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Freibeuter der Meere
Teil 2
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Informationen
- Story: Freibeuter der Meere
- Autor: Mondstaub
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Abenteuer
Inhaltsverzeichnis
Nach dem verspäteten Frühstück wurden Clyde und Jean-Luc in die Kapitänskajüte gerufen. Der Captain und der Erste Offizier saßen am großen Tisch vor der Heckgalerie und sahen den beiden Jungen freundlich entgegen.
„Jean-Luc. Clyde hat mir an Bord der SIRÉNE erzählt, dass er einen Mann erschossen hat, der dich mit einer Pistole bedrohte. Du sollst dich vorher mit diesem Mann unterhalten haben. Möchtest du etwas dazu sagen?“
Jean-Luc zögerte nicht einen Moment.
„Das war Pierre le Rat.“
„Pierre die Ratte? Wer ist das?“
Jean-Luc hatte die Hände zu Fäusten geballt und sein Gesicht war weiß geworden.
„Pierre le Rat. Der oberste Sklavenaufseher des Herzogs von Grimauld.“
Zeitgleich wanderten drei Augenbrauenpaare in die Höhe.
„Louis du Plessis, Herzog von Grimauld?“, kam es von Clyde.
„Genau der!“
Daniel Hansom sah kurz hinüber zu Clyde. Da kamen ja ungeahnte Talente zu Tage. Daniel machte sich einen geistigen Vermerk darüber, mehr über die Adelshäuser auf dem Kontinent zu erfahren.
„Ich dachte, in Herblonde gibt es nur Staatssklaven. Der private Besitz sei verboten.“
Jean-Luc ließ ein bellendes Lachen hören.
„Das erzählen sie nach außen. Doch es gibt bei fast allen Adligen gewisse Häuser, in denen genauso Sklaven gehalten werden, wie in den Manufakturen oder den Steinbrüchen. Sie werden natürlich umsorgt und umhegt, denn sie sind teuer. Im Schloss von Grimauld gibt es einen ganzen Flügel, der unter Verschluss gehalten wird. Und Pierre le Rat hat, nein hatte, die Oberaufsicht.“
„Du weißt eine ganze Menge über den Herzog und diese Ratte.“
Jean-Luc sah seinem Kapitän direkt in die Augen.
„Ja, das weiß ich. Und ich kenne auch unsere Regel, dass niemand über seine Vergangenheit zu reden braucht, wenn er Mitglied dieser Besatzung geworden ist. Aber jetzt ist es wohl an der Zeit, dass ich kurz meine Geschichte erzähle.“
Clyde hatte sich zur Tür gewandt, doch Jean-Luc winkte ab.
„Bleib ruhig da. Du hast ihn ja für einen kurzen Moment erlebt. Und ich habe nicht vor, irgendetwas zu verbergen. Vor niemandem.“
„Du musst das nicht. Wir glauben dir auch so.“
„Nein, nein. Ist schon in Ordnung. Mit der Ratte ist auch ein Teil meiner Ängste gestorben. Jetzt möchte ich mich dem Rest stellen.“
Captain Hansom nickte zustimmend.
„Ich wurde im Dorf Grimauld geboren, das zu dem gleichnamigen Schloss gehört. Meine Eltern waren beide Diener auf dem Schloss. Dort wuchs auch ich auf, wurde mit sechs ein Page, mit zwölf wurde ich Hausbursche. Als ich etwa vierzehn war, erwischte mich der Haushofmeister mit einem anderen Jungen in der Wäschekammer. Anstatt zu lamentieren oder uns zu bestrafen, wurde ich nach einer kurzen Begutachtung zu Pierre le Rat gebracht.“
„Er heißt – nein, verdammt - er hieß eigentlich Pierre Boucher und war unter anderem als kleiner Zuhälter tätig, bis er dem Herzog ein paar Gefälligkeiten erweisen konnte. Die wurden auch gut belohnt Er bekam die Aufsicht über einen abgeschlossenen Flügel des Schlosses Grimauld. Dort wurden etwa 20 junge Männer und Frauen gehalten, um dem Herzog und seinen Günstlingen jederzeit zur Verfügung zu stehen. Ich nehme an, das ist auch heute noch der Fall.“
„Wieso bist du da hingekommen, ich dachte, das wären alle Sklaven?“
Percy machte Clyde ein Zeichen, Jean-Luc nicht zu unterbrechen, doch der schien sich nicht daran zu stören.
„Das war dem Herzog völlig egal. Die Jungs, die aufgefallen waren, kamen da hin, genau wie die Mädchen, die sich hatten beschwatzen lassen. Da brauchte man dann nicht so viel Gewalt aufzuwenden, wie bei vielen der Sklaven.“
„Damit sie auch den ‚höchsten Ansprüchen‘ genügten, wurden sie vorher noch ‚ausgebildet‘, was heißt, sie wurden in alle Aspekte der körperlichen Liebe eingewiesen, wenn nötig mit Gewalt. Die Jungen hat Pierre immer höchst selbst behandelt.“
Percy Seymore beobachtete Jean-Luc genau, während dieser erzählte. Er kannte diesen abwesenden Blick, den Blick nach innen, in die eigene Vergangenheit. Percy war bereit, sofort einzugreifen, sollte sich Jean-Luc von seinen eigenen Erinnerungen überwältigen lassen.
„Es gab ein paar Fälle, die sich standhaft weigerten. Weder Prügel, noch gute Worte oder gar Belohnungen halfen. Die Jungs verschwanden dann plötzlich von einem Tag auf den anderen. Niemand wagte, nach ihnen zu fragen. Also habe ich mich notgedrungen darauf eingelassen. Ich wollte nicht so verschwinden wie die anderen, die sich geweigert hatten. Verschwunden bin ich dann allerdings doch. Es hat fast ein halbes Jahr gedauert, meinen Plan in die Tat umzusetzen, aber ich habe es geschafft.“
Jean-Luc liefen jetzt die Tränen herunter und Percy Seymore stand langsam auf.
„Manchmal habe ich mir gewünscht, ich wäre besser gestorben, als das alles zu ertragen, aber ich habe es geschafft. Ich habe es geschafft.“
Percy trat leise von hinten an Jean-Luc heran. Vorsichtig umfasste er die kleinere Gestalt und zog ihn sanft an sich. Zärtlich gab er ihm einen leichten Kuss in den Nacken.
„Ganz ruhig, Kleiner. Du bist bei uns, du bist in Sicherheit. Niemand wird dir etwas antun. Du brauchst nichts zu tun, was du nicht willst.“
Jean-Luc lehnte sich etwas nach hinten, schmiegte sich an die größere Gestalt und schniefte noch etwas. Dann befreite er sich mit sanftem Druck aus der Umarmung.
„Danke. Es geht wieder.“
Langsam drehte er sich um und umarmte jetzt Percy, wobei er seinen Kopf auf dessen Brust legte. Der strich ihm langsam über den unbändigen schwarzen Schopf.
„Es ist schwer, ich weiß es aus eigener Erfahrung.“
Jean-Luc seufzte laut, dann umklammerte er Percy noch fester als vorher. Nach einem kurzen Moment ließ Jean-Luc Percy zögernd los. Percy sah ihm in die Augen.
„So, Kleiner. Jetzt gehst du los und besprichst das Ganze noch einmal mit deinem Freund. Er hat sich ohnehin schon Sorgen genug gemacht.“
Mit einem leichten Schlag auf den Hintern schickte Percy ihn auf den Weg. Clyde sah ihm überrascht nach. Er hatte einen Freund?
Der große Tisch war von der Fensterfront in die Mitte des Raumes gerückt worden. An einem Kopfende stand der Stuhl des Kapitäns, an jeder Längsseite waren vier weitere Stühle platziert. Pünktlich um sechs Glasen der Vormittagswache kamen die Teilnehmer des Kriegsrates in die Kapitänskajüte.
Captain Hansom begrüßte jeden einzelnen und wies ihm einen Sitzplatz zu. Zu seiner rechten saßen die Offiziere und Unteroffiziere, zu seiner linken die Seekadetten und Clyde. Auf dem Tisch waren der Inhalt der Kassette und die Papiere und Karten von der SIRÈNE ausgebreitet.
Daniel Hansom sah eine ganze Weile schweigend auf den Tisch, dann ergriff er das Wort.
„Meine Herren, ich bin mir darüber im Klaren, dass dies eine außergewöhnliche Versammlung ist. Sie sind hier zusammengerufen worden, um mir, um uns, zu helfen, ein wenig Licht in die Angelegenheit um die SIRÉNE zu bringen. Ich möchte noch einmal zusammenfassen, warum wir die SIRÉNE aufgebracht haben.“
„Das Schiff hat seine Nationalität erst zu erkennen gegeben, als beide Schiffe einen Abstand von höchstens einer Kabellänge hatten, dann hat es eindeutig als erstes das Feuer eröffnet, während bereits beide Schiffe ihre Flaggen deutlich sichtbar führten. Da wir uns mit Herblonde zurzeit im Krieg befinden, war es sogar unsere Pflicht, das Schiff aufzubringen.“
Als erster meldete sich Percy Seymore.
„Wir sind nur auf sie gestoßen, weil wir so weit nach Osten ausgewichen sind. Hätten wir früher den Kurs geändert, wären wir ihm nie begegnet. Wieviel weiter sind wir eigentlich nach Osten gesegelt?“
„Etwa fünfzig Seemeilen.“ sagte der Master.
„Ein bemerkenswerter Zufall, denn hier ist rings umher nichts als offene See. Wenn er, genau wie wir, auf dem Weg in seine Heimat gewesen ist, hätten wir genauso gut etliche Meilen an ihm vorbeilaufen können ohne ihn zu behelligen.“
Captain Hansom nickte stumm.
„Nun gut, dann wollen wir einmal sehen, was alles in dieser geheimnisvollen Kassette so drin ist.“
Captain Hansom nahm eine der Rollen, besah sie sich und rollte sie über den Tisch, so dass der Zahlmeister sie stoppen musste, damit sie nicht herunterfiel.
„Na, wie viel?“
Miles Redcliff nahm die Rolle hoch und wog sie in der Hand.
„Ich würde sagen, etwa 50 SeaSovereigns.“
Auf ein Nicken des Kapitäns begann er die Rolle zu öffnen. Als die dicke Verpackung nachgab, rollten tatsächlich nagelneue goldene Sovereigns über den Tisch. Miles griff schnell danach und machte fünf Stapel.
„Jawohl, 50 Sovereigns. Frisch geprägt.“
Captain Hansom legte die anderen 11 Rollen ebenfalls vor dem Zahlmeister ab.
„Macht 600 Sovereigns. Fast schon ein kleines Vermögen.“
Danach kamen drei in Öltuch verpackte Bündel. Das erste Bündel hatte der Captain bereits geöffnet und er gab es an Ragnar Thorsson, der ihm links am nächsten saß. Vorsichtig schlug der Seekadett das Bündel auseinander. Heraus fielen ein Dünnes Büchlein und mehrere gefaltete Papiere.
Der Captain nahm das Büchlein auf, sah kurz hinein und schob es dann dem Segelmeister zu. Der nahm es ebenso wortlos auf, sah hinein und fing erstaunt an zu blättern.
Das nächste war ein zweifach gefalteter Bogen, den Daniel Hansom vorsichtig auseinanderfaltete. Wortlos gab er ihn an Jean-Luc. Der las ihn einmal, dann räusperte er sich.
„Monsieur. Ich bin äußerst unzufrieden mit ihren bisherigen Erfolgen. Durch ihre völlig unzureichenden Kontakte gefährden sie das ganze Projekt. Bemühen sie sich, deutlich qualifiziertere Subjekte anzuwerben als bisher. Geld spielt keine Rolle. HDG.“
„HDG?“
Jean-Luc sah auf.
„Henri Duc de Grimauld.“
„Sehr freundlicher Zeitgenosse.“
Es folgte ein zweites Blatt, das Jean-Luc erst durchlas, dann aber stutzte. Er las noch einmal, bevor er mit leiser Stimme den Brief offen vorlas.
„Monsieur. Das Anwesen von Grimauld verliert an Prestige. Die Auswahl ihrer zur Verfügung gestellten Personen ist miserabel. Besorgen sie gefälligst etwas anderes als diese Bauernlümmel. HDG.“
Clyde sah Jean-Luc an.
„Er bezieht sich auf das Schloss und die Jungen die dort, hmmm… arbeiten, nicht wahr?“
„Möglicherweise. Das steht hier nicht.“
Bevor eine weitere Frage kam, wurde Jean-Luc ein dritter Brief zugeschoben. Auch hier las er den Inhalt zunächst für sich, bevor er die Übersetzung laut vortrug.
„Monsieur. Ihr neuestes Projekt findet Zustimmung in den höchsten Kreisen. Wie berichtet wurde, hat der letrionische Gesandte bereits Beschwerde eingelegt. Wir hoffen in eurem Interesse, dass es keine Pannen gibt. Wir dürfen auf gar keinen Fall damit in Verbindung gebracht werden. HDG.“
„Ein charmanter Mann, besonders im Umgang mit seinen Untergebenen.“
Daniel Hansom nickte, dann tippte er mit dem Zeigefinger auf das letzte Blatt.
„Was hat dieser Idiot ausgeheckt, dass ein letrionischer Gesandter Beschwerde eingelegt hat? Und wo? Und wen bezeichnet dieser Herzog als ‚höchste Kreise‘?“
Jean-Luc zögerte etwas, dann sah er auf die Tischplatte, als er leise flüsterte
„Der Herzog erkennt nur eine einzige Person als über sich stehend an. Seine Majestät, …“
„…König Aristide XVI. von Herblonde.“
beendete David Hansom den Satz, den Jean-Luc nicht zu Ende gebracht hatte, dann nickte er bedachtsam.
„Ich glaube, ich fange langsam an zu verstehen. Aber weiter.“
Jetzt folgte das letzte Schreiben.
„Monsieur. Wenn es stimmt, was sie mir berichtet haben, setzen sie alles daran, es in ihre Hände zu bekommen. Es ist mir egal, wie viel eine Expedition ins Landesinnere kostet. Ich will es haben, selbst wenn sie einen ganzen Stamm dieser Wilden dafür ausrotten müssen. Ich erwarte sie so schnell wie möglich zurück. HDG.“
„So, so. Der Herzog will also unbedingt etwas in seine Finger bekommen. Ein Stamm von Wilden? Das kann eigentlich nur in der Neuen Welt sein. Was, zum Henker, gibt es bei den Wilden, was ihn interessieren könnte?“
Frustriert schlug Daniel Hansom mit der Faust auf den Tisch. Bisher hatten die Briefe mehr Fragen als Antworten gebracht. Wenn das so weiter ging, würden sie hier noch tagelang brüten.
Ragnar bekam das nächste Bündel und öffnete es vorsichtig. Drei mehrfach gefaltete Seekarten fielen heraus. Alle drei wurden auf dem Tisch ausgebreitet. Der Master erhob sich und verschaffte sich einen kurzen Überblick.
„Dies hier ist die Westküste von Britannica. Diese Markierung bezeichnet eine Einfahrt zu einem geheimen Versteck, westlich der Stadt Burlington. Das Versteck ist eine natürliche Höhle, die von See aus befahrbar ist.“
Alle sahen den Segelmeister vollkommen erstaunt an, bis dieser das kleine Büchlein hochhob, das er studiert hatte.
„Ein Seehandbuch für diesen Bereich mit allen Erklärungen und Beschreibungen.“
„Die zweite Karte zeigt einen Ausschnitt der Küste von Herblonde. Hier ist ein Ankerplatz in einer kleinen Bucht markiert. Die dritte Karte kann ich nicht genau zuordnen, doch anscheinend ist es eine Gegend in einer der neuen Kolonien von Letrion oder Rota. Hier weist eine Markierung ins Landesinnere.“
„Britannica, Herblonde, die Neue Welt. Wie passt denn das alles zusammen.“
Alle sahen sich fragend an, doch keiner wagte es, selbst einen abwegigen Vorschlag zu machen.
Jetzt kam das dritte Paket dran. Hier fielen nur drei kleine Blätter heraus, die Ragnar vorsichtig ausbreitete, während er einen kurzen Blick darauf warf. Das erste Blatt hatte eine ganze Reihe von Zahlen, die teilweise mit einer Bemerkung versehen waren.
512030 0061600 2003 1100 (erledigt)
501200 0071000 2104 0700 (verpasst)
514930 0062030 2105 1400 (erledigt)
502800 0062000 2006 1100 (verpasst)
510000 0061530 2207 0900
510200 0072030 2308 1400
501700 0062000 2009 1100
495900 0080130 2010 0900
Captain Hansom saß auf seinem Stuhl am Kopfende des Tisches und betrachtete das Blatt schräg von der Seite.
„Was soll das denn?“
Ragnar sah etwas unsicher zum Master, der ihm schräg gegenübersaß.
„Sieht ein Bisschen aus wie unser Log mit den Mittagspositionen.“
Jason Lawrence griff über den Tisch und nahm das Blatt an sich. Er studierte es eine Weile, dann lächelte er dünn.
„Das dürften tatsächlich Positionen sein. Hier, erst die Breite, dann die Länge. Alle in etwa dreißig bis vierzig Meilen vor der britannischen Küste. Bei den anderen Zahlen müsste ich raten, aber ich vermute, es sind Datum und Uhrzeit.“
Damit reichte er das Blatt zu Percy, der es dem Captain gab.
„Wenn das ein Datum ist, dann haben wir eine Chance verpasst, herauszubekommen, mit wem sich unser Vögelchen hier treffen wollte. Bis zum 22. Juli können wir es auf gar keinen Fall schaffen. Der 23. August ist da schon eine ganz andere Sache. Wie weit sind wir von dieser Position entfernt?“
Der Master erhob sich und verließ die Kapitänskajüte. Wenig später kam er mit einer Seekarte wieder, die er auf dem Tisch ausrollte.
„Hier. Die angegebene Position ist vierzig Meilen südwestlich von Burlington entfernt. Das ist die Gegend, wo sich auch diese Höhle befindet. Mit Glück können wir in zwölf oder dreizehn Tagen in Britannica sein. Das wäre dann der 29. Juli.“
Jetzt beugten auch die Seekadetten ihre Köpfe über die Karte.
„Was ist denn so interessant an diesen Positionen? Da ist doch nichts als Wasser.“
„Treffpunkte.“ kam es von Clyde.
„Ort, Datum, Uhrzeit. Ein Rendezvous mit… ja, mit wem eigentlich?“
Thomas Meinhardt lehnte sich zurück.
„Hier, vor dieser Küste, kommt eigentlich nur jemand aus Britannica in Frage.“
Der Master schüttelte nachdenklich den Kopf.
„Nicht unbedingt. Soweit westlich gibt es auch Schiffe, die nach Isafjord wollen. Von Herblonde oder Letrion aus ist das der kürzeste Weg. Außerdem liegt die Position auch günstig zur Ansteuerung von Corcaigh auf Erin.“
„So kommen wir nicht weiter. Mal sehen, was das hier ist.“
Daniel Hansom griff zu dem zweiten Blatt. Sekundenlang starrte der Captain darauf, dann schob er es über den Tisch.
„Miles, ich glaube, du kannst etwas mehr damit anfangen.“
1603 Singing Sailor
1704 Anchor & Shackle
1705 Smiling Seal
1606 Beheaded King
1807 Hangman
1908 Jolly Roger
1609 Landsbury
1610 Grapevine
Der Zahlmeister warf nur einen kurzen Blick auf den Zettel und schnaubte entrüstet.
„Was soll das? Wollen die uns verarschen? Das sind alles Kneipen und Tavernen im Hafenviertel von Caerdon.“
Jason Lawrence, der Master, saß neben Miles und warf ebenfalls einen Blick auf die kleine Liste.
„Ja, und wenn die Zahlen ein Datum sein sollten, liegen sie alle genau vier Tage vor den jeweiligen Daten für die Treffpunkte.“
„Was ergibt das also?“
Ragnar sah auf die verteilten Blätter.
„Jemand trifft sich in Caerdon in einer Hafenkneipe, um…“
„…dann vier Tage später vor der britannischen Küste einen Treffpunkt mit einem anderen Schiff aufzusuchen.“
setzte Thomas Meinhardt fort.
„Es könnte sich um ganz normale Frachtvermittler handeln, die exklusive Geschäfte abschließen.“
Jean-Luc schüttelte den Kopf.
„Glaub ich nicht. Dagegen spricht ein Treffpunkt auf hoher See und diese konfuse Frachtliste.“
Der Segelmeister sah nachdenklich über den Tisch und griff nach einem der Papiere.
„Miles, ist daran irgendetwas merkwürdig?“
Der Zahlmeister nahm das Papier entgegen und sah darauf.
„Das Manifest? Nicht dass ich wüsste. Eine sehr große Auswahl mit kleinen Mengen, aber wenn man davon ausgeht, dass sie von einer größeren Tour auf dem Rückweg nach Herblonde waren…“
Der Segelmeister deutete auf die ganzen Seekarten und die Handbücher.
„Sie haben eine Menge Seekarten und Handbücher an Bord gehabt. Normalerweise werden Karten nur mitgenommen für das Seegebiet, in das ich fahren will. Doch hier sind fast die gesamten Küsten von Herblonde, Arlemande, Britannica, Isafjord und den Tausend Inseln abgedeckt. Dazu kommen noch Karten und Handbücher über ein geheimes Versteck an der britannischen Küste und eine Karte vom Festland der Neuen Welt, von einem Gebiet, dass noch nicht besonders gut erkundet und kartographiert ist.“
„Diese Treffen auf See liegen im Abstand von etwa einen Monat. Wenn er in die Neue Welt fährt und wieder zurück, kann er unmöglich alle Termine einhalten. Also gibt es wahrscheinlich noch andere Schiffe, die an den Treffpunkten warten. Dann würde auch die Bemerkung über den verpassten Termin Sinn machen.“
Captain Hansom nahm nun den letzten Zettel aus dem kleinen Paket auf und entfaltete ihn. Etwas frustriert knallte er ihn vor Jean-Luc hin, der den Zettel aufnahm, als sei er gefährlich. Doch auch er runzelte nun die Stirn und las laut vor.
Seaflower
Griffon
Respetuosa
Sleipnir
„Was ist das denn?“
„Hm, Griffon ist ein Greif.“ meinte Jean-Luc nachdenklich.
„Und Respetuosa ist letrionisch und heißt so viel wie Respektvoll.“ kam es von Clyde am Ende des Tisches.
Ragnar brummt etwas unwillig.
„Sleipnir ist das Pferd des Gottes Odin.“
Der Master lehnte sich etwas zurück und sah von einem zum anderen.
„Ich kenne ein Schiff, das SEAFLOWER hieß. Ist bei der Überfahrt in die neue Welt verloren gegangen.“
„Du meinst, es sind Schiffsnamen? Vielleicht von Schiffen am Treffpunkt? Das wären dann aber möglicherweise Schiffe aus vier verschiedenen Ländern.“
Clyde sah auf den Tisch und dann hinüber zum Captain.
„Wir befinden uns doch im Krieg mit Herblonde. Ist es da nicht für ein Schiff von dort äußerst riskant, sich so dicht vor unserer Küste aufzuhalten?“
„Eigentlich schon. Die Gewässer vor unserer Küste werden regelmäßig patrouilliert. Aber es muss ja nicht unbedingt ein Schiff aus Herblonde sein, das am Treffpunkt wartet. Das würde die verschiedenen Namen erklären.“
Clyde sah immer noch nachdenklich aus. Irgendetwas passte hier nicht zusammen.
Daniel Hansom hob ratlos beide Hände, während Jean-Luc in einem ganzen Stapel von Papieren blätterte, die er von der Mitte des Tisches genommen hatte.
„Die Schreiben vom Herzog sind auch nicht gerade erleuchtend.“
„Das hilft uns immer noch nicht weiter. Wir scheinen irgendetwas übersehen zu haben.“
Der Captain sah Jean-Luc an.
“Was haben wir noch?”
„Dann haben wir noch die private Korrespondenz des Kapitäns mit seiner Ehefrau. Insgesamt 26 Briefe. Meistens Antworten oder Dankschreiben auf kleine Geschenke, die er ihr geschickt hat.“
Thomas Meinhard, der bis jetzt still dagesessen und zugehört hatte, sah interessiert auf.
„Sind die Briefe datiert?“
„Äh,“ leichtes Blättern, „ja.“
„Kannst du mal die Daten und die Geschenke vorlesen?“
„Huh?“
Captain Hansom nickte Jean-Luc zu und der Master griff schnell nach einem Stift, denn er hatte erkannt, worauf Thomas aus war.
„Hier, das sind die letzten. 28. Februar, eine Orreyn-Ziermuschel. 26. März, hey, eine eiserne Bratpfanne. 20. April, ein geschnitzter Walrosszahn.“
Der Master sah Thomas an und lächelte.
„Nicht schlecht die Idee. Nun, wo gibt es Orreyn-Ziermuscheln?“
„Ausschließlich an der Südküste von Britannica.“
Percy Seymore lehnte sich ebenfalls lächelnd zurück.
„Eine eiserne Bratpfanne. Wer schenkt seiner Frau denn so etwas?“
Thomas Meinhard grinste den Master an.
„Jemand mit dem entsprechenden Körperumfang. Ich tippe auf Arlemande.“
„Ja, und zum Schluß ein geschnitzter Walrosszahn.“
Ragnar runzelte verärgert die Stirn.
„Die sind zur Verehrung der Tiere, die Nahrung und Kleidung liefern und nicht zum Verkauf.“
„Und damit hätten wir die annähernde Reiseroute der SIRÉNE vom Anfang diesen Jahres. Ihr Kapitän hat anscheinend immer etwas mitgebracht von seinen Reisen. Aber seht mal her. Die Dankschreiben sind alle ein paar Tage nach dem Treffen auf See geschrieben worden. Sind sie von da aus nach Herblonde zurückgefahren? Aber dann hätte der Kapitän die Geschenke doch persönlich übergeben können.“
Jean-Luc lehnte sich grinsend zurück.
„Hätte er nicht, wenn er nicht mindestens fünf Tage frei genommen hätte.“
Alle drehten sich zu Jean-Luc, der schlagartig wieder ernst wurde.
„Hier, die Briefe tragen nicht nur das Datum, sondern auch den Ort. Madame le Capitaine wohnt in Bergeroux, das ist eine Stadt ganz im Süden von Herblonde, dicht an der Grenze zu Arlemande.“
„Dann hätten wir jetzt also einen Teil ihrer Reisroute. Und weiter?“
Ragnar griff ein wenig gelangweilt zu dem letzten verschlossenen Umschlag aus der Kiste. Als er den einsamen, darin enthaltenen Zettel auseinanderfaltete, weiten sich seine Augen vor Schreck.
„Ragnar, was ist los?“
„Das… das glaub‘ ich nicht. Ein Galdrathula.“
„Was?“ „Wer?“
In der allgemeinen Aufregung sah Miles verblüfft zu Ragnar hinüber.
„Magie. Ragnar projiziert ungeprägte Magie!“
„NEIN!“
Mit einem Aufschrei sprang Ragnar von seinem Stuhl hoch und sah sich panikartig um. Clyde war fast zeitgleich aufgesprungen und überbrückte die kurze Distanz zu Ragnar. Dann legte er dem strohblonden jungen Mann seine Hände links und rechts an den Kopf. Schlagartig wurde Ragnar ruhig. Dennoch zitterte er nun fast unkontrolliert.
Der Captain sah etwas unsicher zu Miles.
„Was war das denn?“
„Ungeprägte Magie. Sie ist durch irgendeinen Anlass aus ihm hervorgebrochen. So wie es aussieht, ist er begabt, aber nicht ausgebildet.“
Jetzt wanderte der Blick des Captains zu Clyde.
„Was hast du mit ihm gemacht?“
„Die Magie wieder gebunden. Das ist die Methode, wie jemand seine Magie kontrollieren und verbergen kann. Sie wird nicht getarnt, sondern geht ins Innere der Seele selbst zurück, wo sie nur willentlich oder durch starke Emotionen wieder hervorgeholt wird. Eigentlich eine der ersten Übungen bei einer magischen Ausbildung.“
„Also ist die Magie von Ragnar wieder hm, eingesperrt?“
„So ähnlich.“
„Ragnar. Hast du es gewusst?“
Ragnar sah nur zu Boden und schwieg. Nach einem kurzen Moment nickte der Captain und seufzte tief.
„Also gut. Setz dich wieder hin. Wir werden später darüber reden müssen. Jetzt behandeln wir ein Problem nach dem anderen.“
Ragnar sah den Captain etwas ungläubig an, setzte sich dann aber zögernd wieder hin.
„Kannst du mir wenigstens sagen, was dich so aufgeregt hat?“
Ragnar nickte mit verbissenem Gesicht. Es fiel ihm sichtbar schwer zu antworten.
„Ein… ein… ich kann es nicht einmal aussprechen.“
Clyde, der immer noch hinter Ragnar stand, sah ihm über die Schulter. Der Zettel war mit einigen Zeilen in den Runen Isafjords beschriftet.
„Ein Zauberspruch?“
Ragnar nickte heftig. Der Captain reagierte sofort.
„Clyde, kannst du den Zettel anfassen, ohne dass irgendetwas passiert?“
Clyde griff nach dem Blatt mit den Runen, faltete ihn zusammen und steckte ihn zurück in den Umschlag.
„Der Umschlag wird versiegelt und nochmals verschlossen. Ich werde ihn zunächst an einem geheimen Ort verwahren.“
Die Offiziere nickten zustimmend, während die Seekadetten Clyde merkwürdig ansahen. Es war jetzt das zweite Mal, dass der bei irgendwelchen mysteriösen magischen Aktivitäten dabei war. Anscheinend stimmten die Gerüchte ja doch, die in Umlauf waren.
Clyde setzte sich wieder, während Ragnar es immer noch nicht wagte, den Captain anzusehen. Der besah sich kopfschüttelnd das Durcheinander auf dem Tisch.
„Und was jetzt? Jemand eine Idee?“
Alle versanken in brütendes Schweigen, bis Captain Hansom nach einer kleinen Klingel griff.
„Ich denke, es ist Zeit für eine kleine Erfrischung. Ich möchte zu einem Glas Wein einladen, oder trinkt jemand keinen Alkohol?
Thomas, Clyde und Ragnar hoben die Hand.
Sedgewick trug ebenso leise, wie er erschienen war, sechs Gläser auf und stellte zwei Flaschen gekühlten Wein auf den Tisch. Vor Thomas, Clyde und Ragnar platzierte er jeweils einen Teller mit einem Stück Wassermelone.
Captain Hansom ließ die Herren ringsum sich selber einschenken und während er sich am Schluß gerade selber bediente, schlug der Zahlmeister mit der Faust auf den Tisch.
„Ich hab’s.“
„Bitte?“
„Das Manifest! Jean-Luc, was sind die Hauptexportwaren Herblondes?“
„Hauptsächlich Nadelhölzer, Parfum, Seidenstoffe und Wein.“
„Genau. Warum sollte also jemand von einer so langen Reise ausgerechnet ein einzelnes Fass Wein mit nach Herblonde nehmen?“
Clyde sah etwas ratlos in die Runde.
„Um den Wein zu trinken, vielleicht?“
Der Zahlmeister schüttelte den Kopf.
„Dann wäre das Fass im Proviant verzeichnet gewesen und nicht bei der Ladung.“
„Dann eine besondere Sorte, oder ein Geschenk?“
Jean-Luc warf Clyde einen fast mitleidigen Blick zu
„Bestimmt nicht. Wir aus Herblonde haben eine ganz besondere Beziehung zu unseren Weinen und nichts, was von irgendwo anders herkommt, könnte je die Qualität und den Geschmack eines Weines aus Herblonde übertreffen.“
Clyde warf Jean-Luc einen fragenden Blick zu. War das jetzt ernst gemeint? Doch der Captain unterbrach die kurze Unterhaltung.
„Los, Männer, auf geht’s!“
Captain Hansom war aufgesprungen und die anderen folgten. Nur wenige Sekunden später wunderte sich Lieutenant Holland, warum eine Horde Offiziere und Seekadetten sein Schiff stürmten.
„Lionel, wo steht das Weinfass aus der ursprünglichen Ladung?“
„Achtern, Zwischendeck. Zusammen mit den anderen Sachen, warum?“
„Wir möchten es gerne besichtigen.“
Lieutenant Holland warf seinem Captain einen merkwürdigen Blick zu, sagte aber nichts. Wortlos führte er seine Besucher hinunter, wobei jeder der Seekadetten sich mit einer Laterne bewaffnet hatte.
Das besagte Fass war ein kleines Behältnis von knapp 200 Litern. Es stand senkrecht zwischen weiteren Fässern mit Farbstoffen.
„Wer stellt denn ein Weinfass so hin?“
Ragnar ging hin und versuchte es zu bewegen. Leicht drehte er es mit einer Hand.
„Entweder es ist leer, oder es ist nichts Schweres drin.“
„Aufmachen!“
Alle sahen sich um, aber es gab kein passendes Werkzeug. Lieutenant Holland ging nach oben und kam kurz darauf wieder, mit einer großen Axt in seinen Händen.
„Sei vorsichtig mit dem Ding.“
„Ich bin immer vorsichtig.“
grinste er seinen Captain zweideutig an.
Nach zwei wuchtigen Schlägen gab der Deckel nach und Lionel riss die Reste aus der Halterung.
„Was ist das denn?“
Thomas griff mit beiden Händen hinein.
„Schafwolle.“
„Was soll das denn? Irgendetwas Zerbrechliches, oder…“
„Da, ich hab‘ was.“
Thomas war mit dem Oberkörper fast in dem Fass verschwunden, jetzt tauchte er wieder auf. In der Hand hielt er ein Bündel, ähnlich der verpackten Papiere, die sie vor kurzem geöffnet hatten.
„Ich glaube, da ist noch etwas.“
Thomas arbeitete weiter und als er sich endlich, etwas außer Atem, neben das Fass hockte, lag eine Axt neben ihm. Sie schien sehr alt zu sein, denn der Schaft war aus einem knorrigen Stück Ast, nur wenig bearbeitet. Die Klinge bestand aus einem schwarzen Material, wahrscheinlich Stein.
Etwas ratlos starrten alle die Axt an, bis Clyde sich vorbeugte.
„Die Klinge ist aus Obsidian. Ein Gestein, das vor Urzeiten dazu verwendet wurde, Messer und Äxte herzustellen. Unsere Druiden verwenden solche Messer noch bei bestimmten Ritualen, aber die hier…“
Noch bevor jemand etwas sagen, oder ihn daran hindern konnte, griff Clyde nach der Axt. Beim Aufnehmen berührte er die Obsidianklinge und ein greller Lichtblitz erhellte plötzlich den Laderaum. Die Axt fiel klappernd zu Boden und Clyde sackte bewusstlos daneben zusammen.
„Clyde! Du Idiot.“
Ragnar und Thomas stürzten gleichzeitig auf Clyde zu um ihm zu helfen, doch dann erstarrte Ragnar in der Bewegung.
„Álfur!“
Jetzt sahen auch die anderen, dass sich Clydes Ohren verwandelt hatten und die typischen Spitzen des Alten Volkes zeigten. Auch wenn die Seekadetten ahnten, dass Clyde magisch begabt war, die spitzen Ohren waren eine ganz andere Sache.
Captain Hansom stieß einen äußerst langen Fluch aus und machte dann eine kreisende Handbewegung.
„Wenn einer von euch auch nur ein Wort darüber verliert, stell‘ ich ihn in Tarray auf die Pier, ist das klar?“
Ragnar sah seinen Captain an und entnahm dessen Worten, dass er wusste, dass Clyde ein Elf war. Auch der Erste Offizier und der Doktor, der sich neben Clyde abgekniet hatte, schienen nicht besonders erstaunt zu sein.
„Er ist nur bewusstlos. Wickelt etwas um seinen Kopf und bringt ihn ins Lazarett. Wir erzählen einfach, er ist einen Niedergang heruntergefallen.“
Daniel Hansom nickte zu den Anweisungen des Arztes und sah sich um.
„Ihr alle. Wenn ihr mit Clyde fertig seid, kommt ihr sofort wieder zurück zur Besprechung. Lionel, du auch. Und lass das verdammte Ding auf die FAIRYTALE schaffen.“
Missmutig stapfte der Captain wieder zurück auf sein Schiff.
Die Plätze an dem großen Tisch waren diesmal alle besetzt. Nach kurzer Rücksprache mit dem Captain hatte der Doktor auch Sigurd Hochbauer mitgebracht, der nun auf dem Platz von Clyde saß. Lionel Holland saß am Kopfende, dem Kapitän gegenüber.
„Gentlemen, ich habe ein paar Dinge zu erklären und ich gehe davon aus, dass diese Informationen zunächst nicht weitergetragen werden. Mister Cameron, den wir auf San Christofero auf dem Sklavenmarkt freikaufen konnten, ist der Sohn des Herzogs von Lonlothian und gleichzeitig ein Angehöriger des Alten Volkes, bei den Britanniern bekannt als Sidhe, bei anderen Völkern als Elfen.“
Die Seekadetten sahen sich bezeichnend an, bis Ragnar zögernd die Hand hob.
„Ja, Mister Thorsson?“
„Ich fürchte, da ist schon was rum auf dem Schiff. Clyde hat bei einem der Seesoldaten irgendetwas gemacht, eine Magie gewirkt oder so was, und der hat es natürlich weitererzählt. Alles Gerüchte, selbstverständlich.“
Daniel Hansom schüttelte fassungslos den Kopf.
„Doktor, wie geht es Clyde?“
„Ehrlich gesagt, keine Ahnung. Er ist immer noch bewusstlos. Er sieht im Moment so aus, als hätte er lediglich mehrere Tage nicht geschlafen. Wir sollten ihn deshalb erst einmal ruhen lassen.“
„Das macht die Sache nicht gerade viel besser. Wir haben den Sohn des Herzogs von Lonlothian an Bord. Er ist bewusstlos und ich fürchte, sollte ihm etwas zugestoßen sein, von dem wir noch nicht wissen, was es ist, dann bekommen wir eine Menge Ärger. Nicht nur mit dem Herzog, auch mit den Sidhe. Ich bin nicht sehr gläubig, was Götter, Elfen und Magie betrifft, aber ich möchte nicht das Ziel des Zorns der Sidhe werden.“
Der Master brummte zustimmend und die Seekadetten sahen sich etwas ängstlich an.
„Dann haben wir ein Problem mit der Kirche der Reuigen Sünder. Sie erinnern sich sicherlich an die Galeere, die uns von San Christofero aus gefolgt ist? Ich bin mir nicht vollkommen sicher, aber es sieht so aus, als ob ein Offizier der kirchlichen Garde auf San Christofero war und versucht hat, Clyde mit allen Mitteln zu kaufen. Ich habe ihn etwas unfreundlich abgebügelt, deshalb nehmen wir einmal vorsichtig an, wir sind der Inquisition auf die Füße getreten.“
„Was der Erbauer verhüten möge.“
brummte Thomas Meinhardt.
„Und zu guter Letzt haben wir einen Herzog aus Herblonde, der, so wie es aussieht, einen oder mehrere Leute damit beschäftigt, in Britannica zu spionieren, in Herblonde einen Puff mit Sklaven zu betreiben und rund um die Welt magische Artefakte zu sammeln.“
Percy Seymore lehnte sich grinsend zurück.
„Na, das reicht ja für einen Nachmittag.“
Die Seekadetten grinsten nun ebenfalls, doch niemand lachte.
„Wir werden sehen, dass wir Clyde so schnell wie möglich nach Hause bringen, dann werden wir diesen Treffpunkt vor der Küste beobachten. Meine Herren, es gibt Arbeit.“
Captain Hansom erhob sich und schnell folgten alle seinem Beispiel.
In der Kapitänskajüte der FAIRYTALE saßen nur noch Daniel Hansom und Percy Seymore an dem großen Tisch. Der Captain starrte auf das verschnürte Bündel Papiere vor sich, dass sie in dem getarnten Weinfass gefunden hatten und seufzte.
„Manchmal glaube ich, ich werde zu alt für so was.“
Percy sah ihn merkwürdig an.
„Du bist achtundzwanzig. Was ist daran alt?“
„Du weißt, was ich meine. Einfach nur im Herrenhaus sitzen, das Feuer im Kamin beobachten und an nichts mehr denken.“
„Ja, klar. Dann klopft es an der Tür und The Right Honorable Daniel Hansom ist wieder unterwegs.“
Daniel sah seinen Partner von der Seite her an.
„Mach es auf.“
Percy zückte einen kleinen Dolch und schlitzte geschickt die Umhüllungen auf. Im Inneren befand sich ein dünner Stapel beschriebener Blätter. Zögernd griff der Captain nach dem obersten Blatt.
„Was ist denn das? Sieht aus wie letrionisch. Ich kann letrionisch nur sprechen und das ist schon schwierig genug.“
Percy Seymore nahm das Blatt und sah darauf. Daniel nahm ihm das Blatt wieder aus der Hand und sah nochmals darauf.
„Wer kann denn so was lesen?“
„Hmmm…, Diego, würde ich sagen.“
„Kommt gar nicht in Frage. Die wissen alle schon viel mehr als sie eigentlich sollten. Wir müssen unbedingt nach Caerdon. Wir müssen uns mit Sir… äh… mit ihm treffen und alles mitnehmen, was wir gefunden haben. Außerdem müssen wir den gesamten Ablauf dokumentieren und wir müssen einen Bericht verfassen, zu welchen Schlüssen wir gekommen sind.“
„Was hältst du von meinem Vorschlag mit Clyde?“
„Bei der jetzigen Situation noch jemanden einzuweihen halte ich für riskant. Ich habe keine Ahnung, wie sein Vater darauf reagieren wird. Aber wir könnten schon etwas Hilfe gebrauchen. Erzähl ihm einfach die Geschichte und achte darauf, wie er reagiert.“
Pünktlich hatte die SIRÉNE am Abend abgelegt. Die Männer und Jungen hatten alles gegeben um das Schiff so gut wie möglich reisetüchtig zu machen. Sie würden zwar nicht sehr schnell sein, aber in spätestens drei Wochen sollten sie Tarray wohl erreicht haben.
Auf der FAIRYTALE hatte es fast drei Tage gedauert, bis Clyde aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht war. Die einzige Auswirkung der Begegnung mit der merkwürdigen Axt waren Kopfschmerzen und nun, nach etlichen verpassten Mahlzeiten, ein großer Hunger.
Nach dem Essen hatte Clyde einen Termin beim Captain. Er klopfte leise und wartete auf eine Antwort.
„Herein!“
Clyde schlich mit hängendem Kopf in die Kapitänskajüte.
„Sie wollten mich sehen, Sir?“
„Allerdings. Sag mal, was hast du dir dabei gedacht. Dieses Ding war ja wohl nicht umsonst so gut verstaut. Und wir haben es wieder so verpackt wie es war. Niemand, und ich wiederhole, niemand, hat die Erlaubnis, das Ding wieder auszupacken. Hast du das verstanden?“
Clyde schluckte schwer und lief rot an.
„Jawohl, Sir.“
„Dann ist es ja gut. Was war das eigentlich? Es hatte ja eine umwerfende Wirkung.“
Clyde verzog säuerlich das Gesicht.
„Ich weiß es auch nicht genau. Es ist anscheinend ein Gegenstand, der bei ritueller Magie verwendet wird. Er hat wohl irgendwie die Magie oder etwas Ähnliches gespeichert. Als ich ihn berührt habe, ist sie dann frei geworden.“
Daniel Hansom fuhr hoch.
„Was? Ein Zauber geistert durch das Schiff?“
„Nein, nein. Ich habe die Magie aufgenommen. Bis auf die Bewusstlosigkeit ist nichts weiter passiert.“
„Wir wollen es hoffen. Ich nehme an, es wird dir eine Lehre sein, nichts anzufassen, was verdächtig aussieht.“
„Jawohl, Sir.“
Mit immer noch hängendem Kopf verließ Clyde die Kapitänskajüte.
Am Nachmittag saß Clyde an Oberdeck der FAIRYTALE und dachte an Martin und dessen misshandelten Körper. Kurz entschlossen machte er sich wieder auf den Weg hinunter ins Lazarett.
In den nur von ein paar Laternen erleuchteten Räumen traf er auf Cedric, einen der beiden Arztgehilfen. Sie kannten sich eigentlich nur vom Aufenthalt in der Junior-Messe und seinem letzten Aufenthalt hier unten.
„Nanu? Schon wieder da?“
„Ein längst überfälliger Krankenbesuch. Ich habe schon fast ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht nach ihm geschaut habe.“
„Der Doktor hat uns erzählt, wie du ihm geholfen hast. Eine sehr… ungewöhnliche Methode, Magie einzusetzen. Ich kenne sonst nur die Heilzauber der Druiden, die eine Heilung beschleunigen sollen.“
„Ja. Meine Magie ist etwas anders, aber sie hat funktioniert. Wie geht es Martin?“
„Schon viel besser. Der Doktor hat eine seiner berühmten Salben gemischt, um die Schwellungen zurückzubilden und die Heilung zu beschleunigen. Das sieht schon gut aus. Lieutenant Hochbauer kommt öfter herein zwischen seinen Wachen und unterhält sich mit ihm.“
Clyde war überrascht. Das hätte er nicht vermutet, doch Sigurd war auch der erste gewesen, der Martin befreit und mit ihm gesprochen hatte.
„Darf ich zu ihm?“
„Ja, selbstverständlich. Komm mit.“
Cedric ging weiter nach hinten durch und zog einen Vorhang zurück. Dahinter lag Martin auf einem der fest eingebauten Betten des Lazaretts. Es sah fast so aus, wie die Szene auf der SIRÉNE, als er ihn das erste Mal dort gesehen hatte. Diesmal war Martin allerdings wach und sah Clyde aus hellblauen Augen erwartungsvoll entgegen. Clydes Augen glitten fast automatisch über den frei liegenden Oberkörper von Martin. Die Prellungen begannen allmählich zu heilen und hatten ihre Farbe inzwischen von blau über grün zu gelb gewechselt.
„Hallo, Clyde, schön dich zu sehen.“
Die Aussprache von Martin hatte einen noch deutlicheren Akzent als die von Sigurd, aber Clyde nickte freundlich. Dann setzte er sich auf den kleinen Hocker, der am Kopfende des Bettes stand.
„Ich wünschte, ich könnte das auch von dir sagen. Ich bin nur froh, dass dir nicht mehr passiert ist.“
„Sigurd hat mir erzählt, wie du mir geholfen hast. Ich möchte dir danken, für das, was du für mich getan hast.“
Clyde errötete leicht.
„Es war nicht viel und ich habe es gerne getan, denn ich weiß, wie du dich gefühlt haben musst.“
Das Gesicht von Martin verdüsterte sich.
„Ich brauche kein Mitleid. Es sind nicht die Schmerzen, es ist diese… diese Hilflosigkeit.“
„Es ist kein Mitleid, es ist Erfahrung.“
Clyde zog sich die Matrosenbluse über den Kopf und drehte sich so, dass eine der Laternen die Narben auf seinem Rücken beleuchtete. Martin schnappte überrascht nach Luft.
„Bevor du fragst, das war auf dem Sklavenmarkt von San Christofero. Man hat mir einen der anderen Gefangenen in die Zelle geschickt. Ich wusste zuerst nicht, was das sollte, doch dann hat er mich überrascht und brutal von hinten genommen. Was dann kam, war ebenfalls sehr unschön, denn ich habe ihm das Genick gebrochen.“
„Entschuldige bitte. Aber wenn du hier liegst und nichts machen kannst, denkst du viel nach. Ich habe lange darüber nachgedacht, womit ich das alles verdient habe. Mich haben sie aus der Zelle geholt, als du bei der Gerichtsverhandlung warst. Bin noch am gleichen Tag verkauft worden. Da war nicht mal eine Auktion, sondern diese Ratte kam einfach ins Gefängnis und hat mich mitgenommen. Hat behauptet, er hätte mich gekauft. Ich weiß nicht einmal, ob das überhaupt stimmt. Sag‘ mal, kann der Besitzer von Sklaven wirklich alles mit ihnen machen?“
Clyde seufzte tief.
„Nach den Gesetzen dieser Staaten, ja. Sklaven sind nur eine Sache, ein Ding wie eine Schaufel oder ein Eimer. Du kannst sie sogar kaputtmachen und wegwerfen.“
Martin verarbeitete schweigend diese Informationen.
Clyde drehte sich zurück zu Martin ohne sein Hemd wieder anzuziehen. Er überlegte, wie er dem Gespräch eine Wende geben konnte um es zu einem bestimmten Thema zu lenken.
„Sigurd hat dir bestimmt auch von den Sachen erzählt, die wir in der Kassette und beim Kapitän gefunden haben.“
„Ja. Der Captain hat ihm die Erlaubnis gegeben, mir alles zu erzählen. Oder wahrscheinlich eher, fast alles. Ich kann euch allerdings nur wenig helfen, denn ich weiß nur das, was ich in der kurzen Zeit dort an Bord erfahren habe. Dieser Pierre, oder wie der hieß, hat mich, seinen Kommentaren nach zu urteilen, aus zwei Gründen gekauft.“
Clyde hob erwartungsvoll die Augenbrauen, aber er konnte sich den einen Grund schon denken.
„Nun, ja. Ich sollte genau das machen, wofür ich angeblich verkauft wurde. Er hat mir gesagt, ich würde es gut haben, wenn ich gehorchen würde. Sein Kommentar gegenüber dem Kapitän war allerdings etwas anders. Wenn ich nicht gehorchte, würde ich verschwinden, genau wie die anderen.“
Clyde sah Martin verwirrt an, dann kam die Erleuchtung.
„Du verstehst auch Herblondaise?“
Martin lachte leise.
„Ja. Ich komme aus einer Gegend von Arlemande, die dicht an der Grenze zu Herblonde liegt. Wir wachsen dort alle zweisprachig auf, was dieser Pierre natürlich nicht wissen konnte.“
Dann wurde sein Gesicht wieder ernst.
„Sicher, ich habe es schon manchmal mit einem Jungen gemacht, doch ich wurde noch nie dazu gezwungen. Ganz zu schweigen von Männern, die ich nicht kenne oder …“
Martin liefen die Tränen herunter, doch er konnte die Arme immer noch nicht ohne große Anstrengungen bis zum Kopf bewegen. Clyde beugte sich herunter, wischte die Tränen ab und gab Martin einen sanften Kuss auf die Wange.
„Du bist jetzt aber bei uns. Du bist ein freier Mann, Du darfst selbst entscheiden was du machen möchtest und du darfst auch entscheiden, mit wem du etwas machen willst.“
Martin schniefte nur noch und sah Clyde mit großen Augen an. Clyde beugte sich etwas nach vorne und strich Martin sanft über die lockigen kastanienbraunen Haare.
„Dann ist da noch etwas. Der zweite Grund, warum dieser Pierre mich gekauft hat. Dieser Grund warst du.“
„WAS?“
„Du erinnerst dich? Wir waren vor deiner Gerichtsverhandlung zusammen in einer Zelle. Fast zehn Tage lang.“
Clyde nickte.
„Sie wollten unbedingt wissen, was du mir erzählt hast. Von deiner Heimat, deinen Eltern, ob du mal Magie erwähnt hast oder behauptet hast, etwas Besseres zu sein.“
Clyde erstarrte. Sie hatten etwas geahnt, wollten aber wohl sichergehen, den richtigen erwischt zu haben. Doch halt, er war von Letrionern gefangen genommen worden. Die hatten ihn den Rotanern für die Versteigerung übergeben. Aber warum sollten die Letrioner ihn einfach an Rota abgeben? Das gab keinen Sinn. Und was hatte dieser Pierre aus Herblonde mit der ganzen Sache zu tun? In Clydes Kopf drehte sich alles.
Als er sich Martin zuwandte, bemerkte er erstaunt, dass dieser bereits wieder eingeschlafen war. Tief in Gedanken versunken machte sich Clyde wieder auf an Deck, wo er sich in der Nähe des Bugs auf einer Taurolle niederließ. Er schreckte etwas hoch, als Percy Seymore sich zu ihm setzte.
„Du warst gerade unten bei dem Jungen im Lazarett, bei Martin, nicht wahr?“
Clyde nickte und er unterdrückte seine Tränen. Dies war eine negative Seite seiner Gabe, er litt mit den Opfern. Nicht körperlich, doch er empfand Mitleid, was ihn veranlasste zu helfen. Als Cynfelin musste er Leben bringen – oder den Tod. Langsam lehnte er sich an Percy und der legte einen Arm um seine Schulter. Clyde seufzte.
„Warum? Er hat ihnen doch nichts getan.“
„Es ist manchmal schwer zu verstehen, aber es gibt Leute, die nutzen ihre Macht über andere dazu aus, sie zu unterdrücken, zu drangsalieren und auch sie zu verletzen. Alles nur, um sich selbst zu beweisen, was man alles kann und darf. Hüte dich vor denjenigen, die Macht ansammeln, um sie an anderen auszulassen.“
Clyde seufzte schwer. Percy strich ihm über die roten Haare und hing selber einen Moment seinen dunklen Erinnerungen nach.
„Aber ich bin aus einem anderen Grund hergekommen, Clyde. Ich wollte dir ein paar Fragen stellen und dann eine kleine Geschichte erzählen, eine, die vor etwa zwanzig Jahren in Britannica stattgefunden hat.“
Clyde sah hoch, gab aber seine Lage an Percys breiter Brust nicht auf.
„Ich möchte gerne von dir wissen, ob du mit der politischen Situation der sieben Staaten vertraut bist?“
Völlig verblüfft wegen des scheinbar unmotivierten Themenwechsels hob Clyde nun doch den Kopf und fing fast an zu stottern.
„Äh, nun ja. Also Britannica wird von einer Königin und einem Parlament regiert. Das Parlament hat zwei Kammern, eine bestehend aus Mitgliedern des Adels und eine andere mit gewählten Mitgliedern aus den verschiedenen Grafschaften. Die Königin wird durch einen Kronrat beraten, der aber keine Entscheidungsbefugnis hat. Der Adel verteilt sich auf mehrere Herzogtümer, etliche Grafschaften und eine ganze Anzahl weiterer kleiner Besitzungen. “
Nun nickte Percy Seymore zustimmend. Bei Clydes Herkunft war sein Wissen über die politischen Gegebenheiten in Britannica kein Wunder.
„Mit Letrion ist das etwas schwieriger. Die Regierung besteht aus einem alleinregierenden König mit einem Thronrat, ähnlich wie in Britannica. Dann gibt es in Letrion allerdings noch den Theokraten. Offiziell ist er lediglich das Oberhaupt der Kirche der Reuigen Sünder. Allerdings hat er ein Vetorecht in allen Gesetzgebungen, die den Glauben und die Kirche betreffen. Diesen Anspruch als Kirchenoberhaupt hat er auf alle sieben Staaten ausgedehnt, wobei allerdings nur Arlemande allen Direktiven des Glaubens gefolgt ist. Deshalb gab es dort vor etwa hundert Jahren ja auch diesen Religionskrieg. In Herblonde und Rota gibt es zwar ebenfalls die Kirche der Reuigen Sünder, aber sie ist stark durch lokale Glaubensrichtung beeinflusst.“
Der Lieutenant sah Clyde fragend an.
„Ja, ich weiß, es geht um die politische Situation, aber in Letrion ist die Kirche gleich zu setzen mit der Politik. Letrion selbst ist aufgeteilt in zwölf Grafschaften. Die Grafen bilden den ‚Rat der Erde‘, während zwölf vom Theokraten bestimmte Patriarchen den ‚Rat des Himmels‘ bilden. Das erste Gremium berät den König, das zweite den Theokraten. Weitere politische Versammlungen gibt es keine.“
Percy strahlte und nickte Clyde zu, weiterzumachen.
„In Herblonde herrscht ebenfalls ein absoluter Monarch. Er ist die Zentralgewalt des gesamten Landes. Es gibt zwar etliche Adlige mit einer großen Zahl verschiedener Titel, doch die sind außerhalb ihrer eigenen Besitzungen machtlos. Die meisten halten sich ohnehin im Schloss des Königs in Lutèce auf, um dem Herrscher nahe zu sein. In der Anfangszeit der jetzigen britannischen Königin kam es zum Krieg mit Herblonde, weil dessen König angeblich einen Anspruch auf ihren Thron haben sollte. Dann war eine Friedenszeit, doch vor etwa fünf Jahren hat der König von Herblonde seinen Anspruch auf den Thron mit neuen Urkunden begründet und versucht sie jetzt mit einer Invasion von Britannica durchzusetzen, wodurch wir uns wieder im Krieg mit ihnen befinden.“
Percy grunzte abfällig und Clyde fuhr fort.
„Soweit ich erfahren habe, regieren in Isafjord die Clanhäuptlinge unabhängig voneinander jeder seinen eigenen Clan. Wie viele es davon gibt, weiß ich nicht. Im Fall eines Krieges, der nicht nur einen Clan betrifft, wählen sie einen Kriegshäuptling oder König für die Zeit der Feindseligkeiten. Danach muss der wieder abdanken und die Clanhäuptlinge regieren weiter wie vorher.“
Als Percy nichts dazu kommentierte, ging es weiter.
„In Arlemande gibt es eine große Anzahl unabhängiger Fürstentümer in allen möglichen Größen, mit allen möglichen Bezeichnungen. Die zehn mächtigsten Fürsten wählen einen Kaiser, der ohne Rechte und eigene Armee eine Art Repräsentant für die Fürsten ist, die ihn gewählt haben. Vor etwa sechzig Jahren hat ein großer Bürgerkrieg geendet, der das Land fast dreißig Jahre lang zerrissen hat. Und das alles, weil ein Ältester der Kirche der Reuigen Sünder behauptet hatte, die Sünder könnten auch ohne die öffentliche Reue ihre Erlösung finden. Na, zumindest hab‘ ich das so verstanden.“
Clyde sah Percy fragend an.
„Noch mehr? Über den Rest weiß ich fast gar nichts.“
„Doch, doch. Mach einfach weiter.“
Clyde runzelte nachdenklich die Stirn.
„Also, in Rota bilden etwa ein halbes Dutzend Fürsten eine Art Rat. Abwechselnd wird einer von ihnen zum Vorsitzenden oder Sprecher oder so ähnlich, bestimmt. Über Ruslana weiß ich genau so wenig. Dort soll ein mächtiger Kaiser über etliche von ihm abhängige Fürstentümer regieren.“
Etwas unsicher sah Clyde noch einmal zu Percy hoch.
„Und dann gibt es noch die kleineren unbedeutenden Staaten, die nicht zu den sieben großen Zählen, wie etwa die Insel Erin oder auf dem Festland Nassouwe, Livland, Pomeranien, Graikos und Trakar. Das liegt am weitesten im Osten und dort soll es einen mächtigen Herrscher geben, den Kalifen, der über die Einwohner herrscht, die in Stämme und Patriarchate aufgeteilt sind.“
Percy Seymore sah Clyde nickend an.
„Ich bin tief beeindruckt. Das ist deutlich mehr, als die meisten wissen. Die wissen manchmal nicht einmal, wie es in ihrem eigenen Land zugeht. Das tragische an der ganzen Politik ist aber, dass kein Herrscher dem anderen über den Weg traut. Ja, schlimmer noch, es werden immer neue Gründe gefunden für einen kleinen Krieg hier, oder einen größeren dort, nur um Macht und Einfluss zu gewinnen und zu vergrößern.“
Clyde nickte zustimmend.
„Die Methoden gehen von primitiven militärischen Provokationen bis hin zu den raffinierten Ränkespielen an den Höfen aller, selbst der kleinsten Staaten. Herblonde versucht nun seit fast einhundert Jahren auf den Britannischen Inseln Fuß zu fassen. Angeblich hätte der König ein ererbtes Anrecht auf den Thron von Britannica, was natürlich nicht stimmt. Vor fast genau zwanzig Jahren hat nun Königin Maeve den Thron bestiegen, sie war damals nicht sehr viel älter als du heute bist. Der König von Letrion hat damals gedacht, er hätte ein leichtes Spiel und hat versucht, Truppen auf der Insel zu landen. Weit gefehlt. Königin Maeve hat es bis heute geschafft, sämtlichen Intrigen, Attentaten und politischen Verstrickungen zu entgehen.“
Clyde sah Percy fragend an, doch der machte ihm ein Zeichen, noch zu warten.
„Ganz am Anfang ihrer Regierung, während des Krieges mit Letrion, hat sie einfach, weil die Kassen leer waren, für etliche Kapitäne Britannicas einen Kaperbrief ausgestellt, so wie ihr Vater, König Harold VIII. vor ihr. Damit kann man, wenn sich ein Land mit einem anderen im Krieg befindet, die feindlichen Handelsschiffe aufbringen ohne als Pirat zu gelten. Die anderen Staaten waren natürlich anderer Ansicht und schon waren die braven Kaperkapitäne schnöde Piraten. Doch sie fuhren weiterhin mit ihren Schiffen im Namen ihrer Königin auf die See hinaus und hielten Ausschau; in Friedenszeiten als Händler, während der Kriege natürlich auch als Freibeuter.“
Clyde hatte das eine oder andere bereits gehört und jetzt begann sich das Bild abzurunden.
„Einer der Männer, der die Königin um einen Kaperbrief bat, war Roger Hansom, Baronet of Clanbury. Er war ein alter Jugendfreund der Königin und sie ließ sich ungeniert mit ihm in aller Öffentlichkeit Hand in Hand sehen, denn alle wussten, dass er nur Männer liebte.“
„Ein Hansom? Ist der etwa…“
„Du sollst zuhören. Nein, es ist alles ein Bisschen komplizierter.“
Neunzehn Jahre zuvor
Der Palast der Königin lag in tiefem Dunkel als eine einsame Gestalt durch die langen Flure eilte. Hohl hallten die Geräusche der Stiefel auf den steinernen Fliesen wider. Die Wachen vor den Gemächern der Königin gaben salutierend den Weg frei. Der Baronet of Clanbury war das einzige männliche Wesen außer dem Lordkanzler, das die Gemächer Ihrer Majestät betreten durfte, auch wenn sie sich bereits zurückgezogen hatte.
Durch das aufgeregte Getuschel ihrer Hofdamen im Vorzimmer war Königin Maeve bereits aufmerksam geworden, als die Tür zum Schlafgemach aufging und Lady Chopsfield mit einem hektischen Knicks einen Besucher meldete.
„Euer Majestät, der Baronet of Clanbury.“
„Ich sehe es, meine Liebe. Lasst uns bitte allein.“
Die Hofdame warf ihrer Königin einen entsetzten Blick zu, gehorchte aber und schloss die Tür.
„Robert, ich hoffe, du hast einen wichtigen Grund mich zu stören. Der letrionische Botschafter hat mich bis spät in die Nacht genervt und ich bin jetzt müde.“
„Verzeiht, Majestät. Aber ich komme direkt von Clanbury House. Ich habe ein Problem, und zwar mit der königlichen Marine.“
Aufseufzend brachte Königin Maeve sich in eine sitzende Position.
„Du hast dich hoffentlich nicht mit dem Marineminister duelliert?“
„Nein, aber es wäre beinahe so weit gewesen. Das Prisengericht von Caerdon hat ein im letzten Jahr erobertes Schiff endlich versteigert. Ich habe geboten und den Zuschlag erhalten. Doch das Arsenal verweigert die Herausgabe mit der Begründung, Kriegsschiffe würden nicht an Zivilisten verkauft.“
Maeve hob amüsiert die Augenbrauen.
„Ich dachte, du hast bereits ein Schiff und wärst damit als Freibeuter unterwegs.“
„Ja, das stimmt schon. Doch es haben sich da ein paar Schwierigkeiten ergeben. Ich habe nun einmal nicht den besten Ruf…“
Maeve winkte ab und hob dann dozierend einen Zeigefinger.
„Das hast du selbst zu verantworten. Wer hat mir denn damals gesagt, wenn ich es offen zugebe, kann mich keiner erpressen?“
„Ist ja auch richtig, nur, da war ich noch nicht Baronet. Selbst als Vater gestorben ist, habe ich keinen Gedanken darauf verschwendet. Doch als dann mein blöder Bruder Edmund unfreundlicher Weise vom Pferd gefallen ist und sich den Hals gebrochen hat, wurde alles anders. Weißt du eigentlich, dass Mutter mir seit meiner Nachfolge mit irgendwelchen Hochzeitsplänen in den Ohren liegt?“
Maeve lachte hell auf und machte dann ein bedauerndes Gesicht.
„Armer Robert. Ich fürchte, die einzige Person, die du zum heiligen Hain führen würdest, wäre ein Mann.“
„Leider geht das ja nicht, aber ich habe ein anderes Problem. Auf meinem jetzigen Schiff musste ich die Besatzung schon mehrere Male tauschen, weil immer wieder kleinere Meutereien vorkamen, fast alle mit einem negativen Bezug auf meine Person.“
Maeve zog die Augenbrauen zusammen.
„Hast du dir etwas zu Schulden kommen lassen?“
„Nein, natürlich nicht. Aber Dummschwätzer gibt es überall. Doch vor wenigen Tagen habe ich einen ehemaligen Seekadetten der Marine getroffen, in einem ähhh… Etablissement.“
„In einem Männerpuff?“
„Maeve, bitte. Wenn das jemand hört.“
„Die hängen zwar draußen mit ihren Ohren an der Tür, aber man hört nichts. Habe ich selber ausprobiert.“
Etwas irritiert sah Robert Hansom zu seiner Königin, fuhr dann aber fort.
„Ja, also dieser Seekadett. Man hatte ihm nahegelegt seinen Abschied einzureichen, weil wohl auch gewisse Gerüchte über ihn in Umlauf waren. Von ihm habe ich nun erfahren, dass es wohl so einige dieser ähhh… veranlagten Personen gibt, die gerne zur See fahren würden, aber sich nicht mehr trauen oder einfach nicht genommen werden.“
Maeve sah ihren Jugendfreund nachdenklich an. Sie kannten sich seit ihrem sechsten Lebensjahr und Maeve war damals tief enttäuscht, aber nicht überrascht gewesen, als er ihr mit vierzehn gestanden hatte, doch lieber einen Mann zu bevorzugen. Sie ahnte, worauf Robert mit seiner Geschichte hinauswollte, doch warum war er damit zu nächtlicher Stunde zu ihr gekommen?
„Lass mich raten. Du würdest gerne eine Besatzung nur aus diesen Männern haben. Nicht, dass ich mir jetzt vorstelle, was dort alles passiert.“
Robert wurde rot und sah seine Königin entsetzt an.
„Nichts. Gar nichts. Es ist alles eine Frage, wie man miteinander umgeht und welche Gesetze an Bord erlassen werden.“
„Na, gut. Und wo ist das Problem?“
„Mit einem größeren Schiff und etwas mehr Besatzung bräuchten wir einen Hafen, wo wir ungestört und möglichst unbeobachtet unsere Ausbildung machen können und wo wir vielleicht Interessenten für die Seefahrt sammeln können. Oder vielleicht sogar Leute, die gerne dort sind, ohne zur See zu fahren.“
„Du bist mitten in der Nacht zu mir gekommen, damit ich dir einen unserer wenigen Seehäfen für deine Idee zu Verfügung stellen soll?“
„Nein, nein. Irgendetwas, was keiner haben will, möglichst weit weg. Wie gesagt, unbeobachtet. Außerdem, es ist schon etwas dringend. Ich möchte nicht, dass Lord Bishop mir zuvorkommt und alle Häfen für die Marine vereinnahmt in die auch nur ein Ruderboot hineinpasst.“
Maeve grinste unwillkürlich, als sie an den spindeldürren Ersten Seelord dachte, der in seiner Uniform herumlief als hätte er einen Besenstiel… Jetzt kicherte Maeve sogar ohne rot zu werden.
„Und wie willst du deine Leute bekommen? Aushänge auf den Marktplätzen?“
Robert lächelte seine Königin an.
„Du unterschätzt die Macht des geflüsterten Wortes.“
Sie lächelte zurück und ließ sich in ihre Kissen sinken. Dann fiel ihr etwas ein und sie wandte ihren Kopf nach rechts, wo der Lordkanzler etliche Schriftstücke zu ihrer geflissentlichen Kenntnisnahme abgelegt hatte.
„Ich erwarte dich übermorgen zur Generalaudienz.“
Überrascht sah Robert sie an, doch sie lächelte nur weiterhin und schloss die Augen. Das Zeichen für Robert, den Rückzug anzutreten.
Der Audienzsaal war bis zum letzten Platz gefüllt. Die der Königin vorgelegten Petitionen waren bereits beschieden worden und eigentlich war die Audienz beendet. Doch für heute war eine zusätzliche Bekanntmachung angekündigt worden. Niemand wusste, worum es sich handelte, aber die Gerüchteküche brodelte.
Der Duke of Elmet, als Lordkanzler Ihrer Majestät, trat vor.
„Lords und Dames, Ladies und Gentlemen. Ihre Majestät, Königin Maeve I. von Britannica geruht, einen ihrer verdienstvollen Untertanen in den Stand eines Peers des Königreiches zu erheben.“
Schlagartig waren alle Gespräche in dem großen Saal verstummt. Erstaunt sahen sich die meisten der Anwesenden an, lediglich einige wenige schienen wissend zu nicken.
Die Königin erhob sich von dem erhöht stehenden Thron und trat zwei Schritte nach vorne.
„Sir Robert Hansom, fünfter Baronet of Clanbury, tretet vor eure Herrscherin.“
Robert ging langsam die wenigen Stufen hoch und blieb etwa zwei Meter vor ihr stehen.
Er hatte erst vor wenigen Stunden von dem Plan der Königin erfahren.
Kurz nach dem Frühstück im Stadthaus in Caerdon meldete der Butler überraschender Weise den Marquess of Laffrey zu einem kurzen Besuch. Robert hatte nicht die geringste Ahnung, was der Marquess von ihm wollte. Er konnte sich nur erinnern, dass er zum Hofstaat der Königin gehörte und irgendwelche Protokollaufgaben hatte.
„Mylord, was führt euch zu so früher Stunde in mein bescheidenes Heim?“
Der Marquess war wohl weit über siebzig und deutlich übergewichtig. Schon die fünf Stufen des Eingangs hatten ihn eine Menge Luft gekostet.
„Mein Lieber Sir Robert. Ich darf sie doch so nennen? Ich bin auf Anweisung des Earl Marshals hier, wegen eurer Ernennung, heute zur Generalaudienz.“
Robert hob nur kurz fragend die Augenbrauen, doch der alte Mann sah sich unauffällig in der Halle um.
„Tretet näher, Mylord. Begeben wir uns in die Bibliothek. James, einen Portwein für seine Lordschaft. Ich nehme noch einen Tee.“
Der Marquess rieb sich erfreut die Hände und folgte Robert in die Bibliothek.
„Ihre Majestät geruhen, euch in einen höheren Stand, den eines Peers des Königreiches zu erheben. Zu diesem Zwecke wird heute eine öffentliche Ernennung erfolgen. Man hat mich zu euch gesandt, um mit euch die nötigen protokollarischen Fragen zu besprechen.“
Der Butler setzte vor seiner Lordschaft das Weinglas ab und stellte neben Robert die Teetasse hin. Während der alte Mann jetzt lang und breit über Rangfolgen, Anreden und Verbeugungen schwadronierte, wagte Robert nicht, seine Tasse anzuheben aus Angst, das Klappern würde seinen Gemütszustand verraten.
Nach dem dritten Glas Portwein verabschiedete sich der Marquess und ging schon deutlich schwungvoller die Treppe herunter, während Robert in der Bibliothek hektisch nach einem Exemplar von Sir William Runfolds ‚Grafschaften des Königreiches‘ suchte.
Robert blätterte mit zitternden Händen. Da!
Von den vier unabhängigen Grafschaften Britannicas ist die Grafschaft der Isle of Scythe, an der nordwestlichen Ecke unseres schönen Königreiches gelegen, mit etwas mehr als 1800 Quadratmeilen die kleinste aller Britannischen Grafschaften und auch eine der eigentümlichsten. Sie besteht lediglich aus einer einzigen Insel, drei Meilen vor der Küste des Herzogtums Lonlothian gelegen, zu dem sie einst gehörte. Die Insel Scythe ist nur dünn besiedelt und die Einwohnerschaft besteht hauptsächlich aus Bauern, Schafhirten und Fischern. Größter Ort der Insel ist Tarray, der Sitz der gräflichen Verwaltung und einziger Hafen.
Einer der frühen Herzöge von Lonlothian war wegen eines Streits mit einem Nachbarn gezwungen, Geld vom König von Britannica zu leihen. Dieser verlangte daraufhin eine der Grafschaften von Lonlothian als Pfand. Schnell belehnte der Herzog einen seiner Höflinge mit der Isle of Scythe als Grafschaft, um sie dann zu verpfänden. Der Britannische König war, wegen der in seinen Augen wertlosen Insel so erbost, dass er sich weigerte, das Pfand wieder einzulösen und er erklärte es als verfallen. Seit dieser Zeit gehört die Grafschaft der Isle of Scythe direkt zum Königreich.
Damit wurde die Isle of Scythe die vierte eigenständige Grafschaft Britannicas nach der Isle of Carnagh, der Isle of Montrose und den Kaledonischen Inseln. Der jetzige Earl hat keine weiteren Erben, so dass die Grafschaft wohl bald wieder an die Krone zurückfallen wird.
Und das ist sie dann auch.
Roberts Erinnerungen an den heutigen Morgen verblassten und er starrte etwas verwirrt und auch ungläubig auf seine Königin. Das Mädchen, das er schon so lange kannte und doch nie ganz verstand.
„Kniet nieder, Sir Robert Hansom, Baronet of Clanbury.“
Robert beugte das rechte Knie.
„Wir, Maeve I., Königin von Britannica, Königin von Anglia, Herzogin von Glovia, Verteidigerin Britannicas, Beschützerin der Kaledonischen Inseln und Wächterin der Britannischen See, erklären den Baronet Sir Robert Hansom of Clanbury zum nunmehrigen Earl of Scythe als Lehensmann seiner Königin.“
„Erhebt Euch, Robert Earl of Scythe.“
Robert erhob sich, trat vor und küsste den Ring der Königin. Dann zog er sich langsam rückwärts zurück bis zum Fuß der Stufen.
Sie trat ebenfalls langsam rückwärts an ihren Thron heran und setzte sich.
Der Lordkanzler verkündete nun mit lauter Stimme
„Die Einsetzung und Krönung des Earls of Scythe findet in vierzehn Tagen hier im Palast statt. Die Audienz ist beendet.“
Der Saal brummte schlimmer als ein Bienenstock. Mehr als einmal wurde Robert mit einem spöttischen Lächeln, manchmal sogar mit einem Blick voller Abscheu bedacht. Aber auch ein kurzes freundliches Nicken war hier und dort zu sehen. Kurz vor dem Ausgang kam es zu einem kleinen Tumult, als ein junger Mann sich durch die Menge drängte.
„Brian, bleib sofort stehen!“
Ein älterer Mann versuchte einen Jüngeren aufzuhalten, indem er ihn am Arm packte. Wütend schüttelte der junge Mann den Griff ab.
„Laß mich los, Vater! Ich weiß, was ich will.“
Etwas außer Atem kam der junge Mann vor Robert zum Stehen und sah ihn an.
„Verzeihung, Mylord. Mein Name ist Brian Sandlake und ich habe gehört, ihr sucht noch Leute für euer Schiff.“
Ringsum erstarben die Gespräche und neugierig drehten sich die Gesichter zu dem jungen Mann. Robert zögerte erst, aber dann war er sich sicher. Dies war die Gelegenheit, um sich in aller Öffentlichkeit zu zeigen.
„Nun, Master Sandlake. Seid ihr denn auch für mein Schiff qualifiziert?“
Brian Sandlake stutzte erst, aber dann verstand er, was die Frage bedeutete. Er wurde knallrot im Gesicht, aber dann straffte er sich und sah Robert direkt an.
„Jawohl, Mylord. Ich bin qualifiziert. Auch wenn es einige nicht wahrhaben wollen.“
Der Blick ging hinüber zu seinem Vater, der nun ebenfalls eine dunkle Gesichtsfarbe hatte. Mit unbewegtem Gesichtsausdruck musterte er seinen Sohn, drehte sich dann brüsk um und ging in Richtung des Ausgangs.
„Master Sandlake. Das weitere können wir in meinem Stadthaus besprechen. Wenn ihr freundlicher Weise heute Abend um acht vorbeischauen würdet. Es werden noch ein paar weitere Personen zu einer Vorbesprechung dort sein.“
Der junge Mann verbeugte sich und verließ unter etlichen missbilligenden Blicken den Saal.
Der Lordkanzler näherte sich und sah Robert ausdruckslos an.
„Ihre Majestät erwartet euch in ihren Privatgemächern.“
Aufseufzend änderte Robert sein ursprüngliches Vorhaben und steuerte in Richtung der Gemächer der Königin.
Sie erwartete ihn im grünen Salon, einem Besprechungsraum in einem der Turmzimmer. Der Salon hatte nur einen Zugang und war, durch den Turm bedingt, fast nur von Außenwänden umgeben. Erstaunt bemerkte Robert, dass Maeve noch einen weiteren Besucher hatte.
Robert verbeugte sich vor der Königin, die auf einem etwas unbequem aussehenden Stuhl an einem großen Tisch saß, und diese deutete mit einer Hand auf ihren anderen Besucher.
„Dies ist Sir Sean McAllister. Sir Sean, ihr habt ja vorhin der Ernennung des Earls beigewohnt.“
Sir Sean hatte sich erhoben und Robert die Hand gereicht. Er war ein stattlicher Mann, wohl noch keine vierzig Jahre alt, mit einem gestutzten Vollbart. Er trug die traditionelle Kleidung seiner Heimat, ein weißes Hemd mit Rüschenbesatz und einen Kilt mit einem rotblauen Muster. Er kam unverkennbar aus den Highlands von Lonlothian.
Maeve wedelte mit einer Hand und die Männer setzten sich ebenfalls an den Tisch.
„Robert, ohne Umschweife. Nichts ist umsonst im Leben und du solltest das ganz besonders wissen. Ich habe dich mit Scythe als eigenständiger Grafschaft belehnt und es war nicht nur, weil wir zusammen im Sand gebuddelt haben."
Sir Sean ließ ein dezentes Hüsteln hören.
„Ihr braucht gar nicht so tun. Erklärt ihr es ihm. Ihr könnt das deutlich besser als ich.“
Sir Sean nickte knapp seiner Königin zu und sah Robert abschätzend an.
„Wie ihr vielleicht wisst, ist Britannica das Ziel so mancher diplomatischen und auch weniger diplomatischen Mission der anderen großen Staaten. Herblonde ist ein Fall für sich. Wir befinden uns immer noch im Krieg, dennoch wird ihre Majestät mindestens einmal im Monat mit Depeschen belagert, deren Thronfolger kennenzulernen. Letrions Botschafter versucht weiterhin, eine Erlaubnis zur Missionierung der Kirche der Reuigen Sünder zu erhalten, während der Abgesandte des Kaisers von Arlemande Bettelbriefe überbringt. Seit neuestem haben wir einen Emissär aus Ruslana der sich verdächtig oft, dicht bei militärischen Anlagen herumtreibt. Und dann natürlich die Abgesandten aus zahlreichen anderen Staaten, die weniger wichtig sind, als sie sich nehmen.“
Robert sah etwas ratlos aus und runzelte die Stirn.
„Und was hat das jetzt mit mir zu tun?“
Sir Sean und auch die Königin lachten.
„Wir ihr vielleicht ebenso wisst, sind diese offiziellen Gesandten nicht nur zu diplomatischen Besuchen hier, sondern sie versuchen Informationen zu sammeln, Oppositionelle zu kontaktieren und manchmal auch Attentate hmmm… sagen wir mal, wohlwollend zu tolerieren. Wie ihr hoffentlich nicht wisst, hat Ihre Majestät eine Handvoll ausgesuchter Personen, die versuchen diese Aktivitäten zu erkennen und wenn möglich zu unterbinden.“
„Aber ich dachte, dafür ist der geheime Kronrat zuständig.“
Maeve verzog das Gesicht und Sir Sean grinste.
„Im geheimen Kronrat werden brisante politische Themen beraten und der Königin zur Kenntnisnahme oder zur Genehmigung vorgelegt. Ebenso werden die Ergebnisse unserer eigenen Informationsbeschaffung vorgelegt, sofern ihre Majestät das für angebracht hält. Was dort beraten und entschieden wird, hat unmittelbare Auswirkungen auf das ganze Land. Deshalb ist diese Versammlung schon immer ein Ziel für alle Arten von Spionage und Informationsbeschaffung.“
Sir Sean seufzte kurz und faltete unbewusst seine Hände auf dem Tisch.
„Aber mehr als drei Geheimnisträger sind ein öffentlicher Aushang. Also wird streng darauf geachtet, dass alle Sicherheitsvorschriften eingehalten werden. Dafür ist das Sekretariat des Geheimen Kronrates zuständig. Um genau zu sein, der dritte Sekretär des Lordkanzlers.“
Robert lauschte überrascht den Ausführungen von Sir Sean.
„Doch wie heißt es so schön? Quis custodiet ipsos custodes? Wer aber bewacht die Wächter? Nun, das Sekretariat des geheimen Kronrates hat drei Abteilungen. Die erste, die offizielle, macht tatsächlich die Schreibarbeiten und ist für die Sicherheit der Dokumente zuständig. Die zweite Abteilung, ganz inoffiziell, überwacht die erste Abteilung. Das klingt etwas übertrieben, aber wir haben schon mehr als einmal fremde Agenten erwischt, die versucht haben, sich auf den verschiedensten Wegen dem Sekretariat zu nähern.“
Sir Sean sah noch einmal zu seiner Königin, als ob er sich rückversichern wollte.
„Und dann gibt es noch die erwähnte dritte Abteilung. Sie hat die Aufgabe, alle Informationen zu sammeln, die in irgendeiner Form für die Sicherheit des Landes interessant sein könnten.“
„Ist das nicht Aufgabe des Geheimdienstes?“
Sir Sean verdrehte die Augen.
„Ja, natürlich. Aber was nützt mir ein Geheimdienst, wenn er nicht geheim ist? Alleine die Tatsache, dass unter dieser Bezeichnung eine Institution existiert, ist doch schon eine Einladung, sie auszuspionieren oder zu überwachen. Ich möchte nicht wissen, wie viele Mitarbeiter unseres sogenannten Geheimdienstes wirklich unerkannt arbeiten.“
Robert seufzte.
„Nun, dann noch einmal meine Frage. Was hat das alles mit mir zu tun?“
Maeve schüttelte leicht den Kopf.
„So ein helles Kerlchen und doch etwas schwer von Begriff. Du bekommst bei deiner Ernennung als Geschenk der Krone das Schiff, das du haben wolltest. Dafür bekommen wir alle Informationen, die du auf See – sprich, in den Häfen - sammeln kannst. Und natürlich werden auch ein paar kleine Aufträge dabei sein, die man als Freibeuter eher durchführen kann, als die königliche Marine.“
„Wir sollen also diesen – wer war das noch? – dritten Sekretär des Lordkanzlers unterstützen, indem wir im Gewand eines Freibeuters Informationen beschaffen?“
Die Königin lächelte Robert an und wedelte mit einer Hand in Richtung von Sir Sean.
„Übrigens, Sir Sean ist der dritte Sekretär des Lordkanzlers. Wie du dieses Gewand aussehen lässt, ist dein Problem. Du hattest ja schon immer einen ausgefallenen Geschmack. Und du hast einen rechtmäßigen Kaperbrief, so, wie etliche andere auch.“
Und wieder zurück
Percy befürchtete schon, Clyde sei eingeschlafen, so ruhig war er während der Geschichte gewesen.
„Dann ist unser Captain…“
„…der zweite Earl of Scythe. “
Percy wuschelte jetzt durch Clydes rote Haare.
„Der Earl hat Daniel adoptiert. Sobald Daniel einundzwanzig wurde, hat er ihn adoptiert und vom House of Lords als seinen Erben und Nachfolger bestätigen lassen.“
„Wenn Daniel der zweite Earl ist, dann ist Robert jetzt tot?“
„Ja, er ist im Gefecht gefallen, vor zwei Jahren. Gegen eine letrionische Galeere.“
„Schade, ich hätte ihn gerne kennengelernt.“
Percy spürte eine Bewegung und als er seinen Kopf senkte, sah er in ein paar strahlend grüne Augen, die ihn anzulächeln schienen.
„Und wenn er den Titel und das Schiff geerbt hat und ebenso wie sein Adoptivvater als Freibeuter unterwegs ist, dann sammelt auch er jetzt Informationen für seine Königin.“
Clyde führte seine Gedanken weiter fort.
„Und natürlich führt er auch den einen oder anderen Auftrag für sie aus. Zum Beispiel kleine, abhanden gekommene Adlige aus den Klauen von Piraten und Sklavenhändlern zu befreien.“
Percy lachte leise.
„Ja, es sind manchmal auch Aufträge dabei, die sind nicht so einfach. Doch das mit dem Sklavenmarkt war reiner Zufall. Der Hinweis stammte vom Gouverneur von Kingstown."
„Warum hast du mir diese Geschichte erzählt?“
Clyde bemerkte gar nicht, dass er eine viel persönlichere Anrede gewählt hatte, Percy schon.
„Daniel und ich haben eine ganze Zeit lang überlegt, was wir hier an Bord mit dir anfangen könnten. Normalerweise ergänzen wir die Besatzung ja erst dann, wenn ein Platz frei wird, du bist zunächst einmal überzählig. Deine Ausbildung und Fähigkeiten machen aus dir eher einen Soldaten als einen Seemann. Aber mal ehrlich, als einfacher Seesoldat bist du ein wenig unterfordert. “
Clyde knurrte etwas unwillig, worauf Percy wieder lachte.
„Deine Bildung ist sehr gut und deine Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen ist bemerkenswert. Deshalb haben wir uns entschlossen, dir eine Position anzubieten, bei der du beides einsetzen könntest.“
„Ich soll ein Spion werden?“
„Nein, nein. Nicht so etwas Dramatisches. Kein Spion bei Nacht und Nebel. Eigentlich ganz das Gegenteil. Wir versuchen, die Spione zu entdecken. Ihre Verbindungen, ihre Identitäten, ihre Auftraggeber, das ist das Interessante. Und das passiert auf ganz unterschiedliche Art. Die einfachste Methode ist es zum Beispiel, in Tavernen oder auf Marktplätzen einfach die Ohren aufzusperren und zuzuhören. Hierbei ist die Kunst, Ungewöhnliches zu erkennen und Unwichtiges auszusortieren. Informanten handeln ihre Ware gegen Geld oder Gefälligkeiten. Es ist alles ein bisschen kompliziert.“
„Kann es sein, dass ihr das wie ein großes Spiel seht? Wie ein Schachspiel, so mit Zügen und Gegenzügen, aber mit mehr Aufregung?“
Percy lachte.
„Vielleicht.“
Dann wurde er ernst.
„Wir dürfen nur nicht vergessen, dass ein Schachspiel selten tödlich endet. Dieses hier schon.“
Das nachfolgende Gespräch mit dem Captain verlief nicht ganz so, wie Clyde es sich vorgestellt hatte.
„Ich nehme an, Percy hat dir die kleine Geschichte aus der jüngeren Vergangenheit von Britannica erzählt?“
„Jawohl, Sir.“
Daniel und Percy lachten.
„Du bist nicht an Deck. Diese Besprechung hier ist etwas anderes, als ein Schiff zu führen oder ein Gefecht zu gewinnen. Würdest du uns, und damit auch eine hoch edle Dame aus Britannica, dabei unterstützen, unser Land vor verborgenen Bedrohungen zu beschützen und ohne öffentliches Ansehen zu erringen in einem unsichtbaren Krieg zu kämpfen?“
Unbewusst drehten sich alle drei um und sahen zum Porträt der Königin.
Clyde brauchte nicht lange zu überlegen.
„Dieses Land ist das Land meiner Vorfahren, sogar solcher, die den Sagen nach in der Anderwelt unter den Hügeln wohnen. Und von dem, was ich bis jetzt erfahren habe, bin ich umso entschlossener, die Leute ans Licht zu ziehen, die lieber im Dunkel agieren.“
Percy brummte belustigt.
„Also Rhetorik kann er schon mal.“
„Dabei haben unsere Hauslehrer immer behauptet, ich wäre sehr schlecht darin. Doch was wird mein Vater sagen? Sicherlich, er hat noch keine passende Stellung für mich gefunden, doch das liegt wohl eher an meiner elfischen Abstammung. Ich weiß nicht, ob er damit einverstanden wäre, wenn ich einfach auf einem Freibeuter anheuere.“
Die beiden älteren Männer lachten.
„Ich bin mir sicher, wenn wir ihm die Hintergründe erklären, wird er es verstehen. Er wird zwar ein Bisschen grummeln, aber er wird zustimmen.“
Clyde sah seinen Captain erstaunt an, als der ihn angrinste.
„Donald Cameron war vor etlichen Jahren, als sein Vater noch Herzog war, einmal in einer sehr heiklen Sache im Auftrag seines Königs unterwegs.“
“Was? Mein Vater war…”
“Nein. Wir werden nichts erzählen. Denk’ dir deinen Teil.”
„Bleibt also nur noch die offizielle Stellung. Wir müssen es so ähnlich machen, wie im Sekretariat des Geheimen Kronrates. Eine offizielle Stelle, für alle sichtbar. Du hast die Seesoldaten gesehen, was hältst du von ihnen?“
„Was? Also, ein etwas zusammengewürfelter Haufen, aber die Jungs sind motiviert und sie sind talentiert. Schießen können sie.“
Percy nickte zustimmend.
„Das ist schon mal gut. Was ich dir jetzt erzähle, bleibt aber erst einmal unter uns, bis wir in Tarray sind. Wir beabsichtigen schon seit einiger Zeit, die Seesoldaten aufzustocken. Mit zwölf Mann kann man zwar gut an Bord auskommen, aber sollten wir tatsächlich einmal einen Landeinsatz machen müssen, sind es deutlich zu wenig. Wir werden drei Gruppen bilden, jeweils zu zehn Mann. Jede Gruppe wird zusätzlich zum normalen Dienst eine besondere Spezialisierung erhalten. Die erste Gruppe führt ein zweiter Offizier, so wie in jeder ordentlichen Kompanie. Die zweite und dritte Gruppe bekommt jeweils einen Sergeanten. Chef der ganzen Einheit wird ein Hauptmann. Einer der Hauptgründe, warum du nichts verraten sollst ist der, dass wir Feliciano gerne überraschen wollen mit der Beförderung.“
Clyde nickte ernsthaft und überlegte, wie er nun in das ganze Bild passen sollte.
„Zunächst hatten wir daran gedacht, dich als Offizier zu den Seesoldaten zu geben, doch dann wärst du voll in deren Dienstbetrieb eingebunden. Was wir für unsere Zwecke brauchen ist eine kleinere Gruppe von Aufklärern. Sie müssen unauffällig sein, schnell, lautlos, also für die Unterschiedlichsten Einsätze verwendbar. Offiziell werden sie bei allen unseren Einsätzen sowohl in Uniform als auch in Zivil den Feind aufklären. Das gilt für gegnerische Einheiten und auch für Aufklärung im fremden Häfen. Was das genau bedeutet, braucht ja niemand zu wissen.“
„Und da soll ich mitmachen?“
„Oh, ja. Du wirst dann Kommandeur der Aufklärer im Rang eines Leutnants.“
Clyde stutzte. Er und Offizier? Seine Brüder würden vor Lachen vom Pferd fallen. Doch nach kurzem Nachdenken begannen seine Augen zu strahlen. Er sah sich schon heimlich durch irgendwelche Gebüsche schleichen und gegnerische Vorposten ausschalten. Daniel Hansom sah ihm seine Begeisterung an.
„Jetzt kommt die andere Seite. Diese kleine Gruppe wäre dann natürlich ebenso im Einsatz, um bestimmte andere Aufgaben zu übernehmen. Möglicherweise bei Nacht und Nebel unter einem Umhang durch dunkle Straßen schleichen, oder in einer Verkleidung fremde Leute beobachten. Weil deine Gruppe als offizielle Aufklärer ohnehin besonders begabte Leute benötigt, ist es an dir, deine Leute selber auszusuchen.“
„Wieviel dürfen sie denn wissen? Von der zweiten Aufgabe, meine ich. Ich kann sie doch nicht losschicken mit einem Auftrag, der so geheim ist, dass sie selber nicht wissen, was sie da machen.“
Daniel und Percy lachten, dann sah Daniel Clyde ernst an.
„Du musst den Leuten, die du auswählst, vertrauen können. Erzähl ihnen nicht alles von Anfang an, sondern erst dann, wenn du wirklich sicher bist. Deine Einschätzung ist deine Lebensversicherung.“
Clyde nickte ernsthaft und seine Gedanken eilten schon weit voraus. Dann sah er die beiden Offiziere vor sich an und sein Blick blieb an Daniel Hansom hängen.
„Es ist eine große Verantwortung. Ihr wollt mich wirklich dafür haben, Euer Lordschaft?“
Daniel bemerkte die förmliche Anrede und stand auf. Wenn dieser kleine rothaarige Elf es offiziell haben will, dann kann er das kriegen.
„Wollt Ihr, Clyde Cameron, in meine Dienste treten als Offizier des Earls of Scythe und mir die Treue schwören, so wie ich sie geschworen habe, dem Souverän von Britannica?“
Clyde sank auf sein rechtes Knie.
„Ich, Clyde Cameron, schwöre dem Earl of Scythe meine Treue und meine Dienstbarkeit, so lange er sie gewähren lässt.“
Daniel hatte die etwas altertümliche Formulierung bemerkt und wie er später erfahren sollte, beruhte sie auf dem Treueeid eines Lehensnehmers aus Lonlothian. Nachdem Clyde fertig gesprochen hatte, zog Daniel ihn hoch und gab ihm einen Kuss. Einen intensiven Kuss, der auch ziemlich andauerte.
Als Clyde sich langsam löste, sah er errötend und nervös zu Percy. Der strahlte Clyde nur an und öffnete leicht seine Arme. Clyde trat auf ihn zu und umarmte ihn. Dann wurde er mit einem ähnlich tiefen Kuss belohnt.
„Whow. Werden hier alle Offiziere so belohnt?“
Percy und Daniel lachten.
„Fast alle. Sie sollen sehen und spüren, dass sie uns nicht egal sind und wir eine Verantwortung haben und uns um sie kümmern. Vom Offizier bis zum Matrosen.“
„Dann bleibt ja nur noch eine Sache übrig.“
Clyde hob fragend die Augenbrauen.
„Wie soll deine Truppe denn heißen? Ihr gehört ja nicht zur Marineinfanterie, sondern bildet eine eigenständige Einheit. Deshalb solltet ihr auch eine eigene Bezeichnung bekommen.“
Clyde stutzte, dann dachte er nach. Als Aufklärer waren sie Scouts und es sollte irgendetwas sein, was die Grafschaft repräsentierte. Aufklärer im Namen der Grafschaft… hmmm, nein, mit dem Namen der Grafschaft.
„Scythe-Scouts.“
Daniel und Percy sahen sich an, dann grinsten beide. Daniel nickte.
„Dann also Scythe-Scouts. Einen Offizier haben wir. Brauchen wir also nur noch ein paar Mannschaften. Du weißt, was gefordert ist. Du hast die Möglichkeit, aus der Besatzung oder, wenn wir in Tarray sind, aus den Bewerbern die an Land warten, ein paar Leute auszusuchen. Aber keine von unseren Offizieren oder Unteroffizieren, die sind sehr schwer zu bekommen oder auszubilden.“
„Jawohl, Sir!“
„Dann hast du jetzt Zeit, über deine Truppe nachzudenken und ein paar Rekrutierungen zu machen. Ach so, ihr seid dann natürlich offizielle Soldaten der Grafschaft. Denk auch mal über eine entsprechende Uniform nach.“
Clyde stand an der Backbordreling um der langsam untergehenden Sonne zuzusehen. Nach kurzer Zeit bemerkte er eine Gestalt, die neben ihm schweigend an der Reling stand. Er musste einen Moment überlegen, bis ihm der Name wieder einfiel.
„Frank, nicht wahr? Du bist einer der Seesoldaten.“
Frank Beutler nickte immer noch schweigsam. Dann drehte er sich zu Clyde und betrachtete ihn eine ganze Weile zögernd.
„Ich habe immer geglaubt, ein Elf wäre so etwas wie ein Märchen. Eine Geschichte, die sie den kleinen Kindern erzählen um sie zu erschrecken.“
Clyde sah Frank erstaunt an. Er wunderte sich nicht, dass sein kleines Geheimnis anscheinend keines mehr war. Hier an Bord blieb definitiv nichts lange verborgen. Doch warum sah Frank ihn als eine Gestalt aus einem Märchen?
„Ist es das, was in Arlemande aus den Elfen gemacht wurde? Ein Legende, um Kinder zu erschrecken?“
„Ich fürchte, ja. Doch ich bin nicht hier, um dich zu beleidigen. Ich wollte dir danken, denn du hast mein Leben gerettet, unser aller Leben. Die Drehbasse hätte unter uns genauso gewütet wie auf dem Herblondy.“
Mit einem kurzen Kopfnicken wies er hinüber zum Horizont, wo irgendwo dort draußen die SIRÈNE war.
„Und dann hätte ich noch zwei Fragen an dich.“
Als Frank nicht weitersprach lächelte Clyde ihn gelassen an.
„Frag‘ ruhig. Ich nehme so schnell nichts übel.“
Frank überlegte kurz, dann senkte er den Kopf und flüsterte fast.
„Dieser Zauber, der mit der Vergrößerung, gehört der zur Magie der Elfen, oder kann man so etwas lernen?“
Clyde überlegte einen Moment, wie er seine Antwort am besten formulieren sollte.
„Das ist etwas schwer zu erklären, aber ich werde es versuchen. Ich bin nur zur Hälfte ein Sidhe, oder ein Elf, wie ihr sagen würdet. Bei meiner Geburt wurde mir lediglich eine magische Berührung zuteil. Mit solch einer Berührung wird eine von vier verschiedenen Gnaden der Sidhe für ihre Bastarde übertragen. Ich wurde ein Cynfelin, ein Hund des Belinos, deshalb bekam ich Leben und Tod.“
Clyde sah Frank an und erblickte nur Verständnislosigkeit.
„Na, einfacher gesagt, eine Gabe besteht immer aus einem guten und einem schlechten Aspekt, je nachdem, wie derjenige der sie bekommt, es betrachtet. Bei mir ist es Leben und Tod. Ich kann jemandem Heilung bringen, also keine Wunden heilen, sondern seine Seele in einen Zustand von Ruhe und Frieden bringen, ihn entspannen und damit auch Schmerzen lindern. Die andere Seite ist der Tod. Ich kann auf unterschiedlichste Weisen auch den Tod bringen. Diese ‚Trefferlupe‘, die du erfahren hast, ist eine dieser Auswirkungen. Ich könnte mit jeder Schusswaffe, ob Pistole, Gewehr oder Bogen einen präzisen Schuss auf etwa 100 Meter anbringen.“
Frank sah Clyde fast ehrfürchtig an.
„Mit einer Pistole auf 100 Meter? Kann man das lernen? Nein, wahrscheinlich nicht, oder?“
Clyde schüttelte bedauernd den Kopf.
„Nein, diese Gabe ist meine persönliche Magie des Alten Volkes.“
„Wie ich es mir gedacht habe. Na gut, dann bleibt mir nur noch, meine Dankbarkeit auszudrücken, dass du uns gerettet hast.“
Langsam näherte er sich Clyde und gab ihm einen scheuen Kuss. Clyde wollte ebenfalls nicht undankbar erscheinen und zog den schlanken blonden Jungen an sich. Die Küsse wurden intensiver und zwei Paar Hände gingen suchend auf Wanderschaft. Bis sie von einem leisen Räuspern unterbrochen wurden.
„Sucht euch irgendwo einen Platz.“
grinste Ragnar sie an und scheuchte sie von der Reling weg.
Beim Frühstück nach der Wachablösung wieselten die Schiffsjungen fröhlich im Deck herum, einige spielten sogar Fangen. Jean-Luc sah Clyde über die Back hinweg an und grinste.
„Na, ich hab‘ gehört, du hattest letzte Nacht eine sehr intensive Begegnung mit einem Seesoldaten.“
Clyde hätte sich beinahe an dem etwas dünnen, aber dafür sehr heißen Kaffee verschluckt und prustete quer über die Back. Jean-Luc lachte laut.
„Du brauchst dich nicht aufzuregen. Erstens bleibt das hier an Bord sowieso nicht lange verborgen, zweitens tut es ja eh fast jeder. Und so viel ich gehört habe, hat der besagte Seesoldat noch keinen festen Freund.“
Clyde sah Jean-Luc mit großen Augen an.
„Willst du damit andeuten…?“
„Nein, nein. Das ist eine Sache, die jeder für sich, beziehungsweise die zwei Mann unter sich ausmachen müssen. Ich wollte nur sagen, dass hier an Bord bereits einige vergeben sind, andere wiederum nicht. Wobei das nicht heißt, dass jemand, der eine feste Partnerschaft hat, sich nicht auch mal woanders vergnügt, wenn die Partner sich einig sind. Und es gibt sogar feste Beziehungen mit drei oder vier Partnern.“
Clyde sah Jean-Luc überrascht an.
„Was? Drei oder vier? Welche, äh, Auswirkungen hat denn eine solche feste Beziehung?“
Jean-Luc spielte mit seinem Messer während er nachdachte und legte es dann vorsichtig ab.
„Auswirkungen kann man es kaum nennen. Du bist halt nicht mehr alleine. Du hast jemanden, dem du dich anvertrauen kannst, du profitierst vielleicht von seinem Wissen, seinen Fähigkeiten und er beschützt dich, wenn es darauf ankommt. Außerdem hast du noch jemanden, der dein Bett wärmt.“
Jean-Luc musste grinsen, als Clyde wieder leicht rot wurde. Nach der letzten Nacht sollte er sich doch eigentlich an den Gedanken und auch den Anblick eines nackten Körpers gewöhnt haben.
Die Reise zurück in die Heimat verlief ziemlich ruhig. Captain Hansom hatte entschieden, dass er zunächst so schnell wie möglich nach Lonlothian reisen würde, um dort mit dem Herzog über Clyde zu reden. Dann musste er unbedingt nach Caerdon, der Hauptstadt von Britannica, um dort einen Bericht über seine letzten Erlebnisse abzugeben.
Clyde war keiner Seewache zugeteilt worden und so hatte er während des ganzen nächsten Tages die Arbeit der Wachhabenden Offiziere und des Segelmeisters neugierig verfolgt. Jean-Luc und Thomas hatten ihn mit nach oben genommen, in die Marsplattformen und am Abend war er hundemüde, als er zu seiner Hängematte schlich.
Während er einschlief, ließ er den Höhepunkt seines Tages noch einmal in seiner Erinnerung verbeilaufen:
Clyde stand mit Jean-Luc an den unteren Wanten des Hauptmastes.
„Habe ich was verbrochen?“
Jean-Luc lachte.
„Nein. Das machen wir mit jedem Neuen. Es ist so was wie eine Mutprobe. Du kannst dich dabei anstellen wie du willst, aber nach oben musst du. Ich zeige dir, wie es geht und wo wir lang müssen. Du bist hoffentlich schwindelfrei.“
„Keine Ahnung, werden wir ja sehen.“
Etwas unsicher kletterte Clyde hinter Jean-Luc her. Nach kurzer Zeit erreichten sie eine Plattform und Clyde wunderte sich, wie sie wohl daran vorbeikommen würden, doch Jean-Luc griff an den Befestigungen der Wanten vorbei, hing dabei fast waagerecht und schwang sich weiter nach oben, wo weitere Wanten gespannt waren. Auch hier trafen sie auf eine Plattform, allerdings deutlich kleiner als die, die sie gerade passiert hatten.
Der Ausguck war mit einem Seemann besetzt, der mit einem Fernrohr bewaffnet den Horizont absuchte.
„Hey, Mickey. Mal wieder den besten Job erwischt?“
Der Ausguck wandte sich um und Clyde sah einen fünfzehn oder sechzehn Jahre alten Jungen mit strohblonden Haaren und blauen Augen.
„Hey, Jean-Luc. Ist das der Neue?“
„Jep. Das ist Clyde. Der Captain wird wohl noch entscheiden, was er bei uns machen soll.“
„Der ist echt niedlich. Hoffentlich kommt er zu den Toppsgasten.“
Mickey setzte kurz das Fernrohr ab und gab Clyde einen schmatzenden Kuss auf die Wange.
„Kannst ruhig öfter nach oben kommen. Wenn nichts los ist kann man hier gut rummachen.“
Jean-Luc verpasste dem Matrosen einen leichten Schlag auf die Schulter.
„Eh, du kleines Frettchen. Du musst nicht gleich jeden anmachen. Erzähl mal lieber, was draußen los ist.“
Clyde war von dem Verhalten des jungen Matrosen echt überrascht, noch mehr allerdings, als er sein verspieltes Gehabe ablegte und dienstlich wurde.
„Jawohl, Mister Montfére. Wir haben eine einzige Sichtung, ein kleines Segel an Steuerbord voraus in drei Strich, ist gemeldet. Ansonsten alles leer.“
„Danke, Mister Fraser. Lass mal Clyde durch das Fernrohr sehen, er soll das ja auch lernen.“
Es war gar nicht so einfach mit dem Fernrohr auf einem schwankenden Schiff den Horizont einzufangen. Doch nach einiger Zeit hatte Clyde sich darauf eingestellt.
„Ich glaube, da ist irgendetwas. Ganz da hinten.“
„Was? Wo?“
Jean-Luc riss ihm förmlich das Glas aus der Hand und spähte in die Richtung in die Clyde zeigte.
„Tatsächlich.“
Jean-Luc beugte sich über den Rand des Krähennestes und brüllte nach unten.
„Segel über der Kimm! Backbord querab!“
„Danke. Dann lasst Mickey wieder alleine da oben. Der ist sonst zu stark abgelenkt!“
„Wir sind dann wieder weg, Mickey. Lass dich nicht ablenken.“
Zum Abschied bekam Jean-Luc von Mickey einen Kuss, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ. Clyde spürte, wie sich bei ihm etwas regte und er musste sich beim Abstieg sehr stark konzentrieren, um unbeschadet unten anzukommen.
Im Halbschlaf hörte Clyde ein paar Geräusche um sich herum. Die Schiffsjungen fingen an, den Raum für das Frühstück herzurichten. Plötzlich fuhr Clyde hoch. Eine Hand hatte sich unter seine Decke geschoben, war blitzschnell nach unten gekrochen und hatte kurz sein bestes Stück gegriffen und leicht gedrückt.
„Morgen!“
erklang die helle Stimme eines der Schiffsjungen, der ihn schelmisch angrinste.
„Alles aufstehen. Wie ich merke, ist ein Teil ja schon wach.“
Flink tauchte der Kleine unter der Hängematte weg, um der erhobenen Hand zu entgehen, die sich gefährlich genähert hatte.
Aus den Augenwinkeln erkannte Clyde, dass der Schiffsjunge die gleiche Weckroutine auch bei Jean-Luc durchführte. Der schwang sich völlig unbeeindruckt aus der Hängematte und streckte sich, so dass er im wahrsten Sinne des Wortes in voller Pracht dastand.
Clyde zögerte kurz, doch dann dachte er: Was soll’s. Entschlossen schwang er sich ebenfalls aus der Hängematte und hatte sofort die Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Jean-Luc sah ebenfalls kurz zu ihm herüber.
„Du brauchst dich damit nun wirklich nicht zu verstecken. Komm mit nach oben. Die Pumpe ist in Betrieb.“
Clyde hatte das gleichmäßige Klacken der Pumpe zwar schon wahrgenommen, es aber erst nicht zuordnen können. An Oberdeck war an einer Lenzpumpe ein Schlauch angeschlagen worden und es wurde Seewasser an Deck gepumpt, damit die Wache mit den Reinigungsarbeiten anfangen konnte. Gleichzeitig wurde der Wasserstrahl als Dusche für die Besatzung genommen. Gut ein Dutzend splitternackter Jungen drehten sich unter dem harten Strahl der Pumpe. Clyde und Jean-Luc waren schnell fertig, denn das Wasser war kalt und etwas unangenehm auf der Haut.
„Am besten fest abrubbeln. Da bleibt so wenig wie möglich Salz übrig.“
Kurze Zeit später saßen sie beim Frühstück und begannen dann wieder mit ihrem routinemäßigen Tagesdienst.
Acht Tage später wurde das Frühstück jedoch jäh unterbrochen.
„Land! Zwei Strich an Steuerbord.“
Clyde wollte schon aufspringen, als Jean-Luc ihn wieder zurückzog.
„Ganz ruhig. Wenn der Ausguck jetzt Land sieht, sehen wir hier frühestens in einer halben bis einer Stunde etwas. Du solltest besser ausgiebig frühstücken, wer weiß, wann es wieder etwas gibt.“
Als die beiden eine gute halbe Stunde später an Deck kamen, war noch immer nichts vom Land zu sehen. Dafür wurde es auf dem Achterdeck etwas hektisch.
Lieutenant Holland hatte für die SIRÉNE den Steuermannsmaaten seiner Wache mitgenommen, deshalb ging der Master die zweite Wache. Da Lieutenant Holland aber auch noch einen der Seekadetten seiner Wache mitgenommen hatte, hetzte Thomas Meinhardt nun alleine, von etlichen Befehlen getrieben, hin und her. Jean-Luc und Clyde sahen sich kurz an, dann übernahmen sie einige seiner Aufträge.
Die FAIRYTALE lief unter vollem Zeug auf dem kürzesten Weg in den kleinen Hafen von Runfield ein, obwohl dieser Hafen gar nicht ihr eigentliches Ziel war. Hier wurde lediglich ein Kurier abgesetzt, der den Herzog von Lonlothian von ihrer Ankunft informieren sollte.
Die Ansteuerung von Banbhaidh war ungleich schwieriger, denn das Schiff musste durch den engen Firth of Pennwyr. Die Durchfahrten waren manchmal so schmal, dass sich Clyde fragte, wie der Master es schaffte, hier herein zu kommen. Schon öfter hatte Clyde auf den Anhöhen gestanden und die Schiffe beobachtet, aber noch nie war ihm bewusst gewesen, wie schwierig die Navigation in diesen Gewässern war.
Clyde beobachtete Robert Jarmund, wie er in einem kleinen Buch las, gleichzeitig die Küste beobachtete und dabei noch den Kurs des Schiffes im Auge behielt. In regelmäßigen Abständen peilte er mit einer Vorrichtung über den Kompass und trug die Peilungen in eine Seekarte ein. Der Segelmeister beobachtete den jungen Steuermannsmaaten unauffällig aus dem Hintergrund. Er bemerkte auch Clyde, der interessiert zusah.
„Du möchtest nicht etwa einen neuen Beruf erlernen?“ fragte er belustigt.
„Was? Oh, nein. Ich wundere mich nur. Wenn etwas aufgezeichnet ist, dann kann doch jeder, der das Buch besitzt, diese Gegenden befahren. So wie mit dem kleinen Heft, das wir gefunden haben?“
Der Segelmeister nickte zustimmend, doch dann lächelte er geheimnisvoll.
„Rein theoretisch schon. Solche Segelhandbücher werden ja in einigen Fällen auch geschrieben, damit tatsächlich viele Leute damit arbeiten können. Die Navy zum Beispiel hat sogar gedruckte Ausgaben für bestimmte Seegebiete, denn es sollen ja alle sicher dort rein- oder rauskommen. Aber ich werde dir mal etwas zeigen.“
Der Master winkte Sven zu sich und bat ihn um sein Buch mit den Aufzeichnungen. Sven schlug es an einer bestimmten Stelle auf und gab es dem Master. Der reichte es an Clyde weiter. In dem Buch waren lediglich Striche. Kleine Striche, andere so groß wie Buchstaben, manchmal Runen, in allen möglichen Lagen, waagerecht, senkrecht, in den verschiedensten Winkeln.
Clyde war verwirrt, doch nun gab ihm der Master sein eigenes Seehandbuch und dort sah er runde Schnörkel. Kreise, die ineinander verliefen, saubere, runde Kreise, Ovale und auch solche, die miteinander durch Linien verbunden waren.
„Dies sind die persönlichen Handbücher. Jeder Steuermann hat seine eigene Methode um die Informationen für Landmarken, Kurse oder Untiefen zu verschlüsseln. Kein anderer kann etwas damit anfangen.“
Clyde war fasziniert und bedankte sich, dann sah er dem Wachhabenden Offizier zu, wie er das Schiff zu seinem Ankerplatz brachte. Als der Anker gefallen war und sich einer der Flunken in den Grund gebohrt hatte, drehte das Schiff, befreit von seinen Segeln, langsam den Rumpf in den Wind.
Clyde schreckte zusammen, als hinter ihm eine Stimme ertönte.
„Dein Vater steht auf der Pier. Es sieht aus, als ob er uns hier an Bord beehren wollte. Wir sollten ihn entsprechend empfangen.“
Daniel Hansom stand hinter Clyde und reichte ihm ein Fernrohr. Tatsächlich, dort an der Hafenmole konnte er ausmachen, wie sein Vater gerade ein Boot bestieg. Als das Boot näherkam, konnte man deutlich die große Britannische Heckflagge und einen Wimpel mit den Farben von Lonlothian erkennen.
„Der Duke of Lonlothian.“
meldete Seekadett Meinhardt dem Wachhabenden Offizier.
„Fallreepsgasten und Seesoldaten antreten.“
Sechs Matrosen und vier Bootsmannsmaate nahmen an der Fallreepstreppe Aufstellung und die Seesoldaten traten mit ihren Karabinern an.
Als der Besucher das Oberdeck betrat, übernahm Lieutenant Seymore das Kommando.
„An Oberdeck stillgestanden! Achtung, präsentiert!“
Die Bootsmannsmaate begannen auf ihren kurzen Signalpfeifen zu pfeifen und die Seesoldaten präsentierten mit den Karabinern.
Der Duke of Lonlothian war ein Mann mittleren Alters mit fuchsroten Haaren und blauen Augen. Er trug einen Gehrock der neuesten Mode, was allerdings deutlich zu den dunklen Reithosen und dem Lederkoller kontrastierte, den er trug. Auf dem Rücken war ein riesiges zweihändiges Schwert festgeschnallt. In seiner Begleitung befand sich ein junger Mann, so um die zwanzig, mit ähnlichen Gesichtszügen und den gleichen fuchsroten Haaren.
Robert, durchfuhr es Clyde. Was macht der denn hier? Ich dachte, er wäre in Caerdon.
Lieutenant Seymore grüßte militärisch.
„Willkommen an Bord, Euer Gnaden. Seine Lordschaft erwarten euch.“
„Vielen Dank, Lieutenant. Ich bin beeindruckt vom Auftreten ihrer Seeleute und Soldaten.“
„Vielen Dank, Euer Gnaden.“
„Gewehr ab! Oberdeck, rührt euch!“
Clyde hatte den Empfang neugierig aus einiger Entfernung beobachtet. Nun wandte er sich um und ging hinunter, um vor der Kapitänskajüte zu warten. Der Captain hatte ihm angeboten, neu eingekleidet zu werden, doch Clyde wollte seinem Vater in den Sachen gegenübertreten, in denen er auch gearbeitet hatte.
Es dauerte auch nur wenige Minuten, bis Sedgewick aus der Kapitänskajüte sah.
„Ihr werden gebeten einzutreten, Lord Clyde.“
„Danke, Sedgewick.“
Clyde trat ein und sah seinen Captain an.
„Matrose Clyde Cameron, wie befohlen, Sir.“
Captain Hansom hob amüsiert die Augenbrauen und musste sich ein Grinsen verkneifen.
Der Herzog sah verblüfft zu seinem jüngsten Sohn herüber. Robert Cameron hingegen brach in schallendes Gelächter aus. Dann trat er mit wenigen Schritten auf seinen Bruder zu und umarmte ihn stürmisch, wobei er ihn kurz vom Boden abhob.
„Hey, Kleiner! Das ist das erste Mal, dass ich erlebe, dass du irgendeinem Befehl nachkommst.“
Nachdem ihn sein Bruder wieder abgesetzt hatte, wandte sich Clyde zögernd seinem Vater zu. Doch dieser reagierte ähnlich wie sein Sohn. Mit ein paar kurzen Schritten hatte er Clyde erreichte und umarmte ihn. Clyde hatte das Gefühl, ein Bär hätte ihn in seinen Pranken und er spürte, wie ihm langsam die Luft wegblieb.
Robert lachte.
„Vater, willst du ihn am Ende doch loswerden? Der Kleine bekommt schon keine Luft mehr.“
Erschrocken gab der Herzog seinen jüngsten Sohn frei. Er sah sich um und bemerkte, dass Captain Hansom die Kajüte verlassen hatte.
„Nun, dann erzähl mal.“
An Oberdeck gab es inzwischen einige Aufregung.
Thomas Meinhardt musste mehrere Male durch sein Fernrohr sehen, bevor er glauben konnte, was er sah. Schnell trat er zum Wachhabenden Offizier. Lieutenant Lutteur war ohnehin schon leicht nervös wegen des Herzogs, aber die Meldung des Seekadetten ließ ihn etwas ausfällig werden.
„Was soll das?“
zischte er Thomas Meinhardt zu.
„Verarschen kann ich mich alleine.“
Thomas straffte sich und wurde etwas lauter.
„Sir. Dies ist eine dienstliche Meldung. Wenn sie sich selbst davon überzeugen würden.“
Damit streckte er Pierre Lutteur sein Fernrohr entgegen. Dieser nahm es zögernd aus der Hand des Seekadetten, als der Erste Offizier hinzutrat, der aufmerksam geworden war.
„Gibt es ein Problem, meine Herren?“
„Nein, Sir. Aber Seekadett Meinhardt hat soeben ein Boot gemeldet, das sich nähert. Allerdings ohne Ruderer, ohne Segel, und nur mit einer Frau darin.“
Percy Seymore zerbiss einen Fluch zwischen den Zähnen und sah sich suchend um.
„Fallreepsgasten und Seesoldaten antreten! Thomas, such den Captain und bitte ihn umgehend her. Ihr da! Verschwindet von der Reling!“
Percy Seymore schaffte es noch bis zur Fallreepstreppe, als auch schon das merkwürdige Boot längsseits schor und die Dame mit leichten Schritten emporkletterte.
„An Oberdeck stillgestanden! Achtung, präsentiert!“
Und wieder begannen die Bootsmannsmaate auf ihren kurzen Signalpfeifen zu pfeifen und die Seesoldaten präsentierten mit den Karabinern.
„Willkommen an Bord, Mylady.“
Die Dame war nicht besonders groß, doch ihre ganze Erscheinung schien sie größer wirken zu lassen. Ihr Alter war unmöglich zu schätzen, ihre Haltung gab ihr etwas Unnahbares, Aristokratisches. Die sehr helle Haut kontrastierte stark zu den langen, offen getragenen, feuerroten Haaren und dem bodenlangen dunkelgrünen Kleid.
Der Blick der Dame wanderte langsam über das Oberdeck der FAIRYTALE und sie schien Alles und Jeden wahrzunehmen.
Daniel Hansom war an Oberdeck gekommen und stellte sich neben seinen Ersten Offizier. Der Blick der Frau blieb nun an den beiden Männern hängen.
„Ein schöner Name für ein Schiff. Nicht jeder glaubt, dass Märchen wahr werden.“
„Vielen Dank, Mylady. Für uns hier an Bord ist bereits ein Märchen wahr geworden.“
Damit nahm Daniel Hansom mit seiner rechten die linke Hand von Percy Seymore und hob sie leicht an.
Die Dame lächelte ihnen zu und nickte.
„Ja, die Menschen verdienen mehr Glück in ihrem Leben. Ihr habt Euer Glück selbst geschmiedet und werdet es bis zum Tod verteidigen. Eine seltene Einstellung. Doch sagt mir, mein Sohn ist hier an Bord, ich würde ihn gerne sehen.“
Der Captain nickte und deutete auf die Tür zum Achterdeck.
„Dort entlang Mylady. Sein Vater ist gerade bei ihm.“
„Umso besser, dann braucht er nicht alles zweimal zu erzählen.“
Captain Hansom ging voran und die Dame folgte ihm. Die vier wachfreien Seekadetten hatten sich links und rechts der Tür aufgebaut. Das war im Protokoll zwar nicht vorgesehen, aber die einzige Möglichkeit, ihrer Neugier freien Lauf zu lassen.
Als die Dame näherkam, wechselten die Kadetten nur einen kurzen Blick, dann verbeugten sie sich tief, ohne es vorher abgesprochen zu haben. Die Dame lächelte sie an, dann blieb sie plötzlich stehen. Ihr Blick wanderte von einem zum anderen.
Liam Young stand ganz links und auf ihm ruhte ihr Blick als erstem.
„Ein Kind Britannicas. Hüte das Land wohl.“
Neben Liam stand Jean-Luc.
„Eine zerrissene Seele. Du wirst töten müssen, um Frieden zu finden.“
Jean-Luc schnappte etwas nach Luft, doch die Dame sah nun nach rechts, wo Ragnar ganz außen stand.
„Ein Kind des Eises. Vergiss das Erbe deiner Vorväter nicht.“
Ragnar erbleichte sichtlich, doch schon hatte sich die Aufmerksamkeit auf Diethard Wegener gerichtet.
„Ein Kind des zerrissenen Landes. Du hattest viel zu ertragen und wirst viel zu ertragen haben, doch dein Vertrauen wird dich retten.“
Lächelnd hob die Dame ihre rechte Hand und fuhr Diethard kurz durch seine roten Haare, dann schritt sie weiter hinter dem Captain her.
Nur langsam lösten sich die vier Seekadetten aus ihrer Erstarrung.
„Was war das?“
Diethard fuhr sich nun selbst durch seine Haare und bemerkte ein leichtes Glitzern. Liam schüttelte den Kopf und sah vorsichtig in den Gang, doch die Dame war verschwunden. Alle vier fühlten sich etwas unwohl, denn sie hatten die starke erotische Ausstrahlung gespürt, die diese Frau verbreitet hatte. Diethard war besonders betroffen, denn in dem Moment, in dem dieses Glitzern ihn traf, spürte er noch einmal einen Schub dieser Ausstrahlung was bei ihm zu einer deutlichen körperlichen Reaktion führte. Beim Erbauer! Was wird dann wohl erst mit einem Mann passieren, der auf Frauen steht?
„Die Frage ist, wer war das? Ich bin mir nicht sicher, aber wenn ich den alten Geschichten Glauben schenken soll, dann müsste das eine der Herrscherinnen der Sidhe gewesen sein.“
Jean-Luc sah Liam mit großen Augen an.
„Eine Elfen-Königin?“
„Es gibt keine Könige oder so etwas bei den Sidhe. Es gibt nur einige, die älter sind als die anderen und deshalb mit mehr Respekt behandelt werden. Sie sind es wohl auch, die bestimmte Zauber wirken können.“
Unwillkürlich fuhr sich Diethard Wegener noch einmal durch die Haare.
Ragnar stand leicht an die Wand gelehnt und starrte mit abwesendem Blick in die Ferne.
„Vergiss das Erbe deiner Vorväter nicht.“
murmelte er mehr als einmal vor sich hin.
Kaum zwei Stunden später war die FAIRYTALE wieder auf dem Rückweg durch den Firth of Pennwyr. Was in der Kapitänskajüte gesprochen worden war, ist niemals von einem der Beteiligten erwähnt worden, doch das Ergebnis war deutlich sichtbar. Clyde Cameron war immer noch an Bord und er strahlte sichtlich. Sein Wunsch war ihm erfüllt worden und an seiner Stelle würde nun sein Halbbruder Robert in die Neue Welt reisen um dort die Investitionen des Herzogs zu kontrollieren und zusammen mit einem Prospektor die Möglichkeiten erkunden, dort Geld zu verdienen.
Auch die Hohe Sidhe hatte das Schiff genauso wieder verlassen, wie sie gekommen war. Doch dieses Mal hievten zwei Matrosen ein kleines Fass in ihr Boot. Percy Seymore überwachte das Manöver mit Argusaugen und war froh, das Fass mit seinem mysteriösen Inhalt losgeworden zu sein, ebenso wie den Umschlag mit dem Zauberspruch aus Isafjord.
Noch bevor der Anker gelichtet wurde, hatten sich die Seekadetten Clyde geschnappt und sich mit ihm in die hinterste Ecke der Junior-Messe verzogen. Jean-Luc hatte Clyde an beiden Schultern gepackt und schüttelte ihn aufgeregt.
„Was soll das heißen? Du wirst töten müssen, um Frieden zu finden. Wen denn, warum denn? Sag‘ was!“
Clyde versuchte Jean-Luc zu beruhigen, aber der war vollkommen aufgewühlt.
„Jean-Luc, beruhige dich. Ich weiß es doch auch nicht. Mich wundert, dass sie überhaupt etwas zu euch gesagt hat und dann auch noch zu allen. Jean-Luc, auf wen sich diese Weissagung bezieht, weißt nur du allein und wahrscheinlich auch erst dann, wenn es soweit ist. Also warte einfach ab.“
Liam musterte Clyde etwas skeptisch, aber er lächelte.
„Ein Kind Britannicas. Hüte das Land wohl. Die Aussage ist eindeutig. Ich werde meine Heimat verteidigen bis zum letzten Atemzug.“
Ragnar sah erst Liam, dann Clyde an.
„Vergiss das Erbe deiner Vorväter nicht. Du hast gut reden Liam, du bist hier zu Hause. Ich bin tausende Meilen von meiner Heimat entfernt. Das Erbe meiner Vorväter ist nicht so einfach zu bewahren.“
Die anderen Jungen sahen Ragnar überrascht an, aber der lehnte sich zurück und schwieg.
Clyde wandte sich an Diethard Wegener.
„Und du, Kind eines zerrissenen Landes?“
Zum wiederholten Male wurden Diethards Haare durcheinandergebracht. Plötzlich stutzte Clyde. Noch einmal strich er sanft über die roten Haare, als kleine Funken glitzerten. Clyde grinste Diethard schelmisch an.
„Sie hat dir Elfenstaub verpasst. Das ist äußerst selten. Ich habe nicht den leisesten Schimmer, warum sie das getan hat. Bestimmt hat sie dir auch etwas vom Glamour verpasst. War ein Bisschen aufregend, stimmt‘s?“
Diethard starrte Clyde mit großen Augen an, merkte aber dann selber, wie er langsam rot wurde.
Schweigend saßen die Jungen nun in der Messe und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.
Zwei Tage später lief die FAIRYTALE kurz vor der Mittagszeit in die Mündung des Tyrdale ein. Clyde sah allmählich die hohen grauen Mauern der Festung Caerdon näherkommen, doch es würde wohl noch eine Weile dauern, bis sie in einem der Häfen festmachen konnten. Thomas Meinhardt hatte ihm erklärt, sie würden nicht ankern, sondern an einer Tonne festmachen. Diese waren in regelmäßigen Abständen in den Häfen ausgebracht und fest verankert worden. Das war erheblich einfacher, als selber zu Ankern.
„Clyde!“
Die Stimme des Kapitäns ließ den jungen Mann zusammenzucken.
„Ja, Sir?“
„Ich werde zusammen mit dem Ersten Offizier an Land gehen. Du wirst uns in den Palast begleiten. Also besorg dir eine vernünftige Uniform. Deine ruhmreiche Truppe hat ja noch keine Uniform und die der Seesoldaten darfst du nicht tragen. Die Uniformen vom Schiff sind nicht amtlich, die gelten offiziell als Fantasieuniform der Kaperschiffe von Scythe. Ich würde also vorschlagen, du borgst dir eine von den Seekadetten. Die entspricht am besten dem Alter und ist elegant genug für unsere Zwecke. Wir werden ein paar der Unterlagen, die wir gefunden haben, mit an Land nehmen. Deshalb kommst du nach dem Umziehen direkt zur Kapitänskajüte.“
„Jawohl, Sir.“
Clyde sah sich suchend um. Liam arbeitete gerade mit den Signalflaggen, den konnte er nicht stören. Thomas hatte die Aufsicht auf der Back, wo bereits die Tampen für die Festmachertonne ausgelegt wurden. Diethard Wegener stand weiter vorne zwischen den Kanonen der Oberdecksbatterie und starrte hinüber nach Caerdon. Clyde lief zu ihm hinüber.
„Diethard, kannst du mir eine deiner Uniformen leihen?“
„Was? Bist du Seekadett geworden, über Nacht?“
„Nein. Der Captain will mich mitnehmen an Land und ich soll eine vernünftige Uniform tragen.“
„Ah, ja. Dann los, lass uns runtergehen.“
In der Junior-Messe war niemand weiter. Die Seekadetten hatten zu arbeiten und die Schiffsjungen trieben sich oben herum, um einen Blick auf die Hauptstadt Britannicas zu erhaschen. Diethard Wegener öffnete seine Seekiste und kramte darin herum.
„Hier, probier mal an.“
Clyde hatte sich noch nicht so ganz an die Freizügigkeit gewöhnt, doch diesmal hatte er es eilig. Schnell schlüpfte er aus seinen Sachen und griff nach dem Hemd.
Diethard sah ihn an und staunte. Es war, als ob er in einen Spiegel schauen würde. Die gleiche, helle Haut mit den Sommersprossen im Gesicht und auf den Schultern. Die roten Haare, der leichte Streifen, der sich vom Bauchnabel weiter herunterzog. Unbewusst schüttelte er den Kopf. Clyde hatte die Blicke bemerkt und ahnte, was sein Gegenüber gerade dachte.
„Lass dich nicht ablenken. Ich habe es eilig. Aber ich verspreche dir, du bekommst eine Belohnung, weil du mir die Uniform geliehen hast.“
„Oh, ja? Was denn?“
Clyde flüsterte es ihm ins Ohr und beide wurden simultan rot.
„Dafür lohnt es sich. Hier, die Schnallenschuhe gehören auch dazu. Moment, die Jacke bis oben schließen, damit der Kragen ordentlich aussieht. So, Seekadett Cameron, fertig zum Abmarsch.“
Clyde gab Diethard einen flüchtigen Kuss, dann stiegen sie beide wieder an Oberdeck. Gerade als sie den Niedergang hochstiegen, kam Jean-Luc an ihnen vorbei und warf ihnen einen kurzen Blick zu. Dann blieb er abrupt stehen und drehte sich um.
„Ich glaub’s ja nicht. Zwillingskadetten.“
Die drei lachten und Clyde machte sich auf zur Kapitänskajüte. Als er aufgefordert wurde einzutreten, blieb er erstaunt in der Tür stehen. Percy Seymore hatte seine beste Uniform angelegt. Die Stickereien an den Ärmelaufschlägen schienen aus echten Goldfäden zu sein.
Doch Clydes Blick war auf den Captain gerichtet. Das erste Mal seit seiner ganzen Zeit hier an Bord sah er Daniel Hansom ohne Uniform. Er trug zu weißen Kniehosen und den üblichen weißen Strümpfen einen langen, offenen Überrock in weinroter Farbe. Darunter eine Weste aus Chamois und ein weißes Rüschenhemd. Der Überrock war an den Ärmeln und den Schultern mit goldenen Stickereien versehen und auf der rechten Seite prangten zwei kleine Ordenssterne.
Leise schloss Clyde die Tür und trat zwei Schritte näher. Dann verbeugte er sich.
„Seekadett Cameron, Euer Lordschaft.“
Percy Seymore musterte Clyde kritisch.
„Nun, ja. Dafür dürfte es reichen. Hauptsache, Daniel kann die ganzen Hofschranzen einigermaßen beeindrucken, so dass wir ohne große Kontrollen durchkommen.“
Daniel sah seinen Partner stirnrunzelnd an.
„Wenn wir hier sind, müssen wir damit leben. Nun, Clyde, wie sehe ich aus?“
„Wie der Earl of Scythe.“ lachte Clyde.
„Warum der öffentliche Auftritt? Reicht der Captain nicht aus?“
„Vergiss nicht, wir sind nicht von der Navy. Ich bin nur ein kleiner Kapitän eines Handelsschiffes, wie viele andere auch. Und ich habe keine Zeit, mich lange von irgendwelchen Schreiberlingen aufhalten zulassen. Hier, für dich.“
Daniel Hansom nahm eine kleine Ledertasche vom Schreibtisch, ähnlich denen, die die Armee für Kurierpost verwendete.
„Du kannst die Tasche am Bandelier tragen. Waffen werden wir keine mitnehmen.“
Nur wenige Minuten später saßen sie im Boot und wurden zur großen Treppe vor der Festung gerudert. Clyde ignorierte geflissentlich die neugierigen Blicke die ihm die Bootsbesatzung und insbesondere Liam Young an der Pinne zuwarfen.
Die Festung selber war schwer bewacht. Überall sah man Posten an den Türen und Toren und Clyde konnte auf den Wehrgängen Patrouillen entdecken. Nach etlichen Gängen und mehreren Treppen öffnete sich das Bauwerk hin zu einem großen Park, in dessen Mitte sich die alte Burg Caerdon befand.
Percy Seymore gab während ihres Weges ein paar kurze Erklärungen.
„Die Festung umgibt ringförmig die Burg mit dem Park. In der Festung sind nicht nur die Wachen untergebracht, sondern auch einige der weniger wichtigen Hof- und Regierungsämter. In der Burg sind hauptsächlich die Gemächer des Herrschers und seiner Familie, etliche Hofämter und der Kronrat und der geheime Kronrat.“
Clyde sah sich neugierig um. Die Festung war massiv gebaut und erweckte den Eindruck, dass sie einem Ansturm trotzen könnte. Die Burg hingegen war wohl schon etliche Male um und angebaut worden, so dass Teile davon einen eher schlossähnlichen Charakter hatten. Er war zwar bereits einmal in der Burg gewesen, doch das war zusammen mit seinem Vater und seinen anderen Brüdern anlässlich eines Empfangs der Königin. Von der Umgebung hatte er damals nicht viel wahrgenommen.
„Wir werden gleich die Burg betreten. Da geht der Spaß dann los.“
Clyde wunderte sich ein wenig, wurde aber sogleich erleuchtet, als ihnen ein Hofbeamter in der grünen Livree des Personals des Haushofmeisters in den Weg trat.
„Euer Lordschaft! Welch ein unerwarteter Besuch. Ihr seid gar nicht avisiert und es konnten keine Vorbereitungen getroffen werden…“
„Eine kleine familiäre Unstimmigkeit. Nichts weiter Bemerkenswertes. Ich wünsche nur, das Archiv des Lordkanzlers für ein paar persönliche Auskünfte zu visitieren. Und selbstverständlich werde ich Ihrer Majestät meine Aufwartung machen, so sie geruht, mich zu empfangen.“
Bei der Erwähnung des Archivs hatte der Hofbeamte aufgehorcht. Dort wurden die Unterlagen über alle Mitglieder der Adelshäuser aufbewahrt und jeder Peer war berechtigt die dort lagernden Urkunden einzusehen.
Die zweite Bemerkung jedoch, stürzte den Mann in ein hoffnungsloses Chaos. So, wie bei seinem Vorgänger, war es auch dem zweiten Earl of Scythe jederzeit gestattet, die Königin aufzusuchen. Lediglich sie alleine konnte seinen Besuch zurückweisen. Der Hof der Königin musste benachrichtigt werden und die Königin selbst befragt werden.
„Sehr wohl, Mylord. Ich werde alles Notwendige veranlassen. Wenn ihr euch einen Moment gedulden würdet, dann kann euch einer der Pagen den Weg…“
„Ich weiß, wo es zum Archiv geht, danke.“
Mit ausgreifenden Schritten marschierte der Earl of Scythe voran, noch während der Beamte sich verbeugte.
Der Weg durch die Gänge der Burg schien endlos zu sein. Es ging mehrere Treppen hoch und um zahllose Gangbiegungen und Abzweigungen. Schließlich standen sie vor einer massiven Holztür ohne jegliche weitere Kennzeichnung. Daniel Hansom klopfte laut und wartete.
Nach kurzer Zeit wurde geöffnet und ein livrierter Diener erschien in der Türöffnung.
„Der Earl of Scythe für den dritten Sekretär des Lordkanzlers.“ verkündete Percy.
Der Diener verbeugte sich und ließ sie eintreten. Als er die Tür fest geschlossen hatte, verbeugte er sich noch einmal knapp vor Daniel.
„Sir Sean erwartet euch. Er hat das Turmzimmer vorbereiten lassen.“
Clyde erinnerte sich schwach an ein Turmzimmer aus Percys Erzählung. Auch ein Sir Sean war darin vorgekommen.
Sie wurden durch mehrere Räume in ein rundes Zimmer geführt in dem bereits jemand auf sie wartete.
Sir Sean hatte sich erhoben und sah seinen Besuchern entgegen. Clyde erkannte ihn aus der Erzählung sofort wieder, obwohl er nun erheblich älter war. Er war immer noch ein stattlicher Mann, nun wohl knapp um die sechzig Jahre alt, mit einem gestutzten grauen Vollbart und er trug immer noch die traditionelle Kleidung seiner Heimat. Ein weißes Hemd mit Rüschenbesatz und einen Kilt mit einem rotblauen Muster.
„Ich sehe, ihr habt einen Besucher mitgebracht, Euer Lordschaft.“
Daniel grinste schelmisch.
„Ja. Er ist neu bei uns an Bord. Clyde Cameron aus Lonlothian.“
Sir Sean seufzte ergeben.
“Verzeiht, Lord Clyde, aber ich hätte euch erkennen müssen.”
“Sir Sean. Ich bin hier nur der Seekadett Cameron.”
Darauf folgte eine artige Verbeugung und Clyde setzte sich. Sir Sean sah ihn schweigend ein paar Sekunden an.
„Ich hatte mich schon gewundert, warum ihr einen Seekadetten mit hergebracht habt, aber ich glaube, ich weiß nun warum. Habt ihr ihn eingeweiht?“
Daniel nickte.
„Das, und noch viel mehr. Wir haben ein paar wichtige Sachen zu besprechen und Clyde ist zumindest bei einer mitten drin.“
Sir Sean lehnte sich zurück.
„Ich bin ganz Ohr.“
Daniel und Percy berichteten von dem Moment an, an dem sie mit der FAIRYTALE in Kingstown eingelaufen waren. Sir Sean unterbrach nur an wenigen Stellen und ließ alle drei aus ihrer jeweiligen Perspektive berichten.
Zum Schluß legte Clyde das Päckchen auf den Tisch, das er mitgebracht hatte. Sir Sean befreite das erste Blatt und sah kurz darauf. Dann blätterte er wahllos im Stapel.
In diesem Moment wurde die Tür lautstark geöffnet und eine Frau, nein, eine Dame betrat das Turmzimmer. Clyde hatte sie zwar bisher nur ein einziges Mal persönlich getroffen, doch er erinnerte sich gut, zumal ihr Bild an Bord in der Kapitänskajüte hing.
Die Männer sprangen auf und Clyde erstaunte es, dass sie sich lediglich knapp verbeugten. Dennoch folgte er ihrem Vorbild.
„Eure Majestät, ich…“
„Daniel Hansom! Wage es ja nicht noch einmal, mich als nervöses Wrack in meinen Gemächern warten zu lassen. Seit die Signalstelle die FAIRYTALE angekündigt hat, bin ich auf und ab gerannt wie ein kleines Mädchen. Ich fürchte, meine Hofdamen hatten nichts zu lachen. Komm her zu mir.“
Daniel trat einen Schritt auf seine Königin zu und sie zog ihn etwas herab und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dann winkte sie Percy mit dem Zeigefinger heran.
„Du auch.“
Auch Percy Seymore wurde mit einem Kuss auf die Wange bedacht.
„Und wen haben wir denn hier?“
Die Königin umkreiste Clyde mit kurzen Schritten, während er völlig erstarrt dastand. Während die Königin Daniel mit einem vernichtenden Blick bedachte, fuhr sie fort.
„Da uns niemand anständig vorstellen will, werde ich das wohl selber tun. Ich heiße Maeve und wer bist du?“
Clyde fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. Er konnte doch jetzt unmöglich irgendetwas antworten, doch die Frage verlangte eine Antwort.
„Cly… Clyde.“ stotterte er.
„So, Clyde? Ich glaube, ich erinnere mich. Doch nicht etwa Clyde Donald Lugh Cameron?“
Clyde schnappte erstaunt nach Luft, bekam aber keinen Ton heraus. Die Königin erinnerte sich an ihn?
„Jawohl, Euer Majestät.“
„Ha, dann war es doch alles dummes Geschwätz, was der Gesandte von Arlemande mir unterbreiten wollte. Ein Britannischer Bürger, Sohn eines Adligen gar, sei auf einem rotanischen Sklavenmarkt als Lustsklave verkauft worden, weil die Britannier ein letrionisches Handelsschiff überfallen hätten. Und der Sohn sei sogar der eines Herzogs.“
Die Stimme der Königin wurde um einiges ernsthafter.
„Der einzige Herzog, dessen Söhne in Frage kommen, ist dein Vater Clyde. Was ist dran an dieser Geschichte?“
Daniel Hansom fasste knapp die ganze Geschichte zusammen.
„…bei uns auf dem Schiff. Aber gestattet mir eine Frage, Majestät. Woher wußte der Gesandte von dem Verkauf? Wir sind so schnell wie möglich herübergekommen und doch muss jemand vor uns hier gewesen sein, um diese Geschichte zu platzieren. Wann habt ihr davon erfahren?“
Die Königin sah erstaunt auf und überlegte kurz.
„Die letzte Generalaudienz. Es war mehr als unerfreulich.“
„Dann muss die Information ja direkt auf den Weg geschickt worden sein, noch ehe Clyde auf dem Sklavenmarkt tatsächlich verkauft wurde. Der Informant hat ganz genau gewusst, wer er war.“
Plötzlich schreckte Clyde hoch.
„Dann hat er auch die Inquisition informiert. Diese verkleideten Idi… ähhh Männer, hätten mich kaufen sollen und es hätte in Letrion eine offizielle Hinrichtung eines Zauberers nach den Gesetzen der Kirche der Reuigen Sünder gegeben.“
Die Königin fuhr empört auf.
„Man hat versucht, Uns zu düpieren. Sir Sean. Wir wünschen eine vollständige Aufklärung dieser Vorfälle.“
„Euer Majestät, das wird dauern. Wir müssen sehr vorsichtig sein. Offiziell wissen wir von gar nichts. Diese Angelegenheit scheint höchste diplomatische Kreise zu betreffen. Ich möchte niemandem auf die Füße treten, bevor wir nicht weitere Informationen haben.“
Die Königin winkte ab und setzte sich seufzend.
„Schon gut. Ich weiß, ich weiß. Alles immer schön im Verborgenen. Doch was werden die ersten Maßnahmen sein? Was wollt ihr veranlassen?“
„Ich werde erst einmal Leute hier in Caerdon auf diese Tavernen ansetzen, dann an der Küste ein paar Befragungen durchführen lassen. Des Weiteren möchte ich Seine Lordschaft bitten, die Spuren weiter zu verfolgen, die er gefunden hat.“
„Sehr schön, sehr schön. Ich weiß, ihr werdet Uns informieren, wenn es etwas Wichtiges gibt.“
Dann wandte sie sich an Daniel und Clyde bemerkte erstaunt, dass die Königin etwas befangen wurde.
„Mein lieber Daniel, ich hätte da noch etwas, um das ich euch bitten möchte.“
Daniel Hansom hörte in seinem Hinterkopf ein lautes Oh, oh, doch er lächelte seine Königin an.
„Selbstverständlich, Euer Majestät.“
„Da ihr ja nun mit eurem Schiff hier liegt, kann ich es nicht länger herauszögern. Ich würde euch nicht damit belästigen, wenn es nicht so eine heikle Angelegenheit wäre. Ihr kennt die Südküste von Erin?“
Das war wohl eine mehr rhetorische Frage. Die Gewässer rund um Britannica und auch Erin waren ihm sehr vertraut.
„Auf Erin regieren etwa 40 Fürsten ihre kleinen Königreiche und zu jedem von ihnen versuchen wir natürlich gute Beziehungen aufrechtzuerhalten. Was nicht so einfach ist, denn einige ihrer Wünsche sind entweder sehr merkwürdig oder sehr kostspielig.“
Daniel Hansom nickte zustimmend. Der Umgang mit den Bewohnern von Erin war schon etwas schwierig. Besonders weil sich viele der kleinen Herrscher eher als Krieger denn als Händler sahen. Alte Traditionen wurden dort nur sehr langsam abgelegt.
„Erst kürzlich ist der Herrscher von Loch Garman, Brian O‘Dermott über den Lordkanzler an mich herangetreten. Er bat mich um einen kleinen Gefallen, den ich ihm zugesagt habe, sobald ihr wieder einmal hier eintrefft.“
Daniel Hansom seufzte innerlich. Sie hatte den Gefallen schon zugesagt. Dass bedeutete, er hatte so gut wie keinen Einfluss mehr darauf.
„Ihr sagt ja gar nichts, mein lieber Daniel. Ich weiß, es kommt ein wenig überraschend, aber wir alle müssen einmal ein paar kleine Opfer für die Diplomatie bringen. Um es kurz zu machen, es handelt sich um Finn O‘Brian den Enkel von Brian O‘Dermott. Es ist da etwas in der Familie oder an seinem Hof vorgefallen, über das der alte Mann ungerne reden wollte. Ein Teil seiner Gefolgsleute und auch einige Druiden waren aber wohl so deutlich verärgert, dass O’Dermott nichts anderes übrig blieb, als den Jungen so schnell wie möglich aus der Schusslinie zu bringen. Er hat angeordnet, dass Finn die Stadt Waesfjord und Loch Garman so schnell wie möglich verlässt. Am besten auch gleich Erin.“
Nun hob Captain Hansom fragend die Augenbrauen. Die Königin seufzte etwas zögerlich.
„Meine Zusage, euch zu befragen, hat er wörtlich genommen und den Jungen sofort hier hergeschickt. Ich habe nach einer Weile herausbekommen, warum sein Großvater ihn loswerden wollte und wusste dann natürlich, warum er ausgerechnet zu euch geschickt werden sollte.“
Jetzt ging Daniel Hansom ein Licht auf.
„Er ist…, nun ja, ich nehme an, ich wurde ausgewählt, weil die Zusammensetzung unserer Besatzung und ihre Beziehungen zueinander inzwischen einigermaßen bekannt sind. Es ist allerdings nicht gerade üblich, einen Sohn oder Enkel zu uns zu schicken, möglicherweise sogar gegen seinen Willen. Ich kenne die Situation nicht, in der sich dieser Fürst befindet, doch ich denke, das war eine sehr radikale Entscheidung. Wisst ihr zufällig, wie alt dieser Enkel ist?“
Die Königin bedachte Daniel Hansom mit einem strengen Blick, dann sah sie wie beiläufig zur Decke, als sei von dort hoch oben Hilfe zu erwarten.
„Er ist achtzehn. Seine Mutter lebt nicht mehr und sein Vater ist der Nachfolger des alten O’Dermott. Ich weiß nicht in allen Einzelheiten, was nun genau vorgefallen ist. Anscheinend hat er sich aber tatsächlich mit einem anderen Mann erwischen lassen. Sicher ist nur, dass er sich die nächsten paar Jahre auf Erin nicht mehr blicken zu lassen braucht.“
„Ich werde ihn nicht mitnehmen, wenn er es selber nicht will. Bei mir wird niemand zu etwas gezwungen. Wo ist er denn jetzt überhaupt?“
„Ganz so, wie ich es erwartet habe. Doch ich möchte euch bitten, den jungen Mann erst einmal anzuhören. Ihr werdet der Bitte einer Dame doch nachkommen, Lord Hansom?“
„Selbstverständlich, wie ihr wünscht, Euer Majestät.“
„Sehr gut. Damit würdet ihr Sir David Owen eine große Bürde abnehmen. Finn befindet sich in der Kaserne der königlichen Leibwache. Wir haben ihn dort untergebracht, damit er nicht andauernd mit dem Haushofmeister und seinem Personal aneinandergerät. Ich fürchte, das höfische Protokoll ist nicht seine besondere Stärke. Aber ihr solltet euch besser selber ein Bild machen.“
Daniel Hansom zog seine Augenbrauen nach oben, lächelte aber dabei.
„Sehr wohl, Euer Majestät. Euer Wunsch, ist mir Befehl. Wir werden uns gleich im Anschluss zu Sir David begeben.“
Die Königin warf Daniel Hansom einen prüfenden Blick zu, lächelte dann aber ebenso wie er.
„Dann werde ich euch wieder verlassen. Es ist einfacher, wenn man keinem Zeremoniell unterliegt. Bis zum nächsten Mal, meine Herren.“
Die Königin erhob sich und so wie sie gekommen war, rauschte sie wieder davon. Die Männer hatten kaum Zeit genug, sich zu erheben und zu verbeugen. Sir Sean gab seine abschließenden Anweisungen.
„Ihr werdet also mit eurem Schiff zunächst die Küste untersuchen und dann zu dem entsprechenden Zeitpunkt noch einmal den Treffpunkt abfahren. Wir überwachen unauffällig die Tavernen und versuchen, den Kontaktmann zu finden. Ich erwarte einen Bericht bis spätestens sieben Tage nach einem wie auch immer gearteten Rendezvous. Viel Glück.“
Die drei Offiziere der FAIRYTALE verabschiedeten sich und machten sich auf den Weg zur königlichen Leibwache.
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