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Freibeuter der Meere
Teil 11
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Informationen
- Story: Freibeuter der Meere
- Autor: Mondstaub
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Abenteuer
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Mit diesem Kapitel enden die Abenteuer der Freibeuter der Meere.
Als Epilog sind noch vier kurze Szenen beigefügt, die ein wenig zur Abrundung der Geschichte beitragen sollen.
Ich weiß, dass ‚Schwert & Zauberei‘ nicht jedermanns Sache sind, aber hoffe, dass die Welt von Clyde und seinen Freunden doch etwas Anklang gefunden hat.
Mondstaub
Clyde hatte vom Waldrand einen guten Ausblick auf den Steinkreis. Zunächst tat sich nicht viel, doch dann gab es im Hintergrund Bewegung. Zunächst trat der bereits von Mario erwähnte Mann im schwarzen Gehrock in den Kreis. Langsam umrundete er ihn, hielt sich aber immer deutlich vom Altarstein fern.
Dann zückte er eine Taschenuhr und sah zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Von dort näherte sich ein Zug von wenigen Personen. Am Auffälligsten war eine, in einen schwarzen Umhang gekleidete, Person. Die Kapuze war weit ins Gesicht gezogen und der Umhang war mit dunkelroten Symbolen verziert.
Direkt daneben schritt ein Mann, der unverkennbar der Herzog sein musste. Gekleidet in einen verzierten hellblauen Überrock und weiße Kniehosen schrie alles an ihm förmlich nach Macht und Reichtum. Von den Ärmelaufschlägen aus weißer Spitze aus Nassouwe bis hin zu dem kunstvollen Spitzenjabot war alles vom Feinsten.
In der Hand hielt er einen tiefschwarzen Gehstock mit einem goldenen Knauf.
Auf dem Kopf trug er eine hellblonde Allongeperücke, die schon seit ewigen Zeiten aus der Mode gekommen war. Lediglich am Hofe in Lutetia wurde noch eisern an ihr festgehalten.
Dem so ungleichen Paar folgte eine kleine Gruppe von Lakaien, die einige Kisten schleppten. Die Kisten wurden neben dem Altar abgesetzt und die Lakaien entschwanden ziemlich eilig, wie Clyde fand.
Der Mann im schwarzen Gehrock ging zu einer der Kisten und entnahm ihr einen Sextanten. Damit maß er noch einmal die Höhe der Sonne und wandte sich dann an den Herzog.
„Es ist so weit, Euer Gnaden. Die Höhe stimmt mit der errechneten Uhrzeit überein. Das Äquinoktium wird gleich erreicht.“
Der mutmaßliche Herzog nickte geistesabwesend und zitterte leicht. Es kam ihm ungewöhnlich kalt vor, oder war das Einbildung? Dann wandte er sich an die Gestalt in der schwarzen Robe.
„Es geht los. Die Zeit ist gekommen.“
Nun trat der Magier an eine der Kisten heran und entnahm ihr einen Gegenstand, den er auf den Altar legte.
Dann kam dumpf eine Antwort unter der Kapuze hervor.
„Bringt die Opfer. Dann sollen sich unsere Männer zurückziehen. Nichts darf den Ablauf stören.“
Clyde beobachtete aus der Deckung des Wäldchens heraus die Vorgänge im Steinkreis. Er konnte nicht hören, was gesprochen worden war, doch er erkannte, dass nun eine ganze Anzahl nackter Personen in den Kreis getrieben wurden.
Es waren sechs Männer und sechs Frauen, die abwechselnd in einem großen Halbkreis vor dem Altar aufgereiht wurden. Clyde ahnte, was vor sich gehen sollte und schüttelte verzweifelt den Kopf. Er konnte ihnen nicht helfen. Er würde mit einem Angriff warten müssen, bis der Magier mit dem Ritual begonnen hatte und entsprechend abgelenkt war.
Der Magier in der schwarzen Robe begann nun einen langsamen, eintönigen Gesang. Der Gegenstand auf dem Altar begann leicht zu schimmern und nun konnte Clyde erkennen, um was es sich handelte. Es war ein Dolch mit einer schwarzen Klinge, ähnlich der Axt, die er einst so unvorsichtig berührt hatte. Der Obsidiandolch auf dem Altar begann stärker zu schimmern und vorsichtig hob der Magier ihn auf. Ohne ihren Gesang zu unterbrechen wanderte die Gestalt in der langen schwarzen Robe hinter den reglos dastehenden Personen die Reihe entlang. Bei jedem trat der Magier dicht hinter das Opfer und mit einem kurzen Schnitt wurde die Kehle durchtrennt. Noch bevor der leblose Körper auf dem Boden aufschlagen konnte, war der Magier bereits bei dem Nächsten.
„Also doch, Blutmagie,“ murmelte Clyde mehr frustriert als überrascht.
Der Magier setzte seinen grausigen Weg fort. Mit jedem dargebrachten Opfer leuchtete der Dolch immer heller, bis er zum Schluss in einem hellen, blutigen Rot erstrahlte.
Würdevoll schritt der Magier zum Altar und legte den Dolch dort ab. Dann schlug er die Kapuze zurück und hob die Arme in den Himmel. Clyde zog erstaunt seinen Atem ein. Der Blutmagier war eine Frau! Dann spürte Clyde direkt hinter sich eine Bewegung.
„Der Beschreibung nach könnte das die Herzogin von Grimauld sein,“ hörte Clyde Eldars Flüstern. Dann ertönte nur noch leises Rascheln, als Eldar sich wieder zurückzog.
Clyde nickte lediglich zur Antwort. Das würde so einiges erklären. Besonders die Nähe dieser Blut- oder Dunkelmagier zum Herzog und die großen Anstrengungen, die der Herzog übernommen hatte, um in den Besitz magischer Artefakte zu gelangen.
Die Frau intonierte einen weiteren Gesang, die Arme immer noch erhoben, den Blick starr auf den Dolch gerichtet.
Clyde gab den Scouts ein Zeichen, das Umfeld zu sichern. Jetzt war ihr Moment gekommen. Die Söldner im engeren Umfeld des Steinkreises waren zurückgezogen worden und auch am kleinen Wäldchen im Süden befanden sich nur zwei Posten am daneben verlaufenden Weg, direkt am Brunnen.
Beide Söldner verschwanden plötzlich von ihren Posten, als sie von Mario und Leon rückwärts außer Sicht gerissen wurden. Die dabei verursachten Geräusche waren nur in einem kleinen Umkreis zu hören gewesen.
Dennoch schien die Blutmagierin etwas bemerkt zu haben. Clyde fiel zu spät ein, dass möglicherweise der Tod einer Person in der Nähe von ihr bemerkt werden könnte.
Vergeblich spähte die Frau hinüber zu dem kleinen Wäldchen. Dann wurde ihr Gesang melodischer und auch lauter. Das Glühen des Dolches wurde noch intensiver und mit einem Mal sprang es über auf die Blutmagierin.
Ein triumphierender Schrei entrang sich ihrer Kehle und Clyde erhob sich. Mit einer kurzen Handbewegung sammelte er alle seine Magier um sich.
„Sie hat uns bemerkt. Wir müssen uns etwas einfallen lassen. Ich weiß nicht, was es werden soll, was sie damit bezweckt.“
Ragnar schüttelte ebenfalls den Kopf, sah dann aber fragend zu Ethan.
„Es sieht aus wie eine Beschwörung. Hast du etwas über Beschwörungen gelernt?“
Ethan schüttelte lediglich seinen Kopf. Michael Argyll sah mit zusammengekniffenen Augen hinüber zum Altar und seufzte dann.
„Es fühlt sich an wie die Beschwörung einer Wesenheit. Und wenn ein Blutmagier ein magisches Wesen beschwört, möchte ich möglichst nicht in der Nähe sein.“
Clyde warf ihm einen zweifelnden Blick zu.
„Du kannst gerne gehen.“
Michael wurde knallrot.
„So war das nicht gemeint. Was ich sagen wollte ist, dass wir vielleicht etwas unternehmen sollten, damit dieses Wesen sich nicht manifestieren kann.“
Clyde sah sich rasch um.
„Ragnar und Michael, ihr seid Wassermagier, lasst euch was einfallen.“
„Marion bleibt bei mir.“
„Ethan und Diethard, ihr konzentriert euch auf Erdmagie. Fynn und Dian, ihr versucht etwas mit Luft. Ich möchte, dass alle vier Elemente gleichzeitig eingesetzt werden.“
Die Magier nickten und sprachen kurz miteinander, während das Glühen um den Dolch und die Blutmagierin einen tieferen Ton angenommen hatte und nun fast schon ins violette überging.
„Beeilt euch, wir haben nicht mehr viel Zeit.“
Als erstes bemerkte Clyde, wie der Boden rings um die Blutmagierin sich bewegte und wellte. Dann fuhren langsam dicke grüne Ranken aus der Erde hervor, immer schneller werdend. Die Ranken umwickelten die Frau vor dem Altar und versuchten sie zu halten. Doch dann nahm sie den Dolch und schlug immer wieder auf die Ranken ein, die sofort verwelkten und herabfielen.
Ein Blitz fuhr aus dem Himmel herab und traf auf die um sich Schlagende. Der massive Blitz aus Eis traf auf das violette Glühen und prallte daran ab, wurde abgelenkt und bohrte sich in den Boden.
Ein Feuerball, gemeinsam von Clyde und Marion erstellt, raste auf die Blutmagierin zu, traf auf ihren Körper und zerplatzte dort scheinbar wirkungslos. Doch das violette Leuchten hatte nun etwas an Kraft verloren und die Worte der Beschwörung kamen nicht mehr so laut und kraftvoll.
Der schwere Luftstoß, der die Frau nun völlig unvorbereitet traf, brachte sie aus dem Gleichgewicht und ihre Konzentration ließ weiter nach. Doch noch gab sie nicht alles Verloren. Sie legte den Dolch wieder auf dem Altar ab, zückte ein kleines Messer und stieß es sich, ohne zu zögern, in die Brust.
Ein lauter Schrei ertönte im Steinkreis und die Blutmagierin sackte vor dem Altar zusammen. Clyde konnte erkennen, wie ein violetter Schemen sich aus dem Körper der Blutmagierin löste und hinüberwanderte in den Dolch.
Mit großen Augen starrten nun alle Anwesenden auf das, was im Steinkries passierte. Der Dolch auf dem Altar erglühte weiter und violette Flammen sprangen empor. Immer weiter, fast meterhoch loderten sie nun. Dann wuchs aus den Flammen langsam eine Gestalt empor. Immer weiter in den Himmel erhob sich die Gestalt und manifestierte sich langsam.
Clyde sah, ebenso wie die anderen, fasziniert zu. Dann durchzuckte ihn ein Gedanke.
„Schnell, wir brauchen einen Schutz. Ragnar, was war das, was du bei der Weltesche gemacht hast?“
„Ich hab da gar nichts gemacht, wir alle zusammen haben das erstellt.“
„Dann sofort alle herumschließen. Fasst euch an den Händen. Ich werde versuchen, unsere Magie zusammenzufassen.“
Die Magier beeilten sich, als sie sahen, was sich auf dem Altar manifestiert hatte. Die Gestalt war groß, fast riesig zu nennen. Sie musste mehr als zweimal so groß sein wie Fynn. Aber da hörte die Gemeinsamkeit auch schon auf.
Die Gestalt war violett. Ob das Haut war, oder ein Fell, war nicht eindeutig zu erkennen. Auf jeden Fall hatte sie einen menschlichen Kopf mit hässlich verzogener Fratze. Oben auf dem haarlosen Kopf entsprangen ein Paar langer Hörner.
„Ein Dämon,“ zischte Ethan.
Clyde griff nach einer freien Hand und konzentrierte sich. Ja, da waren alle sieben anderen Magier. Er konnte jeden einzelnen von ihnen spüren, jede Magie, die sie besaßen und auch die Gefühle, die sie gerade beherrschten. Clyde versuchte, etwas Ruhe und Zuversicht auszustrahlen. Langsam beruhigten sich alle und Clyde sammelte die Magie, um sie zu einem Schutzschild zu formen.
Der Dämon sah sich verwirrt um. Er war beschworen worden, doch sein Meister war nicht zu spüren. Sehr schnell wurde er sich bewusst, was das für ihn bedeutete. Er war frei! Er war auf dieser Existenzebene frei und konnte tun und lassen, was er wollte.
Doch halt! Da war etwas. Er spürte Magie, und zwar irgendwo hier dicht in der Nähe. Als er sich umsah, entdeckte er die kleinen magischen Wesen, die sich anscheinend vor ihm versteckt hatten. Na, das würde ja einfach werden. Er ließ einen Feuerhagel auf die Wesen herabregnen und sah amüsiert zu.
Vollkommen erstaunt sah er, wie sich um die Wesen plötzlich ein Schild aufbaute. Farbige Strahlen schossen in den Himmel empor und vereinigten sich dort, um sich als glockenförmiger Schild um die kleinen Magier zu legen. Der Feuerhagel aus dem Himmel prallte wirkungslos an dem Schild ab und der Dämon war verblüfft. So etwas hatte er noch nie erlebt.
Unter dem Schild herrschte zunächst Erleichterung, dann Ratlosigkeit.
„Was jetzt?“
„Keine Ahnung. Aber wir können den Schild nicht ewig halten. Wir müssen etwas tun.“
Ethan begann zögernd
„Also, wenn das ein Dämon ist, dann können wir nicht viel tun. So wie es aussieht, ist er frei. Da kann er tun und lassen was er will. Mögen das die Götter verhüten.“
Ragnar ruckte herum, beugte sich vor und gab Ethan einen Kuss. Der riss erstaunt seine Augen auf. Fast hätte er seine Konzentration verloren, bei den Gefühlen, die ihn dabei durchzuckt hatten. Ragnar hingegen hatte angefangen, leise etwas auf Fjördur zu sprechen. Clyde sah ihn überrascht an, dann wusste er, was Ragnar beabsichtigte. Diethard war auf die gleiche Idee gekommen und begann auf Arlemande etwas zu rezitieren, während sich Clyde zu Dian umsah.
„Kannst du die Saga von Lugh?“
„Selbstverständlich.“
Und dann begann auch er mit der Geschichte über einen der großen Helden.
Etwas ratlos sah der Dämon auf den vielfarbigen Schild herab. Er hatte sich entschlossen, ihn zu ignorieren. Mit der Zeit würde er vielleicht eine Lösung finden. Dann wurde er plötzlich unruhig. Da war etwas.
Erst unscheinbar, dann immer deutlicher verdichteten sich die Präsenzen von drei Wesenheiten die eigentlich genauswenig hierhergehörten wie er selbst.
Etwas verunsichert trat er vom Altar zurück bis an den Rand des Steinkreises. Auf der anderen Seite des Altars manifestierten sich nun drei Wesen, die er misstrauisch beobachtete. Alle drei waren ebenso groß wie er, sahen aber aus wie die kleinen magischen Wesen unter dem Schild.
Der erste, der sich ihm zuwandte, war ein Mann in einer strahlenden Rüstung. Seine ganze Erscheinung hatte etwas Autoritäres, Herrschaftliches. Stumm deutete der Mann auf den Dolch auf dem Altar, der nun, vollkommen geschwärzt, einsam dalag.
Der Dämon wusste, was der Mann wollte. Doch er schüttelte seinen Kopf. Niemals! Er war frei und er wollte frei bleiben.
Die zweite Erscheinung hob drohend einen Speer. Der alte Mann mit dem wallenden Vollbart und der Augenklappe tat seine Meinung sehr deutlich kund.
Die dritte Erscheinung war eine alte Frau. Sie trug ein einfaches Kleid und einen langen Umhang. Ihre grauen Haare hingen weit über ihre Schultern herab. Der Blick, mit dem sie den Dämon bedachte, war nachdenklich und bedauernd.
Der Dämon war sich nicht sicher, aber diese Frau schien ihm am gefährlichsten zu sein. Doch dann erhob der strahlende Ritter als erster seine Stimme.
„Deine Gegenwart ist nicht geduldet in dieser Welt!“
Der Dämon riss seinen riesigen Mund auf und brüllte seinen Widerspruch hinaus. Daraufhin zückte der strahlende Ritter eine Schleuder und traf den Dämon damit scheinbar nachlässig genau zwischen die Hörner. Sofort verstummte dieser und verdrehte verzweifelt seine Augen.
Der alte Mann mit dem Vollbart schleuderte seinen Speer, der genau zwischen den Beinen des Dämons im Boden stecken blieb. Voller Panik erkannte der Dämon, dass er sich nicht mehr bewegen konnte.
Nun trat die alte Frau einen Schritt nach vorne.
„Deines Verweilens ist hier nicht länger.“
Nun tat sich an der Stelle, an der der Dämon stand, der Boden auf. Zur Schweigsamkeit und zur Unbeweglichkeit verdammt verschlang die Erde den unfreiwilligen Besucher und schloss sich wieder, als sei nichts geschehen.
Die drei Gestalten wandten sich nun um und über Clydes kleiner Gruppe von Magiern erlosch der schützende Schirm.
Der alte Mann trat vor und sah auf Ragnar herab.
„Du hast dein Erbe nicht vergessen. Aus Bjarki ist Bardagabjörn geworden. Aus einem kleinen Bären ein großer Kriegsbär. Du hast den Bersrkr bezwungen und dich deinem Schicksal gestellt. Gehe in dich und du wirst den Pfad erkennen, der dich zur Magie deines Volkes zurückführt.“
Ragnar hatte die ganze Zeit über nicht gewagt, den alten Mann anzusehen, doch nun blickte er auf.
„Ich bin nicht würdig, Herr.“
Ohne auf Ragnar zu achten, widmete der alte Mann einem Raben seine Aufmerksamkeit, der auf seiner rechten Schulter gelandet war. Er schien ihm zuzuhören, während der Rabe mit dem Schnabel klapperte.
„Ich habe eine Botschaft von Mimir. Das Blatt ist wieder grün. Reicht dir diese Antwort?“
Ragnar verbeugte sich und blieb mit dem Blick zu Boden hocken.
„Ja, Herr.“
Nun trat die alte Frau nach vorne und suchte Diethard in der kleinen Gruppe.
„Und du, Sohn des zerrissenen Landes, zweifle nicht länger. Deine Seele war so zerrissen wie das Land, aus dem du stammst. Nimm die Magie an, die dir das Land schenkt und deine Seele wird eins werden.“
Diethard sah fast so betreten zu Boden wie Ragnar.
„Ich bin bereit, meine Magie zu akzeptieren. Ich werde mich bemühen, mich als würdig zu erweisen.“
„Das ist gut. Gehe in dich und du wirst den Pfad erkennen. Und noch etwas. Zweifle nicht daran, wenn eine alte Frau auf einem Jahrmarkt dir eine Münze schenkt.“
Diethard warf Clyde einen hektischen Blick zu, doch die alte Frau lachte nur. Dann trat der strahlende Ritter vor.
„Ihr seid die Kinder der Insel und ebenso die Kinder der Túatha de Danann. In euch fließt das Blut zweier Welten.“
Ethan, Michael und Clyde knieten nieder.
„Und wer seid ihr? Ein Kind der grünen Insel, Magier und Krieger in einem. Und du, der du den Namen meines Großvaters trägst. Möge seine Kunst auch dir dienen. Dann der mit den zwei Namen. Er ist ein Kind der Insel und sein Vorbild wird viele inspirieren, die von der Magie berührt wurden. Ihr alle habt euch der Magie ergeben, die euch das Land und die Götter gewährt haben. Ihr seid in einen Kampf gezogen, dessen Ausgang nicht vorhersehbar war. Und dennoch seid ihr hier. Euer aller Taten werden in Zukunft an den Feuern besungen werden. Und von dir, den man Clyde genannt hat, soll man in Zukunft als Ceannard nan gaisgeach singen.“
Clyde beugte verwirrt sein Haupt. Ceannard nan gaisgeach? Das hieß so viel wie ‚Anführer der Helden‘. Er war kein Held. Halt! Wenn Dian das mitbekam… Hektisch sah Clyde sich um, doch Dian flüsterte bereits intensiv mit Finn, der enthusiastisch nickte.
Noch bevor die versammelten Magier etwas tun konnten, verblassten die drei riesigen Gestalten vor ihnen und nach wenigen Sekunden waren sie ganz verschwunden.
„Was war das?“
Alle drehten sich zu Marion um und sahen ihn an.
„Was glaubst du, was das war, du mit den beiden Namen?“
Noch bevor er eine Antwort geben konnte, kam ein Horde von Leuten durch das Wäldchen auf sie zugestürzt. Clyde fuhr herum, doch dann erkannte er Mario. Dahinter folgte der Rest der Scouts, der sie aus der Ferne beobachtet hatte. Mario sah sich mit großen Augen um.
„Was war das?“
Leises Gelächter ertönte und Clyde grinste Mario an.
„Diesmal kommst du etwas zu spät mit deiner Frage. Aber zuerst will ich wissen, was mit euch passiert ist.“
„Wir konnten alles hören und sehen. Waren das wirklich Götter?“
Clyde bedeutete Mario ruhig zu sein und sah sich hektisch um.
„Spinnst du? So etwas darf man nicht mal denken, geschweige denn laut aussprechen.“
Der Einzige, der die ganze Szene etwas skeptisch verfolgt hatte, war Leon. Er glaubte weder an die Götter noch an die Kirche der Reuigen Sünder. Nachdenklich schweifte sein Blick über den Steinkreis.
„Wo ist eigentlich der Herzog abgeblieben?“
Clyde fuhr herum.
„Verdammt! Hat ihn jemand gesehen?“
„Er ist zurück zu den Häusern. Gleich als wir mit der Elementarmagie begonnen haben.“
Marion deutete auf die Häuser, die direkt hinter dem Steinkreis zu sehen waren.
„Wir müssen hinterher. Los, Paare bilden und verteilen.“
Als sie aus dem Steinkreis heraustraten, fiel bereits der erste Schuss. Dicht hinter Clyde splitterte etwas von einem der Steine ab und er kniete sich nieder. Auch die anderen hatten alle Deckung gesucht.
„Da drüben, in den Fenstern!“
Nun antworteten auch die ersten Schüsse der Scouts. Clyde zog Arje an sich und öffnete dessen Jacke, um ihn direkt berühren zu können.
„Da drüben, hinter der Scheune.“
Arje nickte und konzentrierte sich. Das war gar nicht so einfach bei den Gefühlen, die ihn jetzt auch noch zusätzlich durchfuhren. Doch kurze Zeit später war der Gegner erledigt und Arje seufzte tief. Noch einen Moment länger und er hätte sich ganz seinen Gefühlen hingegeben.
Überrascht sah Clyde nun auch Finn zu, der einen Pfeil nach dem anderen absandte. Bemerkenswert war die Spitze der Pfeile, die alle von einer hellen Flamme umgeben waren.
Mit einem Mal trat Ruhe ein.
„Fertig? Weiter vorgehen, aber in Deckung bleiben.“
Langsam rückten die Scouts weiter vor. Der Straße folgend rückten sie immer weiter nach Norden vor.
„Wo kommen wir denn da hin?“
„Nach Port Miquel. Das ist der Ort mit dem einzigen Hafen hier. Wenn sie mit einem Schiff gekommen sind, kann das nicht größer als ein Kutter sein.“
Ragnar sah auf seine Uhr.
„Gegen Mittag ist wieder Hochwasser. Wenn sie es bis zum Schiff schaffen, sind sie uns entkommen.“
„Was ist mit der ESTRAY?“
„Die ist weiter draußen. Wir können nicht riskieren, dass sie entdeckt wird. Thorben wird irgendwo vor den kleinen Inseln kreuzen. Der Plan war ja, dass er uns nach Einbruch der Dunkelheit an der gleichen Stelle wieder aufnimmt, an der er uns abgesetzt hat.“
„In Ordnung. Wir gehen bis zum Hafen vor und überzeugen uns davon, ob der Herzog wirklich schon weg ist. Dann müssen wir zurück, um aufgenommen zu werden.“
Kurz vor der kleinen Ortschaft ließ Clyde die Truppe wieder auseinanderziehen und sie schlichen langsam voran. Auch hier schien man die Bewohner zeitweise vertrieben zu haben. Alles war ruhig und friedlich. Vom Hafen her kamen geschäftige Geräusche.
„Da unten ist noch jemand. Bleibt verteilt. Wir gehen weiter vor.“
Näher am Hafen bot sich Clyde ein etwas merkwürdiges Bild. Hafen war eigentlich etwas übertrieben für die beiden schmalen Piers, die sich ziemlich weit ins Wasser erstreckten. Von einer der Piers hatte gerade ein Kutter abgelegt und war dabei, in das markierte Fahrwasser einzudrehen.
An der anderen Pier lag ein größeres Fischerboot, wie es genutzt wurde, um draußen, außerhalb des Golfs auf dem Meer zu fischen. Dort versuchten gerade mehrere bewaffnete Söldner die Besatzung handgreiflich davon zu überzeugen, mit ihnen auszulaufen. Als sie begannen, mit ihren Säbeln auf die Fischer einzustechen, war für Clyde der Punkt erreicht.
„Finn, Arje.“
Vollkommen überrascht sahen die Fischer zu, als die Söldner plötzlich zu Boden fielen. Die meisten waren von einem Pfeil getroffen worden.
Die Scouts näherten sich langsam dem Boot und Clyde hob eine Hand.
„Wir sind die Scythe Scouts. Wir werden euch nichts tun, aber wir benötigen euer Boot.“
Die drei Fischer sahen Clyde verständnislos an, bis Ethan vortrat und den Satz auf Herblondaise wiederholte. Die Fischer brachen in wahre Redefluten aus und Ethan war etwas ratlos. Clyde wusste sich zu helfen.
„Ruhe!“
Auch wenn sie es nicht verstanden hatten, aber die Absicht war klar. Nun konnte Ethan in Ruhe reden.
„Wir benötigen ihr Schiff, Monsieur.“
„Nein, nein. Das geht nicht. Das ist unsere einzige Verdienstmöglichkeit.“
Ethan übersetzte und Clyde überlegte, was er tun sollte. Inzwischen hatten Finn und Arje die am Boden liegenden Söldner durchsucht. Sie wollten zumindest die brauchbaren Bolzen und Pfeile wiederhaben. Bei einem der Söldner stutzte Arje. Unter dessen dicker Lederjacke zog er einen großen, schweren Beutel hervor. Als er hineingesehen hatte, richtete er sich auf und trat zu Clyde.
„Ich denke, das könnte unser Problem beseitigen.“
Clyde zog seine Augenbrauen hoch, als Arje ihm den Beutel überreichte. Auch die Fischer sahen neugierig zu. Clyde nahm den Beutel, sah hinein und schüttete dann einen Teil des Inhalts in seine linke Hand. Es waren eine ganze Anzahl goldglänzender Münzen.
„Der Beutel gehört euch, wenn ihr uns dafür das Schiff überlasst.“
Die Fischer sahen sich nur stumm an. Für den Inhalt des Beutels konnten sie sich zwei oder sogar drei ihrer Boote leisten. Der älteste der Fischer lächelte ein zahnloses Lächeln.
„Monsieur, sie sind soeben stolzer Besitzer der LOUP DE MER geworden.“
Ethan bedankte sich wortreich, während Clyde die Scouts an Bord scheuchte. Ragnar verteilte bereits die Leute mit seemännischen Kenntnissen und dann wurden die Leinen losgeworfen.
Auf der ESTRAY ging Thorben ruhelos auf und ab. Es widerstrebte ihm, hier zu warten und die Scouts erst wieder in der Dunkelheit aufzunehmen. Außerdem war eine Annäherung an die Küste bei Dunkelheit eine nicht ganz ungefährliche Sache.
Nervös blickte er auf das Meer hinaus. Nichts und niemand. Es gab außergewöhnlich geringen Schiffsverkehr hier draußen. Sven hatte schon die Vermutung geäußert, dass die Küstenschiffe in den Häfen festgehalten wurden für den heutigen Tag.
„Was zu sehen da oben?“
Der Ausguck meldete sich kurz darauf.
„Alles frei!“
Sven beobachtete Thorben einen Moment lang. Er hatte es nicht einfach, mit der Verantwortung über das Schiff und auch darüber, die Scouts wieder ordnungsgemäß abzuholen.
Für die Fahrt hierher hatte ihnen Captain Hansom einen Ersatz für Ragnar und Diethard geschickt. Liam besetzte den Posten des Offiziers und Jean-Luc den des Seekadetten.
„An Deck! Ein Segel an Backbord voraus!“
Fast alle an Oberdeck fuhren herum und starrten in die angegeben Richtung, obwohl sie alle wussten, dass sie noch nichts würden erkennen können.
„Was ist es?“
„Noch nicht auszumachen.“
Was bedeutete das jetzt? In der angegebenen Richtung lag die Zufahrt zum Golf de Morbihan. Wenn sich ein Schiff von dort näherte und herauswollte, gab es nur wenige Erklärungen.
„Sven, wie weit sind wir von der Aufnahmeposition entfernt?“
„Etwa zwölf Meilen.“
Das war mehr als eine Stunde. Und Thorben wusste nicht, ob Clyde mit seiner Truppe bereits dort war. Andererseits konnte er genauso gut auf dem Schiff sein, das sich näherte. Es blieb nichts zu tun, als abzuwarten.
Das sich nähernde Schiff wurde langsam besser erkennbar und der Ausguck konnte nun auch den Rumpf identifizieren.
„An Deck! Sieht aus wie ein Kutter. Segelt gerefft.“
Thorben nickte unbewusst. Mit vollem Zeug durch ein flaches Gewässer zu segeln war auch nicht sehr ratsam. Da war der kleinste Fehler tödlich. Aber bald würde er aus der Zufahrt herauskommen und da wurde das Wasser schlagartig tiefer.
„An Deck! Das Schiff hat eine Flagge gesetzt.“
„Was für eine?“
„Keine Ahnung. Irgendetwas buntes.“
Thorben sah ärgerlich zu dem Ausguck empor, doch da gab es plötzlich Bewegung. Sowohl Manuel als auch Jean-Luc enterten empor zum Ausguck. Das Ergebnis kam nur wenige Augenblicke später.
„Es führt die Standarte des Herzogs von Grimauld im Topp.“
Thorben sah sich grimmig um und deutete auf Liam.
„Klar Schiff zum Gefecht.“
Das Schiff des Herzogs änderte seinen Kurs, sofort nachdem es die Zufahrt passiert hatte.
„Sven, wir müssen ihn abfangen. Ich weiß nicht, wie schnell er ist, aber wir können uns auf kein Wettrennen einlassen.“
„Ein zweites Segel bei der Einfahrt! Sieht aus wie ein Fischerboot.“
Thorben sah irritiert in die angegebene Richtung. Noch einer? Ein Fischerboot? Sie waren davon ausgegangen, dass außer dem Herzog heute niemand diese Gewässer befahren durfte.
„Das Fischerboot hat eine Flagge gehisst!“
Was sollte das denn? Seit wann…
„Es ist die Flagge der Freibeuter von Britannica!“
„WAS!?“
Thorben sah ratlos von Liam zu Sven, bis sich eine leise Stimme hinter ihm meldete.
„Verzeihung, Sir.“
„Manuel? Was ist?“
„Das war ich, Sir. Ich habe Michael eine unserer Flaggen mitgegeben. Für alle Fälle, Sir.“
Thorben sah erstaunt auf den Signalgasten herab, dann ergriff er ihn, hob ihn ein wenig an und gab ihm einen schmatzenden Kuss.
„Manuel, das ist die beste Idee, die du bis jetzt hattest!“
Thorben setzte Manuel wieder ab und wandte sich an Liam.
„Nimm Kurs auf den Fischer. Dann können wir die Scouts aufnehmen und den Herzog weiterverfolgen.“
Manuel war mehr als überrascht von Thorbens Reaktion. Und von dem Kuss. Es war nicht sein erster. Michael und er hatten es sich am Tag vor der Abfahrt in der nun noch leeren Segellast bequem gemacht.
Eingedenk der Warnung von Clyde wagte Manuel nicht mehr zu machen, als ein paar Küsse mit Michael zu wechseln. Als er dann Michaels Hand unter seinem Hemd spürte, war er doch schwach geworden. Auch er schob seine Hand unter Michaels Hemd, fuhr über die Brust, wanderte tiefer und spielte mit dem Bauchnabel. Dann merkte er, wie Michaels Hand tiefer wanderte und seine Hose erreichte. Ab hier übernahm ein anderes Gehirn sein Denken. Er ließ seine Hand ebenfalls in tiefere Regionen wandern, bis er plötzlich in seiner Bewegung erstarrte.
Sie lagen nebeneinander und Michael hatte seinen freien Arm um Manuels Hals gelegt. Die Hand ruhte auf seiner Schulter. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte Manuel, wie die Hand anfing im Dunkeln zu glühen.
„Halt.“
„Was ist?“
Michael war etwas irritiert. Was hatte Manuel denn auf einmal?
Manuel zog langsam seine Hand von Michael zurück und richtete sich etwas auf. Dadurch musste auch Michael seine Hand wieder zurückziehen. Als er sie betrachtete, weiteten sich seine Augen.
„Oh Scheiße. Das… das wollte ich nicht. Ich kann nichts dafür.“
„Psst. Ganz ruhig. Entspann dich einfach. Es ist genauso wie Lord Clyde es gesagt hat. Du musst noch lernen, dich zu beherrschen. Deine Magie, meine ich. Das andere kriegen wir dann schon in den Griff.“
Michael grinste säuerlich, nickte aber dann. Manuel gab ihm einen kurzen, aber zärtlichen Kuss.
„Komm mit nach oben. Ich habe da ein kleines Geschenk für dich. Vielleicht könnt ihr es ja gebrauchen bei eurem Einsatz.“
Und so war Michael Marion Milster zu einer Flagge der Freibeuter gekommen, die er auf Befehl von Clyde dann stolz hissen durfte.
Das kleinere Fischerboot dümpelte träge in einiger Entfernung von der ESTRAY. Thorben und Clyde sahen nachdenklich hinüber.
„Was machen wir damit? Versenken ist eigentlich zu Schade.“
„Ragnar hat einen Treibanker ausgebracht. Wenn die Fischer Glück haben, vertreibt es nicht so schnell und sie können es wieder in Besitz nehmen.“
Auf der ESTRAY erschallten nun weitere Befehle und der Kutter machte sich auf den Weg, den Herzog abzufangen.
Während Sven den Kutter führte, hatten sich die Offiziere in der kleinen Kapitänskajüte versammelt. Clyde berichtete von den Vorgängen auf der Insel.
„Und das war wirklich die Herzogin?“
Clyde beschrieb die Blutmagierin so gut er konnte. Jean-Luc nickte.
„Ja, das kommt sehr gut hin. Ich habe sie selten gesehen. Sie zeigte sich ungern in der Öffentlichkeit. Bei den ganzen Bällen und Empfängen war sie auch nur manchmal anwesend.“
„Und was hat der Herzog jetzt vor? Seine Frau ist tot. Der Plan mit der Beschwörung ist fehlgeschlagen. Was wollte er überhaupt mit einem Dämon?“
„Der Dämon? Also wenn ich Ethan richtig verstanden habe, gehört der eigentlich in eine andere Existenzebene. Also in die Hölle, die es ja gemäß der Kirche der reuigen Sünder gibt. Deshalb kann man ihm hier sehr wenig anhaben. Selbst Magie ist da schwierig. Wogegen er selbst seine Magie wirken kann, die hier wie gesehen äußerst wirksam ist. Und derjenige, der einen Dämon beschwört, ist sein Meister und kann ihm Befehle erteilen.“
Alle schwiegen zunächst, bis Thorben nach einem kurzen Blick auf Ragnar meinte.
„Dann waren also diese anderen Erscheinungen eure einzige Rettungsmöglichkeit?“
„Das kann man so sagen. Und nicht nur unsere. Hätte die Beschwörung so funktioniert wie sie geplant war, würde wahrscheinlich in absehbarer Zeit ein Dämon mit einem Gefolge von feindlichen Soldaten Britannica heimsuchen.“
„Was bleibt uns jetzt zu tun? Warum verfolgen wir eigentlich den Herzog? Die Gefahr ist doch gebannt.“
„Nein, Liam, ist sie nicht. So wie es aussieht ist der Duc de Grimauld der Strippenzieher hinter all diesen Vorkommnissen in den letzten Monaten. Wenn wir ihn entkommen lassen, ist er bestimmt in der Lage, eine weitere, ähnliche Unternehmung durchzuführen. Ich glaube nicht, dass der Tod der Herzogin ihn zur Vernunft gebracht hat. Ganz im Gegenteil.“
Die meisten der Anwesenden nickten, bis Jean-Luc einen leisen Schrei ausstieß.
„Was ist?“
„Ich weiß, wo er hinwill. Das Schloss Grimauld liegt ziemlich weit im Binnenland. Der am nächsten gelegene große Hafen ist Bordéu. Der liegt aber ziemlich weit drinnen, da muss man fast 50 Seemeilen weit die Gironde hinauf. Es gibt noch einen kleinen Hafen etwa 70 Seemeilen südlich der Girondemündung. Der liegt von der Straßenanbindung her am dichtesten beim Schloss.“
„Ein kleiner Hafen, wo er fast unbemerkt anlanden kann. Das könnte tatsächlich sein Ziel sein. Jean-Luc, geh bitte hoch zu Sven und erklär ihm, wo dieser Hafen ist. Dann bringst du bitte die Karte her. Ich möchte mich kurz mit Thorben beraten.“
Das war das Zeichen für die anderen Anwesenden, sich freundlich zu verabschieden. Thorben sah Clyde fragend an.
„Könnten wir es schaffen, den Kutter des Herzogs einzuholen, bevor er den Hafen erreicht?“
„Das entscheidet sich, wenn wir die Karte studiert haben.“
Es klopfte kurz und dann trat Jean-Luc mit der Karte ein. Zusammen mit Thorben rollte er sie auf dem Tisch aus und beschwerte sie. Dann verließ Jean-Luc schweigend die Kajüte. Thorben griff nach einem Stechzirkel.
„So, dann wollen wir mal sehen. Also, der direkte Kurs sind etwa 180 Seemeilen. Bei gutem Wind etwa fünfzehn Stunden. Bei schlechtem entsprechend länger.“
Clyde rechnete nach.
„Das wäre dann also morgen 2 Glasen der Morgenwache. Wann ist Sonnenaufgang?“
Thorben hob etwas seine Augenbrauen, griff aber nach einem schmalen kleinen Buch. Von dort notierte er sich etwas, sah auf der Karte nach der Position und griff dann nach einem dicken, wohl schon sehr oft benutzten zweiten Buch. Nach einer schnellen Rechnung tippte er mit dem Bleistift darauf.
„Um 07:49 Uhr. Die Dämmerung beginnt etwa eine Stunde vorher.“
„Was? Eine ganze Stunde?“
„Das ist die nautische Dämmerung. Da kannst du den Horizont erkennen. Die Dämmerung für den Normalbürger ist etwa eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang.“
„Das hieße also gegen sieben Glasen der Morgenwache. Das sollte reichen, oder? Wenn er tatsächlich dort hinwill, werden wir schon auf ihn warten.“
„Und wenn er nicht dort hinwill?“
„Dann kriegen wir ihn sowieso nicht mehr. Wenn er irgendwo anders einläuft, war’s das für uns. Dann machen wir uns auf den Rückweg.“
Thorben nickte. Dagegen hatte er nichts einzuwenden.
In der Segellast war es reichlich eng, wie sie schon auf der Fahrt hierher bemerkt hatten. Die Scouts und die Magier bildeten Paare oder auch kleine Gruppen und hatten sich zur Ruhe begeben. Obwohl, Ruhe war es eigentlich nicht. Aus jeder Ecke hörte man Geflüster und Getuschel. Die letzten Ereignisse wurden eingehend besprochen.
Als Clyde die Segellast betrat, kehrte Schweigen ein.
„Was ist? Warum seid ihr auf einmal alle so still?“
Niemand wagte etwas zu sagen, bis die Stimme von Marion ertönte, die vor Aufregung noch etwas schwankte.
„Ent… Entschuldigung, aber das, was wir vorhin gesehen haben. Waren das wirklich…“
„Du kannst es ruhig aussprechen. Es waren die Götter, zumindest in der Gestalt, wie wir sie uns vorstellen. Ich weiß nicht, ob jeder hier von euch an irgendeine Form von Göttern glaubt, aber ihr solltet das nach dem heutigen Tag schon ernsthaft in Betracht ziehen.“
Die Stimme von Eldar ertönte deklamierend aus dem Halbdunkel.
„Die Kinder des Eises verehren schon immer die Götter, denn sie hatten sie erschaffen. Nachdem die Erde aber gebildet war, bestand sie aus zwei Teilen: der eine nur aus Feuer, der da heißt Muspelheim und der andere nur aus Eis, der da heißt Niflheim. Dazwischen befand sich die Schlucht, das Grab des Riesen Ymir. Odin bevölkerte die Erde, indem er ein Menschenpaar, Ask und Embla, erschuf. Er ist unser höchster Gott und doch auch derjenige, der uns am nächsten ist. Als einsamer Wanderer zieht er durch Midgard, die Welt der Menschen. Dort straft er diejenigen die sich gegen die Gesetze der Götter vergangen haben, aber er hilft auch den Gerechten.“
Der sonore Singsang verstummte und nach einem kurzen Moment der Stille war Ragnar leise zu hören.
„Der Gesang der Schöpfung. Ich wusste nicht, dass du ein Barde bist, Eldar.“
Nicht sichtbar für die meisten schüttelte Eldar auch seinen Kopf.
„Bin ich auch nicht. Zumindest war ich es bis jetzt nicht. Ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet jetzt diesen Gesang rezitiert habe.“
„Der Einäugige wird schon wissen, was er jedem von uns zugedacht hat.“
Weiteres Schweigen folgte und Clyde suchte nach einem freien Platz. Eine Hand aus dem Halbdunkel winkte ihn heran. Erstaunt bemerkte er Diethard zwischen den Behrendt-Zwillingen.
„Na, jemanden gefunden?“
„Oh, es ist ganz angenehm hier. Aber es hat auch einen Grund. Die beiden wollten gerne wissen, ob wir uns wirklich so gleichen wie sie sich.“
Clyde stutzte, dann grinste er. Dann legte er sich neben Diethard zwischen die Brüder.
„Was das betrifft, kann ich euch beruhigen. Wir sind nicht absolut identisch. Aber die wichtigsten Teile gleichen sich doch sehr.“
Ein leises Kichern ertönte hinter Clyde.
„Wir wissen, wie Diethard aussieht. Wir wollten nur höflich fragen, ob wir das auch selbst mal vergleichen dürfen.“
Nun drehte sich Clyde herum und gab dem neugierigen Fragesteller einen langen und sinnlichen Kuss.
„Ihr dürft.“
Gegen vier Glasen der Morgenwache wurde Clyde von Manuel geweckt, der sich durch die mehr oder weniger schlafenden Scouts gearbeitet hatte. Der hatte zunächst den schlafenden Marion mit einem Kuss bedacht und war dann zu Clyde geschlichen.
„Guten Morgen, Sir. Vier Glasen. Der Kommandant lässt ausrichten, dass wir drei Meilen vor der Küste von Herblonde stehen.“
„Danke, Manuel. Ich komme gleich nach oben.“
Manuel schlich wieder zurück und sah sich dabei neugierig um. Wie jedes Mal, wenn er nachts hier herunterkam, stieg sein Blutdruck ganz schön an. Und nicht nur der.
Als Clyde an Deck erschien, war es ausgesprochen Dunkel. Wolken verdeckten auch das letzte Bisschen Himmel.
„Bei dem Wetter könnten wir ihn nicht mal erkennen, wenn er direkt an uns vorbeifährt. Wir müssen darauf vertrauen, dass wir schneller waren und er nirgendwo anders eingelaufen ist.“
Clyde nickte schweigend. Thorben seufzte.
„Ich kann da auch nichts dran ändern. Wir haben eine Entscheidung getroffen und nun müssen wir damit leben.“
Nun war es an Clyde, tief zu seufzen.
„Ich weiß. Wir können nichts anderes machen als warten. Aber wenn ich schon warten muss, dann hoffe ich doch, dass es wenigstens etwas zu essen gibt.“
„Harvey könnte dir etwas in der Kapitänskajüte…“
„Nein, nein. Kein Aufwand. Ich hole mir was in der Kombüse.“
Mit einem Stück Brot und einem Becher mit Kaffee bewaffnet setzte sich Clyde dann an Oberdeck auf eines der aufgeschossenen Taue. Aus den Augenwinkeln heraus nahm er Manuel wahr, der ebenfalls mit einem dampfenden Becher vorüberging.
„Du kannst dich ruhig zu mir setzen.“
„Oh, ich habe euch gar nicht gesehen, Lord Clyde.“
„Das hab ich gemerkt. Ziemlich nachdenklich am frühen Morgen.“
Manuel nickte schweigend und nahm einen Schluck aus seinem Becher. Clyde stieg der aromatische Duft in die Nase und nun bedauerte er, nicht auch den Kakao genommen zu haben.
Manuel hatte sich endlich durchgerungen und erzählte zögernd von dem missglückten Liebesabenteuer mit Marion. Clyde klopfte ihm auf die Schulter.
„Du hast dich ganz richtig verhalten. Auch wenn es dir wahrscheinlich schwergefallen ist. Wenn Marion, ich meine Michael, erst einmal die Ausbildung durchlaufen hat, ist alles viel einfacher. Zumindest der Teil mit der Magie.“
Manuel wurde es noch ein paar Grad wärmer, als es der Kakao bis jetzt geschafft hatte. Doch Clyde hatte eine weitere schlechte Nachricht für ihn.
„Du hast sicherlich schon erfahren, dass die Magier in gewisser Weise verbunden sind.“
„Oh ja. Das Spinnennetz.“
Clyde stutzte. War das jetzt schon Allgemeinwissen?
„Michael hat mir davon erzählt. Er meinte, ich sollte es auf jeden Fall wissen, bevor wir etwas machen. Allerdings habe ich nicht ganz verstanden, warum. Ich meine, wenn er so eine Art Verbindung hat, was hat das mit mir zu tun?“
Clyde verdrehte etwas die Augen, musste dann aber lächeln.
„Ganz einfach. Weil sich diese Verbindung hauptsächlich auf Gefühle bezieht. Wenn sie stark genug sind, bekomme ich das mit. Und was glaubst du, bei welcher Gelegenheit Gefühle besonders stark sind?“
Manuel überlegte einen Moment.
„Oh. Ihr meint, wenn wir beide, also Michael und ich…, dass ihr dann… oh, oh.“
„Keine Angst. Ich habe schon Übung darin das auszublenden. Ich werde bestimmt niemanden absichtlich dabei hm… belauschen ist nicht das richtige Wort. Es war schon schlimm mit sechs Mann, aber jetzt mit sechzehn? Nein, warte mal. Einige haben auch Partner außerhalb der Scouts. Das sind schon über zwanzig Mann.“
Manuel sah Clyde überrascht an. Dann blickte er schüchtern zu Boden.
„Ich habe gehört, dass es sogar zu einem… also zu einer ähhh… also in einem Bad sollen wohl alle Magier zusammen…“
„Das wird nun auch schon rumerzählt? Ich dachte, wenigstens darüber hätten sie die Klappe gehalten.“
Nun wurde Manuels Stimme noch leiser.
„Wie ist denn das so? Ich meine mit mehreren?“
Clyde sah Manuel völlig perplex an.
„Wie alt bist du? Gewöhn dich doch erst mal an den Gedanken, mit einem zusammen zu sein.“
Abrupt erhob sich Clyde und strich Manuel zum Abschied über die Haare. Er musste sich etwas von ihm entfernen, denn er spürte, wie Manuel auf sein Glamour ansprach. Das wollte er auf jeden Fall vermeiden.
Clyde ging hinüber zur Reling und starrte auf das Meer. Kam es ihm nur so vor, oder konnte er bereits ganz vage einen Horizont erkennen? Es würde also bald losgehen. Clyde brachte seinen leeren Becher in die Kombüse.
„Während des Gefechts übernehmen die Scouts die Aufgaben der Seesoldaten. Während des Gefechts sind alle Scouts mit Karabinern ausgerüstet. Sie nehmen mittschiffs vor und hinter dem Mast Aufstellung.“
Frank Beutler salutierte und nahm die Scouts mit auf ihre Positionen. Stolz präsentierte er nun auf seiner Uniform die goldenen Dienstgradabzeichen eines Sergeanten. Die waren beim Einsatz auf der Insel unter dem Umhang leider nicht zu sehen gewesen.
„Die Magier werden entsprechend ihrer Aufgaben eingeteilt. Dian geht ins Lazarett. Ragnar bleibt bei Thorben, falls er Einfluss auf die Bewegung des Schiffes nehmen muss. Diethard nimmt Ethan und Michael mit nach vorne, Finn und Marion bleiben hier bei mir. Alles verstanden?“
„Jawohl, Sir!“
Clyde sah verblüfft von einem zum anderen. Von den Scouts hätte er das erwartet, aber die Magier?
Kaum hatten alle ihre Positionen eingenommen, ertönte eine Stimme von oben.
„An Deck! Segel backbord achteraus!“
Und wieder sahen alle in die angegeben Richtung, obwohl es dort noch gar nichts zu sehen gab. Trotzdem ertönte jetzt Thorbens Stimme.
„Mister Young! Klar Schiff zum Gefecht!“
Die Bootsmannsmaatenpfeifen schrillten und die Leute eilten auf ihre Gefechtsstationen.
Aus dem Ausguck ertönte eine Stimme.
„Das ist er! Die gleiche bunte Flagge!“
Clyde starrte nun genauso angestrengt achteraus wie der Rest der Besatzung.
„Sven, halt direkt auf ihn zu. Wir dürfen ihn nicht entkommen lassen.“
Während die ESTRAY nun Fahrt aufnahm, dachte Clyde noch einmal über die Verteilung der Magier nach.
„Los, kommt mit.“
Mit schnellen Schritten eilte er nach vorne und Diethard sah ihm erstaunt entgegen.
„Ich habe gerade umgebaut. Du nimmst jetzt Finn und Michael und gehst nach achtern. Ich bleibe mit den Feuermagiern vorne.“
Diethard grinste leicht.
„Das Gleiche hat Michael auch vorgeschlagen. Wir wollten uns gerade melden.“
Clyde nickte und warf Michael ein kurzes Lächeln zu. Er würden sehen müssen, ob die Magier nicht vielleicht Taktikunterricht erhalten sollten. Dann konzentrierte er sich auf Ethan und Marion.
„So, der Grund, warum wir nach vorne gegangen sind, ist einfach erklärt. Die ESTRAY hat keine Buggeschütze. Das sind jetzt wir.“
Clyde erklärte ausführlich den Einsatz von Feuerbällen und was dabei zu beachten war.
Die beiden Schiffe näherten sich einander und obwohl der fremde Kutter sie bemerkt haben musste, änderte er nicht seinen Kurs.
„Sie sind sehr selbstsicher. Wir sollten damit rechnen, dass dort einer oder mehrere Dunkelmagier an Bord sind.“
„Wären die denn nicht alle beim Ritual gewesen?“
„Keine Ahnung. Vielleicht hätten sie die Bindung an den Dämon gestört, oder sowas. Wir müssen nach unserer Rückkehr unbedingt mit den Druiden sprechen.“
„Was soll das denn? Sven, zwei Strich abfallen!“
Clyde wurde nun von Thorben abgelenkt, der verbissen zu dem anderen Kutter hinüberstarrte.
„Was ist los?“
„Unser Gegner hat seinen Kurs geändert. Er hält jetzt ebenfalls genau auf uns zu.“
„Und das macht keinen Sinn?“
„Überhaupt nicht. Nicht mal, wenn er uns rammen wollte. So zeigt er uns zwar seine schmalste Silhouette, aber er kann genauso wenig, wie wir seine Geschütze einsetzen.“
„Es sei denn… Alles weg vom Bug! Wassermagier nach vorne!“
Ragnar und Michael waren kaum eingetroffen, als von vorne ein Schrei ertönte.
„Feuerball! Alles in Deckung!“
Nun sah auch Clyde den flammenden Ball auf die ESTRAY zurasen. Ragnar stand neben ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Abwarten.“
Der Feuerball schlug direkt am Bugspriet ein, wo sofort Flammen aufloderten. Ragnar sah Michael kurz an, dann konzentrierte er sich. Eine Welle schwappte hoch und begrub den vorderen Teil des Kutters unter sich. Einen Moment lang war das Schiff stark buglastig, doch als das Wasser abfloss, hob es sich wieder in die Trimmlage. Am Bugspriet stiegen dampfende Wölkchen auf und schon stürmte Jens Fiedler mit einem seiner Zimmerleute nach vorne, um den Schaden zu begutachten.
Auf dem gegnerischen Kutter hatte sich nichts weiter getan. Er befand sich immer noch auf genauem Gegenkurs.
„Entweder sie haben nur einen Magier oder…“
„Feuerball!“
Ein weiterer Feuerball raste heran. Diesmal war er etwas schlechter gezielt und schlug neben dem Bugspriet ins Schanzkleid. Auch hier züngelten sofort die ersten Flammen, als der Kutter auch schon von einer großen Woge von der Seite getroffen wurde. Der Wogenkamm erreichte das Feuer, doch der ganze Kutter legte sich bei dem Anprall stark nach Backbord.
„Langsam. Etwas weniger. Du willst uns doch nicht versenken.“
Michael war in Schweiß ausgebrochen, während Ragnar beruhigend auf ihn einredete.
Noch während sich die ESTRAY wieder aufrichtete, starrte Thorben mit zusammengekniffenen Augen hinüber zu ihrem Gegner.
„Feuer erwidern!“
Clyde atmete zischend aus. Darauf hatte er gewartet.
„Feuer erwidern. Aye aye, Sir.“
„Marion, du zielst einfach vorne auf den Rumpf. Dadurch, dass er direkt auf uns zukommt, brauchst du nicht vorzuhalten. Ethan, traust du dir zu, die Mastspitze zu treffen?“
Während Marion stumm nickte, sah Ethan wenig überzeugt aus.
„Ich gebe mein Bestes.“
„Gut dann. Feuer frei.“
Beide Feuerbälle rauschten gleichzeitig los und erst nach einiger Zeit wurde erkennbar, dass sie unterschiedliche Ziele hatten. Der Feuerball von Marion traf den Rumpf etwas oberhalb der Wasserlinie. Durch das leichte Stampfen während der Fahrt kam genug Wasser an die Stelle, um eine dicke Dampfsäule aufsteigen zu lassen.
Der Feuerball von Ethan war exzellent platziert. Er traf genau die Mastspitze und setzte dort das Holz in Brand. Wollte der Schiffsführer seine Segel retten, blieb ihm nur eine Möglichkeit.
„Gegner holt Segel ein.“
„Thorben, reicht das?“
„Ja, Feuer einstellen. Wir versuchen, ihn auf die klassische Methode zu entern. Wegen diesem Magier musst du dir aber vorher was einfallen lassen.“
Clyde sah sich um und stellte fest, dass er von allen seinen Magiern umringt war.
„Seid ihr bescheuert? Was hab‘ ich gesagt? Was meint ihr, was passiert, wenn er genau in unserer Mitte jetzt einen Feuerball platziert?“
Etwas hektisch strebten jetzt alle auseinander.
„Wenn wir uns annähern, werden wir versuchen, den oder die Magier auf die altbewährte Art auszuschalten. Dazu müssen wir aber wissen, wieviel dort sind und wo sie sich befinden. Ich werde versuchen, mit der Trefferlupe etwas zu erkennen. Dazu brauche ich einen der Scouts mit seinem Karabiner. Außerdem suchen wir auch noch den Herzog und der… Moment. Jean-Luc, kommst du bitte mal?“
Neugierig kam Jean-Luc näher.
„Was gibt es?“
„Ich möchte gerne den Herzog identifizieren. Ich will wissen, ob es wirklich der Typ gewesen ist, der im Steinkreis dabei war. Nimm dir bitte einen Karabiner und dann kommst du mit mir an die Reling.“
Jean-Luc zog nachdenklich seine Augenbrauen zusammen, dann strahlte plötzlich sein Gesicht. Er ging los, sich einen Karabiner holen und Clyde trat schon mal an die Steuerbordreling. Als Jean-Luc zurückkam, hatte er seine Jacke geöffnet und war dabei, sein Hemd aus der Hose zu ziehen.
„Das hat sich also auch schon rumgesprochen.“
„Wenn ich Mario glauben darf, kann das auch zu vorzeitigen Abschüssen führen.“
Clyde sah Jean-Luc überrascht an, dann grinste er.
„Gib dir keine Mühe. Ich werde Sigurd alles haarklein berichten. Auch, dass du dich freiwillig ausgezogen hast.“
Jean-Luc schmollte.
„Spaßverderber. Aber im Ernst. Einfach nur zielen?“
„Genau. Einfach zielen und dann auf das Zielgebiet konzentrieren. Wir werden beide unsere volle Konzentration brauchen bei dieser Entfernung.“
Jean-Luc nickte und brachte den Karabiner in Anschlag. Drüben auf dem gegnerischen Kutter wurde es gerade etwas hektisch. Ein Mann fuchtelte in der Luft herum und alle gingen auf Abstand. Jean-Luc sah über den Karabiner hinweg und dann bemerkte er den ‚Tunnelblick‘, wie Mario ihn genannt hatte. Das Zielgebiet sprang ihn förmlich an. Tatsächlich, das war eindeutig der Herzog von Grimauld. Inzwischen ohne die Perücke, mit der ihn Clyde beschrieben hatte. Aber er war es unzweideutig.
Und noch etwas anderes nahm Jean-Luc wahr. Der Herzog stach nun mit einem Dolch auf einen livrierten Lakaien ein und kurz darauf begann die Hand, die den Dolch hielt, rötlich zu glühen.
Jean-Luc unterbrach den Kontakt.
„Der Herzog! Er ist es. Ich habe ihn erkannt. Er hat gerade jemanden erstochen und dann hat seine Hand…“
„Schnell, der Karabiner!“
Jean-Luc riss den Karabiner wieder hoch und zielte ein zweites Mal. Diesmal schien das Ziel noch näher zu sein als vorher und er hatte arge Mühe, die Linie, die seine Schussbahn sein sollte im Ziel zu halten. Noch einmal ging er alles durch, was er über das Schießen gelernt hatte und dann betätigte er den Abzug. Der Schuss brach und auf dem gegnerischen Schiff sackte der Herzog getroffen zusammen.
Mit zitternden Händen legte Jean-Luc den Karabiner ab und sah erstaunt, dass Clyde halb über der Reling hing, um sich zu übergeben.
Marion und Ethan kamen herangestürmt, stützten Clyde und ließen ihn dann an Deck hinsetzen. Dann wandte sich Ethan an Jean-Luc.
„Hat es funktioniert?“
„Ich habe den Herzog getroffen. Anscheinend ist er ein Blutmagier. Ob noch andere da sind, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, wie schwer der Herzog getroffen ist.“
Ethan sah hinunter zu Clyde, der seine Augen geschlossen hatte und schwer atmete. Dann machte er sich auf den Weg zu Thorben.
„Ein Magier bekämpft, vermutlich ausgeschaltet. Ob noch weitere drüben sind ist nicht bekannt. Lord Clyde ist vorübergehend kampfunfähig. Sieht so aus, als ob er sich bei der Trefferlupe verausgabt hat, Sir.“
Thorben sah auf den kupferroten Haarschopf von Ethan herab. Wie bei Clyde trennten sie gute acht Zoll an Körpergröße. Und wie alt war Ethan noch mal? Sechzehn oder so?
„Vielen Dank, Mister Sutherland. Sie sind im Moment der einzige voll ausgebildete Magier, wenn ich das so richtig verstanden habe.“
„Jawohl, Sir.“
„Dann übertrage ich ihnen bis auf Weiteres das Kommando über die Magier. Für den Einsatz der Scouts wenden sie sich bitte an Sergeant Beutler.“
„Jawohl, Sir.“
Ethan drehte sich um und erlaubte sich erst dann zu zittern. Wie hatte er es wagen können? Aber es blieb ja wohl keine Wahl, wenn sie weitermachen wollten. Was heißt hier wollten? Sie mussten einfach, denn es stand noch ein Gefecht bevor und sie wussten nicht, ob alle Magier ausgeschaltet waren. Als er zu den anderen Magiern zurückkehrte, wagte er kaum, sie anzublicken.
„Ist schon in Ordnung, Kleiner. Von uns hat keiner eine Ahnung und du weißt wenigstens, wovon du redest. Was sollen wir machen, wenn bei dem Enterangriff noch einmal ein Magier auftaucht?“
Ethan sah dankbar zu Finn auf und überlegte kurz.
„Wir verteilen uns wie zu Anfang geplant. Bug und Heck gleichmäßig mit einem Feuer- und einem Wassermagier. Wenn ein gegnerischer Magier erscheinen sollte, wird er sofort mit einem Feuerball bekämpft. Die Wassermagier konzentrieren sich ausschließlich auf die Brandbekämpfung. Nur was man hier mit einem Erdmagier machen kann, übersteigt etwas meine Vorstellung.“
Diethard grinste leicht.
„Den Meeresboden werden wir ja wohl in Ruhe lassen. Ich bin genauso gut mit dem Karabiner wie die anderen Scouts.“
„Oh, die. Wo ist denn…“
Frank Beutler hatte eine erste Information von Thorben bekommen und war gar nicht glücklich. Bei Clyde wussten sie inzwischen, dass er vernünftige Entscheidungen traf. Aber Ethan? Der Junge hatte doch vom Kampf gar keine Ahnung.
Mario legte Frank eine Hand auf die Schulter.
„Man kann dir förmlich ansehen, was du gerade denkst. Vergiss es. Der kleine Schnuckel weiß ganz genau wie Magie geht, du nicht. Dafür weißt du, wie bewaffneter Kampf geht. Erklär‘s ihm.“
Frank Beutler nickte zustimmend. Ja, so fühlte es sich richtig an.
Als sie sich dem fremden Kutter auf Rufweite genähert hatten, kam für Jean-Luc noch einmal ein Einsatz.
„Leisten sie keinen Widerstand. Sie werden geentert.“
„Was erlauben sie sich. Dies ist die Privatjacht des Duc de Grimauld! Zudem befinden wir uns in den Hoheitsgewässern von Herblonde.“
„Das eine interessiert uns nicht, da wir uns im Kriegszustand befinden. Für die zweite Aussage muss ich sie leider bitten, noch einmal ihre Karte zu konsultieren, Monsieur.“
Die beiden Schiffe hatten sich zu Beginn der feindseligen Handlungen knapp außerhalb der drei Meilen befunden und waren im Verlauf der Zeit durch die Strömung immer weiter von Land abgerieben worden.
Als keine Antwort kam, machte Jean-Luc auf Anweisung von Thorben noch einen letzten Versuch.
„Monsieur, wenn sie sich nicht ergeben, werden wir sie gewaltsam entern. Sollten sie Widerstand leisten, sehen wir uns gezwungen, Methoden einzusetzen, die möglicherweise an Oberdeck gelagertem Schießpulver enormen Schaden zufügen könnten.“
Ethan und Marion sahen sich an. Was für ein Satz, nur um das Wort ‚Magie‘ zu umgehen.“
Eine Weile tat sich wieder nichts und Thorben wollte schon den Befehl zum Angriff geben, als langsam die Flagge von Herblonde niedergeholt wurde.
„Ich bin ein Idiot.“
Thorben und Sven sahen sich verblüfft zu Manuel um, der den Mast des gegnerischen Kutters anstarrte.
„Was ist?
„Die persönliche Standarte des Herzogs. Sie fehlt schon eine ganze Weile.“
„Oh, du meinst, man hat sie vorher der Kapitulation niedergeholt?“
„Nein, erheblich früher. Und das kann nur eins bedeuten. Der Herzog ist nicht mehr an Bord.“
„Wie, wo soll er denn sein?“
„Keine Ahnung, aber ich nehme mal an, jemand anderes darf nun die Standarte führen und der ist nicht an Bord.“
„Es tut mir leid, ehrlich. Das wollte ich nicht. Aber ich hatte Angst, da wäre noch ein Dunkelmagier und da habe ich einfach…“
„Nun krieg dich mal wieder ein, Ethan. Du hast alles richtig gemacht. Du warst der einzige mit dem ausreichenden Wissen über Magie und seine Anwendung. Thorben hat das richtig erkannt, sonst hätte er dir bestimmt nicht die Magier anvertraut.“
„Aber ich habe doch keine Ahnung vom Kampf.“
„Dafür hast du ja auch Frank gehabt. Es ist alles gutgegangen. Ende.“
Clyde hatte die Kapitulation des Gegners schlicht und einfach verschlafen. Dian hatte ihm im Lazarett einfach ein leichtes Schlafmittel gegeben, um dem Erschöpfungszustand entgegenzuwirken. Was Clyde brauchte, war einfach nur Ruhe. Und jede Menge zu Essen, wenn er wieder aufwachte.
Dian hatte die Magier und die Scouts schnell beruhigen können. Clyde fehlte nichts, außer ein wenig Schlaf.
Als er erwachte, waren sie bereits auf dem Rückweg nach Caerdon. Thorben war der Ansicht, dass die Nachricht vom Tod des Herzogs von Grimauld so schnell wie möglich übermittelt werden sollte. Die Reise nach Caerdon würde wohl gut zwei Tage in Anspruch nehmen.
Ethan war der Erste, der ihn nach seinem Aufwachen besuchte und ihm beichtete, was er getan hatte. Clyde war angenehm überrascht. Wenn Ethan so weitermachte, würde ein hervorragender Kampfmagier aus ihm werden. Clyde überlegte, ob es den Begriff Kampfmagier bei den Druiden überhaupt gab. War so etwas vorgesehen? Magier mit einer Waffenausbildung? Nein, nicht nur Waffen. Auch Taktik, Logistik, Führung, alles was dazu gehörte. Eine komplette Offiziersausbildung. Würden dann alle ihre Magier ein Offizierspatent bekommen?
Clyde schob diese Gedanken erst einmal zurück, als Frank Beutler ihn besuchte. Frank war etwas zerknirscht, dass er an den Fähigkeiten von Ethan gezweifelt hatte. Aber dann schilderte er begeistert die letzte Seeschlacht, die gar keine war.
„Als Jean-Luc dieses Monstrum von einem Satz losgeworden war, gab es einige Aufregung drüben. Da liefen ein paar Durcheinander, aber plötzlich war Ruhe. Der Kommandant hielt wohl eine Art Ansprache und dann holten sie ihre Flagge nieder. Thorben wollte kein Risiko eingehen und schickte nur Liam und Jean-Luc mit dem Beiboot nach drüben.“
Clyde nickte. In der Situation hätte er es auch vermieden, längsseits zu gehen.
„Sie waren eine ganze Zeit drüben. Der Kommandant hat nach einigen Diskussionen zugestimmt, dass sie die Kabine des Herzogs durchsuchen durften. Der lag übrigens aufgebahrt auf seiner Koje.“
„Ich muss sie bitten, sich ein wenig zurückzuhalten im Angesicht des Toten, meine Herren.“
„Schon gut. Wir werden alles so lassen, wie es ist.“
Zielstrebig durchsuchten Liam und Jan-Luc sämtliche Schränke, Schubladen und Behältnisse, die sich finden ließen.
Schließlich deutete Jean-Luc auf den Kammerdiener, der sie stets im Auge behielt.
„Lenk ihn mal ab.“
Liam ging auf den Kammerdiener zu und lamentierte lauthals darüber, ob in der Ecke mit dem Schreibsekretär nicht vielleicht eine versteckte Tür sei. Jean-Luc eilte mit schnellen Schritten zu dem prunkvollen Bett, das hier so schnöde als Koje bezeichnet wurde. Der Herzog lag dort, wie sie ihn nach dem tödlichen Schuss hereingebracht hatten. Ein Loch mitten in der Stirn in Höhe der Nasenwurzel.
Rasch näherte sich Jean-Luc dem Leichnam und fuhr mit seiner Hand unter ihm über das Bett.
„Nun komm schon,“ flüsterte Jean-Luc. „Die größten Geheimnisse hast du doch niemals aus der Hand gegeben.“
„Na also.“
Geschickt zog Jean-Luc ein kleines Päckchen hervor und stopfte es sich unter seine Jacke.
Dann ging er hinüber zu Liam und dem Kammerdiener.
„Es ist nun wirklich nichts zu finden. Wir werden unseren Kapitän darüber informieren. Alles weitere wird er entscheiden.“
„Aber meine Herren! Was wird nun aus seiner Gnaden, dem Herzog. Die kirchlichen Riten müssen vollzogen werden, Seine Verwandten werden ihm die letzte Ehre erweisen wollen.“
„Auch das wird unser Kapitän entscheiden. Guten Tag, Monsieur.“
„Und was hat unser allseits beliebter Kapitän entschieden?“
„Er hat sie fahren lassen, mitsamt der herzoglichen Leiche.“
„Und die Papiere?“
„Die hat Jean-Luc immer noch. Ich schicke ihn gleich runter, wenn du möchtest.“
Frank verabschiedete sich und kurze Zeit später erschien Jean-Luc. Schweigend setzte er sich neben dem Clyde.
„Hat deine zerrissene Seele nun Frieden gefunden?“
Jean-Luc wandte sich ruckartig zu Clyde.
„War es das? Hatte sie das damit sagen wollen?“
Wieder eine ganze Zeit Schweigen.
„Frieden? Ich weiß es nicht. Noch nicht. Ich dachte, ich würde ihn hassen, oder sowas. Aber nun ist da nichts als Leere. Ist das Frieden?“
„Denk nicht zu sehr darüber nach. Die Zeit wird zeigen, ob du deine Vergangenheit bewältigt hast. Was wirst du Sigurd sagen?“
„Alles. So wie immer. Er wird mich verstehen.“
Jean-Luc seufzte nachdenklich, doch dann lächelte er schwach.
„Aber das ist sicherlich nicht der einzige Grund, warum du mich hergebeten hast. Frank hat dir bestimmt von den Papieren erzählt. Es sind eine ganze Anzahl darunter, in denen Namen und Orte genannt werden. Aber der hier ist am interessantesten.“
Jean-Luc reichte Clyde einen Bogen reich verzierten Pergamentes, auf dem ganz oben ein Wappen prangte, das Clyde sofort erkannte.
„Der König hat dem Herzog von Grimauld geschrieben?“
„Ja. Ich werde es für dich übersetzen.“
Von seiner Majestät Aristide XVI., König von Herblonde, Herzog der Normandie und Herrscher über die Kolonien Herblondes jenseits aller Ozeane.
An Henri deGrimauld, Herzog von Grimauld und Comte Valdesse.
Mein lieber Henri,
Wir haben mit Befremden zur Kenntnis nehmen müssen, dass wohl nicht alles so verläuft, wie es von euch so blumig geschildert wurde.
Die Einwohner Britannicas sind wohl keineswegs so leicht zu übertölpeln, wie ihr vorausgesetzt habt. Das Ableben Unseres lieben Freundes, des Duke of Elmet hat Uns tief getroffen.
Eure Bemühungen, die Regierung von Britannica von innen heraus zu destabilisieren sind offensichtlich fehlgeschlagen. Solltet ihr Uns auch weiterhin keine überzeugende Unterstützung für die von euch insistierte Invasion Britannicas liefern können, werden Wir diesen Plan nicht weiterverfolgen. Die euch bisher zugestandenen Subsidien werden dann ebenfalls terminiert.
Aristides Rex
Roi de Herblonde
„Das ist doch sehr deutlich. Anscheinend hat der Herzog dem König den Plan eingeredet. Hat ihm wahrscheinlich weisgemacht, mit Hilfe seiner Dunkelmagier könnte alles funktionieren.“
„Dann war die Beschwörung dieses Dämons, oder was das war, schon eine Verzweiflungstat?“
„Könnte sein. Wir haben einige der Artefakte abfangen können, die für die Beschwörung vorgesehen waren. Ich wage mir nicht vorzustellen, wie es ausgegangen wäre, hätten sie alle Artefakte dort gehabt.“
„Ich habe mit Dian gesprochen und er war sich mit dem Doktor einig, dass du wieder am Dienst teilnehmen kannst. Kommst du nachher an Deck? Ich glaube, die Scouts haben eine Überraschung für dich.“
Clyde war etwas misstrauisch. Die Überraschungen der Scouts kannte er inzwischen. Da kam meist nichts Gutes bei raus.
Jean-Luc verließ ihn nun rasch und Clyde zog sich seine Uniform an, die jemand in weiser Voraussicht neben dem Krankenbett abgelegt hatte. Er wunderte sich ein wenig, dass auch sein Säbel dabei war, aber was soll’s.
Als er das Oberdeck betrat hörte er die laute Stimme von Frank Beutler.
„Scythe-Scouts stillgestanden! Zur Meldung, Augen rechts.“
Nun trat Ragnar mit gezogenem Säbel vor.
„Herr Leutnant, ich melde die Scythe-Scouts zum Appell angetreten.“
Stumm starrte Clyde Ragnar an, dann glitt sein Blick an der Reihe der Soldaten entlang. Das Ragnar einen Säbel trug, stand ihm als Offizier zu. Sie hatten ihn in den Reihen der Scouts schlecht degradieren können.
Bei der Reihe der angetretenen Soldaten traute Clyde allerdings seinen Augen nicht ganz. Der erste war Diethard. Ihn hatte man, entsprechend seinem vorherigen Dienstgrad als Offiziersanwärter eingestuft, was ihm den roten Stern eingebracht hatte. Nun war er ebenfalls mit einer roten Schärpe versehen und präsentierte einen Säbel. Der nächste in der Reihe glich ihm in allem, was Uniform, Säbel und auch Dienstgrad entsprach. Ethan sah etwas unsicher aus, aber er hielt sich tapfer.
Stumm schritt Clyde an den angetretenen Soldaten entlang, bis er bei Frank Beutler ankam, der nun ebenfalls einen Säbel trug, ihn aber als Unteroffizier nicht präsentieren durfte.
Als letzter in der Reihe sah allerdings jemand ganz Anderer zu ihm auf. Die dunkelbraunen Augen in dem schwarzen Fell verfolgten jede seiner Bewegungen. Clyde beugte sich etwas vor und tätschelte Dubh den Kopf. Der arme Hund hatte die meiste Zeit in der Obhut der Schiffsjungen verbringen müssen. Dabei war nicht klar, wer denn den meisten Spaß damit gehabt hatte.
Clyde drehte sich zu Ragnar, der ihm im Abstand von drei Schritten gefolgt war.
„Vielen Dank, Leutnant Thorsson. Lassen Sie bitte rühren.“
„Augen gerade-aus! Rührt Euch!“
Die Säbel wurden mit elegantem Schwung wieder weggesteckt. Clyde beobachtete heimlich Ethan, der absolut synchron mit Diethard agierte. Die beiden mussten lange zusammen geübt haben.
Clyde räusperte sich und sah sich um. Das Oberdeck war mit einer ganzen Anzahl neugieriger Seeleute bevölkert.
„Ab ins Deck. Ich hätte da so einige Fragen.“
Zehn Minuten später hatten sich alle in der ehemaligen Segellast eingefunden. Ragnar, Diethard und Ethan hatten ihre Säbel vorher wegen der Enge abgelegt. Clyde sah immer noch schweigend auf Ethan in seiner neuen Uniform.
„Bist du sicher, dass es das ist, was du willst? Du weißt, dass dein Leben von jetzt an ein völlig Anderes sein wird als das, welches du bisher kennengelernt hast.“
Ethan nickte feierlich.
„Ja, das weiß ich. Das habe ich im Laufe der letzten Tage schon mitbekommen. Ich habe lange mit Ragnar und Finn darüber gesprochen. Und dann hat Ragnar mir angeboten, als Offiziersanwärter anzufangen. Weil ich doch schon die Hälfte der Ausbildung hinter mir habe.“
Die Hälfte der Ausbildung? Dann dämmerte es Clyde, was Ethan sagen wollte. Ragnar hatte also die gleiche Idee gehabt wie er. Die Magier sollten eine komplette Ausbildung in Magie erhalten und eine komplette Ausbildung zum Offizier. Aber dann hätte er ja acht Offiziere in einer Einheit von sechzehn Mann. Wo gab es denn sowas? Diese Angelegenheit würde er auf jeden Fall erst mit dem Earl durchsprechen müssen, bevor sie offiziell wurde.
„In Ordnung. Lass mir nur ein bisschen Zeit, darüber nachzudenken. Wir haben unsere Aufgabe auch noch nicht ganz abgeschlossen. Wir müssen zuerst nach Caerdon und dort berichten.“
Leicht amüsiert bemerkte Clyde nun, wie Floris sich zögernd Ethan näherte und der ihn dann eng an sich zog. Sehnsüchtig eilten seine Gedanken zu Feliciano, der sicherlich schon auf eine Nachricht wartete. Auch die anderen hatten nachdenkliche Gesichter.
„Guckt nicht so traurig. Haben einige von euch nicht jemanden hier an Bord? Jetzt ist es Zeit, sie offiziell vorzustellen.“
Clyde grinste etwas bei dem Gedanken, war aber doch erstaunt, als Ragnar, Marion und auch Eldar sich erhoben und zur Luke gingen.
Ragnar kam, wie erwartet, mit Leon wieder und Marion mit Manuel. Eldar brachte jemanden mit, den Clyde nun gar nicht erwartet hatte. Jens Fiedler, der große, dunkelblonde Zimmermann der ESTRAY lächelte schüchtern in die Runde.
„Ihr schafft es jedes Mal, mich zu erstaunen. Aber nehmt ruhig Platz. Das wird nur eine kleine Runde zum Entspannen. Und zum Erzählen. Niemand wird gezwungen, etwas zu sagen, jeder darf sagen, was ihm einfällt.“
Der erste, der das Wort ergriff, war Diethard. Er schildert mit einfachen Worten das harte Leben in Arlemande und Frank nickte das eine ums andere Mal. Während der Erzählung waren etliche der Jungen und Männer näher zusammengerückt. Mario lag erwartungsgemäß neben Finn und neben Diethard lag lauschend einer der Zwillinge. Der andere hatte sich an Dian gelehnt, während Michael sich neben Frank gesetzt hatte. Zu Clyde kam Arje und kuschelte sich eng an ihn.
Der nächste in der Reihe war Finn und er erzählte, wie die Helden der Túatha deDannan auch heute noch das Leben auf der grünen Insel beeinflussten.
So verging der Tag und alle schliefen friedlich nebeneinander. Na ja, zumindest einige.
Als Clyde am nächsten Morgen an Deck kam, befand sich die ESTRAY bereits auf dem Tyne.
„Wann werden wir eintreffen?“
„Mit Glück am Mittag zum Wachwechsel. Wie willst du es denn machen? Offiziell oder heimlich?“
Clyde sah Thorben fragend an.
„Offiziell dürfen wir im Jachthafen festmachen. Dann heißt es aber auch Paradeuniform und so weiter. Heimlich könnten wir im Handelshafen unterschlüpfen und du gehst mit deinem schwarzen Umhang in den Palast.“
Clyde lachte unwillkürlich. Die Idee mit dem Umhang war nicht schlecht. Aber er würde eine gute Nachricht überbringen, also musste er sich wohl etwas herausputzen.
Clyde hatte sich für den Besuch im Palast für eine kleine Eskorte entschieden. Seine Wahl war dabei auf die Zwillinge gefallen. Sie würden, allein schon durch ihre Erscheinung eine gewisse Aufmerksamkeit erregen.
Als die ESTRAY angelegt hatte, strebten die drei Gestalten dem nächstgelegenen Tor zu. Nichts war mehr zu erkennen von den erst vor Kurzem hier stattgefundenen Kämpfen.
Sie wurden von der Torwache angehalten.
„Leutnant Cameron von den Scythe-Scouts. Ich habe eine Nachricht für den dritten Sekretär des Lordkanzlers.“
Die Wache ließ sie anstandslos passieren und sie begaben sich auf die Wanderschaft durch die labyrinthartigen Gänge des Palastes. Vor dem Zugang zum inneren Palast wartete bereits eine Gestalt in der Uniform der königlichen Leibgarde.
„Sir David. Ihr macht es euch zur Gewohnheit, einfache Besucher selbst zu empfangen?“
Sir David Owen grinste säuerlich.
„Nicht ganz. Ich habe den Auftrag, euch zunächst zu Jemandem zu begleiten, der sehr gerne eure Geschichte hören würde.“
Clyde seufzte. Das hatte er befürchtet. Die Ankunft der ESTRAY war nicht unbemerkt geblieben. Stumm folgten sie dem Hauptmann der Leibgarde bis zu den königlichen Gemächern. Vor einer der Türen mussten die Zwillinge dann warten, während Sir David hindurchtrat.
„Lord Clyde, Euer Majestät.“
„Wurde auch Zeit. Herein mit Ihm.“
Clyde betrat Ich es noch sagen. Hier ist niemand weiter. Nimm Dir so ein Ding, komm her und erzähl.“
Die Königin saß an einem wundervoll verzierten Schreibsekretär und wedelte mit einer Hand in Richtung einer Reihe von Polsterstühlen an der Wand. Umständlich setzte sich Clyde in einem entsprechend ehrerbietigen Abstand. Die Königin hob ein Schriftstück hoch und zeigte es Clyde.
„Kannst Du mir verraten, was das soll? Der Earl of Scythe teil mir mit ein paar wenigen Worten mit, dass eine kleine Gruppe von Magiern unterwegs sei, ein Beschwörungsritual zu unterbinden, dass in direktem Zusammenhang mit den Dunkelmagiern und dem Verrat des Herzogs von Elmet stehen würde. Wer diese kleine Gruppe von Magiern sein soll, habe ich mir schon denken können, besonders da die Nachricht von Scythe kommt. Also, wo seid Ihr gewesen und was ist passiert?“
Clyde holte tief Luft. Ihre Majestät war wohl etwas ungehalten. Dann begann er zu erzählen. Alle ihm bekannten Einzelheiten legte er dar, so wie sie sich im zeitlichen Ablauf ergeben hatten.
Über eine Stunde hörte die Königin schweigend zu, während sie öfter einmal ein paar Papiere auf ihrem Sekretär nervös hin und her schob.
Zum Ende hin schüttelte sie lediglich den Kopf.
„Ich brauche nicht zu sagen, dass dies alles der höchsten Geheimhaltung unterliegt. Es ist gut, dass der Tod des Herzogs von Grimauld auf See stattgefunden hat. So ist er schlicht ein Opfer des Seekrieges geworden. Wir dürfen das Wissen um diese Dunkelmagier nicht weiter in die Öffentlichkeit gelangen lassen. Und nun der Brief, bitte.“
Clyde erhob sich und wie schon einmal öffnete er seine Uniformjacke. Die Königin sah ihm lächelnd dabei zu. Ein hübscher junger Mann. Schade, dass er…
„Ah, ja. Danke sehr.“
Schnell überflog sie den Inhalt des Schreibens und nickte leicht.
„Jetzt habe ich dich am Arsch, Aristide,“ flüsterte sie, während Clyde erschreckt hochsah. Er hatte sie trotz der geringen Lautstärke verstanden.
Die Königin erhob sich und auch Clyde sprang auf.
„Dann wird Euch nichts anderes übrigbleiben, als Sir Sean die ganze Geschichte noch einmal zu erzählen.“
Clyde nickte bedauernd. Dann trat die Königin auf Clyde zu und gab ihm kurz einen Kuss auf die Wange.
„Danke, Clyde.“
Clyde erstarrte fast, doch dann verbeugte er sich und schritt hoch erhobenen Hauptes zur Tür hinaus.
ENDE
EPILOG
Caerdon Castle
Gespannte Neugier legte sich über die wenigen Zuschauer im Thronsaal des Palastes zu Caerdon. Ihre Majestät hatte zugestimmt, den Gesandten von Nassouwe, auf dessen eindringliche Bitte hin, außerhalb der üblichen Termine zu empfangen.
Im Gegensatz zu einer offiziellen Audienz waren nur wenige Personen anwesend, die meisten davon gehörten zum Thronrat.
Der Gesandte trat vor und verbeugte sich elegant vor der Königin.
„Ich danke eurer Majestät außerordentlich für die Gunst, zu solch ungewohnter Stunde empfangen zu werden.“
„Nun, Mijnheer Van Damme, was hat Euch veranlasst, um diese Gunst nachzusuchen?“
Der Gesandte schien nach Worten suchen zu müssen.
„Euer Majestät. Ein Emissär ist an die Regierung von Nassouwe herangetreten mit der Bitte, euch dieses Sendschreiben zu überbringen.“
Damit zückte er eine kleine Rolle, die mit einem versiegelten Band verschlossen war.
„Wir sind überrascht, dass die Regierung und ihr Generalkapitän es für notwendig erachten, Euch diese Nachricht überbringen zu lassen.“
„Jawohl, Majestät, es erscheint etwas seltsam. Doch es handelt sich um nichts weniger als um eine Nachricht von seiner Majestät, dem König von Herblonde.“
Königin Maeve konnte ihre Überraschung nicht gänzlich verbergen. Insgeheim hatte sie natürlich darüber spekuliert, ob die jüngsten Ereignisse Auswirkungen auf den Krieg mit Herblonde haben könnten. Aber mit einer so schnellen Nachricht hatte sie nicht gerechnet.
Der Lordkanzler trat vor und der Gesandte übergab ihm die Rolle, die er an die Königin weiterreichte. Nach einem flüchtigen Blick auf das Siegel wurde es erbrochen und die Königin las rasch den Inhalt der Nachricht.
Mit unbeweglichem Gesicht nickte sie dem Gesandten von Nassouwe zu.
„Wir danken euch, Mijnheer. Ihr habt Uns und Unserem Land einen großen Dienst erwiesen.“
Der Gesandte erkannte, dass seine Aufgabe erledigt und er damit entlassen war. Unter etlichen Verbeugungen zog er sich auch sofort zurück. Mit immer noch ausdrucksloser Miene sah die Königin in die Runde.
„Der Thronrat ist sofort einzuberufen.“
Die anwesenden Mitglieder des Thronrates sahen sich bezeichnend an. Sekretäre eilten davon, um die restlichen Mitglieder zu benachrichtigen. Die Königin erhob sich und strebte hinüber in das Beratungszimmer.
Sie hatte bereits Platz genommen, als der neue Schatzkanzler als Letzter eintraf.
„Meine Herren. Dieses hier,“ damit legte sie die Rolle, die sie im Thronsaal erhalten hatte auf den Tisch „ist ein Schreiben seiner Majestät König Aristide des XVI. von Herblonde an Uns. Damit wird seine Kriegserklärung auf eine Verkettung unglückseliger Missverständnisse zurückgeführt. Um die Beziehungen unserer beiden Länder nun zu entspannen und zu verbessern, lädt seine Majestät zu Verhandlungen über einen Waffenstillstand ein. Der bei einem zufriedenstellenden Ergebnis zu einem dauerhaften Frieden führen könnte.“
Vollkommen überrascht sahen die Mitglieder des Thronrates zu ihrer Königin.
„Was bedeutet das, Majestät? Woher auf einmal der Sinneswandel?“
„Ich weiß es auch nicht. Aber wir haben die Möglichkeit erhalten, endlich Frieden zu schließen.“
Ja, dachte sie. Natürlich weiß ich, woher der Wind weht. Aber das braucht niemand zu wissen.
Dann wandte sie sich an den Hofmarschall.
„Würdet Ihr dem Duke of Lonlothian eine Nachricht zukommen lassen? Und auch dem Earl of Scythe. Wir werden Euch den Wortlaut durch Unseren Privatsekretär mitteilen. Vielen Dank.“
Dann folgte ein Blick in die Runde.
„Wir überlassen es dem Marineminister, wer zu den Waffenstillstandsverhandlungen geschickt wird. Wir wünschen jedoch den Delegationsführer zu sprechen, bevor irgendwelche Verhandlungen aufgenommen werden. Noch jemand etwas?“
Als alle den Kopf schüttelten erhob sich die Königin und verließ mit eiligen Schritten das Beratungszimmer. Ihr nächstes Ziel war Sir Sean McAllister.
Scythe Castle
Die Rückkehr der ESTRAY von ihrer Unternehmung in Herblonde war unspektakulär. Einzig Thorben und Clyde waren in die Burg befohlen worden, um dort Bericht zu erstatten.
Aufmerksam verfolgten der Earl und der Lord-Lieutenant die Schilderungen über die Vorgänge. Nichts davon blieb unkommentiert und wurde genauestens dokumentiert.
Danach waren beide zum weiteren Dienst entlassen. In den nächsten Tagen gab es wieder einige Veränderungen. Alle Magier der Scythe-Scouts, bis auf Clyde, erhielten Aufforderungen, bei den unterschiedlichsten Leuten zu erscheinen. Clyde wunderte sich ein wenig, doch als er am Exerzierplatz der Scythe-Guards vorbeikam, blieb er verblüfft stehen.
Mehrere Reiter befanden sich auf dem Platz und bewegten ihre Pferde in einem leichten Galopp im Kreis. Mittendrin saß Leopold von Winterstein zu Pferde und beobachtete die Reiter.
Jetzt erkannte Clyde auch, wer da im Kreis gescheucht wurde. Dian, Marion, Ragnar und Diethard machten gar keine schlechte Figur hoch zu Ross. Clyde ging hinüber zu Leopold.
„Guten Morgen, Herr von Winterstein.“
„Ah, Lord Clyde. Schön Euch zu sehen. Der Unterricht macht gute Fortschritte. Noch ein paar Tage und die Haltung wird annehmbar. Die andere Hälfte eurer Truppe ist da schon erheblich weiter. Euer Bruder ist sogar ein exzellenter Reiter.“
Clyde war erstaunt. Nicht über Ethans Reitkunst, sondern darüber, wie wenig er doch erst von ihm wusste.
„Das ist erfreulich. Aber was ist mit den Scouts? Ich glaube, von denen kann nicht einmal die Hälfte vernünftig reiten.“
„Oh, auch das ist bereits vorgesehen. Ich habe mit Sergeant Beutler gesprochen. Er wird mit den Scouts den Reitunterricht machen, während ich die Magier in Taktik unterrichte.“
Clyde verabschiedete sich nachdenklich.
Anfang November wurde Clyde ziemlich früh geweckt. Er spürte eine Zunge, die sich an seinem Bauch herab arbeitete, den Bauchnabel geschickt umging und dann tiefer strebte. Sofort war Clyde hellwach. Doch er wurde in seinen Erwartungen enttäuscht. Lediglich ein einziger Kuss wurde ihm zuteil. Dann erschien Felicianos Gesicht wieder in seinem Blickfeld.
„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Kleiner.“
Clyde streckte sich wohlig, während sich Beide zu einem laaaaangen Kuss fanden.
Plötzlich piekte Feliciano Clyde in die Seite, so dass der zusammenzuckte.
„Auf, auf. Du hast Termine heute.“
„Was? Heute? Was für Termine?“
„Komm einfach mit.“
So einfach war das nun doch nicht. Zuerst waschen. (Dringend, nach der letzten Nacht). Dann Frühstück. Clyde wunderte sich, wo denn alle waren. Niemand außer ihnen Beiden schien im Haus zu sein.
Dann bestand Feliciano darauf, dass er seine Paradeuniform anlegte.
„Heute ist dein Geburtstag. Wie kann man denn da rumlaufen, als wäre es ein Tag wie jeder andere.“
Zu Clydes Entsetzen bestand Feliciano sogar darauf, dass er die zur Uniform gehörige Kopfbedeckung trug.
„Es ist kalt draußen, also bitte.“
Feliciano hatte sich ebenfalls in seine Paradeuniform geschmissen und so trottete Clyde hinter ihm her, immer noch nicht wissend, was das eigentlich alles sollte.
Schnell bemerkte er, dass ihn der Weg zum Schloss hochführte. Was wollte Feliciano denn da?
Als sie den Innenhof betraten, wurde es ihm auf einmal klar. Dort standen die Scythe-Scouts. Angetreten in ihrer Paradeuniform mit Kopfbedeckung. Im rechten Winkel dazu standen die Seesoldaten angetreten. Die dritte Seite hatten die Scythe-Guards besetzt.
An der offenen Seite des Rechtecks standen eine ganze Anzahl Leute, von denen Clyde die meisten auf Anhieb erkannte.
Feliciano klopfte Clyde kurz auf die Schulter und eilte dann zu seinen Seesoldaten. Hauptmann Havisham von den Scythe-Guards hatte das Kommando.
„Paradeaufstellung stillgestanden! Zur Meldung an den Earl of Scythe – Augen rechts!“
Es erfolgte die Blickwendung während nun der Earl aus dem Hintergrund nach vorne trat und von Hauptmann Havisham eine kurze Meldung entgegennahm. Dann ging er zu Clyde, küsste ihm überraschend ganz unzeremoniell auf die Wange und grinste.
„Dann komm mal mit.“
Clyde folgte Daniel Hansom, als er die Reihe der Soldaten abschritt. Als er am Ende angelangt war, trat der Earl in die Mitte des freien Platzes, immer noch gefolgt von Clyde.
Hauptmann Havisham kam wieder zum Einsatz.
„Augen gerade-aus. Paradeaufstellung, rührt Euch.“
Der Earl dankte mit einem Kopfnicken.
„Soldaten! Ladies and Gentlemen. Dieser heutige kleine Appell wird aus verschiedenen Gründen abgehalten. Einer dieser Gründe steht hier neben mir. Leutnant Clyde Cameron hat heute Geburtstag und wird achtzehn Jahre alt. Eigentlich kein großer Grund zu feiern, doch die Situation hat es ergeben, dass wir ihm heute gleich zwei Geschenke machen können. Kommen wir gleich zum Ersten. Sir Brian, bitte.“
Der Lord-Lieutenant trat vor und entrollte ein offiziell aussehendes Dokument.
„Im Namen ihrer Majestät, Maeve I., Königin von Britannica, Königin von Anglia, Herzogin von Glovia, Verteidigerin Britannicas, Beschützerin der Kaledonischen Inseln und Wächterin der Britannischen See, ergeht folgende Anordnung.
‚Wir geruhen, auf Grund der glänzenden Verdienste für Unser Land, den Scouts von Scythe den Ehrentitel eines königlichen Truppenteils zuzulegen. Ab sofort werden die Scouts of Scythe unter der Bezeichnung Royal Scythe-Scouts geführt werden‘.
Unterzeichnet Maeve I. Britannica Rex“
Clyde schnappte nach Luft. Das hatte er nun nicht erwartet. Doch da drehte sich der Earl wieder zu ihm. Hauptmann Havisham hatte seinen nächsten Einsatz.
„Paradeaufstellung stillgestanden!“
Diesmal zog der Earl ein erheblich kleineres Schriftstück hervor.
„Im Namen der Grafschaft Scythe ernenne ich den Leutnant der Scythe-Scouts, Clyde Cameron, zum Hauptmann der Royal Scythe-Scouts. Herzlichen Glückwunsch.“
Clyde bedankte sich, vollkommen überwältigt.
„Aber wir haben ja noch jemanden. Fähnrich Sutherland, vortreten!“
„Hier, Sir!“
Ethan trat vor den Earl, als hätte er die letzten Jahre nichts anderes geübt als militärischen Drill.
„Melde mich wie befohlen.“
„Im Namen der Grafschaft Scythe ernenne ich den Fähnrich der Scythe-Scouts, Ethan Sutherland, zum Leutnant der Royal Scythe-Scouts. Herzlichen Glückwunsch.“
„Vielen Dank, Sir.“
„Eintreten.“
Damit sah der Earl sowohl zu Ethan als auch zu Clyde.
Auf seinem Weg zu seiner Position vor den Scouts – den Royal Scythe-Scouts! – blickte Clyde nur in grinsende Gesichter. Sie hatten es alle gewusst. Na wartet!
Caerdon Castle
Der Lordkanzler Ihrer Majestät trat vor.
„Lords und Dames, Ladies und Gentlemen. Ihre Majestät, Königin Maeve I. von Britannica geruht, einen ihrer verdienstvollen Untertanen in den Stand eines Peers des Königreiches zu erheben.“
Es hatte sich in Windeseile herumgesprochen, was am Ende dieser Generalaudienz passieren sollte. Zahlreiche neugierige Gäste hatten sich eingefunden und starrten nun gebannt zum Thron
Die Königin erhob sich von dem erhöht stehenden Thron und trat zwei Schritte nach vorne.
„Clyde Cameron, tretet vor Eure weltliche Herrscherin.“
Clyde ging langsam die wenigen Stufen hoch und blieb etwa zwei Meter vor ihr stehen. Entsprechend ihren Wünschen und Befehlen trug er statt der für eine solche Zeremonie üblichen Roben einen Kilt und ein weißes Hemd. Die dazu gehörende halb offene kurze Jacke war durch eine Uniformjacke der Royal Scythe-Scouts im gleichen Schnitt ersetzt worden.
Der größte Bruch mit dem Protokoll und den Traditionen aber waren seine weithin sichtbaren spitzen Ohren.
Clyde hatte die Nachricht, die er von seinem Vater erhalten hatte, vollkommen überrascht. Was sollte das denn? Er war ein Halbelf! War sich die Königin nicht darüber im Klaren, was das bedeutete? Dann wurde er sich bewusst, dass sie sicherlich ganz genau wusste, was sie da tat. Die Sidhe ins Bewusstsein der Menschen zu rücken und ihnen einen rechtmäßigen Platz in dieser Gesellschaft zuzuweisen.
Aber dazu hätte sie doch nicht unbedingt ihn nehmen müssen.
Neugierig hatte er in einem doch recht dünnen Werk von Lord Runciman über die Adelstitel Britannicas geblättert. Zunächst einmal mussten die Titel nach ihrer Herkunft, das heißt, nach den unterschiedlichen Herzogtümern eingereiht werden. Clyde überblätterte die langstieligen Erklärungen. Aha, da war es, was er suchte.
Die Adelstitel von Lonlothian unterscheiden sich insofern von denen Anglias, als sie den Titel eines Baron nicht kennen. In Lonlothian wird ein Baron als ‚Lord‘ bezeichnet. Dies nicht etwa als Ehrentitel für einen jüngeren Sohn, sondern als ein Adelstitel aus eigenem Recht. Geführt wird der Titel mit dem Nachnamen des Geadelten. Die Titel eines Viscounts, Earl, Marquess und Duke bleiben in aufsteigender Reihenfolge gleich.
Und sein Vater hatte natürlich sofort zugestimmt. Nun, es war der Wunsch der Königin und der Titel war ja auch einer aus der Tradition Lonlothians.
Die Königin trat wieder langsam rückwärts an ihren Thron heran und setzte sich.
„Kniet nieder, Clyde Cameron of Cameron.“
Clyde beugte das rechte Knie.
„Wir, Maeve I., Königin von Britannica, Königin von Anglia, Herzogin von Glovia, Verteidigerin Britannicas, Beschützerin der Kaledonischen Inseln und Wächterin der Britannischen See, erklären Clyde Cameron vom Clan Cameron of Lonlothian zum nunmehrigen Lord Cameron als Lehensmann des Earls of Scythe.“
„Erhebt Euch, Lord Cameron.“
Clyde erhob sich, ging zum Thron und küsste den Ring der Königin. Dann zog er sich langsam rückwärts zurück bis zum Fuß der Stufen.
Ein Lehensmann des Earls of Scythe. Wie Sie das hinbekommen hatte, war ihm immer noch ein Rätsel. Die Grafschaft Scythe hatte, soviel er wusste, keine Lehen. Auf der Insel wäre auch viel zu wenig Platz für eine eigenständige Baronie. Außer Tarray gab es nur noch zwei weitere kleine Siedlungen, ansonsten nur noch Bauernhöfe.
Clyde schüttelte immer noch ungläubig seinen Kopf, als der Lordkanzler wieder vortrat.
„Die Einsetzung seiner Lordschaft findet in vierzehn Tagen in Scythe-Castle statt. Die Audienz ist beendet.“
Scythe Castle
An einem sonnigen Frühlingsmorgen erhielten Niccolo Partozzi und Leopold von Winterstein unabhängig voneinander eine Aufforderung, umgehend beim Lord-Lieutenant zu erscheinen.
Leopold traf Niccolo vor der Tür des Arbeitszimmers. Man hatte ihnen beschieden, einen Moment zu warten, denn der Lord-Lieutenant habe bereits Gäste.
Doch schon öffnete sich die Tür und Sir Brian persönlich sah heraus.
„Ah, da seid ihr ja. Kommt rein und macht die Tür zu.“
Leopold verschloss sorgfältig die Tür und wandte sich dann um. Vor dem Schreibtisch saßen bereits zwei Besucher, die sich nun erhoben und zu ihnen sahen.
Der eine war ein Mann mittleren Alters, wahrscheinlich so um die vierzig. Der andere war sichtlich jünger, aber doch wohl an die Dreißig.
Der ältere trug einen schwarzen Gehrock mit langen schwarzen Hosen und dazu eine schwarze Weste. Die ebenfalls schwarzen Haare führten zu einer etwas düstere Erscheinung, wie Leopold fand.
Der jüngere war deutlich freundlicher gekleidet, ebenfalls mit einem Gehrock, aber in dunklem blau. Dazu lange graue Hosen und eine helle, grüne Samtweste. Die Weste hatte die gleiche Farbe wie die Augen und passte hervorragend zu den rotblonden Locken.
„Sie gestatten, dass ich vorstelle. Dieser Gentleman ist Mister Andrew Duff, Barrister am Appellationsgericht von Lonlothian und unser zukünftiger High Sheriff.“
Der Herr in Schwarz nickte kurz mit dem Kopf.
„Der andere Gentleman ist Doktor Robert Hawkins. Der neue Coroner unserer Grafschaft.“
Doktor Hawkins lächelte breit, während Sir Brian fortfuhr und dabei auf Niccolo und Leo deutete.
„Diese beiden Herren haben wir für die Posten der Deputy Sheriffs vorgesehen. Niccolo Partozzi ist im Moment noch Leutnant der Scythe-Guards und hat bis jetzt die Untersuchung von Vorfällen begleitet. Leopold von Winterstein ist arlemandischer Kavallerieoffizier und hat eine gewisse Zeit mit Sir Sean McAllister zusammengearbeitet.“
Der Gentleman in Schwarz sah nun deutlich erfreuter aus. Er hatte etwas daran gezweifelt, ob der Lord-Lieutenant seinen Vorstellungen folgen würde und ob es auf dieser Insel überhaupt jemanden gab, der den modernen Methoden der Strafverfolgung etwas abgewinnen könnte.
„Aber setzen sie sich doch wieder. Ihr beide könnt euch die Stühle drüben vom Tisch nehmen.“
Wortlos zogen Niccolo und Leo los und setzten sich neben die Besucher.
„Warum ich euch so schnell herbestellt habe, ist eigentlich ein anderer Grund als lediglich der Austausch von Höflichkeiten. Wir haben da wieder einen unerklärlichen Vorfall.“
Nun hatte er die ungeteilte Aufmerksamkeit aller vier Besucher.
„Im Laufe der Zeit kommen eine ganze Anzahl von Menschen hierher nach Scythe. Die meisten von ihnen suchen Schutz vor den Anfeindungen der Gesellschaft, die sie auf Grund ihrer Vorlieben ausgesetzt sind. Es ist nicht einfach für diese Menschen hier auf der Insel, denn wir haben nur eine beschränkte Zahl von Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten. Jedes Mal, wenn Fremde anlanden, müssen sie sich beim Heuerbaas melden, der ihre Daten erfasst und ihnen eine Möglichkeit der Arbeit aufzeigt.“
Niccolo nickte automatisch. Diese Aufgabe erledigten in dem Büro inzwischen vier Leute. Sie erfassten, wer ankam und auch, wer für immer die Insel wieder verließ. Natürlich war diese Methode alles andere als lückenlos, doch immer noch die beste Lösung, die sie bisher gefunden hatten.
„Wer eine feste Arbeit gefunden hat und weiterhin hierbleiben will, muss sich hier im Schloss registrieren lassen. Er ist dann offizieller Bürger der Grafschaft Scythe.“
Nun nickte auch Leopold. Er hatte sich registrieren lassen und unterrichtete nun die Magier in Reiten, Taktik und Waffenkunde.
„Im Laufe der letzten vier Wochen gab es mehrere Meldungen von Arbeitgebern, dass ihre Arbeiter seit etlichen Tagen nicht mehr aufgetaucht seien. Erste Erkundigungen ergaben, dass sie auch an ihren üblichen Plätzen nicht gesehen worden sind.“
„Vielleicht haben sie die Insel verlassen?“
„Das wäre möglich, ja. Aber die letzte Anzeige kam von einem jungen Herrn, der seinen Partner vermisst. Und zwar schon seit einigen Tagen. Bis jetzt waren es nur Einzelpersonen, aber das jetzt jemand aus einer Partnerschaft vermisst wird, gibt mir zu denken.“
„Wieviel Personen werden denn insgesamt vermisst, Sir Brian?“
Der Lord-Lieutenant wandte sich dem designierten High Sheriff zu.
„Sieben. Alle im Alter zwischen sechzehn und zwanzig.“
„Und man hat auch keine Spuren, hm… Überreste gefunden?“
„Ihr denkt an einen Serienmörder? Nein, nichts dergleichen. Wenn ihr einverstanden seid, könntet ihr euch bitte um den Fall kümmern. Natürlich inoffiziell. Die beiden Herren werden euch zur Verfügung stehen, ebenfalls inoffiziell. Ein Büro ist bereits für euch vorbereitet. Der Sekretär draußen kann es euch zeigen.“
Andrew Duff lächelte leicht. Interessant. Also war der Lord-Lieutenant von der Tatsache ausgegangen, dass er zustimmen würde. Das tat er selbstverständlich.
„Vielen Dank, Sir Brian. Wenn die Herren mir folgen würden. Es gibt Arbeit.“
Das Büro war klein und anscheinend einige Zeit nicht genutzt worden. Trotzdem ließ Andrew Duff sich sofort hinter dem Schreibtisch nieder und studierte die Unterlagen, die ihm der Lord-Lieutenant gegeben hatte.
Leo und Niccolo organisierten sich von außerhalb ein paar Stühle, während Doktor Hawkins kopfschüttelnd mit dem Zeigefinger über staubige Oberflächen fuhr.
Als Leo und Niccolo mit den Stühlen wieder da waren, lehnte sich der designierte High Sheriff etwas zurück und sah von einem zum anderen.
„Es tut mir leid, aber eine ausführliche Vorstellung wird wohl etwas warten müssen. Diese sieben Fälle sind mehr als mysteriös. Die jungen Herren sind spurlos verschwunden, obwohl sie eine feste Arbeit und eine ordentliche Unterkunft hatten. Es wird wohl zunächst nichts anderes übrigbleiben, als die letzten Tage der Verschwundenen zu überprüfen.“
„Das ist kein Problem, Sir. Wenn sie uns die Unterlagen überlassen, haben wir bis heute Abend alles zusammen.“
Etwas überrascht überreichte Andrew Duff die Papiere. Dann machte er sich klar, dass er nicht mehr in Lonlothian war. Trotz aller Bemühungen konnten nur wenige Leute Lesen und Schreiben. Bei den Leuten vor ihm handelte es sich aber um Offiziere der regulären Truppen von Scythe. Nun, er würde etwas umdenken müssen.
Niccolo und Leo waren auf dem Weg in die Stadt und studierten die Unterlagen.
„Mit welchem fangen wir an?“
„Der hier. Der ist im ‚gerupften Gockel‘ gemeldet.“
Leo grinste. Niccolo suchte nur nach einer Möglichkeit, um Miles wiederzusehen.
Vor dem ‚gerupften Gockel‘ hielten sie an und Leo bemerkte mit einem leichten Lächeln, dass sich jemand mit dem Schild der Taverne richtig Mühe gegeben hatte. Der Gockel war tatsächlich bis auf ein paar Schwanzfedern nackt.
Drinnen sah es weniger nach Taverne, eher nach einem Restaurant aus. Es gab keine langen Tische oder Bänke. Alles war mit Tischen für höchstens sechs Personen und den entsprechenden Stühlen ausgestattet. An fast der Hälfte der Tische saßen bereits Leute und nahmen, soweit Clyde das erkennen konnte, unterschiedliche Formen von Frühstück zu sich.
„Der ‚Gockel‘ öffnet bereits mit Sonnenaufgang und serviert morgens ein breit gefächertes Frühstück. Da gibt es eine riesige Auswahl aus allen sieben großen Staaten. Alkoholische Getränke gibt es erst am Nachmittag. Mrs. Raynard ist da sehr streng. Oh, hallo Miles.“
Leopold sah sich erstaunt um. Warum war ihm dieses Haus entgangen? Nein, das Haus kannte er, auch die Bedienungen hier, aber zum Frühstück war er noch nie hier gewesen.
Niccolo begrüßte inzwischen Miles, der ihn erstaunt ansah.
„Wir sind dienstlich hier. Kannst du uns was über diesen Lucas Dubois, sagen, der hier gewohnt hat, oder auch noch wohnt?“
„Oh, der. Der ist schon seit vier oder fünf Tagen nicht mehr gesehen worden. Ist etwas passiert?“
„Ja. Meister Brenner hat ihn als vermisst gemeldet. Er ist die ganze Woche nicht zur Arbeit erschienen. Wir möchten gerne sein Zimmer sehen, vielleicht ist da ja ein Hinweis.“
„Oh, da muss ich erst Mrs. Raynard fragen. Einen Moment.“
Kurze Zeit später war Miles wieder da.
„In Ordnung. Wir können nach oben.“
Eine Etage höher waren die Zimmer der Gäste. Mrs. Raynard vermietete gerne langfristig, weil der tägliche Wechsel ‚Unruhe brachte‘, wie sie es formulierte.
Miles schloss das Zimmer auf und verabschiedete sich wieder nach unten. Leo und Niccolo sahen sich um. Leo sah auf den Zettel.
„Also, was haben wir hier. Lucas Dubois, siebzehn Jahre alt, kommt aus Herblonde. Hat eine Lehre als Schmied abgebrochen, als er Herblonde verlassen hat. Anstellung bei Meister Martin Brenner in der Büchsenmacherwerkstatt. Keine Bezugsperson auf Scythe angegeben.“
„Also der typische Siebzehnjährige mit dem Wunsch, auf Scythe zu leben. Er hat eine feste Anstellung und auch eine nette Unterkunft. Wo also ist er?“
Niccolo begann langsam die Sachen zu untersuchen, die etwas verstreut im Zimmer herumlagen. Jacke, Hose, Hemd und ein paar Strümpfe.
„Ist er nackt verschwunden?“
Leo schüttelte den Kopf.
„Glaub ich kaum. Er wird sicherlich einen zweiten Satz Bekleidung haben. Aber sieh mal, das sind hier ziemlich abgetragene Sachen. Der zweite Satz sind normalerweise die guten Sachen. Die Frage ist, wo wollte er so gut gekleidet hin?“
Niccolo lief etwas planlos in dem kleinen Zimmer auf und ab. Dann blieb er plötzlich stehen, machte einen halben Schritt zurück, dann wieder einen halben vorwärts.
„Die Diele quietscht. Hast du ein Messer?“
Leo zückte wortlos einen armlangen Dolch. Dann versuchte er die Diele aufzuhebeln, die Niccolo ihm zeigte.
„Schau, schau. Ein fleißiges Eichhörnchen. Das sind mindestens 50 Sovereigns. Woher hat er so viel Geld?“
Auch Miles konnte auf Nachfragen nichts dazu sagen.
„Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er immer pünktlich bezahlt hat. Viel getrunken hat er auch nicht. Es gab Tage, da war er länger weg, ist erst nach Hause gekommen, kurz bevor wir zumachen. Einmal kam er zu spät und da hat ihm Mrs. Raynard eine Standpauke gehalten.“
„Und sonst hatte er keine Bekanntschaften, Freunde, Beziehungen?“
Miles schüttelte nach längerem Nachdenken den Kopf.
„Nein, wie gesagt, er hat selten hier was getrunken. Nur einmal, da hab ich ihn mit Ray Miller hier gesehen. Na, Mrs. Raynard hat Ray dann auch gleich vor die Tür gesetzt. Randalierer fliegen hier immer ganz schnell raus.“
„Ach so? Wer ist dieser Ray?“
Niccolo seufzte und nahm Miles die Antwort ab.
„Ein stadtbekannter kleiner Randalierer. Plustert sich immer gerne auf, wenn er was getrunken hat. Nüchtern ist er ganz umgänglich. Gehört eigentlich zur Graywell-Farm. Das sind noch welche der alten Einwohner hier. Wusste gar nicht, dass der auf Jungs steht.“
Leo sah von Niccolo zu Miles.
„So kommen wir nicht weiter. Wir werden mal sehen, ob wir bei den anderen nicht etwas mehr erfahren.“
Sie verabschiedeten sich von Miles und wollten sich auf den Weg machen.
Draußen auf der Straße kamen ihnen eine kleine Gruppe schwarz uniformierter Soldaten entgegen. Leo hob grüßend die Hand.
„Hey, wo wollt ihr denn hin?“
Floris, Leon, Arje und Frank grüßten ebenfalls.
„Zum Schloss. Heute sind wir dran mit Mathematik für Artilleristen.“
Leopold grinste. Zum Glück brauchte er das nicht mehr zu machen.
In diesem Moment streckte Miles noch einmal seinen Kopf aus der Tür des ‚gerupften Gockels‘.
„Nicci? Mir ist noch was eingefallen. Einmal hat er Ray Miller mit auf sein Zimmer genommen. Da hat Mrs. Raynard der kleinen Ratte dann Hausverbot erteilt.“
„Danke, Miles.“
Die vier Scouts sahen erstaunt von Miles zu Niccolo.
„Was habt ihr denn gemacht?“
Leo klärte sie kurz über das Verschwinden der sieben Jungen auf. Alle schüttelten ratlos den Kopf, bis auf Frank. Der hatte plötzlich das Gefühl, als wäre da etwas, was er wissen sollte.
Jungs verschwinden – nein falsch. Jungs neu – nein, auch nicht. Neu, Arbeit, Ray – richtig, das wars!
„Na, neu hier in Tarray?“
Der junge Mann nickte.
„Ich komme aus Arlemande. Ich habe gehört, hier gäbe es gutes Geld zu verdienen.“
Die drei Männer am Tisch lachten meckernd.
„Kommt darauf an, was ihr machen wollt. Und was ihr gelernt habt. Die Werft sucht noch Arbeiter. Auch einige der Kaufleute hier. Oder aber, ihr bietet etwas mehr Persönliches, wenn ihr wisst, was ich meine.“
Der junge Mann errötete stark. Anscheinend wusste er, auf was die Männer anspielten.
„Ich hatte gehört, ein solches Verhalten sei hier verboten.“
„Nun ja, das ist es tatsächlich. Es gibt kein zugelassenes Bordell in der Stadt, aber dennoch hört man hier und da Gerüchte.“
Einer der drei Männer, anscheinend der jüngste, grinste den Neuankömmling jetzt an.
„Man muss nur wissen, wo…“
Plötzlich verstummte er und das lag offensichtlich an dem Tritt, den ihm sein Nebenmann verpasst hatte.
„Was Ray hier sagen wollte: Man sollte sich ein wenig auskennen in der Stadt. Wir könnten euch gerne etwas herumführen.“
„Ich hab’s!“
Alle starrten Frank an, als er laut herausplatzte, doch Frank sah Niccolo an.
„Sag mal, dieser Ray Miller, wie sieht der aus? Mitte Zwanzig, etwa so groß wie ich, dunkelblonde, halblange Haare, eine Schramme quer über der linken Wange und einen abgebrochenen Schneidezahn?“
Niccolo starrte Frank vollkommen erstaunt an.
„Ja, genau, das ist er. Kennst du ihn?“
„Nicht näher, hab‘ ihn nur einmal getroffen.“
Frank sah sich um, ob ihnen auch niemand zuhörte.
„Ganz am Anfang der Scouts, als wir hier nach einem Spion gesucht haben, bin ich im ‚Seehund‘ von drei Typen angequatscht worden? Die wollten wissen, ob ich neu bin und ob ich Interesse hätte, anschaffen zu gehen. Also, einer der drei war derjenige, den ich gerade beschrieben habe und die anderen haben ihn Ray genannt.“
Niccolo stutzte.
„Unerlaubte Prostitution? Das ist verboten…“
„Nein, ich würde sagen, Menschenraub mit Nötigung zur Prostitution, oder wie das auch immer heißt.“
Niccolo wurde blass.
„Etwa alle sieben? Wir müssen schnell etwas unternehmen.“
Leo grunzte abfällig.
„Dafür brauchen wir die Anordnung eines Richters. Wer kommt dafür in Frage?“
„Nun, zunächst der High Sheriff. Wo der im Moment ist, weiß ich gar nicht. Der neue ist noch nicht vereidigt. Dann die beiden Friedensrichter, die sind aber weit draußen zwischen den Dörfern. Zum Schluss noch Sir Brian als Lord-Lieutenant. Und natürlich Seine Lordschaft als Souverän der Grafschaft.“
Leo überlegte nur kurz.
„Ganz einfach. Wir haben die mündliche Anordnung des Earls auf Durchsuchung dieses Hofes, oder was auch immer es sein mag.“
Niccolo sah Leo mehr als skeptisch an.
„Aber… aber das geht doch nicht. Das können wir nicht machen.“
„Oh, doch. Können wir. Wo geht’s lang?“
Die vier Scouts folgten ihnen kommentarlos.
Dicht vor der Greywall-Farm suchten sie Deckung hinter einem der zum Schutz aufgerichteten Steinwälle. Das Hauptgebäude der Farm lag immer noch in absoluter Stille. Frank Beutler starrte misstrauisch hinüber.
„Merkwürdig. Normalerweise sollten sie unterwegs sein, Vieh füttern oder mit Arbeiten auf dem Hof beginnen.“
Frank sah sich suchend um und entdeckte eine Schafherde auf einer Grünfläche hinter sich.
„Arje, bring mal bitte den Schäfer her.“
Wie vermutet brachte Arje einen Jungen von etwa dreizehn oder vierzehn Jahren an, der die Gruppe erstaunt musterte.
„Hallo, ich bin Frank. Wie heißt du?“
„Ich bin Derik. Aber, seid ihr nicht von den Scouts?“
„Ja, sind wir. Woher weißt du das?“
„Nur weil ich hier draußen die Schafe hüte, heißt das nicht, dass ich blind oder blöd bin. Außerdem hat uns Sheanmhair Aoife davon erzählt. Dian ist doch auch bei euch.“
Frank musste unwillkürlich grinsen. Diese Insel barg so manche Überraschungen.
„Dann kannst du uns doch sicherlich etwas über die Farm dort drüben erzählen.“
Der Junge blickte etwas angewidert hinüber.
„Idioten. In letzter Zeit behandeln sie uns wie den letzten Dreck. Schmeißen mit Sovereigns um sich, als würden sie sie scheißen. Haben sich im Haus eingeschlossen und das Land ringsum verkommt. Die Äcker liegen brach, sind noch nicht einmal vorbereitet zur Bestellung.“
„Aber was machen sie da drinnen?“
Derik zuckte mit den Schultern.
„Weiß nicht. Nachts kommen Leute her und klopfen an der Tür. Kann mir schon denken, was sie dort treiben. Ich halte mich lieber fern. Ich hab keine Lust, dass jemand über meinen Hintern herfällt.“
Dann glitt sein Blick rasch die Reihe der Scouts entlang.
„Zumindest nicht jemand von denen.“
Floris grinste bei der kleinen Einschränkung, während Leo einen Entschluss gefasst hatte.
„Wir machen es folgendermaßen: Einer von uns geht auf den Hof und versucht, in das Haus zu kommen. Sobald die Tür offen ist, stürmen wir.“
„So wie wir aussehen, werden sie wohl kaum öffnen.“
„Genau, deshalb wird sich auch jemand verkleiden. Wer von uns sieht denn so am unschuldigsten aus?“
Leo war kaum überrascht, als fast alle Arje ansahen. Zugegeben, er war der jüngste und seine schlanke Gestalt mit den rotblonden Locken ließ ihn noch jünger aussehen.
„Also gut, Arje, du wirst mit Derik deine Sachen tauschen, wenn er einverstanden ist. Dann gehst du zum Hof. Erzähl ihnen meinetwegen, du hast von einem arlemandischen Reisenden gehört, hier gäbe es etwas zu verdienen.“
Arje sah Derik etwas skeptisch an, der noch etwas kleiner und schlanker war als er selbst. Dennoch legte er seine Sachen ab, genau wie Derik.
Die anderen sahen ihnen ungerührt zu und Floris grinste.
„Wer hat denn gerade behauptet, Arje würde unschuldig aussehen?“
Arje warf ihm einen bösen Blick zu und murmelte etwas, was nur Floris verstehen konnte. Etwas zweifelnd sah er an sich herab. Am Oberkörper trug er nun lediglich eine Weste aus Schafspelz. Die ohnehin kurze Hose von Derik war sogar ihm ein wenig zu eng.
Mit einem Rundblick erkannte Leo kopfschüttelnd, dass Arjes Anblick niemanden kalt gelassen hatte, selbst Derik nicht, der sich nicht damit aufgehalten hatte, dessen Sachen anzuziehen. Er würde seine in kurzer Zeit ohnehin wiederbekommen.
Arje machte sich auf den Weg zum Hauptgebäude und sah sich dabei neugierig um. Das Hauptgebäude war ein einzelnstehendes Gebäude aus Natursteinen mit einem einfachen Strohdach. Die hölzerne Tür sah neu und stabil aus. Arje klopfte. Nach einer Weile öffnete sich ein Sichtfenster und das Gesicht eines jungen Mannes erschien.
„Was willst du?“
„Ich habe gehört, ihr sucht noch Arbeiter.“
Der Mann am Sichtfenster machte eine deutliche Denkpause, während er seinen Besucher anstarrte.
„Warte hier.“
Das Sichtfenster wurde hörbar zugeschlagen und eine ganze Weile tat sich gar nichts. Frank hatte die Scouts inzwischen im Sichtschutz eines Steinwalls bis an den Hof herangeführt. Leise schlichen sie nun bis fast an die Tür heran, dicht an die Außenmauer gedrückt. Das Sichtfenster öffnete sich ein zweites Mal und nun war ein anderes Gesicht zu erkennen.
„Wer hat behauptet, wir suchen Arbeiter?“
„Ein Reisender aus Arlemande. Der Wirt vom ‚Seehund‘ hat gesagt, ihr würdet hier draußen wohnen.“
„Hm, das stimmt wohl, aber hat dir dieser Reisende auch gesagt, um was für eine Arbeit es sich handelt?“
„Oh, ja.“
Arje griff sich zwischen die Beine und fast sofort war eine ausgeprägte Beule zu erkennen, die fast die kurze Hose sprengte. Der Mann an der Tür riss erstaunt die Augen auf.
„Wenn das so ist…“
Man konnte hören, wie innen mehrere Riegel zurückgeschoben wurden und kurz darauf öffnete sich die Tür. Anstatt näher zu treten, machte Arje einen Schritt zurück und von beiden Seiten stürmten die Scouts durch die Tür, gefolgt von Niccolo und Leo.
Der Kampf dauerte nur wenige Augenblicke. Im Haus waren nur die drei Miller-Brüder und der eine an der Tür blickte nun wie erstarrt in eine Pistolenmündung. Der zweite, nur ein paar Schritte neben ihm, sah sich Niccolos Degen gegenüber und der dritte hatte es nicht geschafft, sich von seinem Stuhl zu erheben, als Leo ihn mit Hilfe eines gefährlich aussehenden Dolches überredete sitzenzubleiben.
„Was soll das? Das ist ein Überfall! Wir sind unbescholtene Bürger.“
Leo schüttelte den Kopf.
„Wir durchsuchen dieses Anwesen auf Befehl des Earls. Die Anklage lautet auf Menschenraub und verbotene Prostitution.“
Der älteste der Brüder stieß ein gezwungenes Lachen aus.
„Hier ist niemand weiter außer uns dreien. Wir gehen hier nur der Landarbeit nach.“
„Das haben wir gesehen, wie ihr hier arbeitet. Fesseln und ein Mann zur Bewachung!“
Methodisch wurden das Haus, die Scheune und auch die leeren Ställe durchsucht, doch ohne Erfolg. Arje, immer noch in den Sachen von Derik, sah zurück auf den Weg, den er gekommen war.
„Kommt mal mit, ich glaube, ich weiß, wo er ist.“
Ohne auf eine Antwort zu warten machte sich Arje auf den Rückweg und nur ein paar Meter neben der Steinmauer die das Grundstück begrenzte, deutete er auf eine hölzerne Luke im Boden, die mit etwas Stroh abgedeckt war.
„Was ist das denn?“
„Ein Wurzelkeller. Hier wird ein Teil der Ernte zum Überwintern eingelagert. Jetzt dürfte er allerdings leer sein.“
Es bedurfte zwei Mann, die schwere Luke anzuheben und als Niccolo hinuntergestiegen war, hörte man seine Stimme von unten.
„Hier ist jemand.“
Dann einen Moment später.
„Hey, hier sind noch mehr. Wir müssen den Lord-Lieutenant unterrichten.“
Die Wache am Schloss war mehr als überrascht, als angeführt von Niccolo eine ganze Gruppe von Leuten das Tor passierte. Bewacht von zwei Scouts erkannten sie die Miller-Brüder, die gefesselt und mit grimmigen Gesichtern vor ihnen her stolperten. Dahinter führten Leo und zwei weitere Scouts sieben junge Männer in ziemlich desolatem Zustand und sichtlich geschwächt.
Noch bevor der erste den Zugang zum Haupthaus erreicht hatte, wurde dort bereits die Tür aufgerissen. Der Lord-Lieutenant trat heraus, gefolgt von Mister Duff und Doktor Hawkins.
Schweigend sah der Lord-Lieutenant zunächst zu den sieben jungen Männern, dann zu den Miller-Brüdern. Niccolo trat vor.
„Sir Brian, ich melde sieben Vermisste befreit und Raymond, Richard und Randolph Miller verhaftet unter dem Verdacht der Entführung, Freiheitsberaubung und schwerer Körperverletzung.“
Sir Brian sah nun von Niccolo zu Leopold und dann zu den Scouts.
„Vielen Dank, Deputy Partozzi. Die Wache übernimmt die Festgenommenen. Die jungen Herren sollten wohl einem Heiler vorgestellt werden.“
Nun hob Doktor Hawkins eine Hand, um sich bemerkbar zu machen.
„Verzeihung, Sir Brian. Die medizinische Versorgung könnte ich übernehmen. Dabei kann ich auch gleich dokumentieren, ob die Herren irgendwelche Schädigungen während ihrer Gefangenschaft erlitten haben.“
„Ah, wenn das so ist, bitte sehr. Mister Partozzi und Herr von Winterstein begeben sich bitte in mein Büro. Ach so, die Scouts auch. Ich brauche alle Aussagen.“
Als die kleine Truppe an ihnen vorbeigezogen war, wandte sich der Lord-Lieutenant an Mister Duff.
„Nun, was halten sie von den beiden.“
„Ich muss sagen, ich bin beeindruckt. Ein unerwartet schnelles Ergebnis. Ganz ohne Folter, ohne Verletzte und Tote. Ich bin ebenfalls auf die Aussagen gespannt. Wer sind die Herren in den schwarzen Uniformen?“
„Oh, die gehören zu den Royal Scythe-Scouts. Sie werden sicherlich schon von Hauptmann Cameron und seiner Truppe aus Scouts und Magiern gehört haben. Die beiden Deputys haben schon öfter mit ihnen zusammengearbeitet.“
„Selbstverständlich. Das ist wahrhaft faszinierend. Ein Magier bei der Strafverfolgung wäre einmal eine völlig neue Idee.“
Sir Brian lachte.
„Da werden sie sich nicht nur mit Hauptmann Cameron, sondern auch mit dem Earl persönlich auseinandersetzen müssen. Auch wenn ich diese Idee gar nicht so schlecht finde.“
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