie mit dem Rüssel.“
Nervös zuckten die Ohren des Rehbocks hin und her. Von Süden näherten sich zwei Menschen. Zu riechen waren sie noch nicht, der Wind stand ungünstig. Die Geräusche der zwei Personen wurden leiser, obwohl sich die Richtung noch nicht geändert hatte. Sie schienen jetzt zu schleichen. Der Rehbock verharrte an seiner Position, bis die Menschen langsam näherkamen. Sehen konnte er sie noch nicht, doch die Geräusche wurden langsam lauter. Zögernd beugte er sich herunter und begann zu äsen.
„…sollte hier irgendwo sein. Kannst du die Rehe auseinanderhalten?“
„Er ist ein Bock mit drei Enden. Davon gibt es hier nicht so viele.“
Der Rehbock wanderte äsend langsam weg von den Menschen, immer darauf bedacht, im Sichtschutz zu bleiben.
„Wusstest du eigentlich, dass er sein abgeworfenes Gehörn verschenkt hat?“
„Tatsächlich? An wen?“
„Christian wollte es nicht verraten, aber es muss dann ja einer der Magier aus der Schule sein.“
Hätte Simon jetzt seine menschliche Gestalt gehabt, wäre er rot geworden. Aber was hatte er geglaubt? Dass es geheim bleiben würde? Hoffentlich klappte seine Vorstellung von seiner weiteren Verwendung.
Auf einer Lichtung erspähte er ein kleines Rudel Ricken. Er durfte sich nicht zu sehr annähern, sonst würden sie auch vor ihm weglaufen oder der Bock würde versuchen, ihn zu vertreiben. Doch wenn er in der Nähe bleiben konnte, würde er weniger auffallen.
„Da drüben. Ein ganzes Rudel oder wie das heißt. Alles Rehe und da drüben ein Bock. Hm, ein Dreiender. Ob er das ist?“
Simon unterdrückte seinen Fluchtreflex und starrte einfach nur in die Gegend. Sehen konnte er nicht viel, doch der Wind hatte gedreht und nun nahm er auch den Geruch von Michael und Alexander wahr. Die Rehe hatten die beiden Menschen ebenfalls bemerkt und waren geflüchtet.
„Aha. Die Rehe sind weg und der Bock ist noch da. Das muss er sein. Simon, Ende der Übung. Komm zurück zum Lager.“
Simon nickte zweimal. Es sah bei ihm fast aus wie eine würdevolle Verbeugung. In diesem Moment hörte er eine weitere Gruppe Menschen sich nähern. Sie bewegten sich anscheinend auf dem Waldweg und unterhielten sich laut.
„Hier ist doch nix los. Ich will wieder zurück.“
Eine helle, kindliche Stimme. Eine weibliche antwortete.
„Nun hab‘ dich nicht so. Ein kleiner Spaziergang im Wald ist doch auch mal nett.“
„Ich will zurück zu meiner Playstation!“
„Jetzt ist aber gut. Wir sind ja schon auf dem Rückweg. Hier kann man doch auch… Oh, sieh mal da drüben.“
Das war die Stimme eines älteren Mannes.
Simon konnte die Menschen hören und riechen. Meinte er etwa ihn? Das Kind gab die Antwort.
„Oh, ein Hirsch!“
Ein Hirsch? Simon suchte mit großen Sprüngen das Weite. Ein Hirsch! So ein paar Ignoranten!
Am Waldrand des Camps wartete Simon auf jemandem, der ihm einen Overall brachte. Sie achteten darauf, dass niemand in seiner Tiergestalt zwischen den Hütten herumlief. Alexander hatte ihn bemerkt und kam herüber.
„Da ist ja unser Rehlein.“
Simon wandelte sich und schnappte sich den Overall aus Alexanders Händen.
„Hat sich was mit Rehlein. Ich habe schon mal jemandem gesagt, dass ein männliches Reh nicht umsonst Bock heißt.“
Alexander hob abwehrend die Hände.
„Hey, ist ja gut. Aber du musst zugeben, dass du in beiden Formen niedlich aussiehst.“
„War das ein Kompliment oder eine Einladung?“
„Nimm es so, wie du es möchtest. Du kannst es auch als beides betrachten. Das Debriefing für deinen Einsatz findet in zehn Minuten in der Gemeinschaftshütte statt.“
Simon sah Alexander hinter. Die große, muskulöse Gestalt reizte ihn schon. War Simon dabei, seinen eigenen kleinen Fetisch zu entdecken? Er dachte an Leon und Chris und an das, was diese über Freundschaften gesagt hatten. Wenn er den Mut aufbrachte, würde er heute Nacht wahrscheinlich nicht alleine sein.
Simon hatte es sich gerade zwischen Michael und Alexander bequem gemacht und driftete langsam in den Schlaf hinüber, als ein Handy klingelte. Michael fluchte und suchte den Störenfried.
„Ja?“
Michael lauschte einen Moment, dann ruckte er hoch.
„WAS!? Wir machen sofort Eigensicherung. Ja, verstanden. Ende.“
Alexander hatte nur gegähnt, doch als das Wort ‚Eigensicherung‘ fiel, ruckte auch er hoch.
„Was ist passiert?“
„Birkenstein wird gerade überfallen. Eine größere Gruppe von Angreifern hat die Außenmauer überwunden und befindet sich auf dem Gelände. Wir müssen erst mal hier Sichern und Aufklären. Wir müssen wissen, ob wir ebenfalls betroffen sind.“
Alexander war schon aufgesprungen und dabei, sich anzuziehen.
„Micha, du weckst Major Niedermüller und erklärst die Lage. Simon, du gehst rum und weckst alle anderen. Wir versammeln uns in der Gemeinschaftshütte. Anzug für alle Gestaltwandler ist Overall.“
Simon war erstaunt, dass Michael kommentarlos die Anweisungen von Alexander entgegennahm. Dann erinnerte er sich, dass im Falle eines Gefechts die Kampfmagier das Kommando übernahmen. Schnell schlüpfte auch er in seinen Overall und sauste los.
Als Michael mit Major Niedermüller und Leutnant Sendler in die Gemeinschaftshütte kamen, waren bereits alle Gestaltwandler versammelt. Alexander zählte durch und hakte eine Liste ab. Major Niedermüller sah sich mit ernstem Gesicht um.
„Meine Herren, ich möchte betonen, dies ist keine Übung. Haus Birkenstein wird im Moment von Unbekannten überfallen und wir können nicht sicher sein, ob wir nicht ebenfalls Ziel eines Überfalls sind oder werden sollen. Oberleutnant Sarutin hat das Kommando über die Verteidigung, sollten wir angegriffen werden.“
Aus den Reihen der Gestaltwandler kam ein gefährliches Knurren. Major Niedermüller drehte sich sofort um.
„Herr Vahrenholz, ich muss sie bitten, sich sehr zurückzuhalten. Wir machen zunächst Perimeteraufklärung. Alles im Lager und in einem gewissen Umkreis wird erkundet. Dazu möchte ich gerne die Tierformen einsetzen, die im Dunkeln nicht besonders auffällig sind und auch als normale Tiere durchgehen könnten, sollten sie bemerkt werden. Das sind dann bitte Herr Bekker, Herr Seibert, Herr Lübbert, Herr König und Leutnant Sendler.“
Die Aufgerufenen sahen sich zögernd an. Alexander hob eine Hand.
„Die Aufgerufenen bitte zu mir. Ich zeige euch auf der Karte, was ihr erkunden sollt. Ihr geht in der Tierform nach draußen und dort in den zugewiesenen Sektor. Dort versucht ihr so gut wie möglich das entsprechende Gelände abzusuchen. Interessant sind alle Personen, die sich dort befinden. Nach zehn Minuten kommt der Rückruf mit der Ultraschallpfeife. Jemand dabei, der die nicht hören kann?“
Alle schüttelten den Kopf.
„Dann los, Zeit läuft. Wir müssen uns beeilen, falls wirklich jemand dort draußen ist. Wer etwas entdeckt hat, kommt so schnell wie möglich zurück, ohne aufzufallen. Das bedeutet auch, keine Handlungen irgendeiner Art. Ihr sollt nur aufklären, sonst nichts. Verstanden?“
Diesmal nickten alle.
„Okay, dann wandeln und raus.“
Fünf junge Männer legten ihre Overalls ab und kurz darauf schlichen ein Rehbock, zwei Füchse, ein Wildschwein und ein Dachs hinüber in den Wald.
Als er sich umdrehte, sah Alexander, dass Major Niedermüller eindringlich auf Fabian einredete. Anscheinend hatte Fabian Schwierigkeiten, seinen inneren Wolf zu beruhigen. Alexanders nächstes Ziel war Michael.
„Irgendetwas, was du noch machen kannst?“
Michael schüttelte den Kopf.
„Nicht in aller Öffentlichkeit. Du weißt, wir haben keine Kampfzauber. Eine Barriere kommt auch nicht in Frage. Die Dinger sind im Dunklen kilometerweit sichtbar. Wenn ich eine physische Barriere aktiviere, haben wir in kürzester Zeit die Feuerwehr hier stehen.“
Alexander musste ihm zustimmen. Die physische Barriere schimmerte orangefarben. Das würde aussehen wie ein Feuer.
„Na gut. Aber für den absoluten Notfall kannst du ja eine Barriere vorbereiten, die innerhalb der Gemeinschaftshütte bleibt. Da ist es nicht ganz so auffällig. Wir können jetzt nur noch auf die Aufklärungsergebnisse warten.“
In Haus Birkenstein waren die Vorbereitungen zur Verteidigung schon fortgeschritten.
Doktor Berg befand sich in einem Dilemma. Die Identität und auch die Absichten der Eindringlinge waren unbekannt. Bei einem normalen Einbruch hätte er die Polizei alarmiert, doch dafür waren das zu viele Angreifer. Sie wollten anscheinend etwas ganz Bestimmtes und das in den Unterkünften der Schüler. War das ein Kidnapping? Welcher der Schüler war denn so wertvoll, dass sich eine Entführung aus einem Internat in dieser Größenordnung lohnen würde?
„Herr Direktor, Telefon. Die Polizei.“
Doktor Berg zuckte unwillkürlich zusammen. Was wollten die denn? Hatte schon jemand etwas bemerkt?
„Internat Birkenstein, Doktor Berg.“
„Herr Doktor Berg? Hier ist die Polizeistation Oberwies, Kommissar Franckh. Wir haben da eine Meldung über eine größere Gruppe von Motorradfahrern bekommen, die sich auf der Kreisstraße direkt auf ihr Internat zubewegen sollen. Es soll sich wohl, soweit im Dunkeln erkennbar, um so eine Motorradgang handeln. Falls Sie etwas bemerken sollten, informieren Sie uns bitte sofort. Das Revier in der Kreisstadt wurde bereits benachrichtigt.“
Doktor Berg erinnerte sich, dass die Polizeistation Oberwies, etwa zehn Kilometer entfernt, in dem gleichnamigen Dorf lag. Es war eine der kleinen Stationen, die in Bayern flächendeckend eingerichtet worden waren, um Recht und Gesetz auch im letzten Winkel des Freistaates zu repräsentieren. Wie das verwaltungstechnische Schicksal es wollte, gehörte Haus Birkenstein zum Einzugsgebiet des Polizeireviers Oberwies und nicht zu dem der Kreisstadt, die einige Kilometer näher lag.
Das fehlte jetzt noch, dass sich auch noch die Polizei einmischte.
„Also, Herr Franckh, ich kann Sie beruhigen. Mir ist bis jetzt noch nichts Auffälliges gemeldet worden. Sollte sich etwas ergeben, wird sich der Leiter unserer Security mit Ihnen in Verbindung setzen.“
„Vielen Dank Herr Doktor Berg. Auf Wiederhören.“
Nachdenklich gab Doktor Berg das Mobilteil wieder zurück. Hoffentlich blieb alles ruhig.
In Haus 4 hatten Lars Meinhardt und Hendrik Simonsen die Schüler geweckt und alle in einer Stube zusammengerufen. So drängelten sich vierzehn Schüler und zwei Aufsichten in den kleinen Raum. Die Schüler hatten es sich auf dem Bett, dem Schreibtisch und dem Fußboden bequem gemacht. Sie trugen alle, wie auch die beiden Aufsichten, den zweiteiligen schwarzen Kampfanzug mit Springerstiefeln. Lars zählte durch und gab Hendrik ein Zeichen. Der Kampfmagier hatte das Kommando.
„So, Leute. Das Ganze ist keine Übung. Haus Birkenstein wird überfallen. Es ist Intruderalarm ausgelöst worden. Alle Gebäude wurden verschlossen und versiegelt. Auch dieses. Wir wissen nicht, wer sich Zugang zum Gelände verschafft hat und warum. Wir wissen nur, dass elf Leute über die Mauer gekommen sind und sich zielgerichtet auf dieses Gebäude zubewegen.“
Bei der Erwähnung von elf Leuten hob Oliver Neubert alarmiert seinen Kopf, sagte aber nichts. Es konnte ja schließlich auch ein Zufall sein.
„Im äußersten Notfall werden wir uns hier verteidigen müssen. Der Einsatz offensichtlicher Magie ist vorerst nicht erlaubt. Wir wissen nicht, wie sich die Lage entwickelt und können uns keine Bekanntgabe magischer Aktivitäten erlauben. Aber wir haben ja noch andere Möglichkeiten.“
Hendrik überflog die Liste, die Lars ihm gegeben hatte.
„Tim bleibt bei Sebastian. Ihr seid das Sanitäts-Element. Keine irgendwie gearteten Kampfhandlungen. Ihr haltet euch im Hintergrund und werdet nur auf Anforderung aktiv.“
Tim verzog etwas das Gesicht, doch Sebastian nickte.
„Gut. Dann haben wir zwei Astralmagier. Der Unterricht ist ja so gut wie abgeschlossen. Daniel, traust du dir eine Astralprojektion zu?“
Daniel Bauer machte dicke Backen. Etwas unsicher sah er zu Lars Meinhardt. Der sah kurz durch die Reihen.
„Wir nehmen Florian als Batterie. Das müsste reichen.“
Einige der Schüler sahen sich fragend an, doch Florian stand schon auf und ging zu Daniel. Sie hatten bei ihren Einsätzen mit der SMU mitbekommen, um was es sich bei einer ‚Batterie‘ handelte.
„Die übrigen Kampfmagier sollten sich auf einen Nahkampf einstellen. Ich weiß, dass einige im waffenlosen Kampf nicht besonders herausragend sind, doch gegen einen einzelnen Gegner sollten eure Kenntnisse ausreichen.“
Christian Lundquist wandte sich an Hendrik.
„Wir haben nur noch vier Kampfmagier übrig. Sollen wir zwei Einsatzgruppen bilden?“
Hendrik sah noch einmal auf seine Liste.
„Ok. Du bist zwar kein Kampfmagier, hast aber die meiste Kampferfahrung. Wir machen zwei Gruppen. Du nimmst Leon und Oliver, ich nehme Lennart und Julian. Felix verteidigt beide Astralmagier und Florian ist Batterie. Tim bleibt bei Sebastian. Jemanden vergessen?“
„Was ist mit Niklas und den drei Bannmagiern? Ich weiß, wir wollen keine auffälligen magischen Aktivitäten, aber wir sollten alle einbinden.“
Hendrik zögerte ein wenig, dann glitt ein Lächeln über sein Gesicht.
„Torben und Prasong bleiben hier. Nötigenfalls versiegeln sie den Raum von innen mit einer physischen Barriere. Aber das darf wirklich nur die allerletzte Möglichkeit sein. Luca und Niklas können sich ja mal was ausdenken, wie das Gebäude verteidigt werden kann, ohne dass direkt ein magischer Einfluss bemerkt wird.“
Niklas zuckte mit den Schultern und auch Luca machte ein ratloses Gesicht.
„Na, habt ihr nicht den Film gesehen, mit dem kleinen Jungen ganz allein zu Haus?“
Niklas und Luca grinsten beide plötzlich sehr breit.
„Dann ist das ja geklärt. So, als erstes startet dann die Astralprojektion.“
Daniel und Florian hatten inzwischen alle vom Bett verscheucht und streckten sich nun nebeneinander darauf aus. Florian nahm Daniels Hand.
„Geht das so?“
„Ist okay. Ich löse mich dann.“
Für die Umstehenden schien Daniel zu schlafen, doch Lars konnte mit seiner Astralsicht erkennen, wie sich die Projektion aus Daniels Körper erhob, langsam nach oben schwebte und durch die Decke entschwand. Automatisch sah Lars auf die Uhr. Wenn Daniel sich verzettelte, würde ihn einer der Bannmagier zurückholen müssen.
In der Polizeistation Oberwies knipste Polizeikommissar Martin Franckh das Licht auf seinem Schreibtisch aus. Den Anruf der Pflugleitnerin hatte das Telefon der Dienststelle auf sein Handy umgeleitet und so war er mitten in der Nacht herausgeklingelt worden. Er hatte schon öfter Bereitschaftsdienst gehabt, doch noch nie hatte jemand nachts angerufen.
Na gut, zugegeben. Er war auch erst seit zwei Monaten in Oberwies. Nach dem sehr unschönen Zwischenfall in Nürnberg hatte man sich entschlossen, ihn aufs Land zu versetzen. Die gesamte Polizeistation bestand aus drei Beamten. Einem Kommissar als Leiter und zwei Polizeimeistern. Wobei der zweite Meister eigentlich eine Meisterin war. Polizeihauptmeisterin Angelika Mann kam aus dem Ort und war schon seit über 20 Jahren in der Polizeistation Oberwies. Sie war so eine Art Original in der Gegend. Polizeiobermeister Josef Nadolner war ebenfalls schon etliche Jahre in Oberwies. Beide waren nicht sonderlich begeistert gewesen, einen 24jährigen Kommissar als neuen Leiter zu bekommen.
Martin Franckh hatte nach dem Anruf der Pflugleitnerin nicht mehr schlafen können. Die Beschreibung dieser Motorradgang ließ ihn nicht mehr ruhen. Kurz entschlossen zog er sich an und ging die Treppe hinunter von seiner Dienstwohnung in die Polizeistation. Von dort rief er den Direktor des Internats an. Der schien über die nächtliche Störung ebenfalls nicht sehr erfreut zu sein. Polizeimeister Franckh machte eine Notiz über den Anruf und löschte dann das Licht. Auf dem Weg nach draußen machte er kehrt und holte die Schlüssel für den Dienstwagen aus dem Tresor. Er würde selbst nachsehen, was an dieser merkwürdigen Geschichte dran war.
Die Aufklärungsergebnisse der Gestaltwandler waren eindeutig. Rings um das Lager waren keine verdächtigen Personen oder andere Bewegungen auszumachen. Michael und Alexander beratschlagten zusammen mit Major Niedermüller ihre nächsten Schritte.
„Uns bleibt eigentlich gar nichts anderes übrig, als ein paar Beobachtungsposten rauszustellen, die im Fall einer Annäherung Alarm geben.“
„In ihrer Tiergestalt?“
„Im Dunkeln dürfte das kein Problem sein. Nur Herrn Vahrenholz möchte ich nicht so gerne da draußen haben. So ganz kann er sich nicht beherrschen, sollten wir tatsächlich angegriffen werden.“
„Hm, dann hätten wir elf Mann, davon neun in Tiergestalt.“
„Zwölf. Leutnant Sendler geht ebenfalls mit raus. Ich würde vorschlagen, jeweils drei Mann für zwei Stunden.“
Alexander nickte.
„Wir machen einen Schichtplan. Micha, rufst du alle zusammen?“
So kam es, dass auch ein zu groß geratener braun-weißer Schneehase sichernd durch das Unterholz hoppelte. Das am Rücken und an den Seiten braune Sommerfell ließ den Hasen nicht ganz so auffällig erscheinen.
Ein Geräusch ertönte von der Straße her und der Hase stellte seine Löffel auf. Als er sich der Straße näherte, sah er einen Dienstwagen der Polizei auf den Parkplatz am Waldrand fahren. Neugierig beobachtete er weiter, wie ein einzelner Beamter ausstieg, den Wagen abschloss und mit einer Taschenlampe suchend den Parkplatz abging. Als sich der Beamte bei seiner Suche dem Weg näherte, der in den Wald führte, stellte sich ihm der Hase in den Weg.
Polizeikommissar Franckh fuhr die Strecke ab, die die Motorradfahrer hätten nehmen müssen, wenn sie zum Internat gewollt hätten. Beim Parkplatz des Waldsees kam ihm ein Gedanke. Unten am See gab es ja noch die Ferienhütten. Da konnte er auch mal nach dem Rechten sehen. Er stellte den Wagen ab, stieg aus und untersuchte den Schotterplatz auf Spuren von Motorrädern. Auf Anhieb war nichts zu erkennen. Auch auf dem Weg in den Wald war nichts zu bemerken. Plötzlich raschelte es im Gebüsch und ein etwa anderthalb Meter langer Hase kam hervor und setzte sich vor ihm auf den Weg.
Martin Franckh erstarrte einen Moment lang, dann wurden seine Augen groß.
„Marcel?“
Der Hase setzte sich auf seine Hinterbeine und erhob sich. Er hob seine rechte Pfote zum Kopf und legte sie vor sein Maul.
Martin Franckh nickte nur.
Dann wies der Hase mit der Pfote in den Wald. Stumm machte sich Kommissar Franckh auf den Weg.
Im Lager ertönte plötzlich eine leise Stimme und ließ Alexander herumfahren.
„Hey, Leute. Marcel hat einen Gefangenen gemacht.“
Erstaunt sah Alexander, wie ein Polizeibeamter auf dem Weg herankam und direkt dahinter Marcel in seiner Tierform.
Major Niedermüller war herangekommen und ebenso Michael.
„Guten Morgen. Mein Name ist Alexander Sarutin. Was führt sie in unser Jugendcamp?“
Der Polizeibeamte sah nach rechts, wo der Hase direkt neben ihm stehen geblieben war. Etwas geistesabwesend begann er, den Hasen hinter den Ohren zu kraulen.
„Guten Morgen, mein Name ist…“
Ein tiefes Knurren unterbrach ihn und dicht neben dem Hasen tauchte nun ein großer grauer Wolf auf. Etwas erschreckt zog der Polizist seine Hand zurück, lächelte aber leicht. Dann drehte er sich so, dass er den Wolf direkt ansah.
„Wie ich gerade sagen wollte. Mein Name ist Martin Franckh und dieses Schneehaserl ist mein kleiner Bruder Marcel.“
Nordrhein-Westfalen, Deutschland, Anno Domini 2018
Kevin schreckte hoch, als mitten in der Nacht sein Handy einen Alarmton abgab. Verschlafen hörte er die Nachricht ab und war danach hell wach. Er drehte sich nach rechts und erwischte Robin.
„Was…?“
„Alarm. Alle sofort in die Einsatzzentrale.“
Robin stellte keine Fragen. Ohne sich mit Anziehen aufzuhalten lief er los. Lucas war inzwischen ebenfalls wach geworden.
„Was Ernstes?“
„Erzähl ich dir unterwegs.“
In der Einsatzzentrale waren noch nicht alle eingetroffen, doch Robin scheuchte gerade die letzten vor sich her.
„Aufpassen, Leute. Ich weiß, es ist mitten in der Nacht, aber es haben sich Dinge ereignet, die sofortige Maßnahmen erfordern.“
Einige der noch müden Gesichter wurden jetzt angespannt.
„Vor etwa einer Viertelstunde sind zeitgleich alle drei Hauptquartiere der Einsatzbataillone in Deutschland überfallen worden. An allen drei Orten wurden mehrere Tore geöffnet und zwar innerhalb der entsprechenden Gebäude.“
Kevin ließ die Nachricht einsinken. Er erntete nur erstauntes Schweigen.
„Ebenso hat vor ein paar Minuten ein Überfall auf Haus Birkenstein begonnen. Dort ist angeblich eine Motorradgang eingedrungen. Genaues weiß ich auch nicht.“
„Was?! Was ist mit dem Gestaltwandlercamp?“
„Ruhe bitte. Ich habe auch von dort noch keine weiteren Informationen. Wir müssen davon ausgehen, dass noch einige weitere Verstecke der Organisation betroffen sind. Lucas hat bereits das Schloss astral abgesucht und keine Anzeichen für ein Tor oder einen Anker entdeckt. Auch nicht in der unmittelbaren Umgebung. Wir werden…“
Kevin wurde von einem durchdringenden Ton auf Luciens Tablet unterbrochen. Lucien sah auf die Anzeige und nickte.
„Einbruchsalarm. Perimeterwarnung innerhalb des Vorwerks. Mehrere Personen. Sie sind noch nicht auf der Brücke.“
Kevin sah kurz Lucas an, dann Lucien.
„Lucien, your job.“
Als Sicherheitsoffizier hatte Lucien zusammen mit Robin und Tobias verschiedene Pläne ausgearbeitet für den Fall, dass in das Schloss tatsächlich einmal eingebrochen werden sollte. Die meisten Fälle waren auf Einbruch oder Vandalismus ausgerichtet, einige allerdings auch auf das Auftauchen oder Öffnen eines Tores.
„Bandenmäßiger Überfall. Los, alle umziehen in Kampfkombi. Die Unterstützungsgruppe besetzt das Lagezentrum und das Lazarett. Max macht Lage und Timo Lazarett. Kevin und Lucas als Team 1 in die Halle. Ich geh mit Tobias als Team 2 zum Westturm, Sven und Dorian als Team 3 zum Ostturm. Rafael geht mit Sven und Dorian. Robin zu Kevin und Lucas, Kyan mit Tobias und mir. Die Headsets auf die Kanäle 1 bis 3 für die Teams, 4 für Max und die Teamleader, 5 für den Support. Koordination hat Max im Lagezentrum.“
„Ihr habt’s gehört, Leute. Alle umziehen und auf Position.“
So schnell hatte Kevin seine Leute nur selten gesehen. Auch er und Lucas rannten zu den Spinden neben der Einsatzzentrale. Der Kampfkombi war ein einteiliger schwarzer Kombi mit Kampfstiefeln. Kevin zog sein Headset aus einem Fach und sah Robin, der mit Lucien diskutierte.
„Keine Diskussionen! Lucien hat das Sagen.“
Robin sah frustriert zu seinem Spind und zog den Kombi heraus. Kyan hatte ihn schon angelegt. Es war sicherer, in solch einer Situation keine Gestaltwandler einzusetzen.
Über das Headset kamen die ersten Nachrichten rein.
„Sie sind an der Brücke. Die Überwachung zeigt neun Mann. Jetzt teilen sie sich auf. Dem Verhalten nach haben sie eine militärische Ausbildung. Es sind drei Gruppen zu jeweils drei Mann. Eine Gruppe sichert die Brücke. Sie gehen noch nicht rüber.“
Luciens Stimme ertönte.
„Was machen die anderen beiden Gruppen?“
„Sie gehen am Wasser entlang. Bis vor die Türme. Sie haben… oh, Rauchbomben.“
„Infrarotüberwachung.“
„Läuft. Sie haben kleine Schlauchboote ausgebracht. Die Gruppen im Osten und Westen setzen über und werden direkt vor den Türmen anlanden.“
Lucien traf eine schnelle Entscheidung.
„Teams 2 und 3 aufpassen. Wir entriegeln die Sicherheitseinrichtungen der Fenster. Ich möchte sie hier drin haben. Falls jemand von außen beobachtet, braucht er nicht zu wissen, was wir hier machen. Wenn möglich nur betäuben.“
Max meldete weiter den Fortschritt der Eindringlinge.
„Sie sind jetzt an den Fenstern der Türme. Die dritte Gruppe rückt jetzt vor zur Tür. Aufpassen auf Blendgranaten oder Handgranaten. Eine weitere Bewaffnung ist nicht erkennbar. Feuer erst eröffnen, wenn alle drin sind.“
Kevin konnte trotz der Dunkelheit erkennen, dass sich die Tür zur Halle öffnete. Drei maskierte Gestalten schlichen durch die Tür und verteilten sich im schummrigen Licht der Nachtbeleuchtung.
Kevin orientierte sich kurz.
„Ich nehm‘ den linken mit Betäubungsblitz. Lucas, du den rechten mit Manablitz. Danach sofort Stellungswechsel. Achtung, jetzt.“
Kevin streckte den ersten Gegner mit dem angesagten Betäubungsblitz nieder, Lucas setzte seinen Astralblitz ein. Die Gegner waren sehr gut ausgebildet. Als die ersten Blitze zuckten, schmiss sich der verbliebene Angreifer hinter die erstbeste Deckung. Noch während dieser sich bewegte, wechselten auch Kevin, Lucas und Robin ihre Positionen. Ein Gegenstand kam geflogen und blieb kullernd in der Mitte der Halle liegen.
„Granate!“
Die drei Verteidiger machten sich so klein wie möglich und wandten ihre Gesichter ab. Ein tagheller Blitz erleuchtete die Halle.
„Lucas, Manablitz.“
Lucas sah aus seiner Deckung hervor und wie vermutet, war auch sein Gegner aufgetaucht. Die Blendgranate hatte allerdings nicht die erhoffte Wirkung gezeigt und der Manablitz fand sein Ziel.
„Team 1, Gegner bekämpft.“
Team 2 hatte nicht so viel Glück. Das Erdgeschoss des Westturms bestand lediglich aus einer freien Fläche, in den die Gänge nach Osten und Süden mündeten. Auf der Westseite war noch die Treppe für den Aufgang nach oben. Lucien hatte sich und Tobias im Ostgang stationiert, Kyan stand oben auf der aufwärts führenden Treppe.
Da der Turm zur Nordseite lediglich zwei Fenster besaß, mussten die Angreifer sich nacheinander durch die Engstellen arbeiten. Lucien wartete, bis alle drin waren, um nicht einen entkommen zu lassen. Die beiden ersten sahen sich bereits um und als sie keine Deckung finden konnten, arbeiteten sie sich auf die Gangmündungen zu.
„Toby, lass ihn nicht im Gang verschwinden.“
Tobias betrachtete den Satz als Aufforderung und ein Betäubungsblitz legte den ersten Angreifer flach. Die beiden anderen reagierten sofort. Derjenige, der sich noch in der Fensteröffnung befand, ließ sich einfach rückwärts fallen und war damit außer Sichtweite. Der dritte riss eine Waffe hoch, doch noch bevor ein Schuss fiel, sackte er von einem Betäubungsblitz getroffen zusammen. Tobias rannte nach seinem Einsatz zu den Fenstern und spähte vorsichtig hinaus.
„Team 2. Ein Angreifer entkommen. Ist er draußen zu sehen?“
Prompt kam die Antwort von Max.
„Er ist an der Außenmauer auf der Westseite.“
„Mist. Dann müssen wir durch den ganzen Westflügel.“
„Negativ. Ihr geht durch die Fenster raus. Team 1 geht über den Innenhof zur Südwestecke. Dann habt ihr ihn von beiden Seiten.“
Lucien, Tobias und Kyan kletterten aus den Fenstern und schlichen an der Biegung des Turms entlang. Lucien überlegte einen Moment lang, eine Barriere einzusetzen, doch bei der herrschenden Dunkelheit würden sie dann kilometerweit zu sehen sein.
„Team 2 von Team 1. Wir sind jetzt an der Südwestecke. Unser Ziel ist ziemlich genau auf halber Strecke. Er erwartet wahrscheinlich einen Angriff von eurer Seite aus. Zeigt euch kurz zur Ablenkung und wir erledigen den Rest.“
„Team 2 verstanden. Sind auf dem Weg.“
Der Rest verlief wie besprochen. Tobias kam geduckt um die Kurve und verursachte dabei ein kleines Geräusch. Der Gegner reagierte sofort und fuhr herum. In diesem Moment schlug ein roter Blitz bei ihm ein.
„Team 2, Gegner bekämpft.“
Team 3 war etwas erfolgreicher. Anscheinend standen die Angreifer nicht in Verbindung miteinander, sonst wäre es vermutlich nicht so einfach gewesen.
Dorian hatte Sven auf der abwärts führenden Treppe stationiert. Im Ostturm führte die Treppe im Gegensatz zum Westturm sowohl aufwärts als auch abwärts. Dorian und Rafael standen im Gang nach Westen.
Auch hier kamen die Angreifer nacheinander durch die beiden Fenster. Dorian ließ sie weiter in den Raum eindringen und wartete, bis alle drei durch die Fenster waren.
„Sven, Blendgranate. Drei, zwei, eins, jetzt!“
Alle wandten sich ab, als die Blendgranate genau zwischen den drei Angreifern explodierte. Dorian und Rafael konnten die zwei am nächsten stehenden mit einem Betäubungsblitz ausschalten, der letzte versuchte zu entkommen. Noch etwas orientierungslos rannte er auf die Treppe zu.
Sven setzte einen der am wenigsten gebräuchlichen Zauber der Elementare ein, den Luftstoß. Ein Schwall verdichteter Luft traf den Angreifer und warf ihn zu Boden. Dorian schickte einen Betäubungsblitz hinterher.
„Team 3, Gegner bekämpft.“
Die Nachbesprechung des Einsatzes fand im Konferenzraum statt. Nach einer Zusammenfassung des Ablaufes durch Max, ging Tobias auf die taktischen Fehler ein, die gemacht worden waren. An der Kommunikation musste noch deutlich gearbeitet werden.
Der Nächste mit einem Bericht war Timo.
„Neun Personen, alle männlich, zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Keine besonderen Kennzeichen. Die Betäubten werden noch etwa vier Stunden schlafen, die von einem Manablitz getroffenen wohl noch sechs bis zehn Stunden.“
Robin und Kyan hatten sich die Ausrüstung näher angesehen.
„Bekleidet waren sie mit schwarzen Kampfanzügen und Springerstiefeln. Die Anzüge tragen keinerlei Hinweise. Die Ausrüstung besteht aus einem Gefechtsgeschirr mit Rucksack. Im Rucksack jeweils ein Seil und eine Kletterausrüstung. Sie hatten keine Bewaffnung im eigentlichen Sinn, also keine Feuerwaffen. Allerdings hat bei jeder Gruppe einer eine kleine Besonderheit dabei gehabt.“
Vorsichtig legte Robin eine kleine Pistole und ein dazu gehöriges Magazin auf den Tisch.
„Dies ist eine Gasdruckpistole. Sie verschießt diese kleinen Pfeile, von denen jeweils vier Stück in einem Magazin sind. Jeder der drei Männer hatte eine Pistole und zwei Magazine, bei denen die Pfeile unterschiedliche farbige Markierungen haben. Hier, ein Magazin mit gelb und ein Magazin mit rot beringten Pfeilen. Wir wissen noch nicht, was die Pfeile verursachen sollten, tippen aber auf ein Betäubungsgift oder etwas Ähnliches.“
Kevin schüttelte ratlos den Kopf. Das konnte warten. Es gab Wichtigeres.
„Irgendwelche neuen Nachrichten von den anderen Zwischenfällen? Was ist mit Birkenstein und den Gestaltwandlern?“
Max saß noch an einer der Konsolen, während Tobias sein Tablet bemühte.
„Die Einsatzbataillone haben nach Plan reagiert und ihre dislozierten Kompanien zurückgerufen. Haus Birkenstein ist in die Selbstverteidigung gegangen. Das Gestaltwandlercamp meldet keine erkennbaren Bedrohungen.“
„Die Gestaltwandler sollen bleiben wo sie sind.“
Kevin merkte erst nach ein paar Sekunden, dass ihn alle ansahen. Lucien hob eine Augenbraue.
„Wieso gibst du die Anweisungen? Wo ist der Divisionsstab?“
Max wurde hektisch.
„Auf der Kommandoebene ist Schweigen. Die Bataillone und der Regimentskommandeur versuchen schon eine ganze Weile den Divisionsstab zu erreichen.“
„Moment mal. Also die Bataillone sind in Aachen, in Neustrelitz und in Donauwörth. Das Regiment ist in Berchtesgaden. Der Divisionsstab ist westlich von Frankfurt am Main. Die Bataillone haben ihre Kompanien zusammengezogen. Von denen kann keiner so schnell nach Frankfurt.“
Robin hatte eine Deutschlandkarte auf die Leinwand projiziert.
„Da, am nächsten dran wäre die Kompanie aus Heidelberg, aber die ist ja unterwegs nach Donauwörth. Ich würde sagen, wir sind am nächsten dran.“
Lucien und Max flüsterten hektisch, bis Lucien den Kopf hob.
„Es sieht so aus, als ob auf alle Einrichtungen der Organisation Überfälle erfolgt sind. Die Bataillone wurden in ihren Einsatzmöglichkeiten gehindert, die Schule wird belagert und die SMU sollte ausgeschaltet werden. Der Divisionsstab wurde zum Schweigen gebracht. Die Frage ist, warum? Was gibt es noch, was so wichtig ist, dass man die gesamte Organisation ausschaltet. Und wie war das möglich?“
Kevin und Lucas erbleichten gleichzeitig.
„Im Hauptquartier der Division ist auch der Exekutivrat untergebracht!“
Max und Lucien sahen sich an.
„Damit ist dann wohl klar wie das passieren konnte. Wir haben einen Insidertäter.“
Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2018
Lars sah fortgesetzt auf seine Uhr und wurde langsam nervös. Sein Blick suchte Prasong Heimann. Er war der Beste der Bannmagier und würde den Trennzauber richtig hinbekommen. In diesem Moment bewegte sich Daniel.
„Puh, ich wollte dich gerade trennen lassen.“
Daniel schüttelte darauf den Kopf und atmete etwas schwer.
„Huh. War gar nicht so einfach. Wenn ich richtig gezählt habe sind es elf Personen, die sich um unser Wohngebäude verteilt haben. Sie stehen überall an den Fenstern. Sieht fast so aus, als ob sie etwas oder jemanden suchen.“
Oliver rutschte immer nervöser hin und her.
„Hat die Zentrale gesagt, ob noch mehr über die Leute bekannt ist?“
Alle drehten sich zu ihm um und Hendrik hob seine Augenbrauen.
„Angeblich soll eine Motoradgang in der Nähe gesehen worden sein.“
„Scheiße.“
„Bitte? Aber erzähl mal. Du scheinst mehr zu wissen.“
Oliver warf Torben, der neben ihm saß, einen entschuldigenden Blick zu.
„Das können die Border-Liner sein.“
Jetzt gab es weitere hochgezogene Augenbrauen.
„Nein, nein. Das hat nix mit der Krankheit zu tun. Die kommen aus der Nähe von Aachen und kreuzen im Dreiländereck, deswegen Border. Mein Alter ist der Häuptling der Gang.“
„Was? Noch mal. Das ist eine Motorradgang und dein Vater ist da der Boss?“
Oliver nickte stumm.
„Und wie kommst du drauf, dass es ausgerechnet die sind?“
„Ist eigentlich nur eine Vermutung. Die Gang hat genau elf Mitglieder. Seit Jahren schon. Der Alte hat mal gesagt, er fühlt sich dabei wie Jesus.“
„Okay. Und was vermutest du, wollen die hier?“
„Mich.“
Hendrik atmete zischend aus.
„Okay. Dann ganz von vorne.“
„Da jibbet net viel zu erzählen. Mir send aus einem ganz kleinen Kaff, direkt am Dreiländereck. Wor net völ los. Früher ist der Alte immer rüber nach Holland und hat Hasch geschmuggelt, ewwer dat lohnt sich schon lang net mieh.“
Torben flüsterte Oliver etwas ins Ohr, der ihn daraufhin merkwürdig ansah. Oliver schien sich zu konzentrieren.
„Der Alte ist dann Mitglied in einer Motorradgang geworden. Ziemlich merkwürdige Typen. Im Laufe der Zeit haben sie die ganzen Kleinkriminellen eingeschüchtert und für sich eingespannt. Mein älterer Bruder ist da ebenfalls Mitglied.“
Oliver entspannte sich etwas und lehnte sich an Torben.
„Ich hab immer versucht, unauffällig zu bleiben. Die letzten Jahre haben der Alte und mein Bruder immer nur um die Wette gesoffen. Andere Kinder bekamen Ärger wenn sie mit einer Fünf nach Hause kamen, ich kriegte bei einer Zwei den Arsch voll. ‚Mir bruche kin Besserwisser. Mir sönd Arbejde‘. Na, wohl eher Säufer. Mir wurde beigebracht wie man Leute beklaut, im Laden was mitgehen lässt oder einen Bruch macht. Hat man zumindest versucht. Isch wor för als ze blöd. Isch kunnt misch net ens gegenüber von Jüngeren durchsetzen.“
Torben hatte inzwischen einen Arm um Oliver gelegt. Oliver sah ihn kurz an und seufzte.
„Und dann kam der Typ vom Jugendamt. Nach den ganzen Anzeigen wollte man dem Alten die Erziehungsberechtigung entziehen. Ich sollte in ein Internat gesteckt werden. Na, egal was er sonst von mir gehalten hat, aber da ging es plötzlich gegen seine Familie. Bei dem Polizeieinsatz haben sie zwölf Beamte gebraucht um die Ruhe wiederherzustellen. Dann kam auch der Typ von der Stiftung dazu. Ich weiß nicht, was er dem Alten erzählt hat, aber der hat sofort unterschrieben und auf alle Rechte verzichtet. Ich nehme mal an, der hat ihm unter irgendeinem Vorwand Geld versprochen.“
Lars runzelte die Stirn.
„Ja, und nun?“
„Na ja. Ich hab vor zwei Monaten Post bekommen. Der Alte hat tatsächlich geschrieben. Hätte nicht gedacht, dass er das überhaupt kann. Die paar Kröten waren ihm wohl zu wenig und er hat bei der Stiftung nachgefragt, ob die nicht mehr zahlen würden. Als sie abgelehnt haben, kam er auf den Trichter, mich hier befreien zu wollen.“
„Befreien?“
Oliver seufzte und nickte. Ihm selbst war nicht aufgefallen, dass er bei der Schilderung seiner Vergangenheit an einigen Stellen in seine alte Mundart gefallen war. Die anderen hatten ihm etwas überrascht zugehört, doch jetzt war auf einmal Schluss damit und er sprach wieder akzentfreies Hochdeutsch.
„Er hat mir geschrieben, dass ich nun gefälligst einer Arbeit nachzugehen hätte, weil die Zahlungen der Stiftung nicht ausreichen würden. Ich sollte mich schon mal darauf einstellen, der Familie die Dienste zu erweisen, die ihr zukommen würden. Er hätte einen Hinweis bekommen, wo ich wäre und würde mich aus den Klauen dieser Organisation befreien.“
„Was? Das hat er so formuliert?“
Oliver nickte etwas niedergeschlagen.
„Ich hab mir nichts dabei gedacht, als ich es gelesen habe. Aber jetzt ist es schon etwas auffällig.“
„Das ändert aber die ganze Lage. Wir müssen sie nicht nur zurückschlagen, sondern festsetzen und verhören.“
„Du meinst, es gibt da eine undichte Stelle?“
„Hoffentlich nicht.“
Christian sah prüfend zu Leon und Julian. Leon hatte bis jetzt ruhig den Gesprächen gelauscht und sich dabei an Christian angelehnt. Julian flüsterte währenddessen immer mal ganz kurz mit Niklas. Sie würden die Initiative ergreifen müssen, sonst würden sie noch stundenlang hier sitzen.
„Hendrik, ich habe eine Idee. Ich gehe mit Leon und Julian in eines der Zimmer und du lässt das Fenster durch die Zentrale wieder entriegeln. Sobald einer einsteigt, nehmen wir ihn hops.“
Hendrik runzelte die Stirn.
„Ganz schön riskant. Was ist, wenn mehr als einer einsteigt?“
„Die Zentrale kann doch sehen, wie viele vor dem Fenstere stehen. Sollte er seine Kumpel rufen, wird wieder verriegelt.“
Hendrik sah Lars an, doch der zuckte nur mit den Schultern.
„Und dann? Mehr als zweimal funktioniert das nicht. Die merken doch, was los ist.“
„Dann müssen wir uns was anderes einfallen lassen. Das ist der Zehn-kleine-Negerlein-Effekt. Langsam aber sicher verschwindet einer nach dem anderen.“
Oliver nickte hektisch.
„Das könnte klappen. Die sind nicht gerade die Hellsten. Aber Vorsicht beim Nahkampf. Die arbeiten mit allen Tricks. Prügeln haben die richtig gut drauf.“
Am Schreibtisch wurde es gerade etwas laut. Alle drei Bannmagier hatten sich dort versammelt und diskutierten, wobei Torben und Luca auf Prasong einredeten, der vehement den Kopf schüttelte.
„Das geht so nicht! Wir dürfen nicht einfach einen Spruch verändern. Was ist, wenn dabei etwas schief geht?“
Hendrik räusperte sich.
„Dürfen wir auch an der Weisheit der Bannmagier teilhaben?“
Prasong fuhr zusammen und sah unsicher zu Hendrik.
„Hm, ja. Also wir diskutieren gerade über die Sichtbarkeit von Magie. Wenn ich es richtig verstanden habe, sollen wir keine Magie anwenden, weil die Opfer ja später erzählen könnten, was sie gesehen haben.“
Hendrik nickte.
„Unsichtbar ist lediglich ein Teil der Astralmagie. Sichtbar ist immer ein Blitz oder eine Aura, die den Magier oder das Opfer umgibt.“
Prasong schwieg, als ob er über etwas nachdenken müsste.
„Ja, weiter.“
„Also, alles was eine Aura erzeugt kommt nicht in Frage. Bleiben noch die Blitze. Sie transportieren die kanalisierte Magie zum Ziel. Beim Auftreffen kommt es zur Wirkung. Dabei ist die Entfernung zum Ziel nicht von Bedeutung, zumindest nicht in Bereichen bis zu zwanzig Metern. Was passiert, wenn ich jemandem einen Blitz verpasse mit der Entfernung Null?“
„Du meinst, in dem ich meine Hand direkt auf das Opfer lege?“
„Genau. Erleidet dann der Magier ebenfalls die Wirkung?“
Leon schüttelte ebenso den Kopf wie Hendrik und Lennart.
„Nein. Du hast nicht aufgepasst bei der Erstellung. Mit der Intention wird auch das Ziel vorgegeben. Die Magie wirkt auf das Ziel und sonst nirgends. Und du hast Recht. Die Stärke bestimmt die Wirkung und hat nichts mit der Entfernung zu tun.“
Florian lag immer noch leicht müde auf dem Bett, erhob sich jetzt aber und ging hinüber zu seinem Partner. Prasong sah ihn fragend an, als Florian ihm eine Hand an die Wange hielt.
„Sorry, Prasong.“
Geschickt fing Florian den Bannmagier auf, der bewusstlos vor ihm zusammengesunken war. Alle starrten Florian an, der Prasong vorsichtig auf den Fußboden legte. Hendrik schüttelte nur den Kopf.
„Du hättest auch was sagen können. Aber das müsst ihr unter euch ausmachen. So wie es aussieht, funktioniert es tatsächlich.“
Prasong stöhnte leise und richtete sich etwas auf. Halb ärgerlich, halb belustigt funkelte er seinen Partner an.
„Du hättest auch was sagen können. Ich kann gerne auf weitere Selbstversuche verzichten.“
Florian beugte sich herunter und gab Prasong einen Kuss.
„Das war ein Opfer für die Wissenschaft. Für deine übrigens auch. Ich musste den Spruch überhaupt nicht verändern. Er wirkt auf jede Entfernung gleich. Auch bei null.“
„Interessant. Da müssten wir mal ausprobieren, wie weit denn die maximale Reichweite…“
Prasong verstummte, als Hendrik sich zum wiederholten Mal räusperte.
„Das lassen wir mal bis zum nächsten Unterricht. Ich würde sagen, wir probieren die Nummer mit den offenen Fenstern. Und zwar mit beiden Kampfmagiergruppen in gegenüberliegenden Räumen des Gebäudes.“
Christian und Leon erhoben sich sofort und auch Julian löste sich von Niklas. Lennart hatte ohnehin schon die ganze Zeit an einer Wand gelehnt und Oliver erhob sich, nachdem er Torben einen Kuss gegeben hatte.
Hendrik sah auf den Lageplan, während Lars mit Doktor Berg telefonierte. Der Direktor war von der Idee, die Initiative zu ergreifen, nicht besonders begeistert, stimmte aber zu.
Hendrik sah der Reihe nach Christian und die Kampfmagier an.
„Es geht los. Ich würde sagen, wir nehmen die Zimmer, ziemlich in der Mitte des Gebäudes. Also 405 und 406.“
Christian und Leon sahen sich grinsend an.
„Ich hoffe, du hast aufgeräumt.“
Das ‚Schneehaserl‘ gab einen unbestimmbaren Laut von sich und hoppelte in Richtung einer Hütte davon, dicht gefolgt von dem Wolf.
„Entschuldigung, Herr Franckh, aber was führt sie denn zu dieser Zeit hier her zu uns?“
Alexander deutete auf die Gemeinschaftshütte und Martin Franckh, sowie Michael und der Major folgten ihm. Drinnen nahmen sie Platz und der Kommissar erzählte von dem nächtlichen Anruf und seinen weiteren Maßnahmen.
Inzwischen waren auch Marcel und Fabian in ihrer menschlichen Gestalt eingetroffen. Martin beobachtete seinen Bruder einen Moment lang und wandte sich dann an Fabian.
„Ich nehme an, Sie sind der Wolf. Ist diese Partnerwahl nicht etwas ungewöhnlich?“
Fabian sah Martin erstaunt an und auch die anderen waren überrascht. Marcel seufzte.
„Martin weiß es schon, seit ich mich das erste Mal gewandelt habe. Er hatte Urlaub von der Polizeiakademie und musste bei mir im Zimmer übernachten. Mitten in der Nacht hat es mich dann getroffen. Ich hatte schon zweimal vorher so merkwürdige Alpträume, aber da wurden die dann plötzlich Wirklichkeit. Beim ersten Mal war es noch richtig schmerzhaft und ich hab‘ wohl ziemlich laut geschrien.“
„Kann man wohl sagen. Ich bin von seinem Schrei hochgeschreckt und will nach Marcel sehen, da liegt ein ziemlich großer Schneehase in seinem Bett. Erst hab‘ ich gedacht, da macht sich jemand einen Scherz, doch dann wurde mir klar, dass es einen so großen Schneehasen niemals geben konnte.“
Martin Franckh beugte sich über den zitternden Schneehasen und strich ihm vorsichtig über das glänzend weiße Winterfell. Was war hier passiert? Wenn das wirklich Marcel war, musste er wohl alles überdenken, was er bisher gelernt hatte. Hatten diese Fantasy-Geschichten etwa doch einen wahren Kern? Aber viel wichtiger, wie kam sein Bruder wieder in seine menschliche Gestalt zurück? Martin strich dem Hasen noch einmal über das Fell.
„Kannst du mich hören?“
Der Hase richtete seine Löffel auf und hob seinen Kopf. Anscheinend ja.
„Du weißt, was passiert ist?“
Der Hase schüttelte den Kopf.
Martin deutete auf den Kleiderschrank mit dem großen Spiegel. Im Dunkel des Schlafzimmers war nicht viel zu erkennen, also öffnete Martin das Fenster und ließ das schwache Mondlicht herein.
Der Hase stieß ein schrilles Quieken aus und rannte erst zum Spiegel, dann zur Tür. Dort musste er feststellen, dass er sie in seiner jetzigen Gestalt nicht öffnen konnte.
Martin packte den Hasen am Genick und versuchte ihn anzuheben. Puh, der musste ja mindestens 30 Kilo wiegen. Mit beiden Armen hievte er ihn dann auf das Bett.
„Marcel.“
Der Hase reagierte nicht, sondern zitterte unkontrolliert.
„Marcel! Hör mir zu!“
Das Zittern ließ nach und der Hase – nein, Marcel sah ihn an.
„Kannst du dich zurückverwandeln?“
Nach einem Moment stieß der Hase einen klagenden Laut aus und begann wieder zu zittern.
„Hör mir zu. Du musst dich auf dich selbst konzentrieren. Versuch einfach, dir vorzustellen, wie du aussiehst. Dein Gesicht, deine Haare, dein Körper. Alles an dir, bis zum letzten Schamhaar.“
Martin musste innerlich grinsen, denn das war ein Insiderwitz gewesen. Marcel hatte mit vierzehn noch fast gar keine Schamhaare und die wenigen waren zu seinem Entsetzen ebenso schneeweiß wie die Kopfbehaarung.
Da, der Hase zuckte und streckte sich. Martin wurde Zeuge, wie sich innerhalb von Sekunden ein niedlicher Schneehase wieder zurück in seinen Bruder verwandelte. Marcel starrte Martin mit vollkommen entsetztem Blick an.
„Sag mir, dass ich das geträumt habe“, flüsterte er.
Martin schüttelte stumm den Kopf. Marcel brach in Tränen aus und klammerte sich an seinen Bruder.
„Sie kennen also das Geheimnis der Gestaltwandler. Ich fand es vorhin etwas erstaunlich, dass sie so ruhig geblieben sind, als der Wolf auftauchte.“
„Ich kenne Marcel in beiden Gestalten. Er wäre als Hase niemals irgendwo hingegangen, wo ihn etwas bedroht hätte. Also bin ich davon ausgegangen, dass der Wolf ebenfalls ein – ja was sind sie denn eigentlich? Tiermenschen?“
Major Niedermüller streckte sich ein wenig und zeigte ein leicht verärgertes Gesicht.
„Wir bevorzugen den Terminus Gestaltwandler. Und ja, sie haben Recht. Die Tiergestalt trägt immer etwas von der wahren Natur in sich. Hätte sich ein echter Wolf genähert, hätte der Hase die Flucht ergriffen oder sich gewandelt.“
Martin Franckh schwieg einen Moment. Dann sah er noch einmal zu Marcel und Fabian.
„Zwei Dinge hätte ich gerne noch gewusst. Ihr beiden seid wirklich zusammen?“
Beide nickten simultan. Martin seufzte.
„Dann erkläre ich hiermit die Familie Franckh für ausgestorben.“
Es dauerte einen Moment, bis Marcel diese Äußerung verarbeitet hatte.
„Wie? Moment. Wieso ausgestorben? Du bist doch… oh, willst du damit etwa sagen, dass du auch schwul bist?“
„Was glaubst du, warum mich der Alte vor zwei Jahren rausgeworfen hat? Ich war so blöd und hab’s ihm erzählt. Was glaubst du, was er gemacht hat? In der Polizeiakademie hat er angerufen. Der Ausbildung hat das nicht geschadet, aber einem meiner Kollegen musste ich das Nasenbein verbiegen. Da hat’s mich hierher in die Provinz verschlagen.“
Alexander sah unauffällig auf seine Uhr.
„Womit wir wieder beim Thema wären. Ist die Motorradgang tatsächlich auf dem Weg zum Internat?“
„Oh, die. Richtig. Ich habe von denen bis jetzt keine Spur gefunden. Das Internat – Moment, das wäre meine zweite Frage gewesen.“
Martin Franckh unterbrach sich und sah Alexander fragend an.
„Im Internat sind nicht etwa noch mehr äh- Gestaltwandler?“
Alexander wechselte einen schnellen Blick mit Michael, der aber nur die Achseln zuckte.
„Nein. Im Internat sind keine Gestaltwandler. Aber es gehört, genau wie das Internat, aus dem die Gestaltwandler stammen, zur gleichen Stiftung.“
Michael telefonierte, während sich Alexander und Martin unterhielten. Nach dem Anruf hob Michael eine Hand und bat um Aufmerksamkeit.
„Das war Doktor Berg. Wie es aussieht ist tatsächlich eine Motorradgang im Internat eingestiegen mit der Absicht, einen der Jungen zu entführen. Hendrik will einen Angriff starten. Doktor Berg lässt fragen, ob wir eine Ablenkung organisieren können.“
Alexander und Michael sahen zu Major Niedermüller, während Martin der Mund offen stehen blieb.
„Ein… ein Angriff? In einem Internat gegen eine Motorradgang? Hab‘ ich was verpasst? Was wir hier bräuchten wäre ein SEK.“
„Um Gottes Willen, bloß nicht. Das gibt möglicherweise Tote. Das können wir nicht riskieren. Marcel, kümmerst du dich bitte um deinen Bruder? Dein Wolfi wird jetzt wo anders gebraucht.“
Marcel grinste und gab Fabian einen Kuss. Dann wandte er sich an seinen Bruder.
„Ob du es glaubst oder nicht, aber im Internat machen sie auch so eine Art militärische Ausbildung. Natürlich ohne Waffen, aber mit Nahkampf, Taktik und solchen Sachen. Wird bei uns übrigens auch unterrichtet.“
Martin Franckh kannte seinen Bruder gut genug um zu wissen, wann er Scherze machte und wann nicht. Dies war definitiv keiner.
„Na klar. Und wozu? Wollt ihr in einen Krieg?“
„Setz dich wieder hin. Es wird wohl etwas länger dauern, aber ich werde dir jetzt eine Geschichte erzählen. Tatsächlich eine vom Krieg. Aber von einem Krieg zwischen Gut und Böse.“
Die Zimmer 405 und 406 lagen sich genau gegenüber. Christian schlich mit Leon und Julian hinüber zu 405. Hendrik, Lennart und Oliver betraten 406.
Hendrik sah sich im Halbdunkel um und Lennart murmelte
„Leon könnte auch mal aufräumen.“
„Er wusste ja nicht, dass er heute noch Besuch bekommt.“
„Ruhe ihr beiden. Ihr stellt euch jeweils links und rechts des Fensters auf. Sobald die Fenster entriegelt werden, müssen wir damit rechnen… Moment, da kommt eine Nachricht rein.“
Hendrik las erstaunt die Nachricht aus dem Sicherheits-Center.
„Wir müssen noch einen Augenblick warten. Die Gestaltwandler wollen ein Ablenkungsmanöver starten. Kann sein, dass es draußen ein wenig hektisch wird und vielleicht auch zwei Mann einsteigen. Sie wollen auf jeden Fall versuchen, die Gang vor dem Gebäude erst mal zu zerstreuen.“
Die beiden Kampfmagier nickten. Das könnte ja lustig werden.
Etwa zehn Minuten später konnten alle das laute Heulen eines Wolfes hören. Leon grinste Chris an.
„Da lässt Fabian ja richtig einen raus.“
„Psst. Gleich werden die Fenster entriegelt. Aufpassen, wenn mehr als einer reinkommt.“
Vor dem Unterkunftsgebäude war eine leichte Unruhe ausgebrochen. Die Gang hatte sich aufgeteilt und die meisten Mitglieder schlichen an den Längsseiten entlang um vielleicht doch noch eine Gelegenheit zu entdecken, wie man hineinkam.
Oscar Neubert stand mit seinem älteren Sohn Ortfried vor dem Haupteingang und schäumte vor Wut.
„Davon hat der verfickte Arsch nichts gesagt. Das ist ja hier wie im Knast. Alles dicht. Würde mich nicht wundern, wenn die uns schon irgendwie entdeckt hätten.“
Ortfried versuchte seinen Vater zu beruhigen.
„Mann, dann wären die Bullen doch schon längst hier. Wir kommen schon noch rein. Das sind hier nur die scheißteuren Sicherheitsfenster, so wie im Neubaugebiet. Da kommste nich mehr so einfach rein wie vor zwanzig Jahren.“
„Erzähl mir nich, wo ich reinkomme und wo nicht. Die Wichser sollen sehn, dass sie was finden.“
In diesem Moment wurde die hochgeistige Konversation vom Heulen eines Wolfes unterbrochen.
„Was war das?“
Ortfried sah sich unsicher um.
„Also das klang so wie im Fernsehn. Als wie wenn ein Wolf heult.“
„Du bist doch bekloppt. Wo soll denn hier ein Wolf herkommen?“
Ein zweites Heulen ertönte und dann sahen die beiden Männer zwischen den Büschen des Zugangsweges einen riesigen grauen Wolf hervortreten. Das Tier musterte sie einen Augenblick, dann sprang es zurück in die Büsche.
„Ach, und was war das jetzt?“
„Verdammt, aber das Vieh soll uns nicht stören. Ich hab mal gelesen, Wölfe greifen Menschen nur an, wenn man sie ärgert.“
Ortfried stutze. Das Einzige, was sein Vater in den letzten Jahren gelesen hatte, war die Fernsehzeitung. Er traute der Sache nicht so ganz. Wo kam denn jetzt auf dem Gelände eines Internats ein Wolf her? Er packte seinen Baseballschläger fester.
Plötzlich gellte ein Schrei durch die Nacht.
„Hilfe! Ein Wildschwein!“
Vater und Sohn rannten halb um das Gebäude herum und fanden eines ihrer Gangmitglieder am untersten Ast eines Baumes hängend. Er hatte sich mit Händen und Füßen daran geklammert und hing nun waagerecht etwa anderthalb Meter über dem Boden.
„Bist du alle, oder was? Was soll das Geschrei? Willst du uns die Bullen auf den Hals hetzen?“
„N-Nein. Aber da war ein Wildschwein, ganz bestimmt.“
„Komm da runter, du Idiot. Hier is nix. Ortfried, such die Leute zusammen. Ich glaub‘ ich muss mal ein paar Worte sagen.“
Wenige Minuten später stand Ortfried schwer atmend vor seinem Vater.
„Das sind alle, die ich gefunden habe. Ich weiß nicht, wo der Rest ist.“
Der Blick von Oscar Neubert glitt über sechs Gangmitglieder und blieb an seinem Sohn hängen. Er war lange genug in Bandenkriege verwickelt gewesen um zu wissen, was vor sich ging. Man hatte ihn verschaukelt. Der blöde Wichser, der ihm die Informationen gegeben hatte konnte sich auf was gefasst machen. Jetzt hieß es nur noch, so unauffällig wie möglich zu verschwinden.
„Wir sind verschaukelt worden. Die haben auf uns gewartet. Wir müssen sehen, dass wir hier rauskommen. Los, alle zur Mauer.“
An der Mauer bildeten sie, wie schon beim Hereinkommen, eine kleine Pyramide. Als der oberste Mann nach der Mauerkrone griff, stieß er einen Schrei aus und fiel herunter.
„Scheiße, was war das?“
„Die Mauer ist elektrisch hier oben. Da kommen wir so nicht rüber.“
„Verdammt, das war doch beim Reinkommen noch nicht.“
Plötzlich ertönte ein Lautsprecher.
„Völlig richtig, Herr Neubert. Wir achten schon darauf, wer hier hereinkommt. Und auch, wer wieder hinaus will. Wenn sie wieder hinaus möchten, darf ich sie bitten, sich in der Sporthalle einzufinden. Den Weg werden sie ja kennen.“
Ortfried sah völlig verdattert seinen Vater an, doch der nickte nur grimmig. Wortlos stapfte er los. Der Rest folgte ihm zögernd. Ihren bewusstlosen Kameraden ließen sie einfach auf dem Rasen vor der Mauer liegen.
Die Sporthalle war komplett erleuchtet. Als die Gang sich durch den Eingang in die eigentliche Halle drängelte, blieben sie erstaunt stehen. Ihnen gegenüber hatten sich zwei Reihen junger Männer aufgebaut, fast militärisch ausgerichtet. Alle trugen einen zweiteiligen schwarzen Kampfanzug mit Springerstiefeln.
Oscar Neubert zählte schnell durch. Zweimal acht Mann. Also mehr als doppelt so viele wie sie. Dann bemerkte er in der ersten Reihe Oliver.
„Oliver, du Kleines Arschloch. Also hat der Typ doch recht gehabt. Was zum Henker treibst du hier eigentlich?“
Oliver musterte angewidert seinen Vater. Bei ihm hatte er es so lange ausgehalten? Alles ertragen und ihn manchmal sogar bewundert? Nein, das war endgültig vorbei.
„Was ich hier treibe? Nun, manchmal treibe ich es auch tatsächlich. Mit meinem Partner.“
„Deinem was?“
„Partner, Mann, Liebhaber oder für dich ganz deutlich, mit meinem Fickverhältnis.“
Ein kurzer entschuldigender Blick ging nach hinten zu Torben.
„Fick…, aaah, du kleines Miststück. Bist jetzt zu den Arschfickern übergelaufen?“
Ein älterer Mann trat hinter der Formation hervor, ebenfalls gekleidet in einen schwarzen Kampfanzug.
„Herr Neubert. Ich darf Sie doch bitten, sich zu mäßigen. Es ist hier jedem Schüler gestattet, sein Leben so zu gestalten, wie er es für sinnvoll hält.“
„Ach? Und Sie sind hier der Boss, oder?
„Kann man so sagen. Mein Name ist Berg. Ich bin der Direktor dieser Bildungseinrichtung.“
„Bildungseinrichtung? Ach ja? Und was soll der Aufzug hier in den Klamotten? Sieht ja eher aus wie damals, als ich beim Bund war.“
„Mens sana in corpore sano. Für Sie in etwa, ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Wir erachten auch die körperliche Ertüchtigung unserer Schüler als unabdingbar für ihre parallel verlaufende geistige Bildung.“
Oscar Neubert starrte den Direktor genervt an. Wollte der Kerl ihn verarschen?
„Um die Sache kurz zu machen. Herr Neubert, die Stiftung ‚Jugend für die Zukunft‘ hat Ihnen eine Zahlung von 450 € pro Monat zugestanden, da Sie darauf beharrt haben, dass Oliver ja noch in Ihrem Haushalt wohnt und bei einem Arbeitsverhältnis diese Summe wohl in den Haushalt einbringen sollte. Ihre weiteren Forderungen wurden mit dem Hinweis abgelehnt, dass Oliver bereits volljährig ist und über seinen Aufenthalt und eventuelle Zahlungen selber entscheiden kann. Was also hat Sie veranlasst, unser Institut zu dieser Stunde und mit dieser Begleitung aufzusuchen?“
„Gar nix kann der entscheiden. Hier entscheide ich, wer von meinen Söhnen wann wohin geht. Und der da kommt mit nach Hause. Da kann er Knete reinbringen. Obwohl… wenn er schon so’n Arschficker ist, kann er ja auch auf’n Strich.“
Doktor Berg seufzte leise und die Schüler erkannten, dass er am Ende seiner Geduld angekommen war.
„Herr Neubert. Ich kann Ihnen gerne die Straftatbestände aufzählen, denen Sie sich im Laufe der heutigen Nacht schuldig gemacht haben. Allerdings bezweifle ich, dass Sie dies zum Anlass nehmen würden, uns zu verlassen. Deshalb sei Ihnen gesagt, wenn Sie nicht freiwillig gehen, werden die jungen Herren hier Sie vor die Tür setzen.“
Ortfried Neubert hatte seinen Vater noch nie so sprachlos gesehen. Mit fast hervorquellenden Augen starrte er auf den Direktor und dann auf die angetretene Truppe.
„Was soll ich!? Freiwillig gehen!? Em Leäve net. Wir sind nur noch sieben Mann, aber die Knirpse machen wir so platt wie Briefmarken.“
Doktor Berg seufzte ein zweites Mal. Es gab eben Leute, deren Lernfähigkeit, um es vorsichtig zu formulieren, äußerst eingeschränkt war.
„Nun gut. Sie haben es so gewollt. Allerdings schlage ich eine etwas zivilisiertere Form vor. Wir veranstalten einen Zweikampf. Einer ihrer Leute gegen einen meiner Schüler.“
Lautes Gelächter ertönte bei der Gang. Lediglich Ortfried musterte misstrauisch die Reihen der Schüler. Oscar Neubert drehte sich zu seinen Leuten.
„Los, Herbert, zeig denen mal, was ‚ne Harke ist.“
Der mit Herbert angesprochene Mann trat vor. Er war wohl etwa Ende Dreißig und kräftig gebaut. Er überragte den nächstkleineren seiner Gang um mindestens einen halben Kopf.
Alle Kampfmagier wandten ihren Blick nun zu Doktor Berg, der leicht lächelte.
„Ich habe die Noten nicht genau im Kopf, aber ich würde sagen, Herr Freiberger.“
Leon nickte und trat vor. Die Gangmitglieder beäugten belustigt den deutlich kleineren Rothaarigen, der selbstbewusst bis in die Hallenmitte ging. Als auch der aufgerufene Herbert sich der Hallenmitte näherte, hörte Leon Olivers Stimme hinter sich.
„Zwo-Eins-Eins.“
Leon nickte. Oliver hatte ihm das Kampfverhalten seines Gegners verraten und nun sah er ihm ruhig entgegen. Herbert steuerte direkt auf ihn zu. Leon machte einen Schritt zur Seite und sein Gegner wich zur anderen Seite aus. Ein weiterer Schritt auf Herbert zu und der wich zur anderen Seite aus. Leon sah eine Faust auf sich zukommen, duckte sich und glitt gleichzeitig nach hinten. Der zweite, direkt folgende Schlag verfehlte ihn knapp. Herbert wich wieder zur Seite aus, doch Leon holte ihn mit einer blitzschnellen Drehung aus der Hocke von den Beinen. Der schwere Körper krachte zu Boden und Leon brauchte nur noch zwei Schläge, bis Herbert bewusstlos liegen blieb.
Alle Gangmitglieder starrten vollkommen überrascht auf die beiden Kämpfer, als Ortfried, seinen Baseballschläger in Schlaghöhe, nach vorne stürmte.
Oliver hatte ihn bemerkt und stürmte ebenfalls vor. Direkt neben Leon, trafen die beiden zusammen. Ortfried holte mit seiner Waffe aus, doch sein Schwung öffnete seine Deckung. Oliver sprang aus der Bewegung mit den Füßen voran. Der Aufprall riss beide zu Boden und Oliver sprang sofort wieder auf, während sich sein Bruder mühsam aufrappelte. Als er nach dem Baseballschläger griff, trat Oliver dagegen und die Waffe flog mehrere Meter beiseite.
„Also gut“, zischte Ortfried, „nur wir beide.“
Oliver grinste und wartete. Ortfried ließ sich tatsächlich zu einem ersten Angriff hinreißen und stürmte auf Oliver zu. Die Hände erhoben, wie zum Boxkampf. Doch Oliver kannte seinen Bruder lange genug. Der bremste plötzlich und trat nach seinem Gegner. Darauf hatte Oliver gewartet. Er machte einen Sprung nach oben um dem Tritt zu entgehen und zielte mit einer Faust auf den ungeschützten Oberkörper seines Gegners. Röchelnd ging Ortfried zu Boden. Oliver trat zwei Schritte zurück.
„Und? Noch mehr?“
Ortfried schüttelte atemlos den Kopf. Ihr Vater hatte den Kampf schweigend beobachtet. Er wusste, wann er verloren hatte. Und er war sich unsicher, was mit Oliver geschehen war. War er wirklich so eine Pussy geworden? Aber wie zum Teufel vertrug sich das mit seinem Auftreten? Wo hatte er so kämpfen gelernt? Hier? Ihm wurde klar, dass Oliver niemals wieder nach Hause zurückkehren würde. Und das Geld konnte er auch in den Schornstein schreiben. Das Ganze war eine Scheißaktion gewesen und alle würden ihm die Schuld geben.
„So, Herr Neubert. Ich denke, unsere Positionen sind geklärt. Wir werden Sie nun nach draußen begleiten, wo Sie bitte das Institut diesmal durch das Haupttor verlassen. Ihre fehlenden Kollegen befinden sich bereits vor dem Tor.“
Schweigend drehte sich Oscar Neubert um und verließ die Sporthalle. Mit hängenden Köpfen folgte ihm seine Gang.
Als sich das schwere Haupttor hinter der Motorradgang geschlossen hatte, war Doktor Berg mehr als erleichtert. Diese Angelegenheit war noch einmal glimpflich abgegangen. Hoffentlich gab es nicht öfter solche Zwischenfälle.
Zwischen den Baum- und Strauchbeständen des Internatsgeländes raschelte es jetzt und langsam traten die Mitglieder des Gestaltwandlercamps hervor.
Doktor Berg betrachtete lächelnd die Tiergestalten, während ein ihm unbekannter Mann auf ihn Zutrat. Dessen Begleitung kannte er allerdings sehr gut.
„Major Niedermüller vom Gestaltwandler-Corps. Guten Morgen, Herr Oberst.“
Michael und Alexander sahen erstaunt auf die goldgelben Dienstgradabzeichen auf der Uniform von Doktor Berg.
„Guten Morgen, Herr Niedermüller. Ich bin Doktor Berg, der Leiter. Wenn Sie gestatten, bitte keine Dienstgrade. Ich hatte mich eigentlich daran gewöhnt, mit Herr Direktor angesprochen zu werden. Wir bleiben da einfacher beim Namen.“
„Wie Sie wünschen, Herr Doktor Berg. Ich hoffe, wir konnten Ihnen helfen?“
„Ja, ausgezeichnet.“
Doktor Berg sah sich nochmals um. Dort wurde ein Fuchs von Oliver geknuddelt und da hinten ein Rehbock von Leon. War da nicht ein Gerücht in Umlauf über ein verschenktes Gehörn? Und da drüben wurde ein Wolf von drei Mann gleichzeitig verwuschelt. Luca und Lennart redeten auf einen Luchs ein und Tim und Sebastian kraulten einen zweiten Fuchs.
„Sie scheinen sehr gut miteinander auszukommen.“
Alexander lächelte.
„Oh, ja. Es würde wohl von großem Vorteil sein, wenn sie zusammen in die Einsatzeinheiten kommen könnten.“
Doktor Berg musterte erst Alexander, dann Michael.
„Ich sehe schon, da kommt der Einfluss Ihrer Führung durch. Sie können wohl gar nicht anders, als sich in Dinge einzubringen, die Sie…
Ein Alarmton erklang auf Doktor Bergs Handy.
„Ja? Hm. Ja, die sind hier. Alle? Ich verstehe. Ich werde sie in Marsch setzen. Ende.“
Alle hatten schweigend dem kurzen Gespräch gelauscht. Doktor Berg sah ernst in die Runde.
„Meine Herren, es steht noch ein Einsatz bevor. Wir müssen alle sofort nach Frankfurt verlegen. Das Divisionshauptquartier und der Exekutivrat sind kompromittiert worden. Es gilt, keine Zeit zu verlieren.“
Nordrhein-Westfalen, Deutschland, Anno Domini 2018
„Haus Birkenstein meldet, dass sie im Gefecht befindlich sind. Das Gestaltwandlercamp wurde zur Unterstützung angefordert. Beide Einheiten sind bereits im Einsatz.“
Kevin sah verblüfft zu Max, dann zu Lucas. Lucien und Tobias tippten hektisch auf ihren Tablets.
„Wer hat das Kommando während des Gefechts?“
„Im Internat Hendrik und bei den Gestaltwandlern Major Niedermüller.“
„Okay. Ich nehme an, Doktor Berg hat das alles genehmigt. Wir mischen uns da nicht ein.“
Kevin sah noch einmal auf die Deutschlandkarte.
„Wir brauchen dringend Unterstützung. Die ganzen Einsatzkompanien sind auf dem Weg zu ihren Bataillonen. Das war ein gutes Timing mit den Angriffen.“
Tobias schüttelte den Kopf.
„Eine Kompanie hat ihr Bataillon bereits erreicht. Die sind nur etwa 30 km auseinander. Bis nach Frankfurt brauchten die aber etwa zweieinhalb Stunden.“
„Wir brauchen auch etwa zwei Stunden. Gib denen einen Befehl zum Einsatz.“
Lucas sah Kevin skeptisch an.
„Bist du sicher?“
„Wir können nicht mehr viel falsch machen. Der Regimentsstab ist blind und hat keine eigenen Einheiten. Die Division mitsamt dem Einsatzzentrum ist ausgefallen. Wir müssen was machen. Aber alleine kommen wir da nicht weit.“
„Unsere anderen Einheiten sind alle viel zu weit weg. Die Norddeutschen Kompanien bräuchten über fünf Stunden und die vom Bataillon aus Donauwörth auch mindestens drei.“
Tobias sah auf die Karte und tippte dann auf seinem Tablet.
„Die Einsatzkompanien sind noch nicht bei den Bataillonen, das ist richtig. Aber wenn wir die 1./III, das ist die aus Heidelberg, jetzt umdrehen lassen, brauchen die auch nur etwa zwei Stunden bis nach Frankfurt.“
„Tatsächlich? Dann los. Wir brauchen alles, was wir kriegen können. Haben wir noch eine Kompanie, die wir umleiten können und die in zwei Stunden dort wäre?“
Lucien und Tobias rechneten hektisch.
„Hier! Die 2./II Die sind wohl schon näher am Bataillon, aber wenn die jetzt umdrehen, würde ich sagen zwei Stunden zehn oder zwanzig.“
Bevor Kevin antworten konnte, bekam er eine Nachricht von Max aus der Einsatzzentrale.
„Haus Birkenstein meldet ‚Mission accomplished‘. Doktor Berg lässt fragen, ob wir Unterstützung brauchen.“
Kevin zögerte einen Moment. Worauf hatte er sich eingelassen? Alles, was jetzt kam, war seine eigene Verantwortung. Sie konnte sogar Leben oder Tod bedeuten. Doch die Entscheidung lag klar vor ihm.
„Sie sollen alles schicken, was sie haben. Auch die Ausbilder und Aufsichten. Ebenso die Gestaltwandler. Die Einsatzbataillone II und III sollen ihre Kompanien zum Divisionsstab umleiten, egal wie lange das dauert. Bataillon I soll versuchen, eine flächendeckende Überwachung für Norddeutschland zu organisieren.“
Tobias sah von seinem Tablet auf.
„Ha, schon passiert. Die Bataillone haben bereits alle ihre Kompanien umgeleitet. Wenn wir Glück haben, sind wir zeitgleich mit den ersten da.“
Kevin nickte. So hatte er sich das vorgestellt. Dann blieb jetzt nur noch eines zu tun.
„Max, versuch mal eine Verbindung mit dem Regimentskommandeur. Ich brauche von ihm die Genehmigung für ein Armageddon.“
„Was!? Ernsthaft? Bist du sicher, dass es soweit kommen wird?“
Kevin schüttelte den Kopf, was Max allerdings nicht sehen konnte.
„Nein, aber wir müssen tatsächlich alles berücksichtigen.“
Beim Stichwort ‚Armageddon‘ hatten sich Lucas und Robin zu Kevin gedreht. Das Armageddon oder Großes Höllenfeuer, war ein Ritualzauber der höchsten Stufe. Im Gegensatz zum Schließzauber benötigte man dort neun Magier. Zwei Kampfmagier für den Zauber Höllenfeuer, zwei Bannmagier für den Zauber Reflexion, zwei Astralmagier für den Zauber Manablitz. Dann zwei Elementare für Kältebälle und einen Heiler zum Stabilisieren.
Die Elementare und der Heiler dienten zur Kühlung und der Überwachung der anderen sechs Magier. Der Einsatz von ‚Armageddon‘ war streng reglementiert und zog immer eine Untersuchung des Exekutivrates und der Ethikkommission nach sich.
„Wir werden sehen was uns erwartet. Klar machen zum Abrücken. Wir nehmen die beiden Kombis, den gepanzerten 8-Sitzer und die mobile Einsatzzentrale. Thomas, Bente und Gabriél bleiben hier und besetzen die Einsatzzentrale rund um die Uhr. Wir brauchen jede noch so kleine Information die ihr kriegen könnt. Abmarsch.“
Eine Viertelstunde später waren die Fahrzeuge auf dem Weg nach Süden.
Hessen, Deutschland, Anno Domini 2018
„Wo müssen wir genau hin?“
Ihr Ziel war eine Kleinstadt am westlichen Rand von Frankfurt, direkt im Taunus. Zwei Stunden später lotste sie das Navi auf den Parkplatz eines internationalen Elektronikkonzerns.
„Mit Elektronik scheinen sie es ja zu haben.“
„Irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl.“
Kevin sah Lucas fragend an.
„Was ist? Spürst du etwas? Wir können die Sache auch abblasen oder warten, bis die Kompanien alle eingetroffen sind.“
Lucas schüttelte den Kopf.
„Wir müssen rein. Und wir müssen uns beeilen. Ich denke, man rechnet nicht mit uns. Das wird unser Vorteil sein.“
Sie hatten ihre Fahrzeuge am Rand des Firmenparkplatzes abgestellt. Die Dämmerung setzte gerade ein und Kevin sah sich um.
„Überhaupt nichts los. Nicht mal Security oder ein Nachtwächter?“
„Max soll mal sehen, ob das Gebäude gesichert ist.“
Fünf Minuten später hatte Kevin die Antwort.
„Das gesamte Gebäude ist im ‚Shut-down‘. Alles verriegelt und gesichert. Keine Kommunikation nach außen, kein Datenaustausch. Da wir Unterlagen über die bauliche Absicherung haben, kann ich mal behaupten, ohne schwere Artillerie kommen wir da nicht rein.“
Kevin und Lucas sahen sich betroffen an. Sollte hier schon alles enden?
„Da kommen welche.“
Alle Köpfe ruckten herum. Zwei Limousinen fuhren in halsbrecherischem Tempo auf den Parkplatz und bremsten dann. Fast schien es, als ob die Fahrzeuge sich orientieren würden, dann hielten sie genau auf die SMU zu.
„Das ist doch keine Einsatzkompanie.“
„Werden wir ja gleich sehen.
Als die beiden Fahrzeuge zum Stehen kamen, sah Kevin erstaunt hinüber. Brigadegeneral Kayser stieg aus und auf der anderen Seite der junge Mann aus seinem Vorzimmer mit deutlich grünem Gesicht. Robin ging auf den General zu.
„Herr General, wir hatten gar nicht mit Ihnen gerechnet.“
Der General grinste dünn.
„Die Wenigsten rechnen mit den Gestaltwandlern. Das sollten sie eigentlich wissen, Herr Wolff.“
Brigadegeneral Kayser wurde noch einmal offiziell vorgestellt, obwohl die meisten ihn ja schon einmal kurz beim Offiziersseminar kennengelernt hatten.
„So, was ist eigentlich passiert? Ich bekomme mitten in der Nacht eine Benachrichtigung, dass das Gestaltwandlercamp zum Einsatz nach Haus Birkenstein beordert worden ist. Wobei mir nicht klar ist, was in Birkenstein passiert sein könnte.“
Kevin wollte gerade mit den Erklärungen beginnen, als eine ganze Gruppe von Fahrzeugen den Parkplatz befuhr und sich näherte.
„Da bin ich doch mal gespannt, wer erster geworden ist.“
Die Fahrzeuge wurden in einer ordentlichen Reihe abgestellt und zwei Männer Anfang dreißig näherten sich. Ihre Blicke gingen etwas unsicher hin und her, blieben dann aber an dem deutlich Ältesten hängen.
„Guten Morgen. Wir sind aus Bad Hersfeld. Mein Name ist Reiner Jaksch und dies ist mein Partner, Gerald Bauer.“
General Kayser sah sich um und deutete auf die mobile Einsatzzentrale.
„Dürfen wir?“
„Ja. Natürlich. Folgen Sie mir bitte. Oh, einen Moment noch.“
Eine zweite Gruppe von Fahrzeugen war eingetroffen. Auch hier stiegen zwei Herren aus und kamen näher. Der erste stutzte etwas, als er General Kayser sah, doch der General lächelte.
„Ah, Herr Peters und Herr Durand aus Heidelberg. Folgen Sie uns, dann werden wir gleich erfahren, was los ist.“
Die beiden zuletzt eingetroffenen Herren sahen sich nur überrascht an, folgten den anderen aber in die Einsatzzentrale. General Kayser winkte seinem Adju, ihm zu folgen. In dem jetzt etwas engen Fahrzeug deutete der General auf Kevin und Lucas.
„Das sind Hauptmann Böttcher und von Lanz-Ravensberg, die Leiter der SMU Westeuropa. Sie werden uns jetzt kurz schildern, was passiert ist und warum wir hier sind.“
Kevin gab einen kurzen Abriss über alle bisher bekannten Vorfälle.
„Hm, also sind alle aktiven Einheiten betroffen. Was ist mit dem Regimentsstab?“
Max drehte sich um.
„Der ist in Berchtesgaden geblieben. Die Verlegung würde über fünf Stunden dauern. Der Kommandeur ist bei uns online.“
„Entschuldigen Sie, Herr General, aber sollten Sie nicht auch im Stabsgebäude sein?“
„Völlig richtig. Ich war aber in der Gestaltwandlerschule um dort einige Veränderungen zu besprechen. Als ich benachrichtigt wurde, habe ich versucht, einige Leute hier zu erreichen, aber da war schon alles dicht. Wir haben über Haus Birkenstein von den Befehlen der SMU erfahren und sind dann direkt hier her.“
„Herr Böttcher, was hat Sie veranlasst, diese drastischen Maßnahmen zu ergreifen?“
Kevin sah hinüber zu Herrn Bauer. Seinem Auftreten nach konnte er ohne weiteres ein Kampfmagier sein. Dann wusste Kevin worauf Gerald Bauer aus war.
„Das war keine bewusste Entscheidung. Mein Kampfsinn hat die Daten analysiert. Das Ergebnis war ein Gegner aus dem Inneren der Organisation heraus. Die entsprechenden Maßnahmen folgten der Analyse.“
Plötzlich gab es einstimmiges Kopfnicken. General Kayser blickte in die Runde.
„Wir sind uns also einig, dass es ein Insidergegner ist. Fragt sich nur, wer?“
Lucas drehte sich zu General Kayser.
„Warum ist eigentlich die Gestaltwandlerschule nicht überfallen worden?“
„Keine Ahnung. Weil keine Gestaltwandler da waren?“
„Dann hätte man die Schule umso leichter besetzen können.“
Eine andere Stimme ertönte jetzt aus dem Hintergrund.
„Weil keine Insider da waren? Keine Spione, keine Infos.“
Alle drehten sich nun zum Adju des Generals, der ob der Aufmerksamkeit schüchtern zu Boden blickte.
„Oh, Entschuldigung. Das ist Jerome Schneider. Anwärter im Gestaltwandler-Korps. Er wird den nächsten Durchgang besuchen. Was hast du damit gemeint, es waren keine Insider da.“
„Na, wir besetzen doch alle Positionen mit Gestaltwandlern, auch im Stab. Es gibt da nicht einen einzigen Mitarbeiter des Logistik-Corps.“
Kevin ruckte hoch. Schon die ganze Zeit schien das Logistik-Corps bei ihren Mitarbeitern eine Art Abneigung gegen Magier und Gestaltwandler zu verbreiten. Was war da denn wirklich los? Kevin fuhr herum.
„Max?“
Der hob nur entsetzt beide Arme.
„Keine Ahnung, wirklich. Oh, Mist. Intel, die Aufklärung, die zentrale Datenbank. Alles ist hier in diesem Gebäude drin.“
General Kayser wurde blass und auch die anderen anwesenden Offiziere sahen sich ratlos an. Kevin bemerkte lediglich Gerald Bauer, der ein geistig abwesendes Gesicht hatte. Also doch. Ein weiterer Magier mit Kampfsinn.
„Wir müssen da rein. Um jeden Preis.“
Obwohl die Besprechung gar nicht so lange gedauert hatte, war inzwischen die Sonne aufgegangen. Und auf dem Parkplatz standen eine ganze Reihe weiterer Fahrzeuge. Die Schüler und Ausbilder von Haus Birkenstein waren eingetroffen.
General Kayser schickte seinen Adju noch einmal in die Einsatzleitzentrale. Wenige Sekunden später war er wieder da.
„Der Bataillonsstab und die Kompanie aus Aachen sind in einer Viertelstunde hier.“
„Dann warten wir noch einen Moment:“
Kopfschüttelnd sahen Kevin und Lucas zu, wie Michael und Alexander die Gestaltwandler antreten ließen und Lars und Hendrik das Gleiche mit den Magieschülern machte. Etwas überrascht waren sie dann von Doktor Berg, den noch niemand jemals zuvor in Uniform gesehen hatte.
Noch bevor die allgemeine Begrüßung vorüber war, bog eine weitere Kolonne auf den Parkplatz ein.
„Na, wenigstens das hat geklappt.“
Kevin und Lucas sahen die Kommandeure näher kommen und wurden augenblicklich an den Überfall in Köln erinnert. Hoffentlich ging das hier besser aus.
„Wieviel Platz haben wir denn in dem Mobil? Da passen wohl nicht alle rein.“
„Mehr als zehn Mann ist ungünstig.“
„Na gut. Dann werden wir mal ein paar Aufträge verteilen und sehen, wie weit wir kommen.“
„Was hat die Aufklärung ergeben?“
Oberstleutnant deBoer, der Bataillonskommandeur aus Aachen, sah auf seine Notizen.
„Das Gebäude ist tatsächlich komplett versiegelt. Fenster und Türen sind verriegelt und bauseitig so gestaltet, dass da ohne große Gewalt kein Reinkommen ist. Die Überwachungsanlagen sind höchst wahrscheinlich alle in Betrieb. Abgesehen von den Kameras sind das Bewegungsmelder, Infrarotsensoren und Erschütterungsmelder.“
„Erschütterungsmelder?“
„Hauptsächlich im Boden installierte Vibrationsmelder. Nach den Plänen des Gebäudes sind sie hauptsächlich auf dem Parkplatz und dann noch einmal in der Chefetage verbaut.“
General Kayser sah nachdenklich auf den Plan mit dem Grundriss des Gebäudes und des Parkplatzes.
„Was ist mit Mikrofonen?“
Max konsultierte den ursprünglichen Bauplan.
„Die sind eigentlich nicht vorgesehen gewesen, aber es ist möglich, dass welche nachträglich installiert wurden. Wenn überhaupt, lohnen sich nur Richtmikrofone. So lange wir hier in der Einsatzzentrale sind, sollte uns das aber nicht stören.“
Kevin sah in die Runde.
„Sie wissen also, dass wir hier sind. Ich nehme aber an, sie haben nicht mit einer so schnellen Reaktion gerechnet.
Doktor Berg nickte zustimmend, machte aber ein nachdenkliches Gesicht.
„Die Frage ist nur, was können wir tun? Wir haben ein ganzes Bataillon hier, können aber nicht in das Gebäude. Zum Glück ist Wochenende, da fallen wir nicht allzu sehr auf. Welche Möglichkeiten bestehen, das Gebäude zu infiltrieren, ohne es gleich in die Luft zu jagen?“
Max brummte etwas Unverständliches.
„Zunächst sollten wir versuchen, irgendwie die Überwachungsanlagen zu hacken. Die Bewegungsmelder, Infrarotsensoren und Erschütterungsmelder nützen uns wenig. Wir sollten uns auf die Kameras konzentrieren.“
„Hm, was würde uns das nützen?“
„Im ungünstigsten Fall gar nichts. Im günstigsten Fall wüssten wir, welche Systeme von welcher Stelle gesteuert oder überwacht werden. Wenn wir an eine Steuerungsschnittstelle herankommen, könnten wir mit Glück Befehle geben oder vielleicht bei Überwachungseinrichtungen mithören oder mitsehen.“
„Okay, wo ist dann das Problem?“
General Kayser sah zu Oberstleutnant deBoer, der den Kopf schüttelte.
„Das sind Mikro-Webcams. Selbst wenn wir Scharfschützen hätten, wären die nicht einfach zu treffen. Und so etwas haben wir nicht.“
„Wir wollen sie ja auch nicht ausschalten, sondern irgendwie an ihre Verbindungen rankommen. Welche Kameras kämen denn überhaupt in Frage?“
„An der Frontseite nur drei Stück. Aber die sind im dritten Stock, zwischen der Leuchtreklame über dem Eingang.“
„Na ganz toll. Wie kommen wir da hoch?“
„Ich könnte es versuchen.“
Alle sahen hinüber zum Adju von General Kayser, der sich in eine Ecke gezwängt hatte, um nicht im Weg zu sein.
„Jerome? Auf gar keinen Fall.“
Robin sah erstaunt zum General und dann wieder zurück zu dem zierlichen jungen Mann mit den rostroten Haaren.
„Warum nicht? Zu welcher Gattung gehört denn sein Tier?“
Der General machte ein säuerliches Gesicht.
„Sciurus.“
Dann war es an Robin, die Stirn zu runzeln. Sciurus? Was war denn das noch mal…? Plötzlich riss Robin seine Augen auf.
„Ehrlich?“
Jerome nickte zögernd.
„Ist ja geil, das wird lustig.“
General Kayser räusperte sich und der Rest sah etwas ratlos zu Robin. Der platzte mit einem Lachen hervor.
„Ein Eichhörnchen!“
Kurze Zeit später fuhr ein 8-Sitzer direkt bis an das Gebäude heran. Er hielt genau an einer Hausecke unter dem vorspringenden Regenschutz. Die Position war so gewählt worden, weil hier weder die Frontkameras, noch die Kameras aus der Lobby einen Einblick hatten.
Kevin und Lucas sahen fasziniert hinüber zu dem 8-Sitzer, aus dem gerade ein riesiges Eichhörnchen hüpfte. Ungeachtet seiner Größe von fast anderthalb Metern sprang es herum wie seine kleinen Vorbilder.
Kevin hörte hinter sich einen gemurmelten Kommentar.
„Hat ihm jemand Kaffee gegeben?“
Darauf folgte hysterisches Gekicher. Auch Kevin konnte sich noch sehr gut an den Animationsfilm mit dem koffeingesteuerten Eichhörnchen erinnern.
Jerome kletterte geschickt an der Fassade empor und näherte sich der Leuchtreklame von oben. Mit seinen geschickten Fingern entfernte er ein Kabel von der Kamera und hielt es hoch. Max sah erstaunt hinüber.
„Mein Gott, sind die blöd. Kann man ihn zurückrufen? Wir müssen etwas an dem Plan ändern.“
Robin nahm eine Ultraschallpfeife und gab das Rückzugssignal, was ihm böse Blicke von mindestens der Hälfte der Gestaltwandler einbrachte.
„Bisschen leiser hätte es auch getan“, meckerte Kyan.
Jerome war irritiert, befolgte aber sofort den Befehl. Der Wagen brachte ihn wieder zurück zur Einsatzzentrale. Max riss die Seitentür auf und wurde mit dem Anblick eines nackten jungen Mannes belohnt, der ihn erschreckt ansah.
„Alles in Ordnung. Sag mal, sind alle drei Kameras mit Kabel versehen?“
Jerome nickte stumm. Max rieb sich die Hände.
„Sag mal, wie geschickt bist du mit deinen Fingern?“
Jerome grinste nun Max an.
„Bisher hat sich noch keiner beschwert.“
Max verdrehte die Augen, lachte dann aber. Mit einem kleinen Seufzer lenkte er seinen Blick wieder vom schlanken, leicht behaarten Körper zu Jeromes Augen.
„Das wollte ich nun ausnahmsweise nicht wissen. Ich meine deine Tiergestalt. Kannst du einen Transponder an das freie Kabel anschließen?“
„Zeig mir das Ding und ich werde es ausprobieren.“
Max sprintete zurück in die Einsatzzentrale und kam nur wenige Minuten mit einem flachen Bauteil wieder, etwa so groß wie ein handelsüblicher Router.
„Hier hinten sind verschiedene Anschlussmöglichkeiten. Du musst nur sehen was da passt. Das kurze Kabel in die Kamera. Dann einfach hier einschalten.“
Jerome nickte und Max wurde nun Zeuge einer Wandlung in die Art Sciurus Vulgaris.
„Whow. Darf ich dich streicheln?“
Jerome nickte. Das Fell war tatsächlich so weich wie es aussah. Als Max sich dem riesigen buschigen Schwanz näherte, hob Jerome eine Hand und wedelte tatsächlich mit einem Finger. Max zuckte mit den Schultern.
„Schade. Aber jetzt probier' mal.“
Das Eichhörnchen nahm den Transponder auf und betrachtete ihn von allen Seiten. Die Anschlüsse waren gut erreichbar und auch der Schalter ließ sich betätigen.
„Dann mal los.“
Bevor Max den Wagen verließ. Beugte er sich schnell vor und gab Jerome einen Kuss auf die kleine braune Nase. Jerome fuhr automatisch mit einer Hand über seine Nase, beugte sich dann aber ebenfalls vor und rieb sich mit seinem Kopf an Max‘ Wange.
Oben zwischen der Leuchtreklame hüpfte Jerome unbekümmert hin und her. Das Anbringen des Transponders hatte einwandfrei funktioniert. Auf dem Weg zu seiner Abstiegsmöglichkeit schlich Jerome auch an einigen Bürofenstern vorüber. Beim letzten konnte er es sich nicht verkneifen hineinzusehen.
Es war das Fenster eines Großraumbüros. Alle Mitarbeiter waren an ihren Plätzen niedergesunken. Einige saßen noch auf ihren Stühlen, andere waren zu Boden geglitten. Nichts deutete darauf hin, was hier geschehen war.
In der Einsatzzentrale arbeitete Max fieberhaft an dem eingehenden Signal. Er hatte sowohl ein Signal der Kamera mit dem Blick auf den Parkplatz, als auch die Verbindung mit dem Rechner, der die Aufzeichnungen der Kamera steuerte.
„Da! Ich hab’s.“
Auf dem Monitor der Einsatzzentrale erschien das Bild eines Flures. Der Blick aus den Fenstern an der rechten Seite zeigte den Wald hinter dem Bürogebäude, wohl aus dem fünften oder sechsten Stock. Alles war ruhig.
„Warte mal, ich hole die anderen.“
Wenig später saßen General Kayser, Doktor Berg und Oberstleutnant de Boer im Wagen und sahen auf den Monitor. Max tippte schnell auf der Tastatur.
„Wo ist Jerome?“
Kevin sah den General grinsend an.
„Der hat eine Stunde im Streichelzoo. Aber wenn er gebraucht wird…“
„Nein, nein. Schon gut. Also, wie weit sind wir gekommen?“
Max tippte weiter und die Anzeige wechselte mehrere Male hin und her.
„Wir sind im Rechner der Kameraüberwachung. Wir können uns jede Kamera anzeigen lassen, haben aber keinen Zugriff, sollten sie abgeschaltet oder bewegt werden.“
„Wie weit kommen wir damit?“
„Bis fast ganz nach oben. Die beiden letzten Etagen haben einen eigenen Sicherheitsrechner und eigene Überwachungsanlagen.“
„Da. Was ist das?“
Auf dem gerade angezeigten Flur kam eine Person in den Aufnahmebereich der Kamera.
„Hm, der sieht fast so aus, wie die Typen, die uns in Neuerburg überfallen haben.“
„Aha, was hat er denn da in der Hand?“
Kevin sah genauer hin.
„Das ist eine Gasdruckpistole. Sie verschießt… Einen Moment, bitte.“
Ein kurzes Gespräch später betrat Robin die Einsatzzentrale. Vorsichtig legte er ein paar Gegenstände auf den Tisch. Kevin nickte dankend.
„Dies ist die besagte Gasdruckpistole. Sie verschießt diese kleinen Pfeile, von denen jeweils vier Stück in einem Magazin sind. Wir haben drei Pistolen und jeweils zwei Magazine erbeuten können. Die Pfeile haben unterschiedliche farbige Markierungen. Hier, ein Magazin mit gelben und ein Magazin mit roten Pfeilen. Wir wissen noch nicht, was die Pfeile verursachen sollten, tippen aber auf ein Betäubungsmittel oder etwas Ähnliches.“
„Das würde erklären, wie die Leute im Gebäude schnell und lautlos ausgeschaltet worden sind.“
Oberstleutnant deBoer blickte stirnrunzelnd auf die kleinen Pfeile.
„Durchdringen die auch unsere Kampfpanzerung?“
Alle sahen sich ratlos an. Max nahm einen der Pfeile hoch und drehte ihn hin und her.
„Wird uns wahrscheinlich nichts übrig bleiben, als es auszuprobieren.“
Der Test fand direkt hinter der Einsatzzentrale statt. Ein junger Leutnant der 1. Kompanie durfte als Testobjekt herhalten. Er hatte seinen Kampfanzug komplett angelegt und sah nun abwartend auf Robin, der die Gasdruckpistole mit einem gelben Magazin lud.
„Ein Schuss direkt auf die Brustplatte. Entfernung fünf Meter.“
Es gab nur ein leises ‚Plopp‘ als der Pfeil die Pistole verließ. Er traf auf die Brustplatte des Kampfanzuges und prallte dort ab.“
„Testversuch positiv.“
Oberstleutnant deBoer schien zufrieden, doch Robin schüttelte den Kopf.
„Es gibt zu viele freie Flächen.“
Der nächste Schuss kam unerwartet und traf das Opfer am linken Ellenbogen. Der Pfeil blieb stecken und der junge Leutnant sackte zusammen.
„Was zum…“
„Die Gelenke sind alle ungeschützt. Ebenso der Kopf. Ich möchte wetten, sie wissen, worauf sie schießen sollen, sollte jemand im Kampfanzug auftauchen.“
Timo kümmerte sich inzwischen um den jungen Mann, während General Kayser nur den Kopf schüttelte. Timo erhob sich.
„Tiefe Bewusstlosigkeit. Der schläft mindestens noch sechs bis acht Stunden. Und du hast einen gelben Pfeil verwendet?
„Ja, warum?“
„Ich behaupte mal, die roten sind erheblich stärker. Sie haben sich auf alles vorbereitet.“
„Auf was?“
„Na, Gestaltwandler. Stell dir mal vor, so ein roter Pfeil ist in der Lage, selbst einen Werwolf in seiner Halbgestalt zu betäuben.“
„Hier ist der Grundriss. In der Lobby führen drei Aufzüge nach oben. Direkt daneben das große Treppenhaus und hier hinten die Nottreppe.“
„Die Aufzüge können wir vergessen. Also nur die Haupttreppe und die Nottreppe.“
Kevin tippte auf den Plan.
„Die sind auf jeder Etage aber ziemlich gut zu verteidigen.“
Oberstleutnant deBoer nickte, sah dann aber hinüber zu General Kayser.
„Ich schlage vor, wir machen es auf die brutale Methode. Wir sprengen den Haupteingang und gehen dann über die beiden Treppenhäuser vor. Das Bataillon hat über hundert Kampfmagier und etwa fünfzig Bannmagier. Wir könnten zumindest bis in die zehnte Etage kommen.“
„Sie wollen die Kampfmagier unter der dem Spruch Panzer vorgehen lassen und die Bannmagier unter einer physischen Barriere?“
„Nicht ganz. Die Kampfmagier können den Panzer nicht die ganze Zeit aufrechterhalten. Es geht nur ein Teil vor. Wenn sie erschöpft sind, gehen sie unter dem Schutz der Bannmagier zurück und tauschen mit der Reserve.“
Kevin sah auf den Plan und verzog sein Gesicht. Er hatte zu wenig Informationen.
„Ich möchte mich mit Major Bauer beraten. Er hat ebenfalls Kampfsinn und wir können die Situation gemeinsam analysieren.“
„Natürlich, kein Problem. Wenn es noch andere Alternativen geben sollte…“
Die Besprechung wurde von Max unterbrochen.
„Ich störe ungerne, aber sie sollten sich alle Mal dieses Video ansehen. Es ist vor zwei Minuten ins Netz gestellt worden.“
Auf dem Bildschirm erschien zunächst das rotweiße Logo einer weltbekannten Video-Seite, dann kam ein älterer Mann Mitte vierzig, mit etwas lichtem Haar. Max drehte jetzt auch den Ton hoch.
„…in der Lage, eine der größten Verschwörungen der Weltgeschichte aufzudecken. Unter dem Deckmantel der Menschenfreundlichkeit existieren sie schon seit Jahrhunderten unter uns. Sie nennen sich Dämonenjäger, doch sie sind nichts als eine Gruppe von Männern, die an ihrer Macht kleben. Sie haben richtig gehört, es sind nur Männer, denn sie alle haben einen gesellschaftlichen Makel, den sie zu kompensieren versuchen. Sie sind schwul. Das ist keine Diskriminierung, denn sie können Dinge, die einem normalen Menschen verwehrt bleiben. In nur wenigen Minuten wird ein weiteres Video live geschaltet, das die ersten Beweise für meine Offenbarung beinhaltet.“
Der erste, der seine Stimme wiederfand, war General Kayser.
„So ein Vollpfosten. Das hätte ich ihm niemals zugetraut.“
„Sie kennen den Mann?“
„Ja, natürlich. Das ist der Leiter des Logistik-Corps. Herman Bertrand aus Großbritannien. Er ist einer der neun Beigeordneten des Exekutivrates.“
„Was? Er gehört zum Exekutivrat?“
„Ja, leider, genauso wie ich.“
Jetzt starrten fast alle General Kayser an. Der gab Max einen Wink.
„Einmal das Organigramm des Exekutivrates, bitte.“
Drei Sekunden später sahen alle interessiert auf den Bildschirm.
„Also, da ist der Großmeister. Darunter drei Stellvertreter. Den alten Traditionen folgend für Verteidigung, das Archiv und die Finanzen. Jeder der drei Stellvertreter hat drei Beigeordnete. Hier, der Marschall, der Stellvertreter für Verteidigung, hat die Beigeordneten für die Einsatzverbände, das sind die Divisionskommandeure. Den Beigeordneten für das Gestaltwandler-Korps, das bin ich. Und dann noch den Beigeordneten für das Logistik-Corps, besagten Mister Bertram.“
„Aber, was will er denn?“
„Da kann ich auch nur spekulieren. Ich vermute, es ist Rache. Dazu muss ich etwas ausholen. Vor drei oder vier Jahren hat er einen Antrag eingebracht, dass der Posten des Großmeisters nicht nur von einem Magier besetzt werden kann, sondern allen Mitgliedern des Ordens offen stehen soll. Der Antrag wurde damals vom zuständigen Generalkapitel einstimmig abgelehnt. Seit dieser Zeit gibt es immer mal wieder Schwierigkeiten mit dem Logistik-Corps.“
„Dann hat er uns jetzt ganz schön einen eingeschenkt.“
„Darf ich fragen, was Sie zu dieser Einschätzung veranlasst, Herr Böttcher?“
„Er hat ein Video mit Enthüllungen angekündigt. Ich nehme an, er will eine erwartete Erstürmung online zeigen. Das lässt sich nur schwer wegerklären. Wenn wir nicht stürmen, hat er vielleicht weitere Erpressungsmöglichkeiten.“
Major Bauer betrat die Einsatzzentrale und wurde kurz in die neue Lage eingewiesen. Er und Kevin tuschelten eine ganze Weile, bis Max aufstöhnte.
„Ich hab doch keine sechs Hände. Haben wir noch jemanden mit ausreichenden IT-Kenntnissen?“
General Kayser sah grinsend zu Max.
„Frag den Schneehasen.“
„Marcel? Geil.“
Zwei Minuten später drängelten sich Max und Marcel vor der Konsole.
„Äh, Marcel hatte da gerade eine Idee.“
„Ja, und?“
„Also, wir machen den Angriff wie vorgeschlagen, aber zusätzlich mit den Angehörigen des Gestaltwandler-Korps.“
„Was?! Warum denn das?“
„Ganz einfach. Wir bestimmen ja von hier aus, welche Kameras übertragen. Dann heben wir Szenen mit den Gestaltwandlern in ihrer Tierform heraus. Was glaubt ihr, wie glaubhaft so eine Angriff wirkt? Würd‘ mich nich‘ wundern, wenn der eine große Menge Klicks bekommt. Als bester Film mit Special Effects.“
Oberstleutnant de Boer hob nur ratlos beide Hände, während Kevin und Major Bauer leicht grinsten.
„Na gut. Aber ich möchte alle Entscheidungen dokumentiert haben. Wenn wir hierbei etwas verreißen, will ich wenigstens, dass alle wissen, warum.“
Der Angriff war mehr als spektakulär. Zwanzig Kampfmagier näherten sich in ihren Panzerungen dem Haupteingang. Auf Kommando bildete sich eine diffuse blaue Welle vor ihnen, die auf die Türen zueilte. Ein Animation in einem Actionfilm hätte nicht besser zeigen können, wie die gesamte Glasfassade zerbarst und die schweren Drehtüren nach innen geschleudert wurden. Die Kameras in der Lobby lieferten ein gutes Bild.
Die nächste Szene veranlasste Max und Marcel beinahe dazu, vor Lachen von ihren Sitzen zu fallen. Mit den nun gelb leuchtenden Kampfmagiern kam auch ein gut anderthalb Meter hohes Eichhörnchen hereingehüpft, bei dem das orangefarbene Schimmern fast gar nicht auffiel. Das Eichhörnchen sah sich um und deutete mit ausgestrecktem Arm jeweils auf die Haupt- und die Nottreppe. Zwei Männer in Kampfpanzerung salutierten und führten ihre Leute in die angegeben Richtungen.“
Marcel stöhnte vor Lachen.
„Schade, dass wir ihm kein Lichtschwert mitgeben konnten.“
General Kayser schüttelte nur den Kopf bei dem darauffolgenden hysterischen Lachen. Marcel verstummte plötzlich.
„Ha, ich hab ihn!“
„Was? Wen?“
„Na, unseren Bertram. Sein Livestream geht von der Kameraüberwachung direkt online. Ich hab seine Steuerung umgangen. Jetzt kann er den Livestream nur noch abschalten, wenn er den Strom unterbricht oder die Anlage zerstört.“
Im Gebäude wurde inzwischen Etage für Etage erobert. Mehr als einmal sah man zwischen den Soldaten in ihren Kampfpanzern einen Fuchs, einen Braunbären, einen Biber, einen Luchs, ein Wildschwein oder gar ein Rehbock auftauchen. Allen voran immer wieder das schon bekannte Eichhörnchen.
Während im Gebäude ein zäher Kampf tobte, wurden die Augen in der Einsatzzentrale immer größer.
„Sechs Minuten online und über 100.000 Klicks!“
„Ja, aber sieh mal, mehr als 3.000 Likes.“
„Das ist völlig unmöglich.“
In der zehnten Etage gab es eine weitere Lobby, in die alle drei Aufzüge und die beiden Treppenhäuser führten. Der Zugang zu den beiden oberen Etagen war in einem extra abgesicherten Raum. Doch auch dessen Zugang war kein Hindernis für den blauen Zauber der Ramme. Die Tür barst nach innen und die Truppen stürmten vor. Mit ihnen auch Jerome, der zu seinem Leidwesen nur noch mitbekam, wie Mister Bertram in einem der beiden Liftzugänge im hinteren Teil des Raumes verschwand.
Jerome sprang mit einem Riesensatz zum Aufzug, doch zu spät. Die Kabine setzte sich bereits in Bewegung. Frustriert hämmerte Jerome auf den Rufknopf. Ein Hauptmann der Kampfmagier neben ihm, studierte die Anzeigen.
„Moment, das ist der Notausgang nach unten. Der Aufzug nach oben ist immer noch im Shut-down.“
Nach unten. Der Sack wollte abhauen! Jerome quiekte enttäuscht. Jetzt lag es nicht mehr an ihm.
Der Ausgang des Notaufzugs öffnete sich auf eine kleine Kiesfläche, dann führte ein schmaler Weg durch ein Gehölz auf einen Parkplatz mit Zugang zur Hauptstraße.
Herman Bertrand wusste, wann er verloren hatte. Er hatte es im Prinzip schon gewusst, als die Kameraübertragungen sich merkwürdig verhielten. Dennoch hatte er alles auf eine Karte gesetzt. Woher sollte er auch wissen, dass sie diese blöden Viecher mit vorschicken würden. Das machte seine wissenschaftliche Enthüllung zu einer Komödie! Aber er würde es ihnen schon noch zeigen. Schließlich hatte er ja noch Reserven.
Als er auf dem nicht gepflasterten Weg durch das Gehölz eilte, hörte er plötzlich leise Geräusche vor sich. Ein riesiger Wolf schob sich durch die Büsche und versperrte seinen Weg. Er fuhr herum. Doch auch hinter ihm befand sich jetzt eines dieser Untiere.
„Aber, aber, Mister Bertram. Sie wollen uns doch nicht schon verlassen?“
Ein großer, hellblonder junger Mann war nun ebenfalls durch die Büsche auf den Weg getreten.
„Was wollen Sie von mir? Verschwinden sie. Ich bin ein Beigeordneter des Exekutivrates.“
„Welches Exekutivrates denn? Hier gibt es so etwas nicht. Hat es noch nie gegeben. Es ist Zeit, schlafen zu gehen.“
Zunächst wunderte sich Herman Bertrand über die merkwürdige Wortwahl, doch dann sah er die kleine Pistole und wusste, worum es ging. Er hörte noch den Abschuss des Pfeils, dann umfing ihn Dunkelheit.
Alle Einheiten des Einsatzes wurden nach einer kleinen Nachbesprechung nach Hause geschickt. Die einzige Auskunft die sie bekamen, war, dass der Exekutivrat zu einer Dringlichkeitssitzung zusammengekommen war.
Am vierten Tag nach dieser Sitzung gab es Besuch auf Schloss Neuerburg. Drei Fahrzeuge der Organisation kamen durch das Tor und Robin gab Alarm. Er hatte alle drei Fahrzeuge als schwer gepanzerte Limousinen identifiziert.
Kevin und Lucas waren bereits auf der Brücke, als die Besucher ausstiegen. Die Divisionskommandeure und Brigadegeneral Kayser kannten sie inzwischen.
Aus den anderen Wagen stiegen Pater Anselm, Professor Doktor Heilmann und ein Mann in fortgeschrittenem Alter mit schneeweißen Haaren. Kevin hatte ihn noch nie zuvor gesehen, doch er war sich absolut sicher, um wen es sich handelte.
Wortlos wies er auf den Eingang und die Besucher folgten ihm. In der Halle hob Kevin erstaunt die Augenbrauen. Seine gesamte Truppe war angetreten. In Uniform! Wie Robin das so schnell hinbekommen hatte, blieb ihm ein Rätsel. Pater Anselm ergriff das Wort.
„Meine Herren. Einige der Anwesenden brauche ich nicht extra vorzustellen. Falls er Ihnen noch nicht bekannt ist, dieser Herr ist Professor Doktor Heilmann, Geschichtswissenschaftler und Archivar unseres Ordens. Dann selbstverständlich Herr Thomas Lasker, unser Großmeister.“
Der Großmeister ging mit Kevin die gesamte Reihe der angetretenen SMU ab und nickte manchmal nachdenklich.
„Meine Herren, ich danke Ihnen. Es ist eine sehr seltene Ehre, so begrüßt zu werden. Ich werde zusammen mit meinen Begleitern und Ihren Leitern eine wohl längere Besprechung abhalten. Diese Besprechung ist geheim. Und das meine ich auch so.“
Der Blick des Großmeisters suchte Max und der schaffte es, gleichzeitig überrascht und beleidigt auszusehen.
Die Besprechung blieb tatsächlich geheim.
Als die Besucher später in der Nacht wieder abgefahren waren, beriefen Kevin und Lucas eine kleine Konferenz ein.
„Leute, wir dürfen noch nichts sagen, also löchert uns nicht. Es wird jedenfalls nicht viel so bleiben, wie es war.“
Gabriél hob zögernd eine Hand. Kevin schüttelte den Kopf.
„Wie gesagt, kein Kommentar. Zunächst werden wir alle hier zusammen bleiben und weiter unsere Arbeit in der einen und der anderen Welt machen. Ihr bekommt alle zu wissen, wann es soweit ist.“
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