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Lodland
Teil 1
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Vorwort
Vorwort
Ich möchte hier den Versuch starten, einem meiner Lieblings-Pen-and -Paper-Rollenspiele ein wenig Leben einzuhauchen.
Die Welt, die hier geschildert wird, ist vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig, doch sie sollte auch ein bisschen zum Nachdenken anregen. Unser Klima geht zwar in eine andere Richtung als hier beschrieben, aber dennoch ist ein Eingriff in die Natur durch die Menschen die Ursache gewesen.
Die Handlung basiert hauptsächlich auf Abenteuern, die ich mit meiner Rollenspielgruppe absolviert habe. Zunächst ist es nur ein Abenteuer, das vielleicht fortgesetzt wird, wenn sich genug Zustimmung findet. Trotzdem viel Vergnügen unter Wasser.
Mondstaub
Die Welt unter Wasser
Im frühen 21. Jahrhundert sah sich die Menschheit mit dem Problem einer voranschreitenden Erderwärmung konfrontiert. Künstliche Treibhausgase sorgten für ein rasches Abschmelzen der Polkappen, wodurch sich Klima- und Hochwasserkatastrophen häuften. Da man der Treibhausgase nicht Herr werden konnte, wollte man stattdessen den Treibhauseffekt über seine natürlichen Komponenten regulieren. Darum entwickelten Forscher einen gentechnisch veränderten, auf dem Cyanobakterium basierenden Einzeller, der Kohlenstoffdioxid (CO2) in der Atmosphäre binden sollte.
Schon beim Pilotversuch mit geringen Mengen stellte sich jedoch heraus, dass sich der Einzeller entgegen den Prognosen in der Atmosphäre halten konnte und zudem eine deutlich schnellere Fortpflanzungsrate an den Tag legte, als erwartet. Der Versuch geriet außer Kontrolle und die Algen vernichteten binnen Monaten trotz zahlreicher Gegenmaßnahmen einen Großteil des CO2. Der Treibhauseffekt kam trotz der Treibhausgase zum Erliegen, weil auch das für den Effekt wichtige Wasser in der Atmosphäre an den Einzellern kondensierte und abregnete. Die Erde kühlte im Laufe einiger Jahrzehnte ab.
In der Anfangszeit versuchten die Regierungen der westlichen Welt, die für das Experiment verantwortlich zeichneten, das Ganze noch zu vertuschen, doch schließlich wurde offensichtlich, dass der Vorgang nicht mehr aufzuhalten war. Die Menschheit setze ihre Hoffnung in die Raumfahrt, doch der Versuch ins All zu flüchten, scheiterte kläglich. So begannen die Ersten, sich in den einzigen Lebensraum zurückzuziehen, der trotz Klimakatastrophe ein Fortbestehen versprach: die Weltmeere.
Während die Länder ihre Reichen und Eliten in Sicherheit brachten und dafür auch auf schon vor der Katastrophe errichtete Bauten (Forschungs- und Zuchtkuppeln) zurückgreifen konnten, wurden auf der Oberfläche verzweifelte Kriege um die immer knapper werdenden Lebensmittel geführt, bis es keinen mehr gab, der die Waffen hätte bedienen können.
Ein eisiger Wind ergriff Besitz von der Erde. [1]
Kevin Kerner langweilte sich. Der monotone Vortrag rauschte an seinen Ohren vorbei und nur manchmal hob er seinen Kopf, als der Professor der Rechtswissenschaften etwas erwähnte, was er glaubte, vorher noch nicht gehört zu haben.
„… ist und bleibt Diebstahl. Ein gesunkenes Schiff bleibt Eigentum des Eigners und die Fracht bleibt Eigentum eines eventuell vorhandenen Eigentümers, der den Frachtauftrag erteilt hat. Und zwar genau vier Monate lang. Gerechnet von dem Zeitpunkt an, an dem das Schiff als abgängig erkannt wird. Das ist bei den meisten der geplante Zeitpunkt des Eintreffens am Zielhafen. Erst nach Ablauf dieser viermonatigen Frist dürfen Schiff oder Fracht durch einen Dritten geborgen werden, der dann durch die Bergung sämtliche Rechte daran erwirbt.“
Kevin lehnte sich zurück. Also doch nichts Neues. Bergungsrecht war in mehr als einer Hinsicht tödlich langweilig. Zum Glück wurde der Vortrag durch den Pausengong unterbrochen und die Studenten konnten sich auf dem Gang vor ihrem Vortragsraum ein wenig die Beine vertreten oder im Klappenladen des Hausmeisters einen Snack ergattern.
„Das war ja wieder aufregend. Wie oft will er uns das denn noch erzählen?“
Kevin sah sich lächelnd um. Pam schien genauso begeistert zu sein wie er. Die platinblonde junge Frau war eine Austauschstudentin aus Scientia und versuchte immer noch, sich an Kevin ranzumachen. Dabei hatte er ihr schon wiederholt erklärt, dass er sich nichts aus Frauen machte. Dennoch ließ sie nicht locker und er versuchte immer, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
„Wart’s mal ab! Das kommt noch schlimmer. Gleich kommt der alte Gerber mit seinen noch älteren Seekarten. Da glaubst du gleich wieder, du bist im ersten Trimester.“
Die Antwort wurde Pam vom Pausengong abgenommen, der alle wieder in den Vortragsraum rief. Als letzter erschien Professor Gerber, der zur Erheiterung der meisten tatsächlich eine eingerollte uralte Seekarte unter dem Arm trug.
„Meine Damen und Herren, ich darf um ihre Aufmerksamkeit bitten. Nichts ist für ihre Ausbildung wichtiger als die Kenntnis der geografischen und geologischen Gegebenheiten des Gebietes, in dem sie sich zukünftig mit ihren Schiffen bewegen werden. Die Sonar-Ortungssysteme haben im Laufe der Zeit eine sehr detailgetreue Abbildung des Meeresbodens erzeugen können und somit bewegen wir uns da auf einigermaßen sicherem Terrain. Je näher wir allerdings den abgekühlten Landmassen kommen, desto schwieriger wird die Navigation. Genauso, wie es weniger ratsam ist, sich mit dem Schiff der Meeresoberfläche zu nähern.“
„Aber das Meer ist doch nicht zugefroren.“
„So möchte man meinen. Doch die Eisdecke, die sich langsam von den Kontinenten her über die See ausbreitet, ist seit ihrer Entstehung immer dicker geworden. Und die Vereisung schreitet langsam, aber stetig voran. Ich habe hier den neuesten Bericht des Forschungsschiffes QUAESTIO über eine Datenerhebung an der Meeresoberfläche.“
Jetzt hatte der Professor die volle Aufmerksamkeit aller Studenten. Die QUAESTIO war ein scientiantisches Forschungsschiff mit dem rund einhundert Wissenschaftler unterwegs waren, um die Meere zu erkunden.
„Die Daten sind nicht sehr zahlreich, aber dafür auch wenig überraschend. Die durchschnittliche Temperatur über dem Meer beträgt minus zwölf Grad Celsius. Es herrschen dort Windverhältnisse von 100 bis 120 Knoten. Die bathythermografischen Untersuchungen ergaben einen starken Einfluss der Oberflächentemperatur auf die oberen Wasserschichten. Fast alle Lebewesen haben sich auf mehr als hundert Meter zurückgezogen. Die Meeressäuger werden im Laufe der Zeit ihre Möglichkeiten verlieren, zu ihrer Atemluft zu kommen.“
Etliche der Studenten sahen sich betroffen an. Ein solches Szenario war zwar theoretisch besprochen worden, doch die letzten Forschungsergebnisse machten daraus eine reale Bedrohung.
„Hier,“ damit rollte der Professor die Karte aus,
„können sie sehen, wie stark unser Lebensraum bereits bedroht ist. Die Kuppeln der fünf Staaten, die dicht an einem der Kontinente errichtet wurden, liegen fast alle unter einer Eisschicht, welche die größten Temperaturschwankungen abhält. Arbiträa und die Union Nordischer Länder hingegen, hier auf dem atlantischen Rücken, haben viel mehr Probleme. Besonders die UNL, denn deren Kuppeln befinden sich in Wassertiefen von 250 bis 350 Metern.“
Kevin nickte automatisch. Die Tiefenangaben bezogen sich auf die Grundfläche der Kuppeln. Lod 2 zum Beispiel, die größte der Kuppeln Lods, hatte eine Höhe von 242 Metern, wobei sich Ebene 0 bei 367 Metern befand. Ebene 50 war also nur noch 125 Meter von der ehemaligen Wasseroberfläche entfernt.
Kevin sah erneut zu der uralten Karte nach vorne. Sie war noch aus Papier gefertigt, eine wirklich wertvolle Rarität. Sein Großvater besaß ebenfalls noch einige Bücher aus diesem Material.
Arbiträa, die UNL, Scientia, Lod, Stawa, der BFS und Kobe-Uppland. Alle sieben Mitglieder des RDL, des Rates der Länder, waren eingezeichnet, aber offensichtlich erst nachträglich. Kevin fragte sich, wie alt die Karte tatsächlich sein mochte.
Der Gong ertönte ein weiteres Mal, doch diesmal kündigte er das Ende der heutigen Vorlesungen an. Kevin sprang auf und strebte wie die anderen in Richtung Ausgang. Er wunderte sich doch etwas, dass man sie nach ihren Abschlussprüfungen hier immer noch mit Vorlesungen traktierte, die keinen mehr wirklich interessierten.
„Kommst du mit zu der Feier? Wir lassen mal so richtig den Hai raus.“
Kevin schüttelte den Kopf. Mike Schrader war ein ungehobelter Klotz und er wollte ihn ungerne mit besoffenem Kopf erleben. Der nickte bloß, als hätte er eine solche Antwort erwartet.
„Und was machst du heute Abend so, wenn die anderen trinken?“
Kevin seufzte und wandte sich Pam zu.
„Ich werde mich ebenfalls amüsieren, aber bestimmt nicht zusammen mit denen. Mike und seine Saufkumpane fahren doch bestimmt runter ins BFS.“
Pam Schüttelte sich leicht angeekelt. Runter – das bedeutete, nach Lod 5.
Etliche Jahre nachdem die drei ursprünglichen Kuppeln Lods fertiggestellt worden waren, hatte man diese mittels einer gewagten Konstruktion miteinander verbunden. Ungeachtet der unterschiedlichen Kuppelhöhen hatte man stählerne Wände gezogen, die in einer gedachten Linie die Zentren der drei Kuppeln verbanden. Damit entstand ein unregelmäßiges Dreieck mit einer schrägen Decke, in das alle drei Kuppeln zum Teil hereinragten. Der innere Teil wurde nun ausgebaut und bekam die Bezeichnung Lod 4.
Als auch dieser Platz zu eng wurde, griff man zu einer noch radikaleren Lösung: Man baute in die Tiefe. 50 Meter unter dem Meeresboden wurden begonnen, sich Etage für Etage weiter in die Tiefe hinunterzubewegen. 94 Ebenen entstanden auf einem Grundriss von 1.500 mal 1.500 Metern und niemand ahnte, dass dort einmal 2 Millionen Menschen leben und arbeiten würden.
Lod 5 war entstanden und mit den Ebenen entstand auch eine soziale Schichtung. Lebten in Ebene 1 oder 2 noch angesehene Arbeiter in annehmbaren Quartieren, so war ab Ebene 50 von menschlichen Bedingungen nicht mehr die Rede. Und ab Ebene 70 regierte nur noch die nackte Gewalt.
Nichtsdestotrotz schien dieses Umfeld bis zu den mittleren Ebenen Touristen aus den Kuppeln oder anderen Ländern anzuziehen. Das ging so weit, dass sogar reiche Lodt mit Leibwächter anreisten, um dort Kneipen oder Discos zu besuchen. So auch das BFS auf Ebene 39. Es trug in Verballhornung der staatlichen Bezeichnung ‚Bund Freier Städte‘ den Namen ‚Bund Furchtbarer Säufer‘.
„Und wo willst du hin?“
„Ins ‚Hole in One‘.“
Pam warf ihm aufseufzend einen undefinierbaren Blick zu. Das ‚Hole in One‘ war eine der angesagtesten Schwulen-Discos von ganz Lod. Angesiedelt in Lod 3, hatte sich rund um diese Disco eine kleine Szenemeile etabliert.
„Ich komme mit.“
Kevin sah Pam vollkommen erstaunt an.
„Was willst du da? Die Kerle sind alle schwul und du wirst höchstens von einer Lesbe angemacht.“
„Ich komme trotzdem mit. Wann macht der Laden auf?“
„Um zehn, aber sei eine halbe Stunde früher da. Die Schlange könnte lang werden.“
Pam lächelte ihn zuckersüß an und Kevin fragte sich, ob sie nicht irgendetwas falsch verstanden hätte. Doch dann schüttelte er seinen Kopf. Sie sprach auf jeden Fall besseres Lodt als viele andere Scientianer oder auch eine Lodt selbst, was das betraf. Sein scientianisch war lange nicht so gut.
Das Stampfen der lauten, harten Musik war hier oben auf der Empore etwas erträglicher als unten, direkt vor den riesigen Boxen. Dort auf der Tanzfläche drängten sich die überwiegend halbnackten Leiber der Tänzer aneinander, bewegten sich zum Takt der Musik und wurden von der grellen zuckenden Lichtern aus dem Halbdunkel gerissen. Der größte Anteil der Gäste strebte allerdings hinüber zur Bar wo sich jetzt schon zwei Reihen drängelten.
Kevin wandte sich vom Anblick der Tanzfläche hinüber zu einer der babyblauen Dreier-Sitzgruppen, wo Pam schon schmollend auf ihn wartete. Sie hatte sich ihm freiwillig angeschlossen, ja geradezu aufgedrängt, schien sich aber nicht besonders zu amüsieren.
"Du solltest vielleicht auch etwas tanzen?"
Pam bedachte Kevin mit einem langen Blick schräg von der Seite.
"Ach, ich weiß nicht. Zwischen den ganzen Kerlen. Und nutzen tut es ja doch nichts."
Bevor sie weiterreden konnte, erschien einer der Kellner. Ein freundlicher junger Mann, lediglich mit einer langen dunklen Hose und einer Fliege um den Hals bekleidet. Zögernd entschied sich Kevin für ein alkoholfreies Bier aus der Ersätning-Reihe. Das war zwar teurer, schmeckte aber erheblich besser als das einheimische Zeug.
Als der Kellner mit der Bestellung den Tisch verließ, sah ihm Pam seufzend nach.
"Warum müssen die ganzen hübschen Kerle eigentlich alle schwul sein?"
Kevin sah etwas genervt an. Ging das schon wieder los.
"Erstens, meine Liebe, ist der Kellner vielleicht gar nicht schwul, sondern er arbeitet hier nur. Zweitens sind nicht alle hübschen Jungs schwul, leider, wie ich zugeben muss. Und drittens, warum kommst du hier her, wenn du dich doch nur darüber aufregst."
Er wusste ganz genau was jetzt folgen würde und tatsächlich klagte Pam wieder ihr tägliches Leid, warum sie wohl keinen hübschen Jungen abkriegte. Kevin wäre ja ihre erste Wahl gewesen, doch der… der konnte es schon fast nicht mehr hören.
So oft wie er diesen Text schon gehört hatte, schaltete er auch jetzt wieder ab und ließ seinen Blick herumwandern. Das ‚Hole in One‘ war zwar die angesagteste Schwulen-Disco in ganz Lod, doch fand man hier nur die Leute, die es sich auch leisten konnten.
Kevins Blick blieb an einem jungen Mann hängen, der betont lässig an einer der Säulen neben der Bar lehnte. Schon mehrere Male war ihm der Typ mit dem halb offenen, weißen Hemd und der dunklen Hose aufgefallen, der den ganzen Abend scheinbar unbeteiligt das Gewühl auf der Tanzfläche beobachtete. Nicht ein einziges Mal hatte er ein Glas in der Hand oder hatte sich auch nur der Bar genähert. Kevin ahnte den Grund und erhob sich, so dass der Monolog zu seiner Linken verstummte.
"Wo willst du hin?"
"Tanzen."
Pam zuckte mit den Schultern und saugte geräuschvoll an ihrem Cocktail.
Kevin steuerte erst die Bar an, schwenkte dann aber in Richtung der besetzten Säule. Dicht hinter dem fremden Jungen blieb er stehen.
"Möchtest du tanzen?"
Ruckartig drehte sich der Angesprochene um und Kevin sah in weit aufgerissene, erschrockene, braune Augen.
"Entschuldige bitte, dass ich dich erschreckt habe. Ich bin Kevin und ich habe dich hier stehen sehen, da dachte ich, du würdest gerne tanzen."
Sein Gegenüber nickte nur und sie gingen langsam zur Tanzfläche, wo sie im Gewühl der anderen Paare verschwanden.
Pam hatte die kurze Szene verfolgt und seufzte nun noch lauter. Hektisch saugte sie an ihrem Cocktail und winkte dann aufgeregt dem Kellner.
Eine Stunde auf der Tanzfläche und drei Cocktails in der Sitzecke später kam Kevin mit dem fremden Jungen im Schlepptau herüber. Pams Gesicht glühte sowohl vor Neugier als auch vom Alkohol.
"Das ist Pam, eine Freundin von mir und das ist Tim."
"Hallo."
"Hi. Na, das freut mich aber, dass Kevin jemanden zur Unterhaltung gefunden hat. Ich fürchte, es ist Zeit für mich zu gehen."
Sprach's, stand auf und schwankte Richtung Ausgang. Tim sah ihr erstaunt hinterher.
"Was war denn das?"
Kevin war konsterniert. So hatte er Pam noch nie erlebt. Was war denn plötzlich in die gefahren?
"Es tut mir leid, ich weiß nicht, was mit ihr los ist. Aber wir werden schon noch einen schönen Abend haben."
Der Abend, oder besser die Nacht war wirklich sehr schön geworden. Sie hatten getanzt, etwas getrunken und sich geküsst. Es war so anders gewesen, anders als sonst mit... Tim schreckte aus seinen Gedanken auf, als die Ansage im PTIS ertönte. Die Monorailbahn lief in die nächste Station ein.
Der gesamte Personenverkehr in Lod lief entweder über die als PTIS – Personentransport im Schienenverkehr – bekannte Bahn oder über die als PTIV – Personentransport in der Vertikalen – bezeichneten Paternosteraufzüge.
"Nächste Haltestelle: Lod 1 Zentralplatz. Hinweis: Unbedenklichkeitsbescheinigung erforderlich."
Tim schüttelte sich, um die Müdigkeit zu vertreiben und sah erstaunt hoch, als Kevin aufstand.
"So, hier müssen wir raus."
"Was, willst du mich verarschen? Du wohnst doch nicht in der Goldkuppel?"
"Wirst ja sehen."
Kurz entschlossen zog Kevin Tim hoch und durch die sich zischend hinter ihnen schließenden Türen des PTIS. Die Bahnstation war leer, abgesehen von den vier Polizisten des Department 1 vor dem Drehkreuz, das in die Goldkuppel führte, wie Lod 1 von fast allen Lodt liebevoll oder auch abfällig genannt wurde. Kevin steuerte unbekümmert auf den Durchgang zu.
"Guten Tag, mein Name ist Kevin Kerner. Ich benötige eine 24-Stunden Besucherbescheinigung für meinen Begleiter."
Der vordere der Polizisten nickte nur und nahm Kevins BID entgegen die er in ein Lesegerät steckte. Ein leichtes Lächeln huschte über sein Gesicht.
"Vielen Dank, Herr Kerner. Nun ihr Begleiter."
Zögernd reichte Tim seine BID. Als diese in das Lesegerät gesteckt wurde, ertönte in leises Piepen und alle vier Polizisten richteten ihre geballte Aufmerksamkeit auf Tim. Auch Kevin hatte das Piepen und die Reaktion der Polizisten bemerkt.
"Was ist los?"
"Ich fürchte, wir haben da ein kleines Problem."
Wieder ein langer Blick auf Tim, dann zurück auf Kevin.
"Warum, was ist los?"
"Nun, ihr Begleiter hat einen Eintrag der Kategorie 3B auf seiner BID."
"Und das heißt?"
Tims Kopf ruckte hoch, seine Wangen waren gerötet und die Stimme war leise.
"Das heißt, dass ich der gewerblichen Prostitution nachgehe."
Kevins Augenbrauen ruckten in die Höhe, um nur eine halbe Sekunde später wieder in ihre Ausgangslage zurückzufinden.
"Wir haben nie über Geld gesprochen," flüsterte er Tim zu.
Dieser schien verwirrt, aber dann verstand er.
"Hätten wir auch nie. Dies ist meine Freizeit. Dies ist mein Privatleben, nicht meine Arbeit."
Kevin straffte sich und wandte sich wieder dem Polizisten zu.
"Ist dieser Eintrag ein Hindernis für eine Besucherbescheinigung?"
"Nein, eigentlich nicht. Wir sind nur verpflichtet, jeden Residenten vor Ausstellung einer Besucherbescheinigung auf den Eintrag hinzuweisen und sie müssen auch für die Kenntnisnahme quittieren."
Kevin seufzte innerlich, nickte aber nur.
"Nun denn. Wo muss ich drücken?"
Kevin presste schwunghaft seinen Daumen auf das Signierfeld und damit waren beide dann entlassen.
Am nächsten Morgen erwachte Kevin mit dem unangenehm bedrückenden Gefühl des Eingeengtseins. Als er versuchte sich umzudrehen, bemerkte er einen Arm, der sich über seine Seite gelegt hatte, und einen Kopf, der sich an seinen Halsansatz schmiegte. Wohlig überließ er sich der Erinnerung an die vergangene Nacht.
Auf dem kurzen Weg von der PTIS-Station bis zu seiner Wohnung hatte er überlegte, was genau er für Tim empfand. Er kannte ihn doch überhaupt nicht, wusste nichts von ihm. Die wenigen spärlichen Informationen musste ihm ausgerechnet Department 1 geben. Na ja, wer gibt auch schon gerne zu, dass er auf den Strich geht. Jemand der auf Geld aus ist, aber das war Tim möglicherweise gar nicht. Sein Verhalten am gesamten Abend hatte eine ganz andere Seite gezeigt.
Kevin kuschelte sich noch ein wenig mehr an Tim und versuchte noch ein wenig zu schlafen, als er Geräusche aus der unteren Etage der Wohnung vernahm. Unten hatte sein Großvater seine Räume und wenn der schon wach war, hatte Kevin eine der seltenen Gelegenheiten, mit ihm in Ruhe zu reden.
Vorsichtig befreite Kevin sich aus Tims Umarmung und tappte hinüber zur Nasszelle. Nach dem Besuch auf der Toilette kam der Kurzaufenthalt in der Dusche. Nur mit Shorts und T-Shirt bekleidet trabte Kevin die kurze gebogene Treppe hinunter in die untere Etage.
Die riesige, über 90 qm große Wohnung über zwei Etagen war fast Standard hier in der Goldkuppel, während anderenorts die Leute mit einer ganzen Familie auf 30 Quadratmetern auskommen mussten.
Sein Großvater saß bereits an der Küchenzeile und verfolgte beiläufig die neuesten Nachrichten auf der Bildschirmwelle Lod, die gerade über den Schirm flimmerten. Als er Kevins nackte Füße auf den beheizten Marmorfliesen hörte, drehte er sich um und lächelte seinen Enkel an.
"Du hast einen Gast mitgebracht?"
"Woher weißt du?"
"Nun, ihr wart nicht grade leise dort oben."
Kevin verfluchte sich innerlich, dass er mit einundzwanzig immer noch so rot wurde wie mit vierzehn. Der Gedanke, dass sein Großvater sie beide gehört hatte, war ihm doch etwas peinlich. Abgesehen davon, dass sein Großvater sich nicht daran störte, was sie dort oben trieben.
Eigentlich war er es sogar gewesen, der Kevin ermuntert hatte, sich eher nach einem Jungen als nach einem Mädchen umzusehen. Oder um genau zu sein, sein Großvater lebte ihm dieses Beispiel schon vor, seit er denken konnte.
Unauffällig schielte Kevin hinüber zum Schlafabteil seines Großvaters. Die Schiebetür war geschlossen, das konnte alles Mögliche bedeuten.
"Die gute Frau Kuberski lässt sich aber Zeit heute."
Kevins Blick ruckte hinüber auf die Nachrichtenanzeige zur Uhrzeit. Nun ja, eine gute halbe Stunde war Frau Kuberski überfällig. Sie hätte eigentlich die Einkäufe mitbringen und sich dann um Frühstück und Mittagessen kümmern sollen. Danach würde sie die Wohnung aufräumen und morgen früh wieder pünktlich erscheinen. Irgendetwas schien ihr dazwischen gekommen zu sein.
"Ich geh mal nach oben Tim wecken."
Kevin trabte die Treppe wieder nach oben und ging hinüber in sein Schlafabteil. Tim hatte sich auf dem breiten Bett zusammengerollt und schlief friedlich und entspannt.
'Eigentlich fast zu schade ihn zu wecken. Er sieht so süß aus. Süß? Kevin Kerner, du hast doch echt nicht alle Bolzen am Schott‘.
Wie kam er jetzt auf diesen Gedanken? Sicherlich, die Nacht war ziemlich stürmisch gewesen und der Sex mehr als ausdauernd. Doch das war es nicht, was Kevin beschäftigte. Aufseufzend gab er Tim einen Kuss auf die Wange und arbeitete sich mit vielen weiteren kleinen Küssen langsam in Richtung Süden vor. Kurz vor dem Bauchnabel hielten ihn zwei Hände auf.
"Hallo, Großer. Das wird doch wohl nicht etwa das, was ich erhoffe?"
"Nein, mein Kleiner. Ich komme nur zum Wecken. Es gibt gleich Frühstück. Ab unter die Dusche!"
Langsam schälte sich Tim aus dem Bett und ging hinüber zur Nasszelle. Kevin sah ihm erneut aufseufzend hinterher. Liebend gerne hätte er die Strecke der Küsse fortgesetzt. Der Junge war echt niedlich. Darum hat er ja wohl auch diesen Job. Kevin schüttelte den Kopf. Mit dieser Problematik wollte er sich nicht am frühen Morgen beschäftigen.
Während Tim duschte, suchte sich Kevin etwas Ansprechendes zum Anziehen für den heutigen Tag heraus. Er hatte sich vorgenommen, mit Tim etwas durch Lod 1 zu flanieren.
Tim kam vom Duschen wieder und Kevin hätte beinahe alle Pläne über den Haufen geworfen, als er Tims nackten Körper sah. Doch der griff zu seinem Bedauern wieder zu seinen Sachen.
„Das willst du doch nicht noch mal anziehen, oder?“
Tim betrachte nachdenklich seine Bekleidung. Sie hatten in der Nacht viel getanzt und geschwitzt. Er versuchte unauffällig an seinem Hemd zu riechen.
„Hier hast du was.“
Tim ruckte herum, als zwei kleine Bündel auf ihn zuflogen. Das eine war eine Unterhose und das zweite stellte sich als Hemd heraus.
„Die Unterhose ist mir inzwischen etwas zu klein, müsste dir aber passen. Kannst du gerne behalten. Das Hemd sollte so gehen. Nur eine Hose hab ich leider nicht.“
Tim sah erstaunt zu Kevin und dann zu den Sachen in seiner Hand. Die Unterhose war knallrot und er fühlte einen fast seidigen, glatten Stoff, der ihm vorher noch nie untergekommen war. Und er hatte schon so manche Unterhose gefühlt und erlebt.
„Damit sehe ich aus wie ein uppländischer Leuchtfisch.“
„Die sieht doch keiner – außer mir natürlich. Oder?“
Tim sah Kevin nachdenklich an, dann zog er die Unterhose an. Passte genau und gab ihm ein unbeschreibliches Gefühl auf der Haut. Spontan drehte er sich zu Kevin.
„Nein. Die bleibt für mich privat reserviert.“
Schweigend zog er sich weiter an und Kevin überlegte, ob die letzte Äußerung wohl einen verborgenen Sinn trug, oder nur so dahingesagt war.
Als beide fertig waren, führte Kevin Tim hinunter in den unteren Wohnbereich. Kevins Großvater saß immer noch vor dem Bildschirm, und verfolgte interessiert die täglichen Börsennachrichten.
"Großvater, ich möchte dir Tim vorstellen. Tim, das ist Halldur Harms, mein Großvater."
Halldur stand von seinem Hocker auf, musterte Tim eingehend und streckte ihm dann die Hand entgegen. Tim musste ein wenig aufblicken zu der großen, imposanten Gestalt mit den weißen Haaren und dem gestutzten Vollbart. Das mit den Haaren schien nicht altersbedingt, sondern Vererbung zu sein, denn Kevin hatte die gleichen weißblonden Haare – ohne Vollbart natürlich.
"Herzlich willkommen. Ich freue mich, dass Kevin endlich einmal jemanden mit nach Hause gebracht hat. Aber haben wir uns nicht schon einmal irgendwo gesehen?"
Jetzt war der Moment der Wahrheit gekommen. Tim hatte den Mann selbstverständlich schon mehrere Male gesehen. Immer als Kunde in Roberts Escort Service. Er selbst war noch nie von ihm ausgewählt worden, der Kunde schien mehr auf diese muskulösen stawischen Simon-Typen zu stehen. Aber erkannt haben musste er ihn auf jeden Fall.
"Möglicherweise, vielleicht geschäftlich bei Robert?"
Halldur lachte. Natürlich hatte er den Jungen erkannt. So groß war die Auswahl an jungen Herrn bei Robert nun doch nicht. Trotzdem konnte er nicht ganz glauben, dass Kevin zu einem Begleit-Service gegangen war, um jemanden "abzubekommen".
"Keine Angst. Kevin weiß, wohin ich gehe, um ein bisschen Abwechslung zu haben. Aber ich hatte nicht vermutet..."
"Nein, nein. Wir haben uns in der Disco kennen gelernt. Ich habe heute frei, bin sozusagen privat unterwegs."
"Na, dann. Das kann ja interessant werden. Ich hätte euch beiden ja gerne ein Frühstück angeboten, aber irgendetwas scheint Frau Kuberski aufgehalten zu haben."
Wie auf ein Stichwort klingelte es an der Tür. Alle drei sahen sich an, dann zuckte Kevin mit den Schultern und ging zur Tür, um zu öffnen. Draußen stand ein junger Mann, etwa siebzehn oder achtzehn Jahre alt in dunkler, leicht abgetragener Bekleidung und in jeder Hand eine Einkaufstüte.
„Fabi? Was machst du denn hier?“
"Hallo, Kevin, meine Mutter kann im Moment nicht, da hab ich die Sachen besorgt. Darf ich reinkommen?"
"Ja klar, komm rein. Wir haben uns schon gewundert, wo deine Mutter geblieben ist. Aber wenn du was Gutes mitgebracht hast, ist das schon in Ordnung."
Fabian ging hinüber zur Küchenzeile und packte seine Tüten aus. Routiniert begann er ein Frühstück zuzubereiten, währenddessen erzählte er kurz von zu Hause.
"Der Alte hat mal wieder ein paar Kumpel getroffen und ist wahrscheinlich versackt. Jedenfalls war er heute Morgen nicht da und meine Mutter musste ja irgendwie den Laden aufmachen. Ich hab‘ ihr gleich gesagt, dass ich das nicht mache. Mit den ganzen alten Säufern und den tratschenden Weibern will ich nichts zu tun haben."
Tim flüsterte Kevin etwas zu. Kevin nickte und deutete dann auf Fabian.
"Du brauchst nicht zu flüstern. Wir gehen hier eigentlich ganz locker miteinander um. Fabis Eltern haben einen Klappenladen unten in 5-41 und seine Mutter kocht hier normalerweise und macht sauber für ein paar Stunden. Dass sein Vater öfter ein ...hmmm, ein paar Ausfälle hat, kommt schon mal vor. Oh ja, sorry. Fabi, das ist Tim. Ich habe ihn erst gestern kennengelernt, aber ich hoffe sehr, dass er öfter hier sein wird.“
Fabian sah jetzt genauer hinüber zu Tim. Er wusste, dass Kevin schwul war, aber nicht, auf welchen Typ er stand. Mit Tim wurde ihm das nun klar. Etwas kleiner als Kevin, schlank, blond. Da wäre er selbst wohl nicht in Frage gekommen. Er war zwar ebenso groß wie Tim, aber deutlich schwerer. Das lag hauptsächlich an seinen sportlichen Aktivitäten. Wann immer er ein wenig Zeit fand, widmete er sich dem Hantelset, dass ihn glatte 1.000 LEX beim Versandhandel Malcker gekostet hatte.
Tim hingegen sah Kevin prüfend an. Hatte er das wirklich ernst gemeint? Das spürte er sofort, als Kevin ihn auf seinen fragenden Blick hin impulsiv umarmte und begann ihn ausgiebig zu küssen.
Fabi verdrehte seine Augen und sah dezent zu Boden, bis ein lautes Räuspern die beiden wieder auseinanderfahren ließ.
"Ich möchte das junge Glück ja nicht stören, aber erstens ist das Frühstück fertig und zweitens seid ihr nicht alleine."
Etwas erschrocken sahen die beiden Kevins Großvater an und lächelten dann leicht nervös. Doch Halldur Harms grinste bloß und schüttelte den Kopf.
„Na, Fabi, was hast du uns denn Schönes mitgebracht?“
„Ich war im Mare. Die haben erst rumgezickt, aber mit der Eintragung auf ihrem Profil hab ich die Sachen dann problemlos bekommen.“
Tim starrte Fabi verblüfft an. Er war im Mare-Einkaufszentrum gewesen? Nur um die Zutaten für ein Frühstück zu kaufen? Na, wohl auch für das Mittagessen. Aber dann musste der Einkauf bereits mehr gekostet haben, als er im Monat verdiente.
Halldur bemerkte Tims Blick und schüttelte seinen Kopf. Dann stieß er Kevin leicht an. Auch der hatte Tims Reaktion bemerkt und wusste zunächst nicht, was er sagen sollte. Fabian hingegen sah fragend von einem zum anderen, weil alle plötzlich verstummt waren. Mit seinem Zeigefinger deutete er auf Kevin, dann auf Tim.
„Du – hast es – ihm nicht gesagt, oder?“
„Was soll er mir nicht gesagt haben?“
„Dass wir uns hier in der Goldkuppel befinden, hast du ja wohl mitbekommen. Da wohnt man nicht einfach so.“
Tim grunzte etwas missbilligend. Das wusste er auch selber, dass in Lod 1, der von den Lodt sogenannten ‚Goldkuppel‘ nicht jeder beliebige Bürger wohnen durfte. Allein um die Kuppel zu betreten, brauchte man eine Unbedenklichkeitsbescheinigung. Und die bekam man nur beim Nachweis über ein Vermögen von mindestens 500.000 LEX oder einer Arbeitsbescheinigung von einer der ansässigen Firmen. Und es gab noch die Möglichkeit einer Besucherbescheinigung, wie er gestern erfahren hatte.
Fabian nahm das Grunzen und leichte Nicken als Bestätigung und fuhr fort.
„Siehst du. Was glaubst du, wer Herr Harms denn eigentlich ist?“
Tim musterte den älteren Mann nachdenklich. In Ordnung, er hatte ihn öfter in unregelmäßigen Abständen bei Robert gesehen, aber höchstens ein oder zweimal im Monat. Die Preise dort waren annehmbar, so dass die Kundschaft sehr gemischt war.
Hektisch grub er in seinem Gedächtnis, doch zu dem Namen Harms fiel ihm nichts ein. Eigentlich verwunderlich, denn Robert legte großen Wert darauf, dass seine Angestellten alle großen und auch die meisten kleineren Firmen in und um Lod kannten, um die Kundschaft gesellschaftlich zuordnen und auch ihre Konversation darauf einstellen zu können.
Fabi wies nun fast beiläufig auf den Fernseher, wo die Börsennachrichten inzwischen von den Schiffsmeldungen der letzten zwölf Stunden abgelöst worden war. Tim sah irritiert hinüber. Was wollte Fabi denn jetzt? Dann sah er an der Wand neben dem Fernseher zwei Plaketten hängen. Die eine war ein Wappen, das einen merkwürdigen Fisch auf blauem Hintergrund zeigte. Darunter stand LZS HECHT. Hecht? Tim kannte einen Seehecht, aber auch nur als Schiffsklasse der Marine.
Die andere Plakette zeigte ein Firmenemblem, das Tim sehr wohl bekannt war. Trans Navale Lod war eine der größeren Reedereien von Lod und bekannt dafür, nicht gerade günstig zu sein. Dafür hatten sie aber die wenigsten Verluste durch Piraten zu verzeichnen. Die Schiffe der TNL waren deutlich schwerer bewaffnet als die ihrer Mitbewerber.
Immer noch etwas verwundert sah Tim zurück zu Fabian, der ein erwartungsvolles Gesicht aufgesetzt hatte. Was will der jetzt von mir? Dann dämmerte es Tim. Impulsiv drehte er sich um und flüchtete förmlich die Treppe hinauf in Kevins Wohnbereich.
Kevin sah ihm verblüfft nach, während sein Großvater ihn schon wieder anstieß.
„Na los. Geh nach oben und sprich mit ihm.“
„Was soll ich ihm denn sagen?“
„Entschuldige dich, dass du ihn nicht vorher aufgeklärt hast. Und wenn du es wirklich ernst mit ihm meinst, dann solltest du ihm das ebenfalls sagen. Er ist kein Spielzeug. Das sind sie alle nicht. Sie gehen ernsthaft einem Beruf nach, auch wenn das manchmal nicht so aussieht.“
Kevin sah seinen Großvater erstaunt an, nickte dann aber und begab sich langsam nach oben.
Tim Senger hatte eine Menge nachzudenken. Unsicher sah er sich um und bemerkte nun all die kleinen Dinge, die ihm vorher nicht aufgefallen waren. Der Marmorfußboden mit den dicken Teppichen, die Möbel aus richtigem Bambusholz, keinem Kunststoffimitat und dort drüben im Regal standen echte Bücher.
An der Wand hing ein metergroßer 3D-Bildschirm, der ausgeschaltet im Art-Modus eine grafische Ansicht der Kuppeln von Lod zeigte.
Tims Blick wanderte automatisch höher und er schüttelte sich unbewusst. Die Deckenhöhe musste hier schon gute dreieinhalb Meter betragen, die Wohnung hatte mit der unteren Etage also fast eine Höhe von unglaublichen sieben Metern! Was für eine Verschwendung. Er lebte mit seiner Familie in Lod 2 gerade mal auf 24 Quadratmetern und da waren die Räume knappe zweieinhalb Meter hoch.
Tim seufzte und schloss seine Augen. Wenn er ehrlich sein sollte, hatte er mehr auf Kevin geachtet als auf seine Umgebung.
Fataler Fehler, vor dem er schon am Anfang seiner Karriere gewarnt worden war. Man verknallte sich nicht in einen Kunden. Doch halt, Kevin war ja gar kein Kunde. Kevin hatte ihn in der Disco angesprochen und bis zur Ankunft in Lod 1 hatte er nicht gewusst, was Tim beruflich machte.
Die Blödmänner von Department 1 hatten ihn dann auch unfreiwillig geoutet und er hatte mehr auf Kevin und seine Reaktionen geachtet als auf seine Umgebung. Warum hatte Kev ihn überhaupt mitgenommen. Er hätte ihn einfach an der Bahn stehenlassen können. Einen Professionellen hatte er doch bestimmt nicht haben wollen.
„Tim?“
Tim zuckte leicht zusammen, als er die leise Stimme neben sich hörte.
„Was willst du?“
„Ich möchte mich entschuldigen.“
Tim musste wider Willen lachen.
„Du? Du willst dich entschuldigen? Es müsste ja wohl ich sein, der sich entschuldigen muss. Ich hätte dir gleich sagen sollen, wer ich bin und was ich so mache. Da hättest du dir nicht die Mühe machen müssen, mich hierher zu schleppen. War es wenigstens lustig? Dann kannst du mich ja jetzt entsorgen.“
Kevin sah verblüfft auf Tim herab und schüttelte unwillig den Kopf bei dessen konfusem Gestammel.
„Spinnst du? Was hast du eigentlich nicht verstanden, als ich gesagt habe, dass ich mir wünsche, du solltest öfter hier sein? Ich wollte dich schon im ‚Hole‘ und da wusste ich nicht, wer oder was du bist. Dein Beruf hat meine Meinung kein Bisschen geändert und nein, es war nicht lustig. Zu sehen, wie du reagierst, weil du meinst, du wärest ein schlechterer Mensch als ich, nur weil mein Großvater etwas mehr Geld hat. Wohlgemerkt, er hat das Geld, nicht ich.“
Tim musste sich konzentrieren, um Kevins Worten zu folgen. Stimmt, im ‚Hole in One‘ hatte Kevin nicht gewusst, wer er war. Er hätte sogar aus der Goldkuppel sein können – nein, seine Klamotten hätten ihn verraten. Sein Beruf? Tim sah es nicht als Beruf, sondern als Notlösung. Es war halt nicht einfach, in Lod einen Job zu bekommen. Sein Bruder Todd hatte da schon mehr Glück gehabt. Er war Arbeitstaucher bei MD. Als Allrounddienstleister war Morquardt Duties neben der Reinigung und der Müllentsorgung von Lod auch mit den Wartungs- und Kontrollarbeiten der Kuppeln von innen und außen beauftragt.
Aber trotzdem. Selbst wenn Kevins Großvater das ganze Geld gehörte, ein Goldjunge blieb er doch. Sie hatten sogar eigenes Hauspersonal. Was machte dieser Fabian eigentlich hier? Hatten sie nicht gesagt, seine Mutter würde hier arbeiten? Irgendwie hatte Tim das alles nur zur Hälfte mitbekommen.
Langsam registrierte Tim, dass Kevin immer noch vor ihm stand und auf ihn herabsah. Dann schlich sich langsam die Erkenntnis ein, dass seine ‚Flucht‘ ihn ganz schön dämlich aussehen lassen hatte.
Schüchtern sah er zu Kevin hoch, der ihn lediglich anstrahlte. Ein wenig wunderte sich Tim schon, was Kevin eigentlich an ihm fand, doch seine Gedanken wurden von dem ebenfalls erleichterten Gegenüber unterbrochen.
„Kommst du jetzt mit runter zum Frühstück?“
Fabi hatte inzwischen alles fertiggemacht und hinüber zum Esstisch gebracht. Als Kevin mit Tim dort eintraf, überkam diesen wieder das unbändige Gefühl von Weite.
Ein großer Tisch mit fünf Stühlen, der frei im Raum stand, war für ihn eine gänzlich neue Erfahrung. Und dann die Höhe! Kevins Wohndeck oben überspannte lediglich zwei Drittel der Grundfläche und so war in diesem Teil der Wohnung die Decke tatsächlich fast sieben Meter über dem Fußboden. Tim kannte nur eine Ebene in Lod die höher war und das war die Null-Ebene von Lod 4, dem Zwischenbau, der die drei Kuppeln miteinander verband. Die Ebene war sagenhafte 30 Meter hoch, aber das war den Einfahrten und Dockplätzen der Innenhäfen geschuldet.
Fabi verbeugte sich spielerisch vor Halldur und wies auf den Tisch.
„Heute im Angebot: Algenbrötchen mit Fischwurst oder echtem Käse, Sojabratlinge, Scampi auf Algensalat und als Dessert natürlich Süßvla. Dazu Kaffee oder Kakao und Fruchtsaft.“
Tim wusste gar nicht, wohin er zuerst blicken sollte. Wenn das wirklich echter Kaffee oder Fruchtsaft war und nichts von diesem aromatisierten Ersatzzeug, musste das, was sich hier auf dem Tisch befand, gut und gerne acht bis zehntausend LEX wert sein. So viel verdiente er gerade mal in einem halben Monat.
Fabi war auf dem Weg zur Küchenzeile, wurde aber von Halldur Harms wieder zurückgeholt.
„Du bleibst hier. Du hattest die Arbeit, also bekommst du auch was zu essen.“
Fabian sah etwas unsicher zu Kevin und Tim, dann seufzte er und zuckte mit den Schultern. Das war auf jeden Fall besser, als zu Hause an einem Nova-Fischriegel zu knabbern. Aber er wollte auch nicht, dass es so aussah, als würde er sich hier durchschnorren. Er hatte es schließlich geschafft, einen Ausbildungsplatz zu ergattern und das sogar hier in der Goldkuppel!
Insgeheim hatte er den Verdacht, seine Mutter und der alte Herr Harms hätten da was dran gedreht, aber gesagt hatte von den beiden keiner etwas.
Halldur Harms setzte sich an das Kopfende des Tisches und Kevin nahm wie immer Platz zu seiner Rechten. Tim wurde nach kurzem Zögern einfach Kevin gegenüber platziert und Fabi entschied sich für den Platz neben Kevin.
Während des Essens gab es nur wenig Konversation und Halldur Harms beobachtete interessiert die drei doch so unterschiedlichen jungen Männer am Tisch.
Kevin lebte bei ihm, seit dessen Eltern von einer Fahrt mit einem der Handelsschiffe der TNL nicht mehr zurückgekehrt waren. Das Schiff galt als verschollen und die Besatzung wurde ein Jahr später für tot erklärt. Ein schwerer Schlag für Halldur Harms, der dabei seine einzige Tochter verlor und auch gleichzeitig seinen Schwiegersohn. All seine Hoffnungen auf die Fortführung der Seefahrertradition lagen bei dem damals 14-jährigen Kevin.
Dennoch hat der alte Reeder Kevin niemals unter Druck gesetzt. Er hatte ihm freigestellt, was er gerne studieren möchte und war insgeheim überrascht, aber auch stolz, dass Kevin sich für eine Laufbahn als Nautiker entschlossen hatte. Etwas mehr überrascht hatte ihn allerdings die Aussage von Kevin an seinem achtzehnten Geburtstag, dass er schwul sei und sein Großvater wohl eher keine Urenkel zu erwarten hätte.
Obwohl er gerne etwas dazu gesagt hätte, konnte er Kevin nicht widersprechen. Er selbst lebte ihm vor, wie man in der Gesellschaft der oberen zweieinhalbtausend als offen schwuler Mann leben und arbeiten konnte. Die Erkenntnis schwul zu sein, war ihm bereits während seiner Ehe gekommen, doch an die Öffentlichkeit trat er damit erst, als seine Frau überraschend gestorben war.
Und nun hatte Kevin nach knapp drei Jahren das erste Mal jemanden mit nach Hause gebracht. Halldur war zunächst etwas erstaunt gewesen, dass es jemand von einem der zahlreichen Begleiter-Services war, doch noch mehr staunte er, als Tim ihm den Hintergrund ihres Kennenlernens erklärte.
Er hatte Tim bereits bei Roberts Escort Service gesehen, doch für ihn war er niemals in Frage gekommen. Die schlanke, sportliche Figur mit dem fast noch jungenhaften Gesicht war nichts für ihn. Er bevorzugte etwas ältere Männer mit deutlich mehr Muskeln. Wie auch immer, Hauptsache Kevin war mit seiner Wahl zufrieden und die beiden kamen gut miteinander aus.
Fabian hingegen war eine ganz andere Sache. Er war zwar in Lod geboren worden, doch seine Eltern stammten aus Stawa und das sah man ihm an. Die helle Haut und die pechschwarzen Haare waren eine Sache - sein Bemühen, etwas mehr Muskeln zuzulegen eine andere. Sehr viele Stawas pflegten das Hobby eines Simon – eines Kraftsportlers - und Fabi war da keine Ausnahme. Lediglich sein Ausbildungsplatz hinderte ihn daran, unmäßig Muskeln zuzulegen. Er lernte Hotelfachmann im Hotel ‚Vier Strömungen‘ hier in Lod 1. Die Leitung des Hotels hatte ihm unmissverständlich dargelegt, dass sein Auftreten stets seriös und ansprechend zu sein hatte, also keine Tätowierungen, keine abwegige Frisur oder Haarfarbe und auch keine unverhältnismäßigen Muskeln.
Worüber Fabian nichts wusste, war die kleine Verabredung, die Halldur mit dessen Mutter geschlossen hatte. Sie würde für den halben Lohn arbeiten, wenn der Reeder ihm irgendwo eine gute Stelle besorgen könnte. Zunächst hatte Halldur Harms versucht, Frau Kuberski die Sache mit dem halben Lohn auszureden, aber sie blieb standhaft. Sie waren zwar arm, aber sie wollte auch ihr letztes bisschen Stolz behalten.
„Was habt ihr denn nachher noch vor?“
Alle drei jungen Männer sahen auf und sich dann fragend an. Der erste war Fabian.
„Eigentlich nichts. Das Mittagessen muss vorbereitet werden, danach der Abwasch und die Putzrunde. Und um vier beginnt meine Schicht. Da ist nicht mehr viel Platz.“
„Dann bringen wir dich bis hin. Ich wollte Tim ein wenig die Goldkuppel zeigen.“
Tim sah verwundert auf. Kevin wollte mit ihm durch Lod1 gehen? Tim war eigentlich der Ansicht gewesen, er würde nach dem Frühstück wieder zurück nach Hause müssen.
„Du brauchst nicht so zu gucken. Deine Besucherbescheinigung gilt 24 Stunden. Das können wir ausnutzen.“
Tim nickte schweigend. Noch immer verstand er nicht ganz, was Kevin vorhatte. Sicherlich, er hatte sich gewünscht, dass Tim öfter erscheinen sollte, aber das hatte Tim eher auf den Sex bezogen. Er würde auch gerne wieder eine Nacht mit Kevin verbringen, aber ein Rundgang durch die Goldkuppel war jetzt etwas ganz anderes.
Obwohl die Firma, in der Tim arbeitete ‚Escort Service‘ hieß, hatte sie nicht viel damit gemeinsam. Die jungen Damen und Herren standen zu bestimmten Zeiten vor Ort zur Auswahl und in fast allen Fällen beschränkte sich der Service auf eines der Zimmer dort. Einen Besucherservice hatte Robert nach mehreren unliebsamen Zwischenfällen eingestellt.
Einige wenige von Roberts Angestellten hatten es allerdings tatsächlich geschafft, richtige Escorts zu werden. Sie wurden von ihren Kunden mitgenommen und begleiteten sie nicht nur ins Bett, sondern auch zu anderen gesellschaftlichen Events.
War das jetzt so etwas? Wollte Kevin sich wirklich mit ihm in der Öffentlichkeit sehen lassen? Und dann auch noch in der Goldkuppel? Tim befürchtete, man könne ihm seinen Beruf ansehen. Nach fast zwei Jahren in dem Gewerbe sollte er sich allmählich daran gewöhnt haben, dass dem nicht so war, doch so ganz konnte er den Gedanken nie loswerden.
„Was willst du ihm denn zeigen? Die ganzen Geschäfte?“
„Warum nicht? Ich möchte auch noch etwas für Tim besorgen.“
„Du brauchst mir nichts zu schenken. Ich habe dir gesagt, dass ich nicht beruflich unterwegs bin.“
Kevin schwieg konsterniert, während Fabi neugierig zu Tim sah. Halldur Harms sah sich nun doch zu einem Eingreifen genötigt.
„Tim, du hast nicht zugehört. Er möchte dir etwas schenken, nicht dich bezahlen. Ein Geschenk ist etwas Freiwilliges, etwas, was man gerne gibt. Es muss auch nichts Wertvolles sein. Ein Geschenk kann auch was Immaterielles sein. Beispielsweise sich jemandem hinzugeben.“
Tim wollte gleich zu Beginn etwas antworten, schwieg dann aber verblüfft. Etwas schüchtern sah er nun wieder Kevin an, der ihn ebenfalls erwartungsvoll anblickte.
„Ich würde dich sehr gerne begleiten.“
Kevin strahlte.
„Dann wird der Nachmittag ja richtig interessant.“
Die Goldkuppel hielt jede Menge Überraschungen für Tim bereit. Kevin, Tim und Fabian fuhren hinab bis zur Ebene 1. Dort lieferten sie Fabian, wie versprochen, an einem der Angestellteneingänge des Hotels ‚Vier Strömungen‘ ab. Dann ging es weiter hinab zur Ebene Null und die beiden machten sich auf einen kleinen Rundweg durch alle vier Sektoren.
Kevin wies mit einer Hand in Richtung des Kuppelinneren.
„Warst du schon einmal im Zentralkern?“
Tim schüttelte den Kopf. Er wusste zwar, dass sich dort die Stadt- und auch die Länderverwaltung befand, aber drinnen war er noch nie gewesen.
„Der Zentralkern hat einen Durchmesser von 150 Metern und geht ganz durch bis nach oben zur Kuppelwölbung. Eingänge für die Verwaltung sind nur hier unten und auf Ebene 14. Auf Ebene 16 ist dann noch ein Durchgang in den Teil, der für das Militär reserviert ist.“
Tim nickte lediglich und starrte neugierig hinüber zu einem der Zugänge, an dem strenge Personenkontrollen durchgeführt wurden.
„Aber das ist alles nicht so spannend. Es gibt hier nur wenige Dinge, die wirklich interessant sind.“
Tim war da anderer Ansicht. Die Wege durch die Kuppel waren nicht eingeengt von Gangwänden, sondern öffneten sich sehr oft auf kleine Plätze oder breite Straßen. Es gab Rasenflächen mit echtem Gras und sogar kleine Seen und Springbrunnen.
„Lass uns nach oben fahren. Ich möchte mit dir ins Mare.“
„Was? Das war wirklich ernst gemeint?“
„Was glaubst du denn? Los, da rüber!“
Vor dem Mare-Einkaufszentrum blieb Tim unwillkürlich stehen. Links und rechts des Eingangs erstreckten sich Schaufenster, soweit er blicken konnte. Und das bis zur vollen Deckenhöhe. Kevin schob ihn förmlich bis zum Eingang, wo sie unauffällig von zwei Wachleuten gemustert wurden. Unbeschwert trat Kevin durch den Eingang und hielt seine BID vor einen Scanner. Sofort leuchtete neben der Tür ein Bildschirm auf mit seinem Bild und ein paar Daten.
Eilig trat nun ein geschniegelt aussehender Verkäufer auf die beiden zu.
„Herr Kerner. Womit kann ihnen unser Haus heute dienlich sein?“
Tim hob fragend die Augenbrauen, doch Kevin lächelte nur leicht.
„Wir benötigen ein Outfit für den jungen Herrn hier neben mir. Seine Daten können in mein Profil aufgenommen werden.“
Der Verkäufer stutzte einen Moment, verbeugte sich dann aber servil.
„Stets zu Diensten. Wünschen sie eine Einkaufsbrille?“
„Nein, danke. Wir werden ein wenig durch die Räumlichkeiten schlendern. Tim, deine BID.“
Tim zückte zögernd seine Bürger-IDentifikationskarte. Der Verkäufer würde gleich sehen, was darauf gespeichert war. Doch der nahm lediglich die Karte, scannte sie an einem Terminal und gab ein paar Daten ein.
„Vielen Dank, Herr Senger. Ich hoffe, sie fühlen sich bei uns wohl und finden, was ihnen gefällt.“
„Äh, ja. Danke.“
Als sie weit genug von dem Verkäufer weg waren, drehte sich Tim zu Kevin.
„Was war denn das mit dieser Einkaufsbrille?“
Kevin grinste und deutete diskret auf einige Kunden, die mit einer eleganten Brille versehen fasziniert auf die Auslagen starrten.
„Die ultimative Spielerei. Die Brille hat ein HUD und eine Sprachsteuerung. Wenn du was ansiehst und den Befehl ‚Information‘ gibst, werden auf dem Display der Brille alle Infos über das Objekt eingeblendet. Wenn du ‚Hilfe‘ sagst, kommt sofort einer dieser Angestellter herbeigeeilt, um dich zuzutexten. Wenn du, wie ich, hier ein Profil hast, kann die Brille auch mit ‚Virtuelle Anprobe‘ ein Abbild von dir und dem Objekt anzeigen. Ist besonders hilfreich bei Klamotten. Mit dem Befehl ‚Kauf‘ hast du das Ding erstanden und du kannst es an der Zentralkasse abholen. Wenn du keine Lust hast, das Zeug nach Hause zu tragen kannst du mit ‚Lieferung‘ die Bestellung auch an die im Profil hinterlegte Adresse liefern lassen.“
Während des kurzen Vortrags wurde das Gesicht von Tim immer ungläubiger.
„Nicht wirklich, oder?“
„Willst du es mal ausprobieren? Wir wollen doch sowieso ein paar Sachen für dich haben. Da kannst du es gleich versuchen.“
Kopfschüttelnd folgte Tim Kevin durch die riesige Auswahl der verschiedenartigsten Auslagen. In der Abteilung für den modebewussten Herrn konnte sich Tim nicht entscheiden, wo er zuerst hinsehen sollte. Gewagte Entwürfe von Jacken und Roben in schreienden Farben, offensichtlich aus Scientia, hingen neben sportlichen Outfits und dunklen Dreiteilern.
„Irgendeine Idee? Ich dachte an Hose, Jacke, Hemd - alles was so dazu gehört.“
„Aber ich habe doch alles.“
„Ja, schon. Sei nicht böse, aber ich wollte dir etwas schenken, mit dem wir beide hier in der Goldkuppel ausgehen können, ohne besonders aufzufallen.“
Automatisch sah Tim an sich herunter. Sicher, die Sachen waren fast neu, aber man konnte ihnen ihre Qualität auch ansehen. Er verstand, was Kevin wollte, dennoch zögert er. Kevin wollte mit ihm ausgehen? Hier in Lod 1?
„Also gut. Aber nur dieses eine Mal.“
Kevin grinste breit und wedelte einen der überall diskret herumstehenden Verkäufer heran.
„Wir benötigen ein Outfit für diesen jungen Herrn. Etwas legeres für den Abend.“
„Sehr gerne. Hatten sie an etwas Bestimmtes gedacht? Eine besondere Farbe oder Stilrichtung? Im Moment sind besonders die farbigen Hosen aus Scientia in, aber wir haben erst kürzlich etwas Besonderes aus Arbiträa hereinbekommen.“
Aufmunternd deutete der Verkäufer in eine Ecke, in der ein paar Hosen ausgestellt waren. Sie waren aus einem schwarzen, glänzenden Stoff gemacht und schillerten im Licht der dezenten Beleuchtung in allen Farben des Spektrums. Highlight der Hosen waren jeweils zwei mattschwarze lederne Riemen mit silbernen Schnallen um die Oberschenkel.
Kevin warf nur einen kurzen Blick auf Tim, um sich dann dem Verkäufer zuzuwenden.
„Das ist es. Ich würde sagen, körperbetont.“
Der Verkäufer nickte erfreut.
„Ich würde vorschlagen, wir machen einen Körperscan. Dann können wir diese und auch weitere Bekleidung maßgefertigt anpassen.“
„Kein Problem. Tim, würdest du diesem Herrn freundlicherweise folgen. Ich muss mich einmal kurz umsehen. Wir treffen uns hier gleich wieder.“
Der immer noch zögerliche Tim wurde von dem Verkäufer entführt, während sich Kevin auf den Weg zur Unterwäsche machte. Dem Verkäufer dort machte er schnell klar, was er wollte und war fast gleichzeitig mit Tim wieder zurück bei den Hosen.
„Hier, die wirst du jetzt brauchen.“
Tim nahm eine der Brillen entgegen und setzte sie auf.
„Du brauchst nur deinen Namen zu sagen.“
„Tim Senger.“
Sekundenbruchteile später erschien auf den Gläsern eine Nachricht.
‚SENGER, TIM. Profileintrag bei KERNER, KEVIN, Platincard, Executive Service. Bitte fahren Sie fort.‘
Tim erinnerte sich, was Kevin ihm erzählt hatte und fixierte eine dieser Hosen, die es ihm angetan hatte.
„Virtuelle Anprobe.“
Auf dem Display erschien tatsächlich das von ihm gescannte Abbild mit der entsprechenden Hose.
„Kauf!“
Entsetzt schloss Tim seine Augen. Hatte er das jetzt wirklich gesagt? Dann hörte er neben ihm leise jemanden lachen.
„Mach dir nichts draus. Mir ist das beim ersten Mal auch so gegangen. Nur dass ich damals zehn war und meine Mutter mein Profil zum Glück für den Kauf gesperrt hatte.“
Tim lächelte ebenfalls, aber nicht lange. Auf dem Display erschien ein weiterer Text.
‚Kauf abgeschlossen. Maßanfertigung wie im Profil hinterlegt. Gesamtpreis 12.300 LEX. Möchten Sie fortfahren?‘
„Lieferung,“ flüsterte Kevin und Tim wiederholte.
‚Vielen Dank für ihren Einkauf. Die Lieferung erfolgt an die hinterlegte Adresse. Sie können Ihren Einkauf nun fortsetzen.‘
Tim stöhnte auf.
„Ich weiß nicht, ob ich das durchhalte.“
„Komm einfach weiter. Das wird bestimmt noch lustig.“
Zwei Stunden später standen sie wieder vor den Türen des Mare und Tim fühlte sich ein wenig schuldig. Er hatte den Überblick verloren, doch der Einkauf überstieg bei Weitem das doppelte seines Monatseinkommens.
Kevin hingegen hatte sich sichtlich gefreut. Es hatte ihm Spaß gemacht, Tim herumzuführen und seine Zurückhaltung etwas aufzutauen.
Wieder zurück in Kevins Heim, wurden sie von seinem Großvater empfangen.
„Ah, schon zurück? Ein Bote vom Mare war da. Die Sachen sind oben bei dir. Sag mal, Tim, solltest du nicht jemanden informieren, wo du dich befindest?“
Tim wechselte die Farbe und wurde plötzlich hektisch. In seinen Hosentaschen suchte er nach seinem Mobiltelefon und sah sich dann suchend um. Halldur wies am Esstisch vorbei in eine weitere Ecke, die Tim vorher noch nicht aufgefallen war. Dort standen vor einer riesigen Bücherwand ein massiver Schreibtisch mit einem großen Sessel und davor zwei Besucherstühle.
„Die Anschlüsse sind rechts.“
Tim nickte dankend und suchte nach den Kabeln. Als er eines gefunden hatte, steckte er es in sein Mobiltelefon und war mit dem Citynet verbunden. In den Kuppeln gab es, bis auf kleine Ausnahmen, Induktionsfelder für das Netz. In Privatwohnungen musste das Telefon über eine Leitung mit dem Citynet verbunden werden.
Tim tippte schnell das Kennwort seiner Mutter ein. Sie war jetzt zwar auf ihrer Arbeit, aber er hätte ja eigentlich schon gestern Abend oder zumindest heute Morgen zurück sein sollen.
„Senger.“
„Hallo, Mum. Ich bin noch bei einem Freund. Ich komme dann heute Nachmittag nach Hause.“
„Bei einem Freund? Tim, du bist doch nicht in Schwierigkeiten?“
Tim musste unwillkürlich lachen.
„Nein, nein. Alles in Ordnung. Ich komme wirklich nachher nach Hause. Bis dann.“
Schnell unterbrach er die Verbindung, sonst hätte sie ihn noch stundenlang gelöchert. Dann stöpselte er sich aus dem Citynet und ging hinauf zu Kevin. Der hatte auf der Sitzecke inzwischen ihren gesamten Einkauf ausgebreitet.
„Was ist das denn? Ich kann mich nicht erinnern, das bestellt zu haben.“
Tim hob zwei kleinere Pakete an und Kevin grinste.
„Kleine Überraschung für dich. Kannst du gleich mal anprobieren.“
Tim riss ein Paket auf und hob erstaunt die Augenbrauen. Unterwäsche? Moment, diese Sachen würden ihm wohl kaum passen. Doch dann sah er die Größenangabe auf der Packung und wunderte sich. Als er das erste Teil ausgepackt hatte, schwankte er zwischen Abneigung und Erregung. Die Dinger waren so knapp geschnitten, dass sie wohl kaum das Nötigste verdecken würden. Sollten sie wahrscheinlich auch gar nicht.
„Und?“
„Was und? Ich denke, du spinnst. Aber ich werde es versuchen.“
Mit diesen Worten schnappte sich Tim eines dieser Dinger und verschwand in Kevins Schlafabteil. Der sah ihm verblüfft hinterher, lächelte aber dann. Kurze Zeit später war Tim wieder da. Und er trug tatsächlich den winzigen Tanga, der Mühe hatte, alles zu verdecken.
Kevin grinste breit und Tim drehte sich kokett im Kreis. Als Kevin begann, sich ebenfalls auszuziehen, lächelte nun auch Tim. Sein Tanga hatte den Kampf aufgegeben und Kevin konnte nun ungestört bewundern, was er letzte Nacht im Halbdunkel nur geahnt hatte.
Halldur Harms saß in seinem Bürosessel und studiert einige Abrechnungen, als ein leises Stöhnen von oben herunterdrang. Kopfschüttelnd überlegte er, ob er nicht mal wieder zu Robert gehen sollte. Die beiden da oben waren Inspiration genug. Doch dann widmete er sich seufzend seiner Arbeit. Bei Robert gab es ein noch ungelöstes Problem und so sehr er auch überlegte, konnte er zu keinem befriedigenden Ergebnis kommen.
Dimitry Koschwitz saß gelangweilt im Show-Room von Roberts Escort Service und betrachtete beiläufig die 3D-Bilder an den Wänden, die ausnahmslos erotische Szenen zeigten.
Das Geschäft verlief schleppend, denn zum Ende eines Monats hin kamen immer deutlich weniger Kunden als kurz nach dem Zahltag. Außerdem – und da machte er sich gar keine Illusionen – war er mit 27 schon langsam etwas zu alt für diesen Beruf.
Mit siebzehn war er nach seiner Lehre in die Pornofilm-Branche in Stawa geschlittert und hatte dort als ‚der stahlharte Mottek‘ eine steile Karriere hingelegt. Mit 23 war er bereits von jüngeren abgelöst worden und hatte sich dann in Lod nach etwas anderem umgesehen.
Bei Robert war er hängengeblieben. Ein kleines, aber gut gehendes Geschäft, wo auch er noch Chancen hatte, ausgewählt zu werden.
Der einzige andere anwesende Mann zwischen den ganzen Mädels war keine Konkurrenz für ihn. Nicht, dass er nicht hübsch wäre, alle Jungs bei Robert waren das, aber er war ein völlig anderer Typ. Bartje kam aus Uppland, oder war wohl zumindest dort geboren worden. Groß, schlank, mit goldblonden Haaren war er fast genau das Gegenteil von Dimitry, dem man mit seinen Muskeln und den dunkelbraunen Haaren die Herkunft aus Stawa deutlich ansah.
Etwas erstaunt nahm Dimitry wahr, dass Tim soeben in Begleitung eines weiteren jungen Mannes hereingekommen war. Was machte der denn hier? Hatte der nicht heute frei? Dimitry zuckte mit den Schultern. Tim war der typische Lod. Klein, schlank, dunkelblond, fast unauffällig. Tja, hier bei Robert wurde jedes Klischee bedient.
Tim und sein Begleiter gingen hinüber zu Bartje und flüsterten eine ganze Weile mit ihm. Dann bemerkte Dimitry, wie alle drei zu ihm herüberstarrten. Was war denn da los?
Eine Stunde zuvor hatte Tim zu Hause Besuch bekommen. Vollkommen verwundert hatte Tim geöffnet, als es an der Tür klopfte. Er war alleine zu Hause, seine Mutter war auf der Arbeit, seine Großmutter bei ihrem Marktstand und Tom war in der Schule.
Kevin verbrachte die letzten Tage seines Studiums noch an der Uni. Die Prüfungen waren zwar schon gewesen, doch man wollte, einer Äußerung des Dekans nach ‚die verfügbare Zeit gut nutzen, um dem Nachwuchs so viel praktisches Wissen wie möglich auf den schwierigen Weg mitzugeben‘. Diese ‚verfügbare Zeit‘ waren immerhin zwei ganze Monate und es gab etliche freiwillige Veranstaltungen, die besucht werden konnten. In dieser Woche war Kevin auf einem der Schiffe der Uni unterwegs für ein Seminar in Gefechtstaktiken. Tim wartete schon sehnsüchtig auf den morgigen Tag, an dem sie wieder einlaufen würden.
„Nick? Was willst du denn hier?“
Der junge Mann sah sich nervös um.
„Darf ich reinkommen?“
Kommentarlos gab Tim den Eingang frei und Nick betrat die Wohnung. Unsicher sah er sich um, bis Tim auf einen Hocker deutete.
„Ich bin wegen Tanja hier.“
Tim nickte. Etwas Ähnliches hatte er sich schon gedacht. Tanja war Nicks Schwester. Sie arbeitete ebenfalls bei Roberts Escort Service und er hatte eigentlich ein gutes Verhältnis zu ihr. Gehabt. Sie war vor vier Tagen tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden.
„Was gibt es denn?“
Nick sah aus, als wollte er beinahe in Tränen ausbrechen, doch dann straffte er sich.
„Wir haben den offiziellen Abschlussbericht des Department 2 bekommen. Tod durch eine Überdosis Drogen.“
Tim hob erstaunt seine Augenbrauen. Tanja hatte nie irgendwelche Drogen genommen. Zumindest so viel er wusste. Dann sah er zu der etwas zusammengesunkenen Gestalt von Nick.
Er hatte ihn bisher nur einmal getroffen, weil Tanja ihn zu ihm geschickt hatte. Nick hatte irgendwie herausbekommen, was Tanja beruflich machte und sich dann eingebildet, er könne das ja wohl auch. Tanja wurde stinksauer und hatte Nick zu Tim geschickt, damit der ihn ein wenig über die Hintergründe eines solchen Jobs aufklärte. Tim war ziemlich deutlich geworden und Nick ging weiterhin zur Schule.
„Das glaube ich einfach nicht! Das kann nicht sein. Da muss etwas anderes passiert sein. Ich… ich wollte noch mal in ihre Wohnung und da dachte ich, du könntest mich vielleicht begleiten?“
„Du hast einen Schlüssel?“
Nick grinste und zog eine kleine Chipkarte aus der Tasche.
„Mutter hat ihre Sachen bekommen. Da habe ich zugeschlagen.“
Tim überlegte einen Moment.
„Na gut. Mit Schlüssel ist das ja kein Einbruch. Aber wir gehen da nicht alleine rein, das ist ja nun nicht gerade die beste Gegend.“
„Was? Na gut. Wen willst du denn mitnehmen?“
Tim hatte schon eine genau Vorstellung. Hoffentlich war Bartje noch frei. Der kannte Tanja erheblich besser als Tim und konnte bestimmt etwas zu dem Vorwurf des Drogenkonsums sagen.
„Wirst du gleich sehen. Komm mit zu Robert.“
Nick sah erstaunt auf. Tanja hatte ihm auf das Strengste verboten, dort jemals aufzukreuzen. Aber das hatte sich jetzt wohl erledigt.
Die Dame hinter dem Tresen von Roberts Escort Service betätigte den Türöffner nach einem Blick auf den Monitor. Was machte Tim denn hier an seinem freien Tag? Nun, das war seine Sache. Tim und sein jugendlicher Begleiter strebten auch sofort auf Bartje zu, der ihnen überrascht entgegensah.
„Tim? Nick? Was macht ihr denn hier? Hatte Tanja dir nicht gesagt, du solltest nicht herkommen?“
Nick machte ein säuerliches Gesicht.
„Das hat sich ja wohl erledigt. Außerdem hat Tim mich mitgenommen. Es gibt etwas Neues.“
Erstaunt lauschte Bartje den neuesten Nachrichten von Nick.
„Ihr wollt doch da nicht wirklich rein, oder? Ich meine, da könnte doch sonst was passieren.“
„Bart, du bist ein alter Angstguppy. Was soll da denn schon passieren?“
„Bartje, bitte. Und ich weiß auch nicht was, aber das alles kommt mir nicht geheuer vor.“
„Also gut, dann nehmen wir noch jemanden mit, der uns den Rücken freihält.“
Ohne sich abgesprochen zu haben drehten sich alle drei um und sahen hinüber zu der breiten Gestalt von Dimitry. Tim grinste leicht, dann ging er hinüber.
„Hallo, Dima. Wie siehts aus? Hast du heute Vormittag Interesse an einem kleinen Ausflug?“
Dimitry sah verblüfft zu Tim hoch.
„Du willst mich doch nicht ernsthaft buchen, oder? Also, was habt ihr drei ausgeheckt?“
Mit kurzen Worten erklärte Tim die Situation und Dimitry erhob sich aus dem Sessel.
„Du wirst es mir wahrscheinlich nicht glauben, aber ich habe entschieden etwas gegen Drogen. Etliche meiner sogenannten Sportkollegen nehmen so einige Mittelchen um ihre Muckis schneller und ohne mühsame Arbeit aufzubauen. Hab schon einige von ihnen zu ihrer letzten Reise begleitet. Wo müssen wir hin?“
„Zunächst einmal zum Tresen. Du hast doch Schicht, oder nicht?“
Dimitry sah leicht eingeschüchtert hinüber zu der Dame hinter dem Tresen. Wenn es um die Arbeit und Termine ging, verstand sie keinen Spaß.
„Könntest du nicht mit ihr reden?“
Tim verdrehte die Augen, ging aber hinüber. Zwei Minuten später war er wieder bei Dimitry.
„Sie fragt Patrik, der ist immer scharf auf eine Extra-Schicht.“
Robert legte Wert darauf, dass im Show-Room immer eine kleine Auswahl seiner Angestellten anwesend war.
„Oh, sehr gut. Danke, dass du gefragt hast. Du kannst ganz gut mit ihr, oder?“
Tim zuckte lediglich mit den Schultern. Er musste nun nicht jedem auf die Nase binden, dass die strenge Dame hinter dem Tresen seine Mutter war.
Tim und Dima schlenderten hinüber zu Bartje und Nick. Der sah Dima auf sich zukommen und schluckte schwer. Ganz schön beeindruckend. Und wie gerne wäre er mit einer Hand über die breite, muskulöse Brust gefahren, um dann…
„Du bist also der kleine Bruder von Tanja.“
Nicks Tagträume zerplatzen und er nickte lediglich stumm.
„Khorosho, wo müssen wir hin?“
„Schlummerkugel, Ebene 17.“
„Hm, also die Haltestelle am VR-Center. Und dann Bambusgarten?“
„Nein, besser die Haltestelle am Marngarten. Da brauchen wir nicht so weit zu laufen.“
„Auf geht’s nach unten.“
Roberts Escort Service war in Lod 3 untergekommen, dem Sündenpfuhl, wie es bei den Bewohnern hieß. Und die Kuppel trug den Namen nicht umsonst. Hier gab es jede nur erdenkliche Form von Unterhaltung. Legale oder manchmal auch illegale.
Die wohl am meisten besuchte Unterhaltungseinrichtung war gleichzeitig eine architektonische Besonderheit. Die über 180 Meter hohe und gute 540 Meter durchmessende Kuppel von Lod 3 besaß eine Innenkuppel von 130 Metern Höhe und 50 Meter Durchmesser. Dort sollte ursprünglich ein Atomreaktor stehen, doch der wurde überflüssig durch den Fusionsreaktor in der Länderkuppel der Scientianer.
Also hatte man dort drei runde Tauchbecken installiert, in denen die Lieblingsspiele der Lod durchgeführt wurden: SPOHA – Sportharpunieren. Jeweils zwei Mannschaften zu fünf Mann treten mit stumpfen Harpunen bewaffnet gegeneinander an und müssen ihre Gegner ‚abschießen‘. Es gibt eine Profi- und eine Amateurliga, jede mit gut 20 Vereinen, die jedes Jahr eine Meisterschaft ausschwimmen.
Die kleine Gruppe eilte durch die noch nicht so gut besuchte Null-Ebene, um zu einer der beiden PTIS-Haltestellen von Lod 3 zu kommen. Zum Glück gab es im Moment keine größeren Veranstaltungen. An der Haltestelle brauchten sie auch nicht lange warten, denn der PTIS verkehrte schließlich alle fünf Minuten.
Bis zu ihrem Ziel waren es nur vier Haltestellen und die ganze Reise dauerte nicht lange. In Lod 2, der Schlummerkugel, eilten sie zum nächsten PTIV. Die kleinen Kabinen des Paternosters brachten sie 15 Ebenen nach oben, wo sie dann für die restlichen beiden Ebenen noch einmal umsteigen mussten.
„Warum rennen wir eigentlich so?“
Nick sah Bartje vorwurfsvoll an und wedelte mit seinen Armen.
„Weil ich es wissen will. Und ich will nicht, dass wir zu spät kommen.“
Bartje schüttelte nur seinen Kopf und folgte Nick.
Vor der kleinen Wohnung von Tanja hielten sie an. Dimitry sah sich sichernd um, doch nichts und niemand war erkennbar. Die langen, schmucklosen Gänge, die sich durch die Schlummerkugel zogen, waren nicht besonders belebt. Zumindest nicht um diese Uhrzeit. Die Leute waren entweder auf der Arbeit oder schliefen bereits, müde von ihrer vollbrachten Schicht.
Nick fummelte etwas nervös mit dem Datenchip herum, doch die Tür öffnete sich problemlos. Schnell traten sie ein und Nick verschloss die Tür wieder. Tanjas Wohnung war nicht besonders groß und im Eingang drängelten sich die vier nun etwas.
Tim sah sich neugierig um. Er hatte Tanja schon die ganze Zeit gekannt, die er bei Robert arbeitete, doch hier war er noch nie gewesen.
„Was ist das denn? War das vorher schon so?“
Nick seufzte und sah sich um.
„In dem Chaos hat man sie gefunden. Die Polizei hat nichts weiter verändert. Na, aufräumen werden die wohl kaum.“
Tim grinste, während er sich weiter umsah. Links vom Eingang ein paar Einbauschränke, dann Dusche und Toilette. Ihnen gegenüber die Küchenzeile mit zwei Sitzgelegenheiten. Dann rechts eine Nische mit einem ziemlich großen Bett.
Die Schränke waren aufgerissen worden und ihr Inhalt war auf dem Fußboden verteilt. Selbst die kleinen Schränke und Schubladen der Küchenzeile waren nicht verschont geblieben. Das Bett war vollkommen durchwühlt worden.
„Und was suchen wir jetzt?“
Dimitry sah Nick erwartungsvoll an, doch der zuckte nur mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht. Irgendetwas, was ihre Unschuld beweisen könnte? Ich meine, etwas was beweist, dass sie nicht… Ach, ich weiß doch auch nicht.“
„Ganz ruhig, Kleiner.“
Tim sah erstaunt zu, wie der große, bullige Stawa den Jungen in die Arme nahm und ihm sanft über den Kopf strich.
„Das kriegen wir schon hin, Kleiner.“
Nick entwand sich den muskulösen Armen und musste schnell etwas in seiner Hose korrigieren. Tim bemerkte es aus den Augenwinkeln heraus und verdrehte die Augen. Das fehlte jetzt auch noch. Dimitry sollte sich besser vorsehen, sonst hatte er einen dauerhaften Bewunderer.
„In Ordnung. Wir machen das anders. Nick, du guckst durch die Schränke hier vorne und durch das Zeug, das am Boden liegt. Dima kontrolliert Bad und Toilette, Bartje die Küchenzeile und ich durchsuche das Bett.“
Tim hatte eigentlich mit Widerspruch gerechnet, doch alle machten sich schweigend ans Werk. Der erste, der fertig war, war Dimitry.
„Keine Verstecke, keine auffälligen Sachen. Es sei denn, ich soll die Flasche mit dem Shampoo aufschneiden.“
Tim überlegte einen Moment, schüttelte dann aber den Kopf. Was würde das bringen? Würde jemand Drogen in einer Shampoo-Flasche verstecken? Höchstens jemand, der sie schmuggelte, aber keiner, der sie nutzte. Glaubte er wenigstens.
„Hier ist auch nur der übliche Kram. Viel hatte sie ja nicht.“
Nick schob ein paar der Gegenstände auf dem Boden mit dem Fuß hin und her.
„Aber hier ist was.“
Sofort drehten sich alle zu Bartje, der einen kleinen Gegenstand fast triumphierend in die Höhe hielt. Tim trat näher.
„Was ist das denn?“
„Ein uppländischer Füllfederhalter.“
Tim sah Bartje verblüfft an.
„Ach so? Und was ist daran so Besonderes?“
Auch Dimitry und Nick waren nähergekommen und besahen sich das fragliche Teil.
„Zwei Dinge. Erstens, ich habe Tanja zu ihrem letzten Geburtstag diesen Füllfederhalter geschenkt und ein dazu passendes Buch mit leeren Seiten.“
„So ein Quatsch. Wozu braucht man ein Buch mit leeren Seiten?“
„Lass ihn ausreden, Nick.“
„Danke, Tim. Also, ich habe ihr mal erzählt, dass eine Reihe von Uppländern in ihrer freien Zeit ein Tagebuch führen. Das fand sie ganz interessant und da habe ich ihr das Set geschenkt. Der zweite interessante Punkt ist, dass der Füllfederhalter tatsächlich benutzt worden ist. Und so wie er aussieht, des Öfteren.“
Tim wusste sofort, worauf Bartje hinauswollte.
„Hat hier jemand etwas gefunden, das wie ein Tagebuch aussieht?“
Die anderen drei schüttelten schweigend den Kopf.
„Und es war auch nicht bei ihren persönlichen Sachen?“
Nick schüttelte jetzt vehement seinen Kopf.
„Das wäre nun wirklich aufgefallen.“
„Wo könnte es sein?“
Schweigen machte sich breit. Nick machte ein trauriges Gesicht, während sich Bartje nachdenklich am Kopf kratzte. Dimitry sah immer noch schweigend zu Boden, als er Nick leicht anstieß.
„Du hast doch die Sachen auf dem Fußboden abgesucht. Ist dir nichts aufgefallen?“
„Hä?“
„Hier.“
Dimitry bückte sich und hob ein kurzes Kabel auf. Suchend sah er sich um, bis er die entsprechende Steckdose bei der Küchenzeile fand.
„Ein Anschluss für das Citynet. Wo ist denn ihr Mobiltelefon?“
Nick wurde blass.
„Bei ihren Sachen. Meine Mutter hat sie weggeschlossen. Aber ich…“
Nick unterbrach sich und sah alle der Reihe nach an.
„Du hast dein Geschick ausprobiert, das Schloss geknackt und die Chipkarte mitgehen lassen. Wir sollten das Telefon vielleicht mal nach Kontakten durchsehen.“
Dimitry schüttelte den Kopf.
„Das ist bestimmt mit einem Passwort gesichert.“
Bartje nickte.
„Stimmidentifikation. Das können wir wohl vergessen.“
„Nicht so ganz.“
Nun sahen alle zu Tim, der plötzlich wieder zum Bett trat und darin herumwühlte. Dann hielt er ein kleines Bündel Papiere in die Höhe.
„Hier. Ich dachte, das ist unwichtig. Alles nur alte Rechnungen, Quittungen und Garantiescheine. Aber hier ist der Kaufbeleg für ihr Mobiltelefon. Und der PUK.“
Dimitry grinste leicht.
„Also brauchen wir nur noch das Telefon, uns dreimal falsch anmelden, den PUK eingeben und fertig.“
„Genau.“
Nick sah von einem zum anderen und zappelte dann nervös hin und her.
„Na los. Worauf warten wir?“
„Wo müssen wir hin?“
Nick holte tief Luft.
„Nach unten. Sektor 3, Ebene 3.“
Tim versuchte kurz, sich den Lageplan von Lod ins Gedächtnis zu rufen.
„Da stehen wir ja fast richtig. Wir müssen nur rüber zu Sektor 1 und dann nach unten.“
Nick war schon bei der Tür.
„Kommt ihr endlich?“
Es gab lediglich fünf Übergänge von den Kuppeln hinunter nach Lod 5. Drei davon lagen in Lod 4, einer in Lod 3 und einer in Lod 2. Der Übergang von Lod 2, der Schlummerkugel, war einer der beliebtesten, denn direkt im Ankunftssektor befand sich über ganze drei Ebenen reichend der ‚Billigheimer‘. Wie der Name schon andeutete, gab es dort nichts als den billigsten Ramsch. Dennoch war es beliebter Anlaufpunkt auf dem Weg von oder nach unten.
Nick umging geschickt die Menschenmassen, die sich nun, kurz vor Schichtwechsel, von und zu den Röhren drängten, und führte seine Begleiter in die angenehm ruhige Ecke eines Wohnviertels.
„Meine Mutter dürfte noch nicht da sein. Die hat noch Schicht und vom Krankenhaus bis hier dauert es dann schon mal eine halbe Stunde.“
Schnell betraten sie die Wohnung und Nick strebte sofort zu einem der der Einbauschränke. Etwas überrascht bemerkte Tim dort ein Fach, das mit einem Zahlenschloss gesichert war. Nick drehte an dem Schloss und sofort ging die Tür auf.
„War nicht schwer. Ist mein Geburtstag.“
Rasch holte Nick einen kleinen Plastikbeutel hervor, den er auf dem Tisch auskippte. Neben einer BID waren dort auch ein Mobiltelefon und einige Schmuckstücke.
„Was ist das denn? So etwas habe ich ja noch nie gesehen.“
Bartje hob eines der Schmuckstücke an, ein Armband, das offensichtlich aus Gold gefertigt worden war.
„So eine Fertigung ist mir neu. Bei unserer Sippe wurde ein wenig Schmuck aus Metall hergestellt, aber sowas…“
„Hm, vielleicht aus der UNL?“
„Nein, die hätten strengere Formen. Und hier, am Verschluss…“
Beinahe hätte Bartje das Armband fallen lassen.
„Ich glaub‘ es nicht. Es hat eine Prägung. Hier steht 585. Wisst ihr, was das heißt?“
Als er sich nur von fragenden Gesichtern umringt sah, seufzte Bartje theatralisch.
„Also nicht. Das gute Stück ist vermutlich voreiszeitlich.“
Die jetzt einsetzende Stille konnte man fast körperlich spüren. Der erste, der zu Wort kam, war Nick.
„Völlig unmöglich. So ein Ding hätte sie sich niemals leisten können.“
Tim und Dimitry verdrehten gleichzeitig die Augen.
„Du vergisst ihren Beruf. Mit viel Glück bekommt man sowas auch mal geschenkt.“
„Was!? Ehrlich?“
Tim nickte und dachte mit einem etwas schlechten Gewissen an den Stapel Bekleidung, der nun bei Kevin im Schrank lag.
„Was ist jetzt mit dem Telefon?“
„Oh, ja. Soll ich mal versuchen zu starten?“
Tim nickte und Nick schaltete das Telefon ein.
„Ah, Gesichtserkennung. Erster Fehlversuch. Zweiter Fehlversuch. Dritter Fehlversuch. Gerät wurde gesperrt.“
„War vorauszusehen. Hier, der PUK.“
Nick tippte emsig und wurde dann mit einem Startbildschirm belohnt.
„Ich soll ein neues ID-Merkmal eingeben. Ich nehme dann mal besser einen Zahlencode. Am besten wieder meinen Geburtstag.“
Tim schüttelte lediglich den Kopf.
„Mach einfach.“
Nick tippte und dann grinste er über das ganze Gesicht.
„Ich bin drin.“
„Und?“
„Hier sind Textnachrichten. Sie hat nicht viel mit jemandem geschrieben. Nur ein paar Leute. Hm, merkwürdig. Die Namen werden gar nicht angezeigt. Moment. So ein Walscheiß!“
Bartje runzelte missbilligend die Stirn.
„Nicht fluchen. Erzähl mal lieber, was los ist.“
„Die Kontaktdaten sind verschlüsselt. Ich kann zwar die Nachrichten lesen, aber nicht, mit wem sie ausgetauscht wurden. Und hier, die Angaben der Sprachverbindungen sind ebenfalls noch vorhanden, aber die Teilnehmer sind ebenfalls verschlüsselt. Wenn man die Kontaktdaten anzeigen lassen will, braucht man ein eigenes Passwort.“
Zur allgemeinen Überraschung nickte Dimitry wissend.
„Das ist gar nicht so selten. Privat nutzbare Verschlüsselungen gibt es von Naxon zu einem relativ günstigen Preis. Sind bei kleinen Geschäftsleuten sehr beliebt.“
„Und jetzt?“
„Was ist denn mit den Textnachrichten? Steht da nichts Brauchbares drin?“
„Die sind immer nur kurz und ohne Empfänger kann ich nicht beurteilen, ob sie wichtig sind. Hier: Erscheine wie abgesprochen. Oder hier: Profil löschen ging nicht. RES ist Passwortgesichert. Was ist denn RES?“
Fast automatisch antworteten alle drei
„Roberts Escort Service.“
„Sie wollte ernsthaft ein Profil löschen? Also geht es um einen Kunden.“
Nick war verwirrt.
„Was denn für ein Profil?“
„Bei Robert wird für jeden Kunden ein Profil angelegt. Besondere Vorlieben, Abneigungen, bevorzugte Begleiter, Typenfixierung, abwegige Praktiken, na ja, sowas alles. Natürlich alles im Interesse des Kunden.“
Nick sah Tim zweifelnd an.
„Wozu soll das denn gut sein?“
„Für einen besseren Service. Stell dir mal vor, du kommst da öfter als Kunde hin. Damit du nicht jedes Mal erklären musst, was du gerne hättest, wird eine gewisse Auswahl eingegrenzt. Dann brauchst du auch nicht immer den ganzen Katalog durchsehen, bevor du dich entscheidest. Die Vorlieben und Abneigungen werden aus den Infos gesammelt, die die Begleiter bereitstellen und sind interessant für einen neuen Begleiter, der sich schon mal darauf einstellen kann und nicht gleich in einen Hairachen schwimmt.“
„Aber warum wollte sie denn ein Profil löschen? Und von wem?“
„Wenn wir das wüssten, wären wir schon weiter. Das brisante an einem Profil ist, dass dort auch Daten zu dieser Person hinterlegt sind. Keine Namen, aber eine Beschreibung. Hauptsächlich der körperlichen Merkmale. Das könnte bei einigen Rückschlüsse auf ihre Identität geben.“
Dimitry tippte Tim nun ungeduldig auf die Schulter.
„Was ist jetzt mit dem Telefon? Was machen wir damit. Wollen wir zu Robert gehen, oder fällt dir was anderes ein?“
„Zu Robert auf keinen Fall. Der sperrt sich doch gegen alles, was sein kleines Geschäft beeinträchtigt. Wenn der merkt, dass jemand an die Profile wollte, dreht er ab.“
„Also?“
Tim hatte schon eine Idee, aber er wollte eigentlich nicht noch mehr Leute in die Angelegenheit mit hineinziehen. Und schon gar nicht jemanden aus seiner eigenen Familie. Doch die Neugier siegte und auch ein wenig der Wunsch nach Gerechtigkeit. Irgendetwas stimmte nicht und er wollte wissen, was es war.
„Wir müssen zu mir nach Hause. Ist nicht weit. Gleich hier im Sektor zehn Ebenen runter.“
„Aha. Und was sollen wir da?“
„Wirst du schon sehen.“
Die zehn Ebenen waren schnell überwunden und nun standen sie in einem weiteren Gang, der sich in nichts von dem unterschied, den sie gerade verlassen hatten. Lediglich die fast metergroße Beschriftung an jedem Ganganfang und -ende verriet, in welchem Sektor und auf welcher Ebene sie sich befanden.
Vor einer der Türen zögerte Tim noch etwas, doch dann betrat er entschlossen sein Heim. Auf 24 Quadratmetern lebte er hier mit seiner Familie, solange er denken konnte. Seine Mutter hätte sich diese großzügige Wohnung nicht leisten können, würden er und seine Großmutter nicht etwas zur Miete beisteuern.
Tim scheuchte die anderen ebenfalls herein und schloss die Tür. Wie erwartet, war noch jemand anwesend, der nun neugierig zu den Besuchern herübersah.
„Hallo, Tom. Das sind Dima, Bart und Nick. Wir möchten dich gerne mal was fragen.“
Gegenüber des Eingangs saß an einer kombinierten Wohn- und Arbeitsecke ein junger Mann, wohl ebenso alt wie Nick. Er hatte fast die gleichen Gesichtszüge wie Tim und auch die gleichen dunkelblonden Haare und blauen Augen. Lediglich die Haare waren bei ihm deutlich länger.
„Also Leute, das ist Tom, mein kleiner Bruder. Er wird uns ganz sicher mit unserem Problem helfen können.“
Etwas erstaunt sahen die drei Besucher zu Tom, dann kicherte Nick leicht.
„Tim und Tom? Deine Eltern waren sehr einfallsreich.“
Tim seufzte, während Tom giftige Blicke an Nick verschickte.
„Du kennst nicht alle. Mein anderer großer Bruder heißt Todd.“
Nick verstummte und sah Tom skeptisch an. Wenn der ihnen helfen konnte, sollte er ihn wohl besser nicht verärgern. Tim hielt wortlos eine Hand auf, bis Nick etwas verspätet reagierte und ihm das Mobiltelefon reichte. Dann gab er es Tom.
„Kannst du die Kontaktdaten entschlüsseln?“
Tom sah seinen Bruder überrascht an. Noch nie hatte der ihn auf sein kleines Hobby angesprochen, obwohl die ganze Familie wusste, dass er sich mit seinem teuren Laptop nicht nur im öffentlichen Citynet herumtrieb.
Tom nahm das Telefon entgegen und sah auf das Display.
„Passwort?“
„170481“
Tom sah Nick grinsend an.
„Anfängerfehler. Niemals ein Geburtsdatum nehmen. Deines, nehme ich an.“
Tom grinste nochmals bei Nicks verblüfftem Gesicht. Dann fischte er ein Kabel aus einer Schublade und verband das Telefon mit seinem Laptop. Kurz studierte er die Anzeigen, dann drehte er sich zu seinem Bruder.
„Also, ich könnte die Daten wahrscheinlich entschlüsseln. Ist nur ein Standardprogramm. Die Frage ist nur, will ich das auch?“
Tim sah seinen Bruder erstaunt an, während Nick jetzt endgültig seine Fassung verlor.
„Was willst du denn, du kleines Arschloch? Versuchst du jetzt, den geilen Macker rauszustellen, oder willst du Geld? Ich habe nichts mehr. Ich habe alles…“
Nick verstummte, als Dimitry ihm eine seiner breiten Hände auf den Mund legte und ihn nach nebenan außer Sichtweite zerrte.
Tim und Bartje sahen ihnen verblüfft hinterher, während Tom ein eher fassungsloses Gesicht machte.
„Was hat der denn? Ich habe doch noch gar nichts gesagt.“
Tim setzte zu einer Kurzfassung der ganzen Geschichte an, während Tom aufmerksam zuhörte. Noch während Tim erzählte, tippte er eifrig auf seinem Laptop herum. Am Ende von Tims Ausführungen lehnte sich Tom zurück und schielte kurz auf das Display seines Rechners.
„Tut mir leid, war wohl von Anfang an nicht mein Tag. Jetzt kann ich verstehen, dass er mit den Nerven etwas runter ist. Ich hab ein Entschlüsselungsprogramm gestartet. Wird wohl eine Weile dauern. Was wollt ihr mit den Angaben machen? Zu Department 2 ja wohl nicht, oder?“
„Spinnst du? Die Polizei hat den Fall abgeschlossen. Für die ist die Lage klar und nichts deutet auf etwas anderes als einen goldenen Schuss hin.“
„Also müssen wir abwarten, was dieses Telefon so bringt. Aber ich sage dir gleich, viel wird es nicht sein. Die meisten Leute hinterlegen bei den Kontaktdaten lediglich das Kennwort und den Namen. Da gibt es selten mehr.“
„Das würde schon mal ausreichen. Vielen Dank für deine Hilfe.“
Tim und Tom drehten sich zum Küchendurchgang, wohin Dimitry mit Nick verschwunden war. Nun stand Nick dort und sah schüchtern zu Tom herüber, der ihm großzügig zuwinkte.
„Ich tue es hauptsächlich für deine Schwester. Diese ganzen Drogen sind der größte Walscheiß, der in den Kuppeln kursiert. Ich weiß echt nicht, wie die im BFS das Aushalten. Da soll es ja sogar…“
Tom wurde durch ein leises Piepen seines Laptops unterbrochen.
„Was? Schon fertig? War wohl eher ein Billigprogramm. Mal sehen. Da ist ja tatsächlich nicht viel. Gerade mal wanzig Kontakte. Hey, Tim, ist das dein Kennwort von der Arbeit? TIMSEXYESCORT?“
Tim grunzte nur zustimmend. Die Anschlüsse für das Citynet nutzten Buchstaben als Kennung und jede Adresse hat zwischen zwölf und sechzehn Buchstaben mit Ausnahme der öffentlichen Anschlüsse und der Notrufe.
„Ah, WISTERNICKAGRAR ist dann wohl unser netter Besucher. Wieso Agrar? Interessierst du dich für sowas?“
„Wenn ich Glück habe, bekomme ich im nächsten Jahr einen Studienplatz für Agrartechnik. Letztes Jahr habe ich mein Praktikum in der Algenfarm in Lod 4 gemacht.“
„Oh, na gut. Das wär nichts für mich. Mal weitersehen. Wartet, ich projiziere die Liste.“
Tom drehte seinen Laptop etwas und die Oberfläche wurde auf die gegenüberliegende Wand projiziert. Es war eine kleine Tabelle mit den auf dem Telefon gespeicherten Kennworten und nur wenigen weiteren Informationen dahinter zu sehen.
Nick deutete auf einige der Einträge.
„Stimmt, das bin ich, das ist meine Mutter. Das hier ist unsere Nachbarin, die hat eine Schlüsselkarte für unsere Wohnung. Die hier, die auf ESCORT enden, dürften ja wohl von der Arbeit sein. Da stehen bei einigen ja auch die Namen dahinter.“
Tim nickte und Tom verschob die identifizierten Kontakte nach unten.
„Bleiben nur noch drei. DERSCHWARZEHORST, LENADULLENGRAETZ und SEEWOLFUNTEN. Jemand eine Idee, wer das sein könnte?
Dimitry deutete nach längerem nachdenken auf den letzten Eintrag.
„Klingt wie eine Kneipe. Ein Seewolf ist eine Fischart. Glaub nicht, dass es die hier irgendwo wirklich gibt.“
„Hm, steht auch nichts dabei. Bei der hier schon. Lena Bauer. Das ist ganz klar der Name einer Person, aber was ist DULLENGRAETZ?“
„Keine Ahnung. Und wer ist DERSCHWARZEHORST? Das Kennwort ist ja wohl offensichtlich keine Hauptadresse. Kann man denn nicht einfach da anrufen und nachfragen?“
Nick zog etwas seinen Kopf ein, als ihn alle etwas merkwürdig ansahen. Tom wedelte mit einer Hand.
„Geht’s dir gut? Was willst du denn sagen? Hallo, sie stehen bei einer Toten als Telefonkontakt. Wissen sie zufällig etwas über ihren Tod?“
„Tom!“
„Ach, ist doch wahr. Wenn ihr Tod nämlich nicht durch freiwillige Einnahme von Drogen erfolgt ist, wäre ich da sehr, sehr vorsichtig. Ich habe keine Lust, dass mein großer Bruder als nächster im Gang liegt.“
Betretenes Schweigen machte sich breit, bis Tom seufzte.
„Es gibt da was, was ziemlich unauffällig ist. Ich werde an die drei Adressen einfach eine Spamnachricht verschicken. Zumindest sieht die Nachricht so aus. Aus dem Netzecho können wir erfahren, ob die Nachricht gelesen wurde, oder nicht. Und wenn ja, wie lange es gedauert hat.“
„Und wozu soll das gut sein?“
„Zumindest wissen wir dann, ob die Kennworte noch aktiv sind. Aus dem Netzecho kann man erfahren, wo derjenige gerade war, als er sie gelesen hat.“
„Das geht so einfach?“
Tom lachte.
„Nein, so einfach nicht. Das funktioniert nur, wenn derjenige in eines der öffentlichen Induktionsfelder eingeloggt ist. Wenn er zu Hause am Kabel hängt, kriege ich nur das Echo von der Zentrale. Außerdem braucht man da schon eine gewisse Technik. Und auch das nötige Können.“
Mit flinken Fingern machte er sich ans Werk und dann blickte er gespannt auf den Bildschirm des Laptops. Nach wenigen Minuten lehnte er sich erstaunt zurück.
„In Ordnung. Bis hierhin hab ich euch geholfen, aber den Rest müsst ihr selber machen. Im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen, die hier im Dunklen Surfen, bin ich nicht lebensmüde.“
Alarmiert sah Tim seinen Bruder an, doch der winkte ab.
„Das Kennwort DERSCHWARZEHORST ist im Citynet als nicht aktiv gelistet. Das heißt, es wurde abgemeldet oder wegen fehlender Bezahlung gesperrt. SEEWOLFUNTEN ist irgendwo in Lod 5. Hätten wir auch so draufkommen können, bei dem Namen. Und nun ratet einmal, wo LENADULLENGRAETZ eingeloggt war.“
Bartje lächelte leicht.
„Wenn du es so formulierst, würde ich sagen, in der Goldkuppel.“
„Bingo. Der Herr hat den Pottwal geschossen. Ich bin raus. Ich habe keine Lust, dass mir Department 4 hier die Bude einrennt.“
Tim nickte lediglich, als er an die schwer bewaffnete Anti-Terror-Einheit der Polizei dachte. War das jetzt wirklich etwas zu viel für sie? Dabei konnten die Adressen doch auch ganz banale Hintergründe haben. Tom war vielleicht etwas paranoid mit seiner Vorsicht.
„Wir müssen überlegen, was wir jetzt machen. Eigentlich wollten wir ja Beweise finden, dass Tanja keine Drogen… Moment mal!“
Tim sah Nick an, der sich arglos in der Wohnung umsah.
„Was genau wolltest du herausfinden? Du hast behauptet, Tanja würde niemals Drogen nehmen.“
„Hätte sie auch nicht gemacht,“ kam es von Bartje.
„Bei der Obduktion sind aber Drogen gefunden worden. Department 2 geht von einer freiwilligen Überdosis aus. Ihre Wohnung hat eine Eskimorolle gemacht. Was sagt uns das? Wenn ihr jemand Drogen verabreicht hat, warum denn? Bestimmt nicht, um nur die Wohnung zu durchsuchen. Da muss etwas anderes dahinterstecken.“
„Sag ich doch. Tanja hat nicht viel unternommen. Sie hat alles gespart, um irgendwo anders einen neuen Job zu bekommen.“
Tim schüttelte den Kopf. Der Traum vieler Prostituierten, männlich wie weiblich. Einfach genug Geld zu sparen, um rauszukommen und sich aus dem Vertrag freikaufen zu können. Er selbst hätte auch studieren können. Die Uni war kostenfrei, doch dann hätte das Geld nicht mehr für die Wohnung und die anderen laufenden Kosten gereicht. Seine Mutter und die Großmutter hätten ihn und Tom niemals allein mit durchbringen können, nachdem Todd in eine eigene Wohnung gezogen war.
„Ein privater Kunde?“
Tim und Bartje nickten stumm. Der Einwand von Dimitry könnte zutreffen, auch wenn das Robert nicht gefallen würde. Einen Kunden einfach weiter betreuen, ohne dies über die Agentur laufen zu lassen, war ein sofortiger Kündigungsgrund.
„Denkst du, dieser HORST war ein Privatkunde? Dann sind wir genauso schlau wie vorher. Die machen doch alles, um nicht erkannt zu werden, besonders, wenn sie viel Geld haben.“
Dimitry nickte ernsthaft.
„Du erinnerst dich an die Mail mit der Nachricht über das Profil? Wetten, sie wollte den Typen löschen, damit ihnen keiner auf die Schliche kommt? Wenn wir davon ausgehen, dass das Armband ebenfalls von ihm stammt, dann hat er ausreichend Geld. Und Tanja hätte bestimmt so einiges getan, um ihn an sich zu binden.“
„Aber doch keine Drogen genommen!“
„Wahrscheinlich nicht, aber ganz ausschließen kann man es nicht. Es gibt einige der Herrschaften in unserem Gewerbe, die für Geld alles, und damit meine ich wirklich alles, tun würden.“
Nick schwieg nachdenklich. Das war eine Möglichkeit, die er noch nicht bedacht hatte und es fiel ihm schwer, seine Schwester in diesem Licht zu sehen. Unsicher sah er Tim an.
„Was machen wir jetzt? Wir haben keine weiteren Hinweise mehr.“
„Doch, wir haben noch das Armband. Irgendwo muss es ja gekauft worden sein. Mich würde auch interessieren, wieviel es Wert ist. Wir müssen zurück und es holen. Ich habe auch schon eine Idee, wen wir fragen könnten.“
„Wir müssen nicht zurück.“
Mit einem unsicheren Lächeln zog Nick das Armband aus seiner Hosentasche. Dimitry verpasste ihm einen leichten Schlag auf den Hinterkopf.
„Bist du gänzlich bescheuert? Was willst du der Polizei erzählen, wenn du in eine Kontrolle kommst? Ich schleppe den Schmuck von meiner toten Schwester durch die Gegend? Nein, ich kann nicht beweisen, dass ich der Eigentümer bin.“
„Apropos Eigentümer. Stellt sich die Frage, ob Tanja das hätte beweisen können.“
Dimitry sah zu Tim und nickte, während er Nick sanft über den Kopf strich.
„Du hast gesagt, du hast eine Idee. Wo willst du hin?“
Die Antwort kam aus einer anderen Ecke.
„Zu Großmutter! Geil, ich komme mit.“
Drei junge Männer drehten sich irritiert zu Tom, während Tim entschieden den Kopf schüttelte.
„Von wegen. Du bleibst hier. Wir sind schon so auffällig genug. Je größer die Gruppe, desto wahrscheinlicher eine Kontrolle.“
„Mal langsam. Wo willst du jetzt hin und was hat eure Großmutter damit zu tun?“
„Unsere Großmutter hat in der Schacherstadt einen Verkaufsstand für ARTefacts. Da gehen so etliche kleinere Teile über den Ladentisch, hauptsächlich an Touristen. Aber sie hat echt die Ahnung von dem Zeug.“
Schacherstadt - das war Lod 4. Die Stadt, die zwischen den drei großen Kuppeln errichtet worden war und wo der meiste Handel und Warenumschlag stattfand.
Dimitry machte ein skeptisches Gesicht.
„Bist du sicher, dass eure Babuschka sich mit solch teuren Sachen auskennt?“
Tom grinste.
„Sie hat Geschichte studiert. Hat dann aber keine Stelle bekommen, wie sie immer erzählt. Deshalb hat sie zusammen mit meinem Großvater diesen Laden eröffnet. Großvater war mit einem kleinen Schiff als Wracksucher unterwegs, bis er eines Tages nicht mehr wiederkam.“
Tim seufzte leise, während die anderen stumm zuhörten. Ein Familienschicksal, das nicht selten war hier in Lod.
„Wir können auch in zwei Gruppen gehen und treffen uns bei Großmutter.“
„Du willst wohl unbedingt mit. Na gut, du gehst mit Bartje und ich mit Dimitry und Nick. Wir treffen uns im Sektor 7 an der Aussichtsplattform.“
Sektor 7 war einer der kleinsten von Lod 4 und direkt neben der Goldkuppel gelegen. Hier befanden sich die meist kleinen und manchmal auch deutlich größeren Geschäfte für Möbel, Kunst und Hauswaren. Auch Antiquitäten und ARTefacts wurden hier zu durchaus erschwinglichen Preisen feilgeboten.
Als Tim, Dimitry und Nick eintrafen, standen Tom und Bartje bereits vor einer der riesigen Scheiben, die einen Blick nach draußen in die beleuchtete Umgebung gewährten. Majestätisch langsam und gespenstisch lautlos zog gerade ein Schiff der SEEHECHT-Klasse vorüber, auf dem Weg zur Schleuse in Sektor 4.
„Wir sind da. Es kann losgehen.“
Nick starrte immer noch hinaus.
„Einmal möchte ich ja doch gerne mit rausfahren.“
Dimitry lachte heiser.
„Wünsch dir das nicht, Kleiner. Was glaubst du, was da draußen passiert? Im besten Falle nichts. Im schlechtesten Fall trefft ihr auf Piraten und du bist Fischfutter. So sieht das da draußen aus.“
Nick wurde blass, starrte aber weiter hinaus, um dann erschrocken festzustellen, dass die anderen bereits losgegangen waren. Schnell eilte er hinterher. Lod 4 war definitiv seine Lieblingskuppel. Hier erreichte die Decke in Ebene Null die schwindelerregende Höhe von 30 Metern und Nick fragte sich insgeheim, wie es wohl ausgesehen haben mochte, als die Menschen noch nicht in Kuppel lebten. Wie hoch mochten deren Ebenen gewesen sein?
Die kleine Gruppe schlenderte durch die angenehm breiten Straßen, die genug Platz für neugierige Touristen und potenzielle Käufer ließ. Wobei das eine das andere ja nicht ausschloss.
Kleine Verkaufsstände wechselten sich mit den Eingängen zu doch recht großen Läden ab und Nick sah sich umringt von Möbeln aller Art bis hin zu echten Gemälden oder Skulpturen. Vor einer blieb er steh und schüttelte den Kopf. Dieses Gewusel aus Draht und Stahlteilen sollte Kunst sein? Und dann auch noch für… was?! 3.000 LEX. Unglaublich.
Bartje war an einem Stand mit uppländischen Textilien stehengeblieben und prüfte die Qualität. Als er wieder zu Tom kam schüttelte er nur den Kopf.
„Ich weiß ja nicht, wo die Sachen hergestellt worden sind, in Uppland auf jeden Fall nicht.“
Bei einem weiteren Stand blieben Tim und Tom stehen und sahen die anderen drei erwartungsvoll an. Hier gab es zwei verschlossene Vitrinen mit allerlei kleinen Ausstellungsstücken. Nick besah sich etwas zweifelnd die Auslage.
„Was soll das denn alles sein?“
„Das sind die besagten ARTefacts. Eine Mischung aus Kunst, zu scientanisch ART, und dem Begriff eines Artefakts. Also eines Überbleibsels aus einem vorherigen Zeitalter. Die Sachen können entweder einen großen materiellen Wert oder einen Sammlerwert besitzen. Wobei manche Sammler ohne Weiteres horrende Preise für einen Gegenstand bezahlen, von dem sie nicht einmal genau wissen, was das ist.“
„Was? Ehrlich? Aber wer kauft denn sowas?“
„Die unterschiedlichsten Leute. Manchmal wirkliche Kunstliebhaber, die Kunstwerke, Schmuck oder sowas erstehen. Dann aber auch geschichtlich Interessierte, die herausfinden wollen, was der Gegenstand genau ist, wozu er gebraucht wurde und so. Sie wollen sich sozusagen ein Bild von der voreiszeitlichen Kultur machen. Daher kaufen auch manchmal Museen und Forschungseinrichtungen solche Sachen.“
„Hm, die Preise hier sind ja ganz annehmbar. Wonach richten die sich denn?“
„Nach Angebot und Nachfrage. Etliche Sachen gibt es sehr oft. Zum Beispiel Dinge aus Glas, Porzellan oder Edelmetallen. Die werden vom Meerwasser nicht angegriffen und sind noch gut erhalten. Siehst du da den Teller mit dem kleinen blauen Anker drauf? Der hat wohl mal zu einem ganzen Service gehört. Der ist mit 450 LEX noch gut im Rennen.“
„Und die teuren Sachen?“
„Du denkst an das Armband, richtig? Das müssen wir schätzen lassen. Aber ich gebe dir mal eine andere Zahl. Bei einer Auktion in Logika wurde vor kurzem eine wahrscheinlich mehr als tausend Jahre alte Bronzestatuette für unglaubliche 2,3 Mio. LEX versteigert, weil sich zwei konkurrierende Sammler im Kaufrausch gegenseitig immer wieder überboten haben.“
Nick starrte Tim ungläubig an. 2,3 Millionen! Wer hatte denn so viel Geld?
„Tim und Tom! Und dann auch noch in so netter Begleitung.“
Die fünf wandten nun ihre Aufmerksamkeit von den Vitrinen hin zum Eingang des kleinen Ladens. Dort stand eine ältere Dame, die in Dimitrys Augen jedes Klischee einer guten stawischen Babuschka erfüllte.
Sie war klein, rundlich und ihre schneeweißen Haare waren tatsächlich zu einem Dutt hochgebunden. Das Einzige, was den Gesamteindruck etwas störte, war ein locker sitzender dunkelblauer Overall mit etlichen bunten Aufnähern.
Tim grinste, als er das Gesicht von Dimitry sah. Dann machte er eine allumfassende Handbewegung.
„Großmutter, das sind Dimitry, Bartje und Nick. Wir haben einen kleinen Überfall auf dich vor.“
„Oho. Dann mal rein mit euch!“
Die alte Dame scheuchte die jungen Herren in ihren kleinen Laden und verschloss wieder die Tür. Mit ernstem Blick musterte sie Tim.
„Was gibt es so Wichtiges? Tom geht selten aus dem Haus und du hättest deine Ruhezeit. Wenn ich mich recht erinnere, hast du einmal einen Bartje als deinen Kollegen erwähnt. Bei Dimitry nehme ich das mal ebenfalls an. Nick hier scheint mir allerdings etwas zu jung dafür.“
Tim grinste noch breiter, während Dimitry und Bartje sich etwas betroffen ansahen. Nick wurde leicht rot und sah zu Boden.
„Also. Was wollt ihr von einer alten Frau wie mir?“
„Das ist ganz einfach.“
Tim hielt die Hand auf und Nick reagierte diesmal sofort. Tim legte das Armband kommentarlos auf den kleinen Tisch den seine Großmutter als Schreibtisch nutzte. Wortlos blickte die Frau auf den Schmuck, dann setzte sie sich an den Tisch. Sie knipste eine zusätzliche Lampe an und holte eine Lupe aus der Schublade. Immer noch schweigend betrachtete sie das Schmuckstück eine ganze Weile.
„Woher habt ihr das?“
„Es gehörte meiner Schwester,“ platzte Nick heraus.
Nun erzählte Tim in knappen Worten die ganze Geschichte. Eva Senger hörte meist schweigend zu und stellte nur wenige Zwischenfragen. Am Ende der Geschichte deutete sie auf das Armband.
„Seht euch da Ding doch mal an. Ein Gliederarmband in fünf Reihen. Die mittlere in Rotgold, Dann links und rechts Weißgold und die Äußeren Reihen Gelbgold. Wie Bartje richtig bemerkt hat, trägt es einen Reinheitsstempel, der vor der Eiszeit üblich war. Ich würde es ohne weiteres auf einen Sammlerwert von 70 - 80.000 LEX schätzen.“
„WAS!?“
Nick quiekte förmlich. Auch Tim hob erstaunt die Augenbrauen.
„Sowas wird doch nicht einfach in irgendeinem Laden verkauft, oder?“
„Nein. Die wertvolleren Stücke werden meist bei Auktionen angeboten. Wenn es hier in Lod versteigert wurde, kann ich das recherchieren.“
Damit wandte sie sich ihrem Laptop zu, der bisher unscheinbar in einer Ecke zusammengeklappt gelegen hatte.
„Alle Auktionen in Lod sind öffentlich und die Firmen veröffentlichen ihre erfolgreichen Versteigerungen im Citynet. Allerdings werden nur die Gegenstände veröffentlicht. Es gibt keine Angaben zum Käufer.“
Während Tom seiner Großmutter über die Schulter sah, interessierten sich die anderen für die Ausstellungsstücke in dem kleinen Laden.
„Aha. Ich war mir sicher, ich hatte es schon einmal gesehen. Hier ist es. Das Armband ist vor etwa vier Monaten im Auktionshaus Grätz versteigert worden.“
Alle fünf sahen sich nun verblüfft an.
„Was? Wie heißt das Auktionshaus?“
„Grätz. Befindet sich in der Goldkuppel. Eines der exklusivsten Häuser Lods. Hier steht auch der Preis. Das Armband ist damals für 125.000 LEX versteigert worden.“
Tim umarmte spontan seine Großmutter und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
„Vielen Dank. Du hast uns sehr geholfen. Wir werden dann mal weiterziehen. Wir sehen uns zum Abendessen.“
Eva Senger sah den jungen Männern nachdenklich hinterher, die nun eilig ihren Laden verließen. So hatte sie Tim selten erlebt. Eigentlich war er bisher nur ein einziges Mal so energisch und zielgerichtet aufgetreten. Und das war, als er seiner Mutter unmissverständlich klar gemacht hatte, dass er auch gegen ihren Willen den Job im Escort Service annehmen würde.
Sie hatten sich aus dem dichten Fußgängerverkehr des Sektors 7 in den weniger belebten Sektor 4 zurückgezogen. Hier im Westhafen saßen sie auf einigen der herumstehenden leeren Kisten und sahen hinüber zu den Schiffen im Innenhafen. In diesem Hafenbecken gab es weniger Frachtumschlag, dafür lagen dort etliche kleinere Privatschiffe, von denen man sogar einige gegen Bezahlung besichtigen konnte.
„Also, was machen wir jetzt?“
„Wir müssen zu diesem Auktionshaus.“
„Das ist in der Goldkuppel, Nick. Da kommen wir nicht so einfach rein. Außerdem, was willst du denen sagen? Das Armband hab ich meiner toten Schwester abgenommen. Sie müssen mir unbedingt sagen, wer es ihr gekauft hat?“
„Tom, nicht schon wieder. Lass Nick in Ruhe.“
Tim und Tom wurden von Bartje unterbrochen.
„Aber er hat schon recht. Die einzigen, die wissen wer das Armband gekauft hat, sind die Leute im Auktionshaus. Aber ob sie uns das verraten, ist doch eher zweifelhaft. Kann man da nicht etwas mit deren Computer versuchen?“
„Nur wenn du mir versprichst, mich für den Rest meines Lebens im Hummerkäfig zu besuchen.“
Bartje hob abwehrend seine Hände. Der Hummerkäfig war im Volksmund das außerhalb der Kuppeln gelegene Gefängnis von Lod.
Tom sah unentschlossen seinen Bruder an.
„Sag mal Tim, was ist denn mit Kevin?“
„Nein, nein, nein. Den will und werde ich da bestimmt nicht mit reinziehen.“
Bartje und Dimitry sahen Tim neugierig an.
„Wer ist denn Kevin?“
„Tom, du bist ein altes Plappermaul.“
„Was? Woher soll ich denn wissen, dass du nichts gesagt hast.“
„Wer ist Kevin?“
„Kevin ist mein Freund, fertig.“
„Freund? Du hast einen Privatkunden?“
„Nein, verdammt. Er ist mein Freund. Im Sinne von Beziehung, verstanden? Und dass sich ja niemand von euch verplappert.“
Bartje und Dimitry sahen Tim mit merkwürdigen Blicken an. Dimitry faltete seine Hände wie zu einem Gebet.
„Bei der Heiligen Barbara, nun ist auch er ein Opfer geworden.“
Tom sah Dimitry fragend an.
„Was denn für ein Opfer?“
„Ein Opfer der Liebe. Das Schlimmste, was dir in unserem Beruf passieren kann. Was glaubst du, wie lange du dann noch dein Privatleben und deinen Beruf miteinander vereinbaren kannst?“
Tom sah nachdenklich zu Tim, während Bartje schon einen Schritt weiter war.
„Und was hat dieser Kevin dann mit unseren Nachforschungen zu tun?“
Tim fuhr herum und fauchte Bartje an.
„Weil er in der Goldkuppel wohnt. Zufrieden?“
Es dauerte einen Moment, bis Bartje antwortete, aber er lächelte dabei.
„Ist ja gut. Wir haben doch gar nichts gesagt. Aber eine Möglichkeit wäre es schon, oder?“
Tim lief leicht rot an und Bartje hob abwehrend seine Hände.
„Ich hab’s ja verstanden. Dann müssen wir uns eben etwas anderes einfallen lassen. Aber so einfach kommt man nicht in die Goldkuppel und zu dem Auktionshaus bestimmt auch nicht.“
Tim schwieg verbissen und dachte an Kevin. Wie würde der wohl auf diese ganze Sache reagieren? Sie kannten sich gerade mal etwas mehr als einen Monat und hatten nur wenige tiefschürfende Gespräche geführt. Ihre gemeinsame Zeit hatten sie mehr den körperlichen Aktivitäten gewidmet.
Tim zückte sein Mobiltelefon und sah nach, ober er hier eingeloggt war. Dann wählte er ein Kennwort und lauschte dem Rufton. Die anderen verfolgten Neugierig sein Gespräch.
„Hallo, hier ist Tim Senger. Ja, genau der. Ja, ich weiß, dass er erst morgen zurückkommt, aber ich hätte da ein anderes Problem. Nein, nicht ich persönlich. Das ist am Telefon sehr schwer zu erklären. Bitte? Nein, das wird kein… oh, Entschuldigung. Ja, natürlich. Wir sind gerade im Westhafen. Fünf Personen. Nicht dass es wie ein Überfall aussieht. Ja, danke. Bis dann.“
Als Tim sein Mobiltelefon wieder einsteckte, sah er sich von vier fragenden Gesichtern umringt.
„Das war der Großvater von Kevin. Er ist auf dem Weg hierher.“
Bartje sah Tim ungläubig an.
„Der Großvater von Kevin. Aus der Goldkuppel. Und der kommt so einfach hier her, weil du ihn angerufen hast? Denk mal nach. Der schickt höchstens die Polizei.“
„Glaub ich nicht. Aber das werden wir ja sehen.“
Die kleine Gruppe vertrieb sich noch ein wenig die Zeit, wobei Tom die anderen hauptsächlich mit den neuesten Ergebnissen der SPOHA-Liga traktierte.
„Da ist er ja.“
Alle drehten sich um und sahen zwei Personen scheinbar ziellos durch den Hafen wandern. Der ältere Mann erklärte seinem jüngeren Begleiter ein paar der hier liegenden Schiffe, während er sich aufmerksam umsah.
Dimitry erstarrte.
„Das ist…“
„Ja, das ist Halldur Harms, der Großvater von Kevin. Und der andere ist Fabian. Seine Mutter ist sowas wie eine Haushälterin bei Herrn Harms.“
Dimitry schwieg verbissen und sah sich unsicher um.
Halldur Harms hatte inzwischen die Gruppe bemerkt und steuerte auf sie zu.
„Hallo Tim. Das ist ja fast ein konspirativer Treff. Und wie ich sehe, hast du zwei Kollegen mitgebracht.“
„Ja, das sind Bartje und Dimitry. Dies hier ist Nick, der Bruder einer ehemaligen Kollegin und der dort ist mein Bruder Tom.“
Halldur nickte bei jedem Namen. Als Dimitry erwähnt wurde, ruhte sein Blick etwas länger auf ihm, aber er folgte weiter der Vorstellung.
„Ich habe mir Fabian als Verstärkung mitgebracht. Man weiß ja nie, was einem alten Mann so im Hafen begegnet. Aber wenn ihr nichts dagegen habt, würde ich die Unterhaltung gerne in einer etwas ruhigeren Umgebung weiterführen. Folgt mir einfach.“
Leicht überrascht schlossen sie sich dem munter ausschreitenden alten Herrn an, der Fabian mit einem Auftrag losschickte. Der Weg führte sie von Sektor 4 zurück nach Sektor 7 und von dort in den etwas mondäneren Sektor 8.
Hier befanden sich oberhalb der Null-Ebene die Börse von Lod und darüber der große Ratssaal des Rates der Länder. In der Null-Ebene von Sektor 8 hatten sich daher etwas exklusivere Geschäfte angesiedelt. Hier wurde mit Schiffen und Immobilien aus allen Ländern gehandelt und fast alle großen Konzerne hatten hier ihre Filialen.
Fabi stand bereits abwartend vor einer riesigen gläsernen Doppeltür.
„Alles erledigt.“
Halldur nickte ihm dankend zu und steuerte entschlossen auf die Tür zu. Die anderen folgten ihm deutlich zögernder. Tim hatte über dem Eingang den Schriftzug Wellust gelesen. Dies war ein Nahrungsmittelkonzern aus Uppland und bekannt wegen seiner exquisiten und deshalb nicht gerade günstigen Waren.
Fast wie aus dem Nichts erschien ein dunkel befrackter Angestellter.
„Womit kann ich den Herrschaften dienen?“
„Mein Name ist Harms. Ich habe kürzlich reservieren lassen.“
„Oh ja, selbstverständlich. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“
Der Mann führte sie vorbei an langen Empfangstresen zu einer Durchgangstür auf der Café Wellust zu lesen war.
„Hier zur Linken bitte. Ein Separee für zehn Personen. Möchten Sie ihre Bestellung sofort aufgeben, oder brauchen Sie etwas Zeit?“
„Ich denke, wir machen es sofort. Wenn Sie dann serviert haben, möchten wir nicht mehr gestört werden.“
„Selbstverständlich. Es dauert nur einen kurzen Moment, bis jemand bei Ihnen ist.“
Der kleine Raum beinhaltete nur einen einzigen Tisch, doch der hatte es in sich. Aus massivem Holz gearbeitet, fanden sich zehn Sitzplätze darum, jeder mit einem ebenso gemaserten hölzernen Stuhl versehen.
Wie selbstverständlich nahm Halldur Harms an einem Kopfende Platz und bedeutete Tim, sich rechts von ihm niederzulassen. Links wurde Fabi platziert und der Rest verteilte sich um den Tisch.
An jedem Platz befand sich eine Karte. Als Tim sie aufnahm und das Angebot studierte, hatte er das Gefühl, als hätte ihm jemand die Atemluft abgedreht.
Kirschtorte Uppland (mit echten Kirschen) 710,00 Stück
Apfelkuchen Uppland 640,00 Stück
Schokotorte 720,00 Stück
Schokotorte mit Kirschen und Alkohol 920,00 Stück
Süßvla aus Kuhmilch 620,00 Portion
Kakao Wellust Choklat 300,00 Tasse
Kaffee Wellust Fikan 300,00 Tasse
Wellust Fruchtsaft je 800,00 Glas 0,2 l
Kirsch
Apfel
Orange
Pflaume
Etwas verstört sah Tim nach links zu Halldur, der die Karte nur beiläufig studiert hatte. Bartje sah mit versteinertem Gesicht auf den Tisch, während Nick die Karte mit leicht geöffnetem Mund fixierte.
„Tut euch keinen Zwang an. Ihr könnt ruhig bestellen, was ihr haben möchtet. Die Rechnung geht auf mich.“
„Aber…“
In diesem Moment öffnete sich die Tür und ein Kellner kam herein. Der junge Mann verbeugte sich beflissen.
„Wenn Sie dann bitte bestellen würden. Wir werden so schnell wie möglich servieren.“
Bartje sah etwas ungläubig zu dem jungen Mann hinüber.
„Marius?“
Der Kellner ruckte herum und sah ebenso ungläubig zu Bartje, der etwas zögerlich weitersprach.
„Marius? Ich dachte, du bist längst wieder zurück.“
„Wohl nicht. Als ob dich das interessieren würde.“
Dann wurde er sich wieder bewusst, wo er war und was er hier tat.
„Bitte entschuldigen Sie. Ich bin bereit, Ihre Bestellung entgegenzunehmen.“
Halldur Harms sah sich skeptisch am Tisch um und schüttelte den Kopf.
„Das machen wir ganz einfach. Bringen Sie sieben Mal die Kirschtorte und sieben Tassen Kaffee!“
„Sehr wohl. Es wird nicht lange dauern.“
Fast etwas zu hastig zog sich der Kellner zurück und alle am Tisch sahen fragend zu Bartje. Nach einem kurzen Moment seufzte dieser und sah auf den Tisch, während er redete.
„Ich wurde in einer der zahllosen kleinen Kuppeln von Uppland geboren. Als im Jahr 85 viele Uppländer ihre Sachen packten, um in andere Länder auszuwandern, machten das auch meine Eltern. Da war ich gerade sieben Jahre alt. Fast die gesamte Sippe hat die Kuppel verlassen und ist nach Lod gegangen. Und hier ist genau das passiert, was viele der Zurückgeblieben vorausgesagt hatten. Wir Uppländer wurden, wenn nicht gerade verlacht, so doch an den Rand der Gesellschaft geschoben. Nichts Praktisches gelernt, zumindest nicht nach Lod-Standard. Kein Geld, keine Ahnung und soooo naiv.“
Tim sah peinlich berührt hinüber zu Bartje, doch der sprach ungerührt weiter.
„Ich habe mit meinen Eltern fünf Jahre lang unten gewohnt. Zusammen mit etlichen anderen aus unserer Kuppel. Als dann die zweite Auswanderungswelle aus Uppland kam, haben wir es geschafft und uns als Führer und Berater der anderen Uppländer langsam einen Namen gemacht und hochgearbeitet. Aber einfach war es nicht. Vor drei Jahren sind meine Eltern und viele andere meiner Sippe zurück nach Uppland. Sie sollen sogar wieder in unserer alten Kuppel wohnen.“
Bartje hob den Kopf und sah sich um. Niemand sagte etwas.
„Also gut. Meine Eltern drängten mich, ich solle ebenfalls wieder mit ihnen zurückkehren, doch ich hatte ein anderes Problem. In Uppland ist es nicht einfach, mit einem anderen Mann zusammen zu leben. Die Sippen leben davon, dass geheiratet wird und Kinder kommen. Als ich schließlich meinen Eltern gestanden habe, dass ich schwul bin, haben sie Lod verlassen, ohne noch ein einziges Mal mit mir gesprochen zu haben. Fast alle aus unserer Sippe sind ihnen gefolgt und ich dachte, Marius wäre auch mit fort.“
„Er war dein Freund?“
„Zwei Jahre lang. Heimlich. Aber dann hat er Angst bekommen und gesagt, er würde heiraten. Bis heute habe ich gedacht, er wäre auch zurückgegangen.“
Als sich die Tür öffnete sah Bartje erwartungsvoll hinüber, doch es war eine junge Dame, die nun einen Servierwagen hereinschob und die Bestellung verteilte.
Halldur rührte beiläufig mit einem Löffel in seinem Kaffee, während andere fast misstrauisch die Torte musterten. Mit einem leichten Knicks verschwand die Bedienung.
„Tut euch keinen Zwang an. Schmeckt hervorragend.“
Nick war der erste, der etwas von der Torte probierte. Sein Gesichtsausdruck wechselte von misstrauisch über erstaunt bis hin zu ekstatisch.
‚Wenn er jetzt noch stöhnt, könnte man meinen, er hat einen Orgasmus‘.
Tim grinste bei dem Gedanken, während er nun auch probierte. Er musste Nick zustimmen. Das war etwas ganz anders als dieses aromatisierte Zeug.
„Also, was erfordert denn nun meine sofortige Anwesenheit?“
Fast alle sahen zu Tim.
„Ich schon wieder? Also gut. Eigentlich hat alles mit Tanja, einer Kollegin, angefangen. Nick dort drüben ist ihr Bruder. Vor vier Tagen wurde sie in ihrer Wohnung aufgefunden…“
Es dauerte eine ganze Weile, bis Tim die ganze Geschichte in allen Einzelheiten ausgebreitet hatte. Er war nur an wenigen Stellen durch kurze Fragen unterbrochen worden und Halldur Harms saß nun nachdenklich auf seinem Stuhl und starrte in die leere Kaffeetasse.
„Die Sache ist in der Tat ziemlich undurchsichtig. Ich gebe da noch einen Punkt zu bedenken, der möglicherweise unwichtig erscheint. Der Vorname Horst ist vor allem im BFS sehr verbreitet. Es könnte sich ohne weiteres um jemanden von dort handeln.“
„Oh, daran haben wir noch gar nicht gedacht. Aber so vieler Städter gibt es hier in Lod doch gar nicht.“
„Nun, in der BFS-Kuppel leben ungefähr 7.000 von ihnen.“
Tim staunte. Die anderen sechs Staaten hatten jeweils eine eigene Kuppel auf dem Areal von Lod aufgebaut, von denen jeweils zwei an eine der Kuppeln Lods angelehnt waren. Der Bau des BFS grenzte unmittelbar an Lod 1, wie auch die Kuppel Scientias.
Nur selten waren die Leute aus dem BFS in den Kuppeln von Lod anzutreffen. Meistens in der Schacherstadt oder auch in Lod 3, dem Sündenpfuhl. Am auffälligsten waren jedoch die Beamten des GeSiDi – des Geheimen Sicherheitsdienstes – die so gar nicht geheim in ihren schwarzen Anzügen den Zugang zur BFS-Kuppel bewachten.
„Ich dachte, die dürfen nicht raus aus ihrer Kuppel.“
Halldur wandte sich an den jüngsten der Gruppe.
„Das ist nicht ganz richtig. Du bist Nick, nicht wahr?“
Als Nick zustimmte, fuhr Halldur fort.
„Also Nick. Die Kuppel des BFS ist der zweitgrößte Anbau, nach dem von Stawa. In der Kuppel werden zum größten Teil Algen gezüchtet, was einen erheblichen Teil der Versorgung von Lod ausmacht. Damit sind natürlich nicht alle Bewohner dort beschäftigt. Ein Teil von ihnen hat auch ganz normale Jobs hier in Lod. Hauptsächlich natürlich in der Nahrungsmittel- oder Pharmabranche. Etwa 1.000 Bewohner der Kuppel gehören zum Botschaftspersonal oder dem GeSiDi. Diesen ist es ebenfalls ohne Weiteres gestattet, die Kuppel zu verlassen. Wobei die GeSiDi-Beamten bisher immer nur als Begleiter von höheren Beamten oder deren Angehörigen gesehen worden sind.“
„Das würde ja heißen, bei diesem Horst könnte es sich um einen Angestellten der Botschaft handeln.“
„Oder um einen GeSiDi-Agenten. Es laufen sicherlich nicht alle in diesen hässlichen schwarzen Anzügen herum. Ich möchte wetten, etliche von ihnen haben ganz klare andere Aufträge hier in Lod.“
Schweigen senkte sich über den Tisch. Wenn dies wirklich so war und jemand aus dem BFS in diesen Fall verwickelt war, nahm die Sache viel größere Ausmaße an als bisher angenommen. Selbst Nick war sich im Moment nicht mehr so ganz sicher, ob er wirklich alles über den Tod seiner Schwester wissen wollte.
„Mit dem Auktionshaus Grätz kann ich euch natürlich weiterhelfen.“
Nick sah nun wieder hoffnungsvoll hinüber zu Halldur, der leicht lächelte.
„Ich bin in der glücklichen Lage, den Chef des Hauses Grätz persönlich zu kennen. Allerdings kann ich nicht dafür garantieren, dass er Informationen über einen Kunden herausgibt. Er ist ein wenig – nun ja, die Scientianer würden sagen eccentric.“
Tim hob fragend seine Augenbrauen und Halldur lachte, als er es sah.
„Nun ja, er hat ein ausgeprägtes Interesse an männlichen Begleitern, vorzugsweise der etwas muskulöseren Sorte, die er dann mit vielen weiblichen Accessoires ausstattet und mit ihnen durch Lod 1 flaniert.“
„Ach, der,“ brummte Dimitry.
Tim und Bartje sahen sich erstaunt zu Dimitry um, der jedoch abwinkte.
„Der hat mich nur einmal gefragt und ich habe bereits vorher einen Tipp bekommen. Zum Glück kann ich immer einen Kunden ablehnen.“
Tim nickte unbewusst. Auch das war eine der positiven Seiten bei Robert. In seinem Unternehmen durften die Angestellten schon mal einen Freier ablehnen. Natürlich nicht so oft, doch die meisten machten niemals Gebrauch davon, weil es Geld brachte, egal wer es war.
„In der Tat. Das war damals wirklich ein Glücksfall. Aber weiter zu Gustav Grätz. Ich denke, ich werde ihn aufsuchen und jemand von euch sollte mich begleiten.“
Fast alle drehten sich zu Dimitry um, der entsetzt abwinkte.
„Ich? Niemals!“
„Nein, nein. Ich hatte auch nicht an Dima gedacht. Ich würde vorschlagen, dass Tim mich begleitet. Er hat ohnehin eine Arbeitsbescheinigung für Lod 1.“
Jetzt war Tim das Zentrum der Aufmerksamkeit. Sein Bruder warf ihm einen mehr als fragenden Blick zu, der wohl heißen sollte: Na warte, wir sprechen uns noch.
Tim hingegen lief leicht rot an und sah auf den Tisch.
„Du hast es ihnen nicht gesagt? Nun, dabei ist das gar nichts so Tragisches. Ich habe Tim eine Arbeitsbescheinigung ausgestellt. Er arbeitet für TNL auf Anforderung. Damit kann er Lod 1 zu jeder beliebigen Zeit betreten. Das ist erheblich einfacher für ihn und Kevin, als sich sonst wo zu treffen.“
Tim sah nur, wie Tom ein betretenes Gesicht machte und Bartje seinen Kopf schüttelte. Dima sah mit versteinertem Gesicht zu Halldur. Dabei erinnerte sich Tim an die vorletzte Bemerkung des alten Mannes. Er hatte ‚Dima‘ gesagt und nicht Dimitry. Woher kannte er dessen Spitznamen? Dann überkam Tim die Erkenntnis. Die wenigen Male, die er Halldur bei Robert gesehen hatte, war dieser mit einem muskulösen Typen abgezogen. War da was zwischen ihm und Dima?
„Dann noch etwas. Ich möchte dir nicht zu nahe treten Tim, aber für einen Besuch bei Gustav Grätz solltest du vielleicht ein etwas anderes Outfit wählen. Ich würde da etwas vorschlagen, was, hmmm… seine Aufmerksamkeit erregen könnte, auch wenn du wahrscheinlich eher nicht sein Typ bist.“
„Was? Mein Bruder soll sich extra für diesen Typ auftakeln und dann aussehen wie…“
Tom unterbrach sich. Ihm wurde gerade klar, dass sein Bruder genau diesen Beruf hatte, über den er gerade eine etwas abfällige Bemerkung machen wollte.
Bartje und Dimitry sahen Tom erstaunt an, während Tim seine Augen zu Schlitzen verengte.
„Wie wer? Ich habe dir schon einmal gesagt, wenn es dir nicht passt, was ich beruflich mache, kannst du mich gerne ignorieren. Aber nur wegen dir werde ich das bestimmt nicht aufgeben.“
Tom starrte nun zurück, enthielt sich aber eines weiteren Kommentars.
Während der Unterhaltung hatte Halldur Harms sein Mobiltelefon gezückt und tippte darauf herum.
„Das ging aber schnell. Wir haben einen Termin bei Gustav heute Abend. Ich würde vorschlagen, Tim bleibt so lange bei mir. Der Besuch heute Abend wird sicher nicht so lange dauern. Spätestens morgen könnt ihr euch dann wieder treffen.“
„Morgen kommt Kevin wieder,“ kam der trockene Kommentar von Fabian.
„Dann bleibe ich auch.“
Tom kreuzte seine Arme und machte ein entschlossenes Gesicht.
„Bist du bescheuert? Was willst du Mutter erzählen? Und was ist mit der Schule? Außerdem weißt du gar nicht, ob Herr Harms dich dabeihaben will. Du kommst nicht mal in die Goldkuppel.“
„Mutter kann ich anrufen. In der Schule können die auch mal einen Tag auf mich verzichten. Was das andere anbetrifft…“
Nun sah Tom doch etwas unsicher zu Halldur Harms hinüber, der sichtlich amüsiert lächelte.
„Was hat dich denn am meisten neugierig gemacht? Die Goldkuppel, der Besuch heute Abend oder Kevin?“
„Ich… ich…“
„So wie ich ihn kenne, alles. Sie brauchen ihn nicht mitzunehmen. Ich schicke ihn wieder nach Hause und fertig.“
„Nein, nein. Das ist schon in Ordnung. Ich an seiner Stelle wäre bestimmt ebenso neugierig. Mit eurer Mutter werde ich sprechen. Und eine Besucher-Bescheinigung werden wir für ihn auf alle Fälle bekommen. Oder möchtest du auch bei TNL anfangen?“
Die letzte Frage ging an Tom, der nun mit großen Augen zu Halldur Harms herübersah.
„Das war ein Scherz,“ meinte Tim mit einem fragenden Seitenblick. Oder doch nicht?
„Keineswegs. Ich bin vielleicht alt, aber nicht senil. Ich habe sehr wohl den Tischgesprächen bei uns gelauscht und so einiges über Toms technische Vorlieben erfahren. In letzter Zeit machen immer mehr Nachrichten über Angriffe auf Firmencomputer die Runde und da wäre es meiner Ansicht nach von Vorteil, jemanden zu haben, der sich damit auskennt.“
Tom sah unsicher von Halldur zu Tim und wieder zurück. Tim überlegte inzwischen, was das jetzt wieder zu bedeuten hatte.
Dimitry war aufgestanden und Bartje und Nick schlossen ihm sich zögernd an.
„In Ordnung. Dann werden wir jetzt nicht weiter stören. Vielen Dank für die Einladung. Ich denke, wir sehen uns sicher noch einmal.“
„Davon bin ich fest überzeugt. Ich wünsche euch noch einen schönen Abend.“
Dimitry scheuchte die beiden anderen nun etwas hastig zum Ausgang. Tim sah ihnen nachdenklich hinterher. Bei Dima hatte das fast so ausgesehen wie eine Flucht.
„So, für den Besuch heute Abend müssen wir noch ein paar kleine Vorbereitungen treffen. Außerdem müssen wir für den jungen Herrn hier noch eine Besucherbescheinigung besorgen. Tim, ich möchte, dass du mit Fabi noch einmal ins Mare gehst. Wie ich vorhin bereits erwähnte, wäre vielleicht ein etwas freizügigeres Outfit von Vorteil. Irgendetwas, was Gustav ein wenig vom eigentlichen Thema ablenkt.“
„Ich dachte, der steht mehr auf einen Simon.“
Tim war sich klar darüber, dass er mit seinem Körper bei weitem nicht an den von Dima heranreichte. Gerade die Jungs aus Stawa hatten ein Faible dafür, Übungshallen zu besuchen und sich Muskeln anzuzüchten. Die Bezeichnung Simon sollte angeblich von einem Typen stammen, der vor etlichen Jahren ein paar Mal den Titel eines stärksten Mannes von Stawa erlangt hatte.
„Tut er auch. Nein, auf gar keinen Fall.“
Die letzte Bemerkung bezog sich auf einen fragenden Blick von Fabian, der wohl andeuten sollte, dass er ebenso gerne an diesem abendlichen Besuch teilgenommen hätte.
„Sollte etwas passieren, oder Gustav dir zu nahe treten, haben wir Department 1 am Hals, Residenten hin oder her. Du bist noch keine achtzehn, also vergiss es.“
„Aber das sind doch nur noch ein paar Tage…
„Fabian Kuberski!“
„Jawohl. Ich sag ja schon gar nichts mehr. Aber mit Tim einkaufen gehen darf ich doch, oder?“
„Sollst du sogar. Du kennst den Stil der Einwohner hier inzwischen etwas besser als Tim. Sucht etwas aus zwischen extravagant und skandalös.“
Fabi grinste nun wieder und nickte Tim zu.
„Dann mal los, du flotter Hecht.“
Tim lachte und sie erhoben sich. Als sie den Raum verlassen hatten, wandte sich Halldur Harms an einen etwas verloren um sich blickenden Tom.
„So, junger Mann. Nun werden wir beide uns einmal etwas näher unterhalten.“
Der Einkauf im Mare war für Tim viel entspannter als beim ersten Mal. Er ließ seine BID scannen und sofort erhielt er eine Brille, die ihm sein Profil anzeigte.
„Herrenoberbekleidung.“
Auf dem Display wurde ein Lageplan eingeblendet und die beiden machten sich auf den Weg in die entsprechende Abteilung.
Tim sah etwas ratlos an den langen Regalen und Ausstellungsstücken entlang, als auch schon einer der unvermeidlichen Verkäufer auf ihn zukam.
„Kann ich ihnen helfen, meine Herren?“
„Ja. Ich suche etwas Ausgefallenes. Etwas, womit ich meine Freundin beeindrucken, ihre Freundinnen neidisch und meine Schwiegermutter sprachlos machen kann.“
Fabian sah Tim genauso sprachlos an wie der Verkäufer, der dann aber nach einem kurzen Moment leicht lächelte.
„Ich glaube, ich habe da genau das richtige für sie.“
Der Verkäufer führte sie in eine Ecke, wo etliche Nischen mit Vorhängen versehen waren. Dort zog er eine beiseite und Tim staunte nicht schlecht.
Ein Ensemble aus Hose und T-Shirt mit Stehkragen. Die Hose bestand hauptsächlich aus langen Streifen. Tim hatte schon Hosen gesehen, die an den Außenseiten mit Bändern zusammengehalten wurden, die durch etliche Schlaufen gezogen waren. Diese Hose jedoch hatte die Bänder auch auf den Innenseiten der Schenkel und die Schlaufen hatten so große Abstände, dass mehr Haut zu sehen als verdeckt war.
Dazu hatte die Hose einen so tiefen Bund, dass Tim sicher war, dass jede nur denkbare Unterhose darüber zu sehen war. Würde er keine tragen, waren auf jeden Fall seine Schamhaare zu erkennen.
Das T-Shirt war eine andere Sache. An dem Modell war es hauteng und schillerte in sämtlichen Grüntönen. Dafür war es so kurz, dass zusammen mit den tiefsitzenden Hosenbund wohl zwei Handbreit Bauch zu sehen waren. Den kurzen, vorne offenen Stehkragen umschloss ein schmales Band mit einer Fliege.
„Unser exklusives Modell für das abendliche Bankett.“
Tim war sich nicht ganz sicher, ob dieses Outfit die Anforderungen an ein Bankett erfüllte. Für den heutigen Abend vielleicht, doch das würde er gleich sehen.
„Virtuelle Anprobe.“
Auf dem Display erschien sein Abbild mit dem neuen Outfit. Tim grinste leicht. Seine sportlichen Übungen hatten sich ausgezahlt. Das Sixpack war gut zu erkennen. Zu seiner Überraschung hatte der Rechner ihm tatsächlich für die Anprobe keine Unterhose zugebilligt. Anscheinend ging man hier von einer solchen Trageweise aus.
„Kauf.“
Nun zuckte Tim doch etwas zusammen.
‚Kauf abgeschlossen. Maßanfertigung wie im Profil hinterlegt. Designermodell ‚Seebrise‘ von Carl Konrad. Gesamtpreis 32.000 LEX. Möchten Sie fortfahren?‘
„Lieferung.“
‚Vielen Dank für Ihren Einkauf. Die Lieferung erfolgt an die hinterlegte Adresse. Sie können ihren Einkauf nun fortsetzen.‘
Tim zögerte etwas, wandte sich aber dann entschlossen an den Verkäufer
„Ich benötige dafür noch das passende Schuhwerk.“
„Oh, selbstverständlich. Folgen Sie mir bitte.“
Nach dem Besuch in der Schuhabteilung folgte noch einer in der Perfumery und dann in der Jewelery. Tim schüttelte nur den Kopf. Der scientianische Einfluss in der Modebranche schien auch vor den alltäglichsten Begriffen nicht Halt zu machen.
Als sie wieder vor dem Mare standen, sah Fabian Tim grinsend an.
„So, du hast also eine Freundin und eine Schwiegermutter. Soll ich das Kevin erzählen?“
Tim zuckte nur mit den Schultern.
„Hauptsache der Verkäufer hat‘s geglaubt.“
„Von wegen. Hast du nicht bemerkt, wie der dich die ganze Zeit angesehen hat? Da hast du Glück, dass hier die Anprobe virtuell ist.“
Tim schüttelte nur den Kopf und sie gingen nach oben zur Wohnung von Halldur Harms. Der saß wieder an seinem Lieblingsplatz an der Küchenzeile, trank einen Kaffee und verfolgte die neusten Nachrichten. Tom saß neben ihm und trank ebenfalls einen Kaffee. Als Tim und Fabian eintraten, sprang er auf.
„Tim, stell dir vor, ich habe tatsächlich einen Nebenjob bei TNL bekommen! Ich soll das Verschlüsselungsnetzwerk von TNL testen und überwachen. Und das für 16.000 LEX im Monat!“
Tim sah überrascht zu Halldur Harms, doch der ließ sich bei seinen Nachrichten nicht stören.
„Deine Sachen sind auch schon eingetroffen. Willst du sie gleich anprobieren? Sie sind oben im Schlafraum.“
Tom stürmte voran nach oben, wohin Tim und Fabian ihm folgten. Tim überlegte, ob er die Sachen wirklich anziehen und vorführen sollte. Aber dann zuckte er mit den Schultern. Er würde sie ja ohnehin heute Abend tragen. Während er die Tür zum Schlafraum zuschob, hörte er Tom und Fabian noch in der Sitzecke reden.
„Haben alle Stawa eigentlich so eine Vorliebe für Muskeln?“
„Nicht alle, aber viele. Hier, warte mal.“
Tim wandte sich den Sachen zu und betrachtete die Hose. Sollte er, oder sollte er nicht. Dann zog er sich komplett aus und streifte die Hose über. Die Freizügigkeit an den Beinen war zunächst ungewohnt, genau wie der Anblick der dunkelblonden Haare, die sich über dem Hosenbund kräuselten. Nur kurz überlegte er, ob er sie nicht abrasieren sollte, aber dann entschied er sich dagegen. Er fand sie, zusammen mit dem schmalen feinen Streifen dunkelblonden Haars, das sich seinem Bauchnabel näherte, erheblich erotischer als nackt und glatt.
Das T-Shirt war schwierig anzuziehen, aber es saß dann tatsächlich wie eine zweite Haut. Tim fuhr sich mit den Fingern über die Brustwarzen und erschauerte. Das Outfit war wirklich ganz schön gewagt.
Tim schob die Tür wieder auf, sah um die Ecke und erstarrte förmlich. In der Sitzecke standen sich Fabian und Tom gegenüber. Fabi hatte sein Hemd abgelegt und Tom strich mit seinen Händen über den nackten Oberkörper, während sie sich ausgiebig küssten.
Tom? Dieser Ausbund an Tugend, der immer wieder über Tim und seinen Beruf gelästerte hatte? Kaum zu glauben. Und dann Fabian. Tim musste zugeben, dass er mit seinen deutlich definierten Muskeln eigentlich ziemlich gut aussah. Hauptsache er übertrieb es nicht so wie etliche seiner Sportkollegen.
Das Geräusch der Tür musste Fabi aufmerksam gemacht haben, denn er öffnete plötzlich seine Augen und sah direkt zu Tim. Hektisch schob er Tom von sich, der ihn irritiert ansah. Fabi wies hinüber zu Tim.
Tom drehte sich um und sah entsetzt zu Tim.
„D-Das… das ist nicht so, wie es aussieht.“
„Ach so? Das auch nicht?“
Tom hatte sich halb herumgedreht und Tim wies verärgert auf die deutlich sichtbare Beule in Toms Hose.
Tom wurde blass und schwankte. Die ersten Tränen liefen ihm herunter und dann fiel er Fabi um den Hals, während er leise zu schluchzen anfing.
Tim trat erschrocken auf ihn zu.
„Tom, es tut mir leid…“
„Verschwinde! Hau ab! Ich will dich nicht sehen.“
Fabi machte Tim ein Zeichen, sich zurückzuziehen. Der ging vollkommen aufgewühlt nach unten. Halldur Harms sah ihm erwartungsvoll entgegen, doch dann bemerkte er Tims Gesichtsausdruck.
„Was ist passiert?“
Tim erklärte kurz die Situation und der alte Mann verdrehte die Augen.
„Das war jetzt nicht unbedingt zu erwarten gewesen. Du musst unbedingt mit deinem Bruder reden. Aber wir haben einen Termin. Denkst du, du schaffst das, ohne allzu sehr abgelenkt zu sein?“
Tim nickte verbissen.
„Gut, ich gehe nach oben und spreche mit Fabi. Er sollte am besten bei Tom bleiben. Du kannst mit Tom und auch mit Fabi reden, wenn wir wieder zurück sind.“
Das Auktionshaus Grätz lag auf Ebene 5 und auf dem ganzen Weg dorthin musste Tim an seinen Bruder denken. Er kannte Tom zwar sein ganzes Leben lang, doch wie gut kannte er ihn wirklich?
Vor dem Auktionshaus angekommen, realisierte Tim erst wieder seine Umgebung. So war ihm gar nicht aufgefallen, dass er auf dem Weg hierher des Öfteren mit den unterschiedlichsten Blicken bedacht worden war und für wohl so einigen Gesprächsstoff in der Goldkuppel gesorgt hatte.
Sie wurden von einer Angestellten in dem großzügigen Foyer begrüßt.
„Guten Abend, ich bin Lena Dullen und möchte Sie herzlich willkommen heißen im Auktionshaus Grätz. Herr Grätz erwartet sie bereits.“
Tim musste seine ganze Willenskraft aufwenden, um sie nicht sofort mit irgendwelchen Fragen zu bestürmen.
Ohne weiteren Aufenthalt wurden sie dann in ein angrenzendes Büro geleitet. Hinter dem imposanten Schreibtisch erhob sich ein Mann mittleren Alters. Seine Rundlichkeit durch leichtes Übergewicht wurde durch eine kleine Statur noch etwas betont. Sein vollkommen kahler Schädel glänzte im Licht der Deckenlampen und ein leichtes Lächeln erschien.
„Halldur Harms. Ein seltener Gast in meinen bescheidenen Hallen.“
Nun blieb sein Blick etwas irritiert auf Tim hängen, der ebenfalls leicht lächelte, ansonsten aber selbstbewusst nach vorne blickte.
„Das ist Tim Senger. Der Partner von Kevin. Du kennst ja meinen Enkel.“
„Aber natürlich. Ich wusste nur nicht…“
Anscheinend suchte er nach den passenden Worten und auch Tim musste sich zusammenreißen, um seinen freundlichen Gesichtsausdruck zu behalten. Was hatte Halldur Harms dazu veranlasst, ihn in aller Öffentlichkeit als Partner von Kevin vorzustellen?
Die Blicke, mit denen Gustav Grätz nun Tim bedachte, waren jedenfalls nicht nur rein nachbarschaftlich.
„Verzeihung, ich bin ein schlechter Gastgeber. Bitte, kommt herüber.“
Damit wies er auf eine Sitzecke mit Sofa und zwei Sesseln.
Halldur Harms ließ sich in einem der Sessel nieder, Gustav Grätz in dem anderen. Tim nahm immer noch lächelnd auf dem Sofa Platz, wobei er sich leicht zurücklegte und das T-Shirt dabei noch ein wenig höher schob. Nun lag sein gesamter Bauch frei und Gustav sah etwas irritiert zu ihm herüber. Dann konzentrierte er sich doch auf Halldur.
„Was kann ich für dich tun? Ich nehme nicht an, dass du zu einem Höflichkeitsbesuch gekommen bist.“
Ein wenig forsch und unhöflich, doch es zeigte, dass Gustav Grätz nicht so ganz bei der Sache war.
„Aber ich bitte dich. Wir kennen uns nun schon so lange. Da wäre ein kleiner Höflichkeitsbesuch doch einfach mal angebracht. Doch du hast recht. Wir möchten lediglich eine kleine Auskunft von dir.“
Nun sah Gustav alarmiert von einem zum anderen. Wenn es um sein Geschäft ging, wurde er äußerst misstrauisch.
In diesem Moment rekelte sich Tim auf dem Sofa und spreizte scheinbar unabsichtlich seine Beine. Gustav konnte nicht anders als dort hinzusehen, wo die kleinen Haare sich vorwitzig über dem Hosenbund zeigten.
Halldur Harms hatte den Blick bemerkt und auch, das Gustav anfing, leicht zu transpirieren. Zeit für den nächsten Torpedo.
„Es gibt da einen Gegenstand, der hier ersteigert wurde. Ich wüsste gerne, von wem.“
Gustav ruckte herum und starrte Halldur Harms fast entsetzt an.
„Niemals. Du weißt ganz genau, dass mein Geschäft auf absoluter Diskretion beruht.“
Ein leises Geräusch vom Sofa ließ Gustav wieder dort hinsehen. Tim hatte nun beide Daumen in den Hosenbund gehakt und leicht daran gezogen.
‚Wenn ich noch ein bisschen mehr mache, kann ich die Hose gleich ausziehen. Mal sehen, wie sich das noch entwickelt‘.
Halldur lächelte, als Gustav begann stärker zu transpirieren.
„Es ist ja nicht so, dass du es öffentlich machen sollst. Nur wir beide, du und ich, wissen davon. Und es wird sich auch für dich lohnen.“
„Tatsächlich?“
Halldur grinste innerlich. Treffer. Wenn Gustav noch mehr hinter etwas her war als Kerlen, dann war es Geld.
Tim hatte die Situation ebenfalls erfasst und ging seinerseits zum Angriff über. Er versuchte vergeblich sein T-Shirt wieder etwas herunterzuziehen und musste dazu aufstehen. Dadurch stand er jetzt nur eine Armlänge vor Gustav, seinen Unterkörper genau in dessen Augenhöhe.
Die ausgeprägte Beule in seiner Hose war unübersehbar. Es hatte Tim einige Konzentration gekostet und einige geistige Rückblicke auf schöne Momente, doch der Erfolg zeigte sich deutlich. Jetzt hatte er Angst, dass ihm das Ding bei der tiefsitzenden Hose entkommen könnte.
‚Was soll’s. Auch nicht anders als auf der Arbeit‘.
Doch dann schoss ihm durch den Kopf, was Kevin zu dem Auftritt hier sagen würde, wenn er sich in aller Pracht präsentierte. Dima hatte anscheinend doch recht. Arbeit und Privatleben passten auf einmal nicht mehr so recht zusammen.
„Worum… worum geht es?“
Gustavs Stimme klang auf einmal etwas heiser.
„Um ein Goldarmband. Ist vor ein paar Monaten hier versteigert worden. Ich zeige es dir.“
Halldur Harms zückte sein Mobiltelefon und reichte es Gustav. Auf dem kleinen Display war die Seite des Auktionshauses abgespeichert worden und das Armband abgebildet.
„Ach das. Ja, ich kann mich erinnern. War gar nicht so einfach. Die Leute wollten einfach nicht bieten, bis dann dieser Mann… hm.“
Überraschend erhob sich Gustav und ging hinüber zu seinem Schreibtisch. Neugierig folgten ihm Tim und Halldur.
Auf dem Bildschirm des Computers war nun ebenfalls das Armband abgebildet, doch keine weiteren Angaben.
„Ich weiß nicht…“
„Ich lege den Preis nochmal drauf.“
Gustav blickte erstaunt zu Halldur auf, dann erschauerte er. Tim stand auf seiner linken Seite und presste spürbar seinen Unterkörper gegen Gustavs linken Oberarm.
Aufseufzend scrollte Gustav weiter nach unten.
„Da stehts: Kommissionsware, Auktionspreis 125.000 LEX, Auktionsgebühr 15%, Käufer Horst Bangert, B14-S1, Barzahler 10.000 Lex, 500 Privilegos.“
„Hervorragend. Ich sehe schon, Gustav, wir verstehen uns. Aber nun wirst du uns leider entschuldigen müssen, wir haben noch etwa Dringendes vor.“
„Was? Aber…“
„Keine Angst, ich überweise auf dein Privatkonto. Und Tim hat sich sichtlich gefreut, dich kennenzulernen.“
Für Tim war dies das Zeichen, sich langsam zurückzuziehen, und so folgte er Halldur Harms gemessenen Schrittes nach draußen.
Im Foyer trafen sie wieder auf Frau Dullen, die nun an einem kleinen Schreibtisch saß und dort an einem Computer arbeitete. Tim trat auf sie zu.
„Entschuldigen sie bitte die Frage, aber kennen Sie eine gewisse Tanja Wister?“
Offensichtlich, denn Lena Dullen sah leicht erschrocken von ihrem Rechner auf.
„Ich verstehe nicht, was Sie meinen.“
„Der Name Tanja Wister sagt ihnen also etwas. Dann wissen sie auch sicherlich, dass Tanja vor vier Tagen verstorben ist.“
„Was?! Nein, ich meine, ich kenne diese Dame nicht.“
„Und warum ist ihr Kennwort LENADULLENGRAETZ dann bei Tanja auf dem Mobiltelefon?“
Lena schüttelte unsicher den Kopf.
„Keine Ahnung. Mein Kennwort ist bei den Kontaktdaten des Auktionshauses gelistet.“
„Das mag schon sein, aber bestimmt nicht mit dem Zusatz Lena Bauer dahinter.“
Lena Dullens Gesichtsfarbe wurde schlagartig blasser und sie senkte resigniert ihren Kopf.
„Sie war hier. Bei einer Auktion hat sie einen älteren Herrn begleitet. Sie hat mich auch sofort erkannt. Wir waren zusammen in der Schule. Nach den Treffen hier hat sie mich noch einmal zu Hause aufgesucht. Sie wollte, dass ich etwas für sie aufbewahre.“
Tim kam eine schlagartige Erleuchtung.
„Das Tagebuch!“
„Stimmt. Woher wissen Sie davon? Sie wollte, dass es in Sicherheit sei, falls ihr etwas passieren würde. Ich fand es äußerst merkwürdig, aber ich habe ihr den Gefallen getan.“
„Und Sie haben es immer noch?“
„Ich wusste ja nicht, was ich damit machen sollte. Es ist bei mir zu Hause.“
„Dann haben sie doch sicherlich nichts dagegen, wenn ich morgen Nachmittag mit dem Bruder von Tanja vorbeikomme und es abhole.“
„Tanjas Bruder? Sie hat mir von ihm erzählt, aber nicht verraten, wie ich ihn erreichen könnte. Ja, ab 1700 bin ich zu Hause. Hier, meine Karte.“
Sie überreichte Tim eine schmucklose Visitenkarte mit ihrem Namen und zwei Adressen. Die erste war die Adresse des Auktionshauses, die zweite befand sich in Lod 2.
„Vielen Dank. Wir sehen uns morgen.“
Tim wandte sich um und bemerkte erst jetzt Halldur Harms, der die ganze Zeit schweigend hinter ihm gestanden hatte. Ebenso schweigend machten sie sich auf den Rückweg. Erst in der Wohnung sah Halldur lächelnd zu Tim.
„Du hast dich sehr gut gehalten. Ein kleines Talent der nonverbalen Kommunikation bei Gustav und sehr überzeugend bei dieser Lena. Aber nun geh nach oben. Du hast mit deinem Bruder sicherlich noch etwas Dringendes zu erledigen.“
Tim stürmte förmlich nach oben, um dort deutlich langsamer zu werden. Fabi oder Tom waren nirgends zu sehen. Vorsichtig näherte sich Tim dem Schlafabteil. Die Tür stand halb offen und Tim sah hinein.
Fabian und Tom lagen auf dem großen Bett, zur Hälfte zugedeckt. Die Oberkörper waren nackt und Tim wollte nicht so genau wissen, wie es um den Rest stand. Sollte er sie wecken? Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als Fabian die Augen öffnete und Tim in der Tür stehen sah. Behutsam befreite er sich von der Bettdecke und sammelte seine Sachen vom Boden auf.
Tim musterte Fabis nackten Körper mit beruflichem Interesse. Ja, ihn würde Robert sofort einstellen, wenn er alt genug wäre und er tatsächlich auf diese schwachsinnige Idee kommen würde.
Aber das war jetzt nicht relevant. Fabi kam aus dem Schlafabteil heraus und zog leise die Tür zu.
„Ich glaube, ich schulde dir eine Erklärung.“
Tim nickte und deutete auf die Sitzecke. Er setzte sich dort schon einmal und wartete, bis Fabian sich wieder angezogen hatte.
„Also?“
„Ich… ich finde Tom wirklich nett und süß. Er ist genau das, was ich mir immer vorgestellt hatte. Und da kommt er einfach daher und fragt mich, ob er mich anfassen darf.“
Tim hob erstaunt eine Augenbraue.
„Ich konnte einfach nicht nein sagen. Und ob du es glaubst, oder nicht, aber er hat mich zuerst geküsst. Na, und den Rest kennst du. Tom ist jetzt allerdings ziemlich fertig. Er wollte nie, dass du es erfährst.“
„Aber warum denn nicht? Ich hätte doch am wenigsten etwas dagegen gesagt.“
„Weil ich nicht so enden wollte wie du.“
Überrascht drehte sich Tim um und sah Tom das erste Mal seit zehn oder zwölf Jahren vollkommen nackt vor sich stehen. Seine schlanke Gestalt und das jugendliche Gesicht ließen ihn jünger erscheinen, als er tatsächlich war. Ein anderes Körperteil hingegen hatte sich ganz gut entwickelt, wie Tim mit einem schnellen Blick feststellen konnte.
„Ich hatte und habe immer noch eine Abneigung bei dem Gedanken daran, mich jemanden hinzugeben nur für Geld, ohne Gefühle. Ich wollte einen festen Job haben, meine LEX verdienen und mich dann nur um meine Gefühle kümmern. Ich finde es grausam, wenn jemand seinen Körper und seine Gefühle trennt.“
Tim sah seinen Bruder eine ganze Weile schweigend an.
„Glaubst du ernsthaft, mir geht es anders? Denkst du wirklich, ich hätte das gemacht, nur weil es mir Spaß macht? Versuch dir nicht einmal vorzustellen, was ich dabei alles erlebt habe. Und ob du es glaubst oder nicht, aber auch ich habe davon geträumt, eines Tages genug Geld zu besitzen, um aufhören zu können. Einem anderen Beruf nachzugehen. Und jetzt zieh dir was an. Du machst Fabi nur unnötig nervös.“
Erstaunt war Tom den Ausführungen seines Bruders gefolgt, um dann erschrocken zu Fabian zu blicken. Der hatte beide Hände zwischen seine Oberschenkel geklemmt und sah beharrlich überall hin, nur nicht zu Tom.
Tom verschwand im Schlafabteil um kurze Zeit später wieder bekleidet zu erscheinen.
„Und was machen wir jetzt?“
„Wie, was machen wir jetzt? Ich wüsste gerne, was ihr beide macht. Ist es euch wirklich ernst?“
Tom sah unsicher zu Fabi, der ebenfalls sichtlich zögerte.
„Ich… ich weiß nicht genau. Meine Eltern werden wohl nicht so begeistert sein. Meine Mutter ist da wohl kein Problem, aber was sag ich Mika? Oder meinem Vater? Der dreht ab, wenn ich damit nach Hause komme.“
„Oh, damit hatte ich gar nicht gerechnet. Bei uns ist das alles etwas einfacher.“
Fabi sah nun fragend von Tim zu Tom. Tim war aufgestanden und näherte sich langsam seinem Bruder.
„Komm her, Kleiner.“
Erleichtert spürte Tim, wie Tom ihn umarmte. Die Umarmung wurde fester und Tim sah seinen Bruder erstaunt an. Überrascht über sich selbst, fanden sich die beiden zu einem Kuss, den Tim etwas hektisch beendete als er sich darüber klar wurde, wen er gerade küsste.
Auch Fabian hatte die beiden mit großen Augen beobachtet. Was war das denn? Um die beiden abzulenken, versuchte er an die vorherige Konversation anzuknüpfen.
„Wieso ist das bei euch einfacher?“
Tim drehte sich zu ihm herum und schickte Tom mit einem leichten Schlag auf den Hintern in die gleiche Richtung.
„Du musst mir nur versprechen, dass du es niemandem, aber auch wirklich niemandem weitererzählst.“
Tim wartete, bis Fabi zustimmend nickte.
„Unsere Mutter arbeitet ebenfalls bei Roberts Escort Service.“
Es dauerte einen Moment, bis Fabi diese Information verarbeitet hatte.
„Was? Aber dann…“
Tim und Tom lachten gleichzeitig.
„Nein, nicht was du denkst. Zumindest nicht mehr. Sie hat dort tatsächlich zwei Jahre als Begleiterin gearbeitet, aber dann unseren Vater kennengelernt. Sie haben geheiratet und Robert hat sie als Sekretärin eingestellt. In dem Job arbeitet sie auch heute noch. Und bevor du fragst, Todd, Tom und ich haben alle drei den gleichen Vater.“
Eine andere Idee wäre Fabi gar nicht gekommen, so ähnlich wie sich die Brüder sahen. Er war sichtlich froh, dass Tom wieder lachen konnte. Dann fielen ihm wieder seine Eltern ein und sein kleiner Bruder.
Tim bemerkte den Stimmungsumschwung und setzte sich neben Fabian auf das Sofa. Tom nahm auf der anderen Seite neben Fabi Platz.
„Ich habe noch gar nicht erzählt, was wir alles bei dem Auktionshaus herausgefunden haben.“
Tom und Fabian lauschten nun ganz gespannt auf den Bericht, während sich eine Etage tiefer Halldur Harms fragte, ob er wirklich in letzter Zeit die richtigen Entscheidungen getroffen hatte.
Kevin und Tim passten wunderbar zusammen und würden sicherlich ein schönes Paar ergeben, wenn Tim sein neues Umfeld endlich voll akzeptiert hatte. Er selbst war nicht mehr der Jüngste, obwohl er mit fast 62 sicherlich noch lange kein altes Wrack war. Doch wollte er wirklich auf seine alten Tage alleine bleiben?
Die Jugend machte es ihm vor. Kevin hatte Tim und so wie es aussah, hatte Fabian sich für Tom entschieden. Warum konnte er nicht über seinen Schatten springen und ebenfalls fragen? War da ein kleines bisschen Angst, dass derjenige nein sagen würde? Unwahrscheinlich. Aber trotzdem…
Der nächste Morgen verlief nicht ganz so ruhig, wie er hätte sein sollen. Tim hatte das Bett freiwillig Fabi und Tom überlassen und schlief auf dem Sofa. Als er Geräusche von unten hörte, ging er in die Nasszelle und zog sich danach wieder seine alten Sachen an. Mit dem Outfit von gestern Abend wollte er heute nicht unbedingt herumlaufen.
Unten werkelte Fabians Mutter bereits an der Küchenzeile. Halldur Harms war noch nirgendwo zu sehen.
„Guten Morgen, Frau Kuberski.“
„Ah, guten Morgen, Tim. So früh schon hier? Ach richtig, heute kommt Kevin ja zurück von seiner Seefahrt.“
„Ja, sie sollen am Vormittag im Osthafen einlaufen.“
„Es ist immer schön, wenn die Schiffe nach ihrer Fahrt sicher zurückkommen. Mein Wladimir war oft draußen, bei den Bergwerken. Sie haben ihn von einer Stelle zur anderen gebracht. Sprengmeister waren gesuchte Leute. Aber heute...“
Seufzend brach sie ab und Tim kannte den Grund. Wladimir Kuberski war bei einem Grubenunglück verschüttet worden und konnte nur schwer verletzt geborgen werden. Er hatte ein Bein verloren und war nun auf das bisschen Rente angewiesen, das ihm die Bergbaugesellschaft zahlte.
„Da fällt mir ein, hast du Fabian gesehen? Er war die Nacht nicht zu Hause und er hatte doch seine Freischicht.“
„Der ist oben,“ entfuhr es Tim unwillkürlich
Er merkte erst, dass er einen Fehler gemacht hatte, als Frau Kuberski schon halb die Treppe hoch war. Schnell eilte er ihr hinterher, doch es war bereits zu spät. Sie blickte durch die halb geöffnete Tür und machte ein erstauntes Gesicht. Tim sah an ihr vorbei und schloss kurz die Augen. An diesem Anblick ließ sich nichts deuten. Fabi und Tom lagen vollkommen nackt aneinander gekuschelt. Fabi lag hinter Tom und hatte einen Arm besitzergreifend über ihn gelegt. Leise schloss Frau Kuberski die Tür und ging wieder hinunter zur Küche.
Tim sah ihr erstaunt hinterher und folgte ihr dann.
„Es… es tut mir leid. Ich hätte vielleicht etwas sagen sollen.“
„Das hätte an der Situation ja auch nichts geändert. Irgendwie habe ich es geahnt. Aber warum auch nicht. Wenn er glücklich damit ist, ist es gut. Ich halte nicht so viel von den ganzen Zwängen, die man seinen Kindern auferlegt. Hier in Lod ist man da erheblich freier. Zu Hause in Stawa, da wäre die Sache ganz anders gewesen.“
Plötzlich legte sie alles aus der Hand und schloss ihre Augen. Dann erhob sie ihre Hände wie zum Gebet.
„Heilige Barbara,“ murmelte sie „gib mir Kraft.“
Unvermittelt nahm sie ihre Arbeit wieder auf.
„Irgendwie muss ich es Wladimir beibringen. Das wird nicht einfach.“
Eine halbe Stunde später war das Frühstück fertig und auch Halldur Harms war erschienen. Von Fabi und Tom keine Spur.
„Soll ich die beiden wecken?“
„Ja, bitte. Wir müssen den heutigen Tagesablauf besprechen.“
Fabi und Tom erschienen kurz darauf und Fabian versuchte, den Blicken seiner Mutter auszuweichen. Tim hatte ihm erzählt, dass sie die beiden am Morgen zusammen gesehen hatte.
„Komm her.“
Fabian trat auf seine Mutter zu und diese umarmte ihn. Dabei sprach sie auf Stawisch mit ihm, was Tom vollkommen im Dunkeln ließ. Halldur hob lediglich erstaunt seine Augenbrauen, während Tim etwas betreten zu Boden sah.
Beim Essen musste Tim lächeln. Fabi und Tom saßen sich gegenüber, sahen sich kurz an, um dann wieder etwas zu essen und kurz darauf ihr Gegenüber wieder anzusehen.
„Wir haben heute einen ziemlich dichten Terminkalender. Wenn ich richtig informiert bin, hat Fabian Spätschicht, muss also um 1600 wieder im Hotel sein. Das lässt ihm Zeit, dass er uns zum Einlaufen der NAUTICO begleiten kann. Ob Tom uns dann ebenfalls begleiten möchte, brauche ich wohl nicht zu fragen.“
Fabian sah betreten auf seinen Teller, während Tom leicht rot anlief.
„Also, 1100 Osthafen, dann Mittagessen hier. Um 1700 haben Tim und Nick einen Termin mit Frau Dullen. Tom, gibt es eine Möglichkeit herauszufinden, ob eine bestimmte Person in der BFS-Kuppel als dauerhafter Resident wohnt?“
Tom wurde aus seinen Tagträumen gerissen, dachte dann aber intensiv über das Problem nach.
„Nein. Die Kuppeln der anderen Länder sind deren Hoheitsgebiet. Wenn wir einen Namen haben, könnte ich versuchen herauszufinden, ob ein Kennwort mit diesem Namen für das Citynet in Lod erstellt worden ist. Wenn es noch aktiv ist, wird es in der Telefonliste angezeigt.“
„Dann komm mal mit.“
Halldur führte Tom nach hinten in die Arbeitsecke und bedeutete ihm, sich hinter den Schreibtisch zu setzen. Der Monitor vor Tom flackerte auf und ein Anmeldbildschirm erschien.
„Was ist das denn? Ein stationärer Rechner?“
Halldur lächelte verschmitzt. Tim war den beiden gefolgt und beobachtete Tom.
„Die neueste Entwicklung von CerebriSoft. Ein CS Tablebrain.“
Tom starrte wie gebannt auf den Bildschirm, als beim Hochfahren die Leistungsdaten erschienen.
‚Gleich fängt er an zu sabbern‘ durchfuhr es Tim.
„So, dann zeig mal, was du kannst!“
„Ich kann von hier aus nur das frei Zugängliche machen. Für andere Sachen bräuchte ich die Programme von meinem Laptop.“
„Dann zunächst nur der öffentliche Teil.“
Tom fing an zu tippen und sah nach einer Weile fragend auf.
„Nach wem soll ich denn suchen?“
„Oh, Entschuldigung. Wir suchen ein Kennwort für Horst Bangert.“
„Hm, dann gebe ich erst einmal einfach die Buchstabenfolgen in beliebiger Reihenfolge ein.“
„Oha. 3781mal Horst und 691mal Bangert. Beide zusammen fünf Mal.“
Tim beugte sich nun ebenfalls neugierig über Tom und starrte auf den Monitor.
„Zeig mal an.“
Fünf Kennwortkombinationen erschienen und Tim zeigte sofort auf die vorletzte.
„Das muss er sein. BANGERTHORSTBFSDIPLO.“
Auch Fabian war nun näher gekommen und runzelte die Stirn.
„Das Ding hat ja mehr als sechzehn Buchstaben.“
Tom nickte.
„Das sind Sonderkennwörter. So wie die kurzen für den Notruf, gibt es extra lange für besondere Personengruppen. Diese Endung hier ist für den diplomatischen Dienst.“
„Was ich gesagt habe,“ flüsterte Tim „das wird nicht einfach.“
Halldur Harms nickte bedächtig.
„Besonders, wenn wir dem BFS nicht auf die Flossen treten wollen. Ich fürchte, ich werde da von einigen Personen erst mal ein paar Gefallen einfordern müssen, bevor wir in dieser Richtung weitermachen.“
Die drei jungen Männer sahen den alten Reeder erstaunt an. Das hatte eher nach dem Patriarchen eines Verbrecher-Kartells geklungen als nach einem ehrbaren Unternehmer.
„Aber nun müssen wir sehen, dass wir in den Osthafen kommen, sonst verpassen wir das ganze Spektakel.“
Bereits eine halbe Stunde vor dem angekündigten Einlaufen hatte sich eine ansehnliche Menschenmenge im Hafen versammelt. Tim erkannte zwischen ihnen sogar ein Aufnahmeteam der Bildschirmwelle Lod, die gerade ein paar Umstehende interviewten.
„Warum sind denn so viele Leute hier? Ich dachte, es geht nur um die Rückkehr von einer ganz normalen Ausbildungsfahrt.“
„So ganz normal ist diese Fahrt nicht. Im Rahmen der zusätzlichen Ausbildung im Gefechtsdienst lernen die Studenten die Anwendung von Gefechtstaktiken, militärischen Manövern, Bedienung der Torpedorohre und der Abwehrwerfer.“
„Den ganzen Waffeneinsatz? So mit Torpedoschießen? Haben die auch die großen Typ II Torpedos?“
Tim sah sich erstaunt zu Tom um. Seit wann interessierte sich der für die Bewaffnung von Schiffen? Aber dann fiel ihm ein, dass er ja auch nicht gewusst hatte, dass Tom sich für andere Jungs interessiert. Halldur Harms antwortete bedächtig.
„Nein, Tom, das ganz bestimmt nicht. Die LZS NAUTICO ist ein zivil zugelassenes Schiff und unterliegt ebenso den Waffengesetzen von Lod wie jedes andere Handelsschiff. Also keine großen Torpedos.“
Tim konnte gerade noch verstehen, wie Fabi Tom etwas zuflüsterte.
„Dein Torpedo ist mir auch groß genug.“
Worauf Tom einen Hustenanfall bekam und Tim grinsen musste. Die beiden hatte es ja ganz schön erwischt.
Halldur hatte die Bemerkung nicht gehört, oder überging sie kommentarlos.
„Nein, das Interessante an dieser Fahrt ist, dass sie an einem kleinen Manöver der Flotte teilgenommen und dort ein Übungsgefecht absolviert haben.“
„Was?! Mit scharfer Munition?“
„Wohl nicht. Die militärische Führung wird wohl kaum das Risiko eingehen, ein Schulschiff der LUDS bei einem Manöver zu versenken.“
Tims Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als sich die riesigen Innentore der Schleuse öffneten und den Blick auf ein einlaufendes Schiff freigaben.
„Da ist sie ja.“
Auch Halldur Harms klang irgendwie erleichtert.
Tim hatte sich nie näher mit den verschiedensten Schiffstypen befasst, doch Tom stutzte.
„Das ist ja gar kein Schiff aus Lod. Das sieht aus wie eine Ferocé.“
„Vollkommen richtig. Eine arbiträische Ferocé-Klasse. Für Ausbildungsfahrten sind die in Lod üblichen Schiffe denkbar ungeeignet. Ein Seehecht ist etwas zu klein und eine Orca-Klasse deutlich zu groß. So hat sich die Universität entschlossen, eine Ferocé für diese Ausbildung zu chartern. Sie bietet genügend Platz für die Studenten und die Ausbilder und ist relativ günstig im Unterhalt.“
Als das Schiff mit der dunkelblauen Bemalung festmachte, erkannte Tim am Rumpf abgeschabte Farbe und eine ansehnliche Beule.
„Was war das denn?“
Halldur Harms nickte nachdenklich.
„Sieht so aus, als hätten sie nicht alle der Übungstorpedos abwehren können. Aber um das zu lernen, waren sie ja schließlich unterwegs.“
„Ah, mein lieber Herr Harms. Wollten Sie auch sehen, wie es ihrem Schiff ergangen ist?“
Mit einem aufgesetzt freundlichen Gesicht wandte sich Halldur einem älteren Herrn im eleganten Dreiteiler zu, der in einer Art jovialen Geste zur Begrüßung eine Hand hob.
„Professor Ringsted, welch eine Überraschung. Ich hätte nicht gedacht, dass der Dekan unserer ehrwürdigen Universität bei all seinen Terminen Zeit findet, persönlich zu erscheinen.“
„Aber ich bitte Sie! Das ist doch selbstverständlich. Hier, wo die Absolventen unseres Institutes den letzten Schliff erhalten, um die Meere stolz und furchtlos befahren zu können, ist auch mein Platz.“
Tim sah den Professor etwas irritiert an. Halldur lächelte nur leicht und deutete auf das Schiff, das nun festgemacht hatte.
„Ich bin hier, um meinen Enkel zu begrüßen. Er ist einer der Studenten, die sich bereitgefunden haben, an dieser kostspieligen Ausbildung teilzunehmen. Ich bin immer noch der Ansicht, dass eine fundierte Kampfausbildung die beste Abschreckung ist und für alle Studenten ebenso kostenfrei zur Verfügung stehen sollte, wie der Rest des Studiums.“
„Ich weiß, mein lieber Harms, aber die Universität hat leider nicht genug Gelder dafür zur Verfügung. Allein die Anschaffung der neuesten Generation von Ortungsgeräten hat uns ein Vermögen gekostete, obwohl Naxon uns schon einen Sonderpreis gemacht hat. Wir konnten dieses Seminar einfach nicht kostenfrei anbieten. Auch wenn ich der gleichen Ansicht bin wie Sie, dass eine gute Ausbildung unabdingbar ist für freie Seewege.“
Halldur Harms sah nachdenklich auf den zerschrammten Rumpf der LZS NAUTICO
„Auch wenn es diesmal nicht ganz ohne Kratzer abgegangen ist.“
„Ja, aus Fehlern lernt man. Aber keine Sorge, die Versicherung wird den Schaden begleichen. Sie bekommen ihr Schiff wieder wie neu zurück.“
Tim bekam große Ohren. Ihr Schiff? Die NAUTICO gehörte der TNL?
Als die ersten Personen das Schiff verließen, war Tim allerdings wieder voll und ganz darauf konzentriert, Kevin zu finden. Da, der dritte in der Reihe war Kevin. Er sah etwas ungewohnt aus in dem einfarbigen roten Overall, den alle Studenten trugen.
Die Studenten waren vor dem Schiff auf der Pier fast militärisch angetreten. Der Dekan ging hinüber und sprach ein paar Worte zur Begrüßung und zur glücklichen Heimkehr, was auch umgehend das Aufnahmeteam der Bildschirmwelle anlockte. Dann verteilten sich die Studenten zwanglos.
Kevin kam schnell auf die kleine Gruppe zu und sah etwas hilflos von Tim zu seinem Großvater und wieder zurück.
Halldur Harms deutete lachend auf Tim, worauf Kevin auf diesen zuging und ihn stürmisch umarmte. Es folgte ein schneller Kuss.
„Ich habe dich vermisst, mein Kleiner.“
„Ich dich auch.“
Tim schob Kevin nun etwas von sich, damit er auch seinen Großvater begrüßen konnte. Dann wandte sich Kevin an Fabian.
„Hallo, Fabi. Nett, dass du ebenfalls mitgekommen bist. Und wer ist das?“
Ein schneller Blick von Tom zu Tim ließ Kevin schon ahnen, wer das war, doch Fabians Antwort überraschte ihn dann doch.
„Das ist Tom, der Bruder von Tim – und mein fester Freund.“
Kevin stutzte, dann sah er Fabian durchdringend an. Der hielt dem Blick stand und Kevin drehte sich nun zu Tim um, der aber nur mit den Schultern zuckte.
„Oh, Mann. Da ist ja wohl so einiges passiert, seit ich weg war.“
„Das kannst du laut sagen.“
Doch bevor Kevin in all die Geheimnisse der letzten Tage eingeweiht werden konnte, galt es das Mittagessen zu absolvieren, das Frau Kuberski aufwändig zubereitet hatte.
Während des Essens gab es nur wenig Smalltalk. Frau Kuberski werkelte weiter in der Küche. Nachdenklich sah sie zu ihrem Sohn hinüber, der mit den anderen am Tisch saß. Sie selbst hatte es schon vor langer Zeit vehement abgelehnt, mit Herrn Harms zusammen zu essen.
„Das gehört sich nicht. Ich bin nur die Haushaltshilfe.“
Mit Fabian war das etwas anderes. Sie war sich nicht sicher, ob der Umgang mit den ganzen reichen Leuten wirklich gut für ihn war. Und dann hatte er auch noch diese Stelle hier in der Goldkuppel. Dabei wohnten sie doch im Unten. War das wirklich einer der seltenen Fälle, wo jemand es schaffte, sich von Unten hochzuarbeiten? Oder würde er nach einiger Zeit wieder tief fallen?
Und dann war da noch die Sache mit diesem Tom. Der Junge war ja ganz nett, aber irgendwie verstand sie die Beziehung der beiden nicht so ganz. Besonders der Teil mit der körperlichen Nähe war ihr nicht ganz einsichtig. Sie seufzte leicht. Als ob sie zu Hause nicht schon genug Probleme hatte. Wladimir kam immer öfter betrunken nach Hause und Mika wurde auch langsam aufmüpfig. Was hatte der arme Junge denn schon für Perspektiven? In Stawa hätte er schon längst eine Lehre angefangen, aber hier hatte er zum Glück noch zwei Jahre Schule vor sich. Doch was war danach?
Bei Tisch war man inzwischen beim Dessert angelangt und Tom sah etwas misstrauisch in sein Schälchen mit kleinen, goldgelben Stückchen.
„Was ist das denn?“
„Pfirsiche.“
„Was für Dinger?“
„Pfirsiche. Die wachsen an Bäumen.“
Tom versuchte sich das gerade vorzustellen.
„An Bäumen? Aber die verbrauchen doch jede Menge Platz.“
„Was du nicht sagst. Hast du noch nie diesen Werbefilm von Grundinger gesehen? Wo in den Hallen die Bäume stehen, im Boden darum herum dann die ganzen Wurzelpflanzen und darüber in den Hochbeeten die anderen Gemüsesorten. Wachstum auf drei Ebenen nennen die das.“
Tom sah Fabian erstaunt an. Doch der grinste bloß.
„Hatten wir in der Ausbildung. Zum Hotelfach gehört auch ein wenig vom Restaurant und der Warenkunde dort.“
Tom sah wieder auf seine was? – Pfirsiche? und griff zum Löffel.
Nach dem Essen versammelten sich alle fünf in der Sitzecke der unteren Etage. Kevin sah interessiert von Fabian zu Tom, wandte sich aber an Tim.
„Los, erzähl schon. Ich bin echt neugierig, was hier los war.“
Mit einem kurzen Blick auf Halldur Harms begann Tim mit seiner Geschichte. Dazu musste er etwas ausholen und die Abläufe in Roberts Escort Service erklären und auch seine Verhältnisse zu einigen der dortigen Angestellten.
Dann kam der Besuch von Nick und die Geschichte nahm langsam Fahrt auf.
Als Tim gestehen musste, dass er Kevins Großvater angerufen und um Hilfe gebeten hatte, sah Kevin ihn mit einem merkwürdigen Blick an, sagte aber nichts.
Der Besuch im Mare schien ihn zu amüsieren.
„Die Sachen musst du mir unbedingt noch vorführen.“
Tom und Fabian sahen sich an und grinsten.
Bei dem Besuch im Auktionshaus wurde Kevins Gesichtsausdruck ernst.
„Du… du hättest doch nicht ernsthaft mit ihm…“
Tim sah betreten zu Boden.
„Keine Ahnung. So eine Entscheidung ist meistens spontan. Aber es gibt neben dem, was ich da gemacht habe, noch sehr viele verschiedene andere Sachen, die nicht direkt etwas mit Sex zu tun haben.“
Kevin schwieg nachdenklich.
Als letztes kamen dann noch die Aussage von Frau Dullen und die Ergebnisse von Toms Nachforschungen hinzu.
Kevin schwieg immer noch und sah dann Tim in die Augen.
„Tim, ich liebe dich.“
Tim sah Kevin etwas verblüfft an, auch Halldur hob seine Augenbrauen.
„Bei den ganzen Erzählungen habe ich mich gefragt, ob dir etwas hätte passieren können. Ich habe mit dir gerätselt, mich mit dir gefreut und ja, ich war eifersüchtig.“
Tim wagte es kaum, seine Augen von Kevin zu lassen.
„Ich hatte eine Woche Zeit, meine Gefühle zu erforschen, und das war nicht einfach. Deine Geschichte hat mir ein anderes, komplexeres Bild von dir gezeigt. Ob du es glaubst oder nicht, aber ich möchte mehr von dir. Ich möchte alles von dir. Alles wissen, alles fühlen und alles… äh…“
„Berühren?“ kam es von Tom, während Fabian es mit
„Erleben?“ versuchte.
Kevin sah beide etwas irritiert an, während Tim sich erhob und zu Kevin ging. Leise flüsterte er ihm etwas ins Ohr und Kevin erhob sich nun ebenfalls. Hand in Hand gingen sie zur Treppe.
Halldur Harms sah ihnen kopfschüttelnd hinterher.
„Denkt dran. Tim hat um 1700 einen Termin mit Nick bei Frau Dullen!“
Tom hatte sich deutlich niedergeschlagen von Fabian verabschieden müssen, als dieser zur Arbeit ging. Die beiden tauschten Kennwörter und Adressen aus und Tim musste sie fast gewaltsam voneinander trennen. Dann schickte er auch Tom nach Hause.
„Ich muss ehrlich zugeben, ich möchte nicht dabei sein, wenn du Mutter erzählst, was hier so abgelaufen ist. Richte ihr einen schönen Gruß aus und ich komme morgen zur Arbeit.“
Tom machte auch kein glückliches Gesicht als er an seine Mutter dachte, doch dann zog er los. Kevin hingegen betrachtete Tim nachdenklich.
„Willst du wirklich noch weiter dort arbeiten?“
Tim seufzte. Diese Frage hatte er früher oder später kommen sehen. Der jetzige Zeitpunkt fiel eher unter ‚früher‘.
„Was glaubst du, woher ich mein Geld bekomme? Meine Mutter ist auf meinen Beitrag für die Miete angewiesen, sonst kann sie sich die Wohnung nicht mehr leisten.“
„Ja schon, aber…“
„Vergiss es. Ich weiß, was du sagen willst, aber ich nehme keine Almosen. Und aushalten lasse ich mich auch nicht.“
„Moment. Nicht so voreilig. Du weißt ja gar nicht, was ich sagen wollte. Von Almosen ist da keine Rede. Und das andere Thema lassen wir mal ganz fallen. Du bist mein Freund und nicht mein Boy-Toy.“
Tim schloss verblüfft seinen Mund, während Kevin schnell weiterredete.
„Du bist doch schon Angestellter bei TNL. Was hältst du von einem festen Job?“
„Bist du blöd? Was soll ich denn da? Du weißt ganz genau, dass ich nach der Schule nichts anderes gemacht habe, außer mich ficken zu lassen.“
„Tim! Was soll das jetzt? Können wir mal vernünftig reden? Ich habe wirklich ein seriöses Angebot für dich.“
„Ich höre.“
„Großvater hat schon seit längerem einen Plan, seine Flotte um eine neue Abteilung zu erweitern. Bisher war er ja hauptsächlich im Transportgeschäft. Jetzt möchte er gerne in das Bergungsgeschäft einsteigen. Du weißt, bergen von Wracks und Ladung, die als Verlust gemeldet wurden oder noch aus früheren Zeiten stammen.“
Tim hörte etwas überrascht zu. Das war nicht das, was er erwartet hatte.
„Und was hat das jetzt mit mir zu tun?“
„Ganz einfach. Ich möchte, dass du uns begleitest. Du hast zumindest eine ungefähre Ahnung von den Sachen, die man da unten finden kann.“
„Was? Ich? Ich habe nicht den blassesten Schimmer von dem ganzen Zeug. Meine Großmutter könnte da erheblich mehr erzählen.“
Kevin war innerlich ziemlich nervös, ließ sich aber nichts anmerken. Er ging hinüber zum Sofa und klopfte auffordernd neben sich.
„Komm bitte her zu mir. Ich möchte dir in diesem Zusammenhang etwas vorschlagen, aber geh dabei nicht gleich wieder durch die Kuppel.“
Langsam näherte sich Tim und setzte sich neben Kevin.
„Also?“
„Du bekommst den Job bei TNL ab dem nächsten Monat. Es ist eine sogenannte Beratertätigkeit als freier Mitarbeiter. Damit bist du an keine festen Arbeitszeiten gebunden. Wir zahlen dir ein monatliches Gehalt von 30.000 LEX. Dafür musst du dich an der Uni für ein Studium der Geschichtswissenschaften einschreiben. Wenn du dort abgeschlossen hast, wird dein Gehalt erhöht. Du musst uns natürlich auch schon in den Trimesterferien als Berater auf der GRUNDHAI bei den Reisen begleiten. Und das wichtigste dabei ist, wir bleiben zusammen.“
Tim sah Kevin vollkommen verständnislos an. Freier Mitarbeiter? Geschichtsstudium? GRUNDHAI? Halt, hatte Kevin da nicht eben 30.000 LEX gesagt?
„Noch einmal. Aber ganz langsam. Ich soll was? Studieren? Und dann auf einem Schiff mitfahren und ARTefacts bergen?“
„Hm, so ungefähr. Das mit dem Mitfahren fängt, wie gesagt, schon etwas früher an. Das nächste Trimester beginnt ja erst im Oktober.“
„Aha, weiter. Was ist das für ein GRUNDHAI?“
„Die LZS GRUNDHAI ist eine Neukonstruktion. Ein speziell für den Bergungseinsatz konzipiertes Schiff. Es entsteht momentan in Lod-Fünfeinhalb.“
Tim lachte leise. Lod-Fünfeinhalb war ein Begriff, den die Einwohner Lods für die riesige Werft geprägt hatten, die sich ebenfalls unterirdisch westlich von Lod 5 befand.
„Dein Großvater lässt tatsächlich ein neues Schiff bauen?“
„Ja. Aber das braucht der Rest von Lod noch nicht zu wissen. Es reicht, wenn die halbe Werft weiß, was dort unten entsteht. Die Version als Bergungsschiff ist ein Prototyp. Wenn sie sich bewährt, werden wohl Serien als Frachter oder Passagierschiff folgen.“
Tim saß schweigend in sich gekehrt neben Kevin und dachte über alles nach, was dieser ihm gerade vorgeschlagen hatte.
Wollte er wirklich Geschichte studieren und sich mit der Zeit vor dem Eis beschäftigen? Definitiv ja. Es wäre auch seine Wahl gewesen, hätte er nicht einen anderen Beruf ergreifen müssen.
Wollte er wirklich mit Kevin zusammenbleiben? Ein kurzer Blick nach rechts gab ihm die Antwort. Ja, das wollte er. Er hätte seinen jetzigen Beruf schon lange aufgegeben, wenn es für ihn eine andere Alternative gegeben und er das Geld für die Ablösesumme gehabt hätte. Und die bot ihm Kevin jetzt. Die Möglichkeit, mit jemandem zusammen zu bleiben, zusammen zu leben und sich nur ihm hinzugeben, rückte in greifbare Nähe.
Außerdem waren 30.000 LEX eine Menge Geld. Hier hatte Tim immer noch etwas das Gefühl, als würde er ausgehalten werden, doch dann dachte er an die Bedingungen, die daran geknüpft waren und die waren durchaus realistisch.
„Kann ich… Ich möchte das Ganze mit meiner Mutter und meiner Großmutter besprechen.“
„Na klar. Ich möchte dich ja zu nichts drängen.“
Tim sah Kevin nun direkt an und gab ihm einen Kuss.
„Ich möchte mich entschuldigen. Aber wenn es um meinen Job geht, bin ich wohl doch etwas empfindlich.“
Kevin grinste und ließ eine Hand an Tims Oberschenkel nach oben wandern.
„Du bist nicht nur da empfindlich.“
Tim spreizte leicht die Beine und schloss die Augen, als eine weitere Stimme ertönte
„Ich möchte die jungen Herren ja nur ungerne stören, aber Tim hat einen Termin mit Nick und dann mit Frau Dullen.“
Alarmiert sprang Tim auf.
„Schon so spät? Ich muss los. Wir sehen uns nachher.“
Kevin sah etwas verblüfft dem davoneilenden Tim hinterher.
„Hast du es ihm gesagt?“
Kevin nickte.
„Er hat so reagiert, wie du es vorhergesagt hast. Er ist nicht einfach. Aber zumindest möchte er mit seiner Mutter und seiner Großmutter darüber reden. Ich wünsche mir sehr, dass er zustimmt.“
Kevin stand auf und umarmte schweigend seinen Großvater. Dann stieß er einen leisen Seufzer aus.
„Ich liebe ihn wirklich.“
Tim hatte sich mit Nick vor dem Eingang zum Hotel Marngarten verbredet. Das war relativ unauffällig und sie brauchten hier nur noch drei Ebenen nach oben.
Nick wartete bereits und sah sich unruhig nach allen Seiten um.
„Hallo, bisschen nervös?“
Nick zuckte zusammen, als er von der Seite angesprochen wurde.
„Ach, du bist es. Irgendwie hatte ich den Eindruck, jemand würde mir folgen. Kann aber nur Einbildung sein. Gehen wir los?“
Seit er gestern Abend die Kurznachricht von Tim bekommen hatte, war Nick ziemlich aufgedreht. Zum Glück hatte er dieses Trimester den Vormittags-Törn in der Schule. Da konnte er Tim problemlos begleiten.
Die Tageszeiten waren ein Überbleibsel aus der voreiszeitlichen Ära. In Lod, wie in vielen anderen Staaten, gab es keine Unterschiede mehr im Tagesablauf und die Beleuchtung in den Kuppeln arbeitete die ganzen 24 Stunden mit voller Leistung. Lediglich in den Quartieren der Uppländer wurde nach alter Tradition von 2200 bis 0600 das Licht gedimmt.
Auch der Schulunterricht fand in zwei Schichten statt. Es gab deutlich mehr Schüler als Platz in den Unterrichtsräumen. Nick hatte am heutigen Vormittag allerdings nur sehr wenig mitbekommen, so aufgeregt, wie er war.
„Wo müssen wir hin?“
„Ebene 3. Das geht schnell.“
Tim und Nick reihten sich in eine Schlange vor einem der PTIV ein. Personentransport in der Vertikalen. Tim war immer wieder amüsiert über dieses Wortungetüm. Als Kind hatte er überhaupt nicht gewusst, dass PTIV eigentlich eine Abkürzung war.
Geduldig wartete er, während Nick die kleine Kabine des Paternosters betrat und nach oben entführt wurde. Die nächste war seine und er beeilte sich, sie zu betreten. Es gab zwar ein Sicherheitssystem mit Überwachung und Lichtschranken, aber man sollte trotzdem aufmerksam sein bei der Benutzung.
Nick wartete schon ungeduldig, obwohl er nur wenige Sekunden vorher angekommen war. Tim orientierte sich kurz und sie gingen los. Wie schon so oft hatte Tim ein Gefühl von Orientierungslosigkeit hier in Lod 2. Die Gänge in den Wohngegenden sahen bis auf die Hinweisbemalungen alle gleich aus und nur wenige Quartiere hatten sie geschmückt oder mit Verzierungen versehen.
Tim kontrollierte noch einmal die Adresse und blieb dann vor einer Tür stehen, die sich in nichts von denen links und rechts unterschied. Immerhin gab es eine Klingel und er musste nicht klopfen.
Einen kurzen Moment später wurde geöffnet und Lena Dullen sah heraus.
„Ah, sie sind es. Pünktlich. Und das ist der Bruder von Tanja?“
Nick hatte sich geistig auf diese Begegnung vorbereitet und die Frage erwartet. Sofort zückte er seine BID und hielt sie ihr entgegen.
Nach einem längeren Blick darauf gab Frau Dullen den Weg in ihr kleines Apartment frei. Tim sah sich neugierig um. Groß war etwas anderes. Wenn sie sich nicht mehr leisten konnte, musste der alte Grätz wohl doch ganz schön geizig sein.
„Du bist wegen des Tagebuchs hier, richtig?“
Nick sah kurz zu Tim, nickte aber dann.
„Ich habe ihr damals gesagt, dass es eine bescheuerte Idee ist, ein Tagebuch zu schreiben, aber sie fand es wohl ganz originell. Dann hat sie davon gefaselt, dass ihr vielleicht etwas passieren könnte. Damals hab ich gedacht, sie leidet ein bisschen an Verfolgungswahn, aber jetzt…“
Lena seufzte und ging zu einem der Einbauschränke. Dort holte sie ein kleines, schmales Buch hervor und gab es Nick.
„Hier. Ich hab es nicht gelesen. Geht mich nichts an. Wenn es die letzte Erinnerung an deine Schwester ist, dann bewahre es gut auf. Ihr werdet mich jetzt entschuldigen.“
Tim hob erstaunt die Augenbrauen. Das war einer der schnellsten Rauswürfe, die er bis jetzt erlebt hatte. Kurze Zeit später stand er mit Nick wieder vor der Tür und sie sahen einander grinsend an.
„Oh, Mann. So eine unhöfliche Seekuh. Wenn die auf der Arbeit genauso ist, dann wundert es mich, dass die überhaupt was versteigern.“
„Auf der Arbeit ist sie professioneller. Es gibt da manchmal sehr große Unterschiede zwischen Arbeit und Privatleben.“
Besonders in meinem eigenen, dachte Tim.
„Was machen wir jetzt? Ich würde es gerne lesen, aber zu Hause ist es schlecht. Meine Mutter hat Bereitschaft.“
Tim dachte einen Moment nach. Bei ihm zu Hause ging auch nicht. Seine Mutter war inzwischen da und Großmutter wahrscheinlich auch. Außerdem war da wohl auch noch ein längeres Gespräch fällig.
Bei Kevin ging auch nicht. Nick würde er nicht nach Lod 1 reinbekommen. Die Besucherbescheinigungen wurden auf Anforderung von Residenten ausgestellt und er war lediglich ein Angestellter.
Dann fiel ihm etwas anderes ein.
„Hast du Hunger?“
„Was? Nicht noch mal in so ein Luxus-Ding.“
„Nein, keine Angst. Es geht in die entgegengesetzte Richtung. Einmal nach unten. Da gibt es einen kleinen Klappenladen mit der besten Muschelsuppe von ganz Lod.“
„Hm, klingt ja vielversprechend. Aber warum ausgerechnet da unten?“
„Warum der Laden da ist, oder warum wir dort überhaupt hingehen?“
„Beides.“
„Den Laden führt eine alte Uppländerin. Die Leute rennen ihr die Bude ein, nur wegen der Muscheln. Keine Ahnung, warum sie noch immer da unten ist. Aber der andere Grund, warum wir dort hingehen, ist eine ruhige Bude. Dimitry wohnt dort ganz in der Nähe.“
Bei dem Gedanken an den muskulösen Stawa wurde es Nick wieder heiß und kalt.
„Dann lass uns los.“
Die Muscheln zu ergattern war gar nicht so einfach bei dem Andrang, doch Tim schleppte schließlich seine Beute in Form von drei Thermopacks in den angrenzenden Gang. Dort klopfte er an eine unscheinbare Tür.
Die wurde auch sofort aufgerissen und Dimitry erschien, leicht verschwitzt, mit nacktem Oberkörper.
„Stören wir?“
Dimitry sah hinaus auf den Gang und bemerkte nur noch Nick, der ihn überrascht anstarrte.
„Nein, kommt rein! Rieche ich da Poodas Muschelsuppe?“
„Vollkommen richtig. Wir haben dir extra eine Portion mitgebracht.“
Tim stellte die Wärmebehälter auf einem kleinen Tisch ab. Dann klappte er zwei Sitze herunter und setzte sich zusammen mit Nick an den Tisch. Dima räumte ein paar Hanteln beiseite, mit denen er wohl gerade trainiert hatte.
„Ich gehe mich nur eben duschen.“
Nick war die ganze Zeit mit seinen Blicken Dimitry gefolgt und immer nervöser geworden. Jetzt rutschte er unruhig auf dem Hocker hin und her. Tim beobachtete ihn leicht amüsiert, bis Dima um die Ecke in der Nasszelle verschwand.
Als Dima mit dem Duschen fertig war, kam er vollkommen ungeniert wieder um die Ecke und suchte splitternackt in einem Schrank nach frischen Sachen. Nick sah ihm mit großen Augen zu und Tim bemerkte nun, wie Nick seine Gesichtsfarbe wechselte. Seine hektischen Bewegungen wurden schneller, um dann plötzlich aufzuhören. Nicks entsetzter Blick in seinen Schoß verriet Tim, was passiert war.
Kommentarlos wies Tim in Richtung der Nasszelle, in der Nick auch sofort verschwand.
„Dima, du bist ein Idiot.“
„Was? Wieso?“
„Musst du so rumlaufen? Der Kleine hat gerade einen Abgang gekriegt von deiner Rumhopserei.“
Dimitry sah sich verblüfft um, dann errötete er zu Tims Erstaunen etwas.
„Oh, tut mir leid. Das wollte ich nicht. Da hätte ich jetzt gar nicht dran gedacht.“
Schnell zog er seine Sachen an und verstaute die alten in einem Wäschesack.
„Komm rüber, bevor die Suppe kalt wird. Nick wird hoffentlich auch bald erscheinen.“
Der sah nun schüchtern um die Ecke und erblickte Dimitry am Tisch. Schnell eilte er zu seinem Platz, doch der große Stawa hielt ihn plötzlich auf. Sein Blick wanderte an Nick herab und er nickte ermutigend.
„Ist schon in Ordnung. Fast überhaupt nichts zu sehen. Tut mir leid, aber ich habe selten Gäste und schon gar nicht jemand, der… äh…“
„Auf dich steht?“
Dimitry warf Tim einen bösen Blick zu, während Nick wieder rot anlief. Dima seufzte.
„Lasst uns lieber essen. Wie gesagt, es tut mir leid, Nick.“
Nick setzte sich und knickte den Löffel von der Verpackung ab. Dann probierte er. Tatsächlich, die Suppe schmeckte wirklich sehr gut. Etwas ungewohnt mit den Gewürzen, aber genau so etwas mochte er.
Als er aufgegessen hatte, bemerkte Nick, dass Dimitry ihn nachdenklich ansah.
„Also, Nick. Ich weiß nicht, wie ich es dir am besten beibringen kann, aber du solltest dich vielleicht nach jemand anderem umsehen. Ich bin nicht der richtige für dich. Ich habe zwar keinen festen Freund, aber so leid es mir tut, habe ich eine andere Vorstellung von ihm. Es ist nichts Persönliches, aber du bist leider nicht mein Typ.“
Während Dimitry sprach, war Nick immer ruhiger geworden. Zum Ende hin liefen die ersten Tränen und Nick schniefte etwas. Dimitry wollte ihm mit einer Hand über die Hare streichen, doch Tim schüttelte stumm seinen Kopf. Sanft zog er Nick an sich.
„So ist das nun mal, Kleiner. Jeder hat eine bestimmte Vorstellung einer Beziehung und da kann man nichts machen. Es wird dir im Moment wahrscheinlich nicht helfen, aber es gibt noch genügend andere Männer wie Dima, von denen dir auch einer gefallen könnte.“
Nick schniefte noch einmal, klammerte sich aber nun fest an Tim. Dima sah ruhelos in seiner Wohnung umher, ohne Nick direkt anzublicken. Tim seufzte.
„Wir sind auch noch aus einem anderen Grund hergekommen. Wir haben Tanjas Tagebuch aufgetrieben und hatten eigentlich ein ruhiges Plätzchen gesucht, wo wir es lesen können.“
„Dann tut euch keinen Zwang an. Hier ist zwar wenig Platz, aber es stört euch niemand.“
Tim stupste nun Nick an und der kramte das Tagebuch seiner Schwester hervor. Unsicher blätterte er durch die Seiten.
„Ist ja nicht gerade viel.“
„Was hast du erwartet? Dass sie ihr ganzes Leben ausbreitet? Tagebücher zu schreiben, stelle ich mir nicht einfach vor.“
„Werden wir sehen. Ich lese einfach mal alles vor.“
Mein Tagebuch
Tanja Wister
22. August 97
Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich werde es jetzt trotzdem einmal ausprobieren. Bartje hat mir diesen schrecklichen Füllfederhalter geschenkt und das Buch. Ein Tagebuch soll es werden. Ich soll alles reinschreiben, was mich bewegt. Ich werde sehen, wie weit ich damit komme.
24. August 97
Mir fällt nichts Wichtiges ein, was ich hier reinschreiben könnte. Vielleicht probiere ich es erst mal mit einem bisschen alltäglichen Kram. Mit diesem Füllfederhalter zu schreiben ist verdammt ungewohnt. Ich wundere mich, wie die Uppländer mit sowas klarkommen. Aber Bartje hat gesagt, es geht nicht nur um den Inhalt, sondern auch um die Form. Ein Tagebuch soll etwas Besonderes, etwas Einmaliges sein.
28. August 97
Ich weiß nicht, ob das was für ein Tagebuch ist, aber der merkwürdige Typ im schwarzen Anzug war jetzt schon das dritte Mal bei mir. Keine besonderen Wünsche, aber er zahlt gut. Könnte ein Stammkunde werden.
5. September 97
Nick war bei mir. Ich hatte fest geglaubt, er wüsste nicht, wo ich arbeite. Dabei wusste er ganz genau, was ich mache. Er wollte unbedingt wissen, wie viel man damit verdient. Ich hab ihn rausgeschmissen. Wenn er mit dem Gedanken spielen sollte, ebenfalls in dem Job anzufangen, rede ich vorher mit Mutter. Er ist doch erst sechzehn! Na gut, ich war auch nicht viel älter beim ersten Mal.
Tim musterte Nick mit einem Seitenblick und der Junge wurde tatsächlich etwas rot. Hatte er ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, ein Begleiter zu werden?
„Lass dich nicht stören, lies einfach weiter.“
20. September 97
Der Typ im schwarzen Anzug kommt jetzt regelmäßig, fast jede Woche einmal. Seinem Auftreten und seinem schrecklichen Akzent nach zu urteilen, kommt er aus dem BFS, aber außer ein paar Höflichkeitsfloskeln spricht er nicht viel.
8. Oktober 97
Der Typ aus dem BFS wird allmählich redseliger. Er heißt Horst und gestern hat er was von größeren Plänen gefaselt und dass ich ein bisschen was dazuverdienen könnte. Wenn die Kohle stimmt, ist das schon in Ordnung, aber nix Illegales und auch nichts Extremes.
11. Dezember 97
Horst hat mich gefragt, ob er noch öfter kommen könnte. (Oh, das klingt ja richtig zweideutig). Und dann, ohne dass es jemand erfährt. Wenn Robert das mitbekommt, bin ich raus, aber Horst zahlt sehr gut. Gestern kam er mit einem kleinen Geschenk an, wie er sagte. Ich sage, ich habe ihn an der Angel. Mal sehen, was ihm noch so einfällt. Drängen werde ich ihn zu nichts, sonst ist er vielleicht weg.
27. Januar 98
Ich hab nach Jahren Lena wiedergetroffen. Und das ausgerechnet bei dieser Versteigerung. Wir waren zusammen in einer Klasse und ich hätte nie gedacht, dass sie mal in der Goldkuppel arbeiten könnte. Nicht, nachdem wir beide so angefangen haben. Die hat es gut, die hat aus ihrem Leben was gemacht. Wenn ich genug Geld zusammen habe, steige ich auch hier aus. Auf die Dauer ist das kein guter Job.
28. Januar 98
Zuerst wusste ich nicht, was er wollte, doch dann hat er mir dieses Armband gegeben, dass er gestern ersteigert hat. Die Sache beginnt aus dem Ruder zu laufen. Geschenke sind ja sehr schön, aber das hier übersteigt dann doch die Grenzen. Ich muss mir was einfallen lassen, wie ich ihn auf Abstand halten kann.
11. März 98
Irgendwie hatte ich es geahnt. Horst hat angefangen, von einer Beziehung zu reden. Im Geheimen natürlich. Schließlich hätte er Frau und Kinder in Janbergen. Ich will hier aber nicht als billige Konkubine enden.
Nick sah von dem Tagebuch auf.
„Was ist denn eine Konkubine?“
Tim seufzte.
„Ursprünglich eine Beziehung mit einer Frau, ohne mit ihr verheiratet zu sein. Jetzt verwenden wir den Begriff nur noch für die Mädchen, die nicht mehr anschaffen gehen und dafür von ihrem Verehrer ausgehalten werden. Meist sind das verheiratete Männer, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen lieber jemand anderem als ihrer Ehefrau zuwenden.“
Nick sah Tim überrascht an.
„Oh Mann. Du kannst ganz schön um die Begriffe drumherum reden. Fast so schlimm wie bei uns in SexEd.“
19. April 98
Nick war schon wieder hier. Bevor er etwas sagen konnte, hab ich ihm mit Mutter gedroht, da hat er dann mit hängenden Ohren bei mir gesessen und geheult. Ich habe ihn zu Tim geschickt, der kann ihm den Schwachsinn wieder ausreden.
30. Mai 98
Horst ist sichtlich nervös. Ich möchte zu gerne wissen, was er auf einmal hat. Ich soll meine Wohnung für ein paar Stunden „vermieten“. Hier soll wohl so eine Art Treffen stattfinden, von dem nicht jeder zu Wissen braucht. Und ich soll dafür zwei Grüne kriegen. Bei dem Preis kann er die Bude ein paar Tage haben.
„Jetzt wird die Sache interessant. Warum sollte er ihr 20.000 LEX geben, nur um ihre Wohnung benutzen zu dürfen?“
„Nicht raten, weiterlesen.“
14. Juni 98
Horst ist stinksauer. Anscheinend hat ihn seine Verabredung versetzt. Er lässt sich auch nicht beruhigen. Möchte wirklich wissen, was hier genau los ist.
16. Juli 98
So ein Walscheiß! Horst gibt mir einen Grünen und schickt mich weg. So weit in Ordnung. Ich komm wieder und was ist los? Keiner mehr da. Kein Freier, keine Knete, nichts. So langsam glaube ich, dass ich einen großen Fehler gemacht habe. Ich schließe das Tagebuch erst mal ab und gebe es an einen sicheren Ort, man weiß ja nie. Dann pack ich meine Klamotten und hau ab. Bei meinem Job krieg ich bestimmt überall Arbeit.
„Das ist alles?“
„Ja, das war der letzte Eintrag.“
„Also wurde dieser Horst zum letzten Mal am 16. Juli gesehen. Danach ist er verschwunden. Einen Tag später wird Tanja tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Todesursache eine Überdosis Drogen. Angeblich selbst genommen.“
Nick schlug mit der Faust auf den Tisch, dass sogar Dima zusammenzuckte.
„Wir sind keinen Schritt weiter.“
Das Tagebuch hatte Tim mitbekommen, weil Nick es schlecht irgendwo verstecken konnte. Und seiner Mutter zeigen wollte er es nun wirklich nicht.
Tim war auf dem Weg zurück in die Goldkuppel. Nach Hause wollte er nicht, weil er nicht zwischen Tom und seine Mutter geraten wollte. Auch wäre dann das Gespräch über seine eigene Zukunft fällig und das wollte er gerne in aller Ruhe führen.
Als er die Wohnung von Kevin und seinem Großvater betrat, sahen ihm beide mit ernsten Gesichtern entgegen.
„Wir müssen reden.“
Tim wunderte sich etwas. So hatte er Kevins Großvater noch nie erlebt. Der scheuchte die beiden jungen Herrn nun in seine Arbeitsecke und nahm hinter dem Schreibtisch Platz. Tim und Kevin saßen davor.
„Ich habe vorhin Besuch gehabt. Sagt dir der Name Ira Ellen etwas, Tim?“
Der schüttelte nur ratlos den Kopf.
„Also gut, dann muss ich wohl etwas weiter ausholen. Ich gehe davon aus, dass du dich auch nie mit den Feinheiten der politischen Bühne befasst hast. Aber du kennst natürlich den Rat.“
Der Rat – damit war der RDL, der Rat der Länder gemeint. In diesem Rat waren alle sieben Länder vertreten, die zum Zusammenschluss gehörten. Die Ratsversammlung selbst bestand aus sechs Vertretern von Lod und jeweils einem Vertreter der anderen sechs Länder. Vorsitzender war gemäß den Statuten immer ein Lodt. Beschlüsse des Rates wurden mit einfacher Mehrheit gefasst, wobei bei einem Patt die Stimme des Vorsitzenden doppelt zählte. Das wurde ja schon in der Elementarstufe unterrichtet.
Auf Tims heftiges Nicken fuhr Halldur fort.
„Dann kennst du auch sicherlich die URT.“
Auch hier nickte Tim sofort. Die URT war die Unabhängige Rats-Truppe. Eine militärische Einheit, die ausschließlich dem Rat unterstand.
„Etwas weniger bekannt dürfte der LND sein, der Lod Nachrichtendienst. Das ist die Geheimdienstabteilung der URT. Nun, so geheim ist ihre Existenz natürlich nicht, aber man geht damit auch nicht hausieren. Schwierig ist natürlich nur, dass der LND offiziell zur URT gehört und damit dem Rat untersteht. Gemäß Geschäftsordnung ist der Leiter des Geheimdienstes der jeweilige Ratsvorsitzende. Und damit nicht bei jeder Neuwahl aus Sicherheitsgründen der halbe Geheimdienst ausgewechselt werden muss, hat der Vorsitzende einen stellvertretenden Leiter.“
Tim war den Ausführungen etwas verwirrt gefolgt. Doch langsam begann er zu ahnen, worauf Halldur Harms hinauswollte. Nicht, dass ihm dieser Gedanke auch nur ein bisschen gefiel.
„Ich darf raten. Der stellvertretende Leiter heißt Ira Ellen?“
„Ich sehe schon, Kevin, der junge Mann neben dir hat noch eine steile Karriere vor sich. So ist es. Und sie war nicht gerade erfreut.“
Tim erbleichte sichtlich, doch Kevin legte ihm beruhigend eine Hand auf den Unterarm.
„So schlimm ist es nicht.“
„Kevin hat recht. Immerhin, der LND hat eure Versuche, etwas Licht in die Angelegenheit um diese tote Frau zu bringen, natürlich bemerkt. Aber auch nur, weil sie selbst auf der Suche nach dem verschwundenen BFS-Diplomaten sind. Was ich dir jetzt erzähle, bleibt unter uns, verstanden? Der gute Mann war nämlich dabei, die Seiten zu wechseln. Er sollte an einem neutralen Ort von einem Agenten des LND kontaktiert werden. Der ist aber ausgefallen. Beim zweiten Versuch hätte der GeSiDi beinahe die Versammlung gesprengt. Seit diesem Tag ist der besagte Diplomat abgängig.“
Tim klingelten die Ohren. Da waren sie ja gerade noch einer Katastrophe entkommen. Nicht auszudenken, wenn sie dem Geheimdienst in die Quere gekommen wären.
„Jetzt hat der LND allerdings ein Problem. Einige seiner Mitarbeiter sind bei dem Fall kompromittiert worden, andere sind sogar spurlos verschwunden. Der GeSiDi hat offensichtlich alle seine Mitarbeiter hier in Lod mobilisiert und möglicherweise sogar etliche aus dem BFS inzwischen hierhergeschafft. Sie wollen den Mann unter allen Umständen wiederhaben. Der LND sieht sich nicht in der Lage, nach dem Diplomaten zu suchen und gleichzeitig die GeSiDi-Mitarbeiter zu überwachen.“
„Bitte?“
„Du hast vollkommen richtig gehört. Deshalb ergeht an dich und deine Freunde ein Appell als staatstreue Mitbürger, die Exekutivorgane unseres Landes aktiv zu unterstützen.“
Tim schloss seine Augen und musste den Satz noch einmal rekapitulieren.
„Sie wollen, dass wir weiter nach diesem Horst suchen, während der GeSiDi unkontrolliert in Scharen durch Lod streift?“
Halldur Harms lehnte sich etwas nach hinten und legte die Fingerspitzen aneinander.
„So könnte man es auch ausdrücken, ja.“
„Ich bin doch nicht lebensmüde. Ich werde die Jungs da nicht mit reinziehen. Und die Kleinen schon gar nicht.“
Kevin lächelte leicht.
„Ich denke nicht, dass Fabi, Tom oder Nick gerne als ‚klein‘ bezeichnet werden wollen.“
„Du weißt genau, was ich meine. Ich möchte nicht daran schuld sein, wenn ihnen etwas passiert.“
Halldur Harms nickte zustimmend mit dem Kopf.
„Das darf auf gar keinen Fall geschehen. Ihr sollt lediglich ein wenig die Suche ausweiten und vielleicht dem LND einen Tipp für den Zugriff geben. Immerhin haben sie eine Belohnung für Hinweise auf die Ergreifung ausgesetzt.“
Obwohl Tim fest entschlossen war, die ganze Angelegenheit nicht weiter zu verfolgen, zuckte er dennoch ein wenig zusammen. Belohnung?
Halldur hatte Tims Reaktion bemerkt und schrieb etwas auf einen Zettel. Dann reicht er ihn Tim. Als Tim auf den Zettel sah, klopfte sein Herz bis zum Hals. Das war fast sein ganzes Jahresgehalt! Selbst wenn er es mit den anderen teilen würde, wäre das noch ein sehr hoher Betrag. Was heißt hier, wenn? Natürlich würde er es teilen. Aber dazu musste man das Geld erst einmal haben.
Moment, war er schon so weit, die Belohnung geistig aufzuteilen, obwohl er sie überhaupt nicht hatte. Und auch gar nicht bekommen würde, wenn er seinem ersten spontanen Gefühl der Ablehnung folgte. War es das Geld wert, die Gesundheit oder vielleicht sogar das Leben von Freunden und Verwandten zu gefährden?
Mit seinem Anteil und seinen Ersparnissen würde er allerdings die Ablösesumme für seinen Vertrag bei Robert zusammenbekommen. Etwas, wovon viele träumten, die dort beschäftigt waren. Die Ablösesumme war eine Sicherheit für Robert, dass die Leute nicht so schnell kündigten, wenn sie einfach keine Lust mehr hatten. Personal für einen Escort-Service war zwar nicht besonders schwer zu bekommen, doch Robert duldete weder einschlägig Vorbestrafte noch Drogensüchtige. Darüber hinaus hatte er ziemliche hohe Ansprüche an Aussehen und Auftreten seiner Angestellten.
Dafür stellte er die Zimmer für ein ‚persönliches Gespräch‘ in seinen Geschäftsräumen kostenlos zur Verfügung. Die Kunden zahlten direkt an Robert und eine vorher fest vereinbarte Summe an den Begleiter. Was sie ihnen noch zusätzlich gaben, war Sache der Kunden. Wer sich privat bezahlen ließ, ohne die Firma zu beteiligen, wurde gekündigt. Natürlich wurde auch dann die Ablösesumme fällig.
Tim hatte seit seinem ersten Tag eisern gespart und nun rückte eine Gelegenheit in greifbare Nähe. Nicht nur dem Vertrag zu entkommen, sondern damit auch endlich den Eintrag auf seiner BID loszuwerden. Aber war es das wert, wenn dabei jemand zu Schaden kam?
Tims Gedanken drehten sich immer nur im Kreis und er kam zu keinem Ergebnis.
„Komm mit nach oben, da kannst du dich etwas entspannen. Vielleicht kommst du ja auch auf andere Gedanken.“
Tim lächelte Kevin dankbar zu. Die Gedanken, die ihm dabei gerade durch den Kopf schossen, waren tatsächlich etwas anderer Natur, doch die würden Kevin bestimmt auch gefallen.
„Wir müssen uns was einfallen lassen. Ich würde ganz gerne mit den anderen darüber sprechen. Ich kann sie doch nicht einfach im Dunkeln lassen, bei so einer Gefahr.“
Halldur nickte langsam. Manche Entscheidungen verlangten ein sorgsames Abwägen.
„Das können wir sowieso erst morgen machen. Bis dahin bleibt noch etwas Zeit zum Überlegen.“
„Morgen? Ich muss morgen wieder arbeiten. Ich habe Anwesenheit während der Nachtzeit. Ich habe schon zwei Schichten getauscht, damit ich hier sein kann, wenn Kevin wiederkommt.“
Kevin sah Tim erstaunt und auch liebevoll an. Halldur schüttelte nur den Kopf.
„Das lass mal meine Sorge sein. Ihr geht nach oben und schlaft.“
Als die Jungen nach oben verschwunden waren, griff Halldur Harms schweren Herzens zu seinem Mobiltelefon. Er war endlich zu einem Entschluss gekommen, der sein Leben auf seine alten Tage vermutlich etwas auf den Kopf stellen würde, aber vielleicht war es besser so. Seine einzige Angst war lediglich, dass er sich die Sache möglicherweise zu spät überlegt hatte.
Tim hatte sich eng an Kevin gekuschelt und seufzte schwer. Kevin zog ihn etwas fester an sich.
„Ich weiß, Kleiner. Die Entscheidung ist nicht einfach.“
Tim lachte kurz auf.
„‘Nicht einfach‘ ist in diesem Fall leicht untertrieben. Ich würde es gerne machen. Um Nick zu helfen, die Wahrheit herauszufinden und um endlich aus dem verdammten Vertrag rauszukommen. Ob du es glaubst oder nicht, ich würde es sogar machen, um dem LND zu helfen. Es sieht vielleicht nicht so aus, aber ich bin tatsächlich ein ‚staatstreuer Mitbürger‘ wie dein Großvater es formuliert hat. Hast du dir mal das Leben in den anderen Ländern angesehen?“
Kevin schüttelte verwirrt den Kopf. Was gab es da denn schon Interessantes?
„Die armen Sardinen im BFS dürfen ihr Land nicht einmal verlassen. Müssen dort leben und arbeiten und das wars. Hast du mal Fabi gefragt, wie es in Stawa aussieht? Seine Eltern könnten da bestimmt einiges erzählen. Es gibt da Gegenden in den Höhlen von Stawatyce, da gibt es nicht mal Strom oder Wasser. Und da leben tausende von Menschen.“
Tatsächlich? Kevin wusste nur, dass Stawatyce, im Gegensatz zu fast allen anderen Städten, kein Kuppelbau war, sondern in einen Berg hineingebaut.
„Im Gegensatz zu denen geht es uns hier doch sehr gut. Und ich möchte ganz gerne, dass das auch so bleibt.“
„Also willst du die Sache durchziehen.“
„Ja. Ich werde mit den anderen reden und dann kann jeder von ihnen entscheiden, ob er dabei sein will.“
Während der ganzen Unterhaltung war Tim immer unruhiger geworden. Das lag allerdings nicht am Inhalt des Gespräches, sondern an einem Körperteil von Kevin, das sich nun deutlich bemerkbar an sein Hinterteil presste.
Im ersten Moment war Tim versucht, es ablaufen zu lassen wie bei einem Kunden, doch dann ermahnte er sich selbst. Kevin war kein Kunde und hatte deutlich etwas Besseres verdient. Langsam entspannte sich Tim und ließ sich von den angenehmen Gefühlen der Berührung entführen. Dann fiel ihm die Bemerkung von Fabi und Toms Torpedo wieder ein. Innerlich grinsend presste er sich an Kevin.
„Wenn dein Schiffchen in die Schleuse will, musst du schon etwas freundlicher mit dem Schleusenwärter sein.“
Tim spürte, wie Kevin sich verspannte, um kurz darauf leise zu lachen.
„Das werden wir mal sehen. Ich brauche bei dem Schleusenwärter bloß auf die richtigen Knöpfchen zu drücken.“
Kevins Arme umfassten Tim und seine Hände näherten sich Tims Brustwarzen. Das versprach wirklich eine interessante Nacht zu werden.
Eine Etage tiefer empfing Halldur Harms noch einen nächtlichen Besucher.
„Und es ist dir wirklich ernst damit? Ich hätte nie geglaubt, dass du es dir eines Tages doch noch überlegen würdest. Was ist mit Kevin? Wird er nichts dazu sagen? Oder deine Nachbarn, deine Geschäftspartner.“
„Kevin kennt das alles genauso gut wie ich. Er ist ja mit Tim in fast der gleichen Situation. Meine Nachbarn geht das einen Walscheiß an. Und meine Geschäftspartner sehen über so einiges hinweg, wenn sie einen guten Gewinn machen.“
„Ich weiß nicht. Nicht dass es nachher heißt, ich hätte dich dazu überredet oder sowas. Ich will doch nur…“
Halldur sah in die grauen Augen seines Gegenübers und zog ihn an sich. Der Kuss war lang und intensiv. Zwei Paar Hände fuhren forschend über die Körper der beiden Männer, obwohl es längst nichts Neues mehr zu entdecken gab.
„Ich will auch nur – und zwar dich.“
Langsam verlagerte sich das Geschehen hinüber in das große Schlafabteil, wobei es einige Kleidungsstücke schon nicht mehr bis dort hinein schafften.
Am nächsten Morgen schreckte Tim als erster hoch. Kevin lag noch friedlich schlafend neben ihm. Die Decke verbarg seinen Körper nur unzureichend. Sanft fuhr Tim mit einem Finger an Kevins Brust herab, bis er die feinen Härchen erreichte, die sich etwas weiter zu einem dichten Busch entwickelten. Im Gegensatz zu seinem Haupthaar waren die Haare hier unten etwas dunkler, mehr goldblond. Ein reizender Kontrast zur der gebräunten Haut, die nicht natürlichen Ursprungs war, sondern Ergebnis einer zusätzliche Lichtbestrahlung.
Von unten waren Geräusche zu hören und Tim wunderte sich ein wenig. Frau Kuberski konnte das noch nicht sein. Tim zog sich Unterhose und Hose an, um dann neugierig nach unten zu gehen. Dort stand Halldur Harms in einem eleganten Morgenmantel leise vor sich hin summend an der Kaffeemaschine.
„Guten Morgen, Herr Harms.“
„Ah, Tim. Habe ich dich geweckt?“
„Nein, alles in Ordnung. Ich war schon wach.“
„Dann ist ja gut. Auch einen Kaffee?“
Tim zögerte etwas, doch dann nickte er. Ein echter Kaffee am Morgen war schon etwas anderes als dieser Nova-Gustus-Kaffeeersatz.
„Ja, danke sehr. Am Morgen kann ich da schon mal einen gebrauchen.“
Halldur lächelte, dann sah er Tim ernst an.
„Ich habe noch ein weiteres Attentat auf dich vor.“
Tim schrak auf, doch Halldur winkte ab.
„Nichts Tragisches, keine Angst. Es ist nur so… Du hast ja jetzt eine feste Beziehung zu Kevin, wie ich vermute.“
Tim sah Halldur überrascht an, bis er bemerkte, dass dieser eine Antwort auf die nicht gestellte Frage haben wollte.
„Wenn Kevin mich haben will, ja.“
„Sehr gut. Dann sollten wir auch unsere Beziehung auf eine andere Eben hieven. Wenn ich ‚Herr Harms‘ höre, denke ich immer an mein Büro oder einen Geschäftspartner. Es wäre schon schön, wenn du mich einfach Halldur nennen würdest…“
Tim schnappte hörbar nach Luft.
„Nun gut, oder du machst es wie Kevin und sagst einfach…“
„Großvater!“ kam es von der Treppe und beide drehten sich etwas überrascht zu Kevin um.
„Aber ich kann doch nicht einfach ‚Großvater‘ zu Herrn…“
„Wage es nicht noch einmal, mich ‚Herr Harms‘ zu nennen.“
Tim zögerte sichtlich, doch dann lief ein Lächeln über sein Gesicht.
„Das werde ich nicht, Großvater Harms.“
Kevin und sein Großvater sahen sich verblüfft an, dann lachten beide.
„Dann können wir ja schon mal mit dem Kaffee starten. Kevin, du solltest dir vielleicht etwas anziehen.“
Kevin, immer noch auf der Treppe, sah über die beiden hinweg und grinste breit.
„Glaub ich nicht. So wie das aussieht, seid ihr beide im Moment etwas overdressed.“
Tim und Halldur drehten sich verdutzt um. In der Tür zum Schlafabteil stand Halldurs nächtlicher Besucher und er war, wie Kevin richtig bemerkt hatte, ebenso nackt wie er selbst.
Halldur sah leicht betreten zu Boden, während Tim seine Augen aufriss.
„Dima?“
„Oh, verdammt.“
Schnell verschwand Dimitry wieder in dem Schlafabteil und Kevin sah seinen Großvater fragend an.
„Hast du ihn endlich gefragt?“
Tim sah erstaunt von einem zum anderen, dann setzte er allmählich das kleine Puzzle zusammen.
„Sie… Du - und Dima? Im Ernst?“
„Warum denn nicht? Du und Kevin, ihr habt es doch auch…“
„So habe ich das nicht gemeint. Ich war nur etwas überrascht, denn ich kenne ihn nun schon eine ganze Weile. Er hat sich nie etwas anmerken lassen oder etwas gesagt.“
„Das geht ja auch schließlich niemanden etwas an.“
kam es aus Richtung des Schlafabteils. Dima war inzwischen wieder erschienen und trug nun Hemd und Hose. Der große Stawa ging auf Halldur zu und blieb kurz vor ihm stehen.
„Wir kennen uns schon seit ich hier in Lod bin. Er hat mich bei Robert gesehen und mich immer öfter gebucht. Dann hat er mich eines Tages gefragt ‚Macht dir das eigentlich Spaß hier?‘. Ich wusste, worauf das abzielte, aber ich dachte damals, das würde nur in einem heimlichen Verhältnis enden, das sowieso bald vorüber war.“
Halldur nickte und seufzte tief.
„Er war und ist eigentlich das, was ich mir immer vorgestellt habe. Ich war nicht darauf gefasst, eine Abfuhr zu bekommen. Dabei hatte ich es schon damals nicht als flüchtiges Verhältnis betrachtet. Seine Ablehnung hat mich dermaßen aufgeregt, dass ich ihn mit ziemlich harschen Worten abgefertigt habe. Woraufhin er mir gesagt hat: ‚Wenn du dir hundertprozentig sicher bist, mich den Rest deines Lebens zu ertragen, dann darfst du gerne wiederkommen‘. Nun ja, das war vor zwei Jahren.“
Tim sah unsicher zu Kevin hoch, doch der schien die Geschichte bereits zu kennen.
„Und nun bist du sicher.“
„Hundertprozentig.“
Alle vier lachten leise, während sich Halldur an Dima wandte.
„Möchtest du auch einen Kaffee?“
Am späten Nachmittag versammelte sich eine kleine Gruppe in der Wohnung von Dima in Lod 5. Tim hatte den Ort vorgeschlagen, damit niemand auffällig in die Goldkuppel gebracht werden musste. Fabian war direkt von seiner Arbeit gekommen und Tom aus der Schule, ebenso wie Nick. Bartje hatte seine Schicht ebenfalls beendet.
Der Vormittag war für Dima und Tim etwas anders verlaufen als sie sich vorgestellt hatten. Sie wurden aus dem Showroom in das Büro von Robert gerufen. Der kleine, schlanke Arbiträer saß hinter seinem Schreibtisch und sah nicht sehr glücklich aus. Selbst jetzt, mit Anfang vierzig, war er noch ein sehr attraktiver Mann und Tim fragte sich manchmal, wie er es geschafft hatte vom einfachen Begleiter bis zum Inhaber dieses Etablissements.
Robert deutete auf die Besucherstühle vor seinem Schreibtisch.
„Nehmt ruhig Platz. Es ist nichts Tragisches. Ganz im Gegenteil.“
Dima und Tim sahen einander fragend an, setzten sich und sahen dann erwartungsvoll zu Robert.
„Ich muss sagen, zwei auf einmal sind etwas überraschend. Aber so schlecht es für das Geschäft ist, freue ich mich doch immer, wenn jemand es schafft. Ich habe genauso angefangen und bin nun ein ehrbarer Bürger von Lod.“
Tim sah Dima ein zweites Mal fragend an, doch der zuckte lediglich mit den Schultern. Robert hatte den kurzen Austausch bemerkt und lehnte sich lächelnd zurück.
„Ihr wisst es noch gar nicht? Sollte wohl eine Überraschung sein. Nun denn, jemand hat eure Verträge ausgekauft. Das Geld wurde bereits überwiesen und die Verträge werden mit dem heutigen Datum terminiert. Ihr seid nicht mehr länger Mitarbeiter in Roberts Escort Service. Wobei ich sagen muss, dass ich mit euch fast nie Probleme hatte, nicht so wie mit einigen anderen. Ach ja. Eine Kopie der Terminierung geht auch an die Gewerbeaufsicht. Die Eintragung auf euren BIDs wird wohl in Kürze gelöscht. Was sagt ihr?“
Dima saß mit steinernem Gesicht vor Roberts Schreibtisch. Er wusste ganz genau wer dahinter steckte. So hatte er sich das nicht vorgestellt, da war noch eine Menge zu besprechen.
Tim hingegen war stinksauer. Äußerlich ließ er sich nichts anmerken, doch er nahm sich fest vor, Halldur zur Rede zu stellen.
„Hier, eure Unterlagen. Sozialversicherungen und Arbeitsnachweise sind auf der BID gespeichert. Falls ihr wollt, kann ich auch noch ein Arbeitszeugnis ausstellen.“
Robert seufzte.
„Aber ich denke nicht, dass das einen neuen Arbeitgeber unbedingt interessiert. Nur mal aus reiner Neugierde, habt ihr zwei schon eine neue Arbeitsstelle?“
Tim musste noch doch grinsen. Er wusste, warum Robert fragte. Wer keine neue Arbeit hatte, würde wahrscheinlich nach einem halben Jahr wieder bei ihm auf der Matte stehen.
„Ich werde endlich ein Studium aufnehmen. Geschichtswissenschaften an der LUDS.“
„Die Universität der Schifffahrt bietet auch Geschichte an? Na ja, ist wohl naheliegend, der Zusammenhang. Da hast du es ja gerade noch rechtzeitig geschafft. Der Anmeldeschluss ist in acht Tagen und mit dem Eintrag auf der BID hättest du das vergessen können.“
Tim durchlief es heiß und kalt. Wie hatte er das übersehen können? Oder hatte er Kevins Angebot so weit verdrängt? Großvater Harms schien es nicht vergessen zu haben und hatte rechtzeitig die richtigen Maßnahmen ergriffen. Tim musste gedanklich große Abbitte leisten.
Dima lächelte, denn er wusste ebenso wie Tim, warum Robert fragte.
„Oh, ich habe schon einen Job. Ich werde wieder das machen, was ich einmal richtig gelernt habe.“
Tim sah Dima erstaunt an, während Robert fragend die Augenbrauen hob.
„Ich bin gelernter Schiffsmechaniker.“
Dima und Schiffsmechaniker? Dann fiel Tim plötzlich Halldur ein und dann – die GRUNDHAI. Er würde sein gesamtes Vermögen verwetten, dass Dima ebenfalls in naher Zukunft auf die GRUNDHAI gehen sollte.
Zu einem Gespräch zu diesem Thema kam es nicht mehr, weil sie beide auf dem Weg nach Lod 5 in den Schichtwechsel der Werft kamen und fast eine Stunde brauchten, um Dimas Wohnung zu erreichen. Fabi und Tom waren bereits in der Nähe und hatten sich unauffällig unter die Käufer vor Poodas Muschelstuub gemischt. Tom umklammerte fest eine große Umhängetasche, während er sich misstrauisch umsah. Nick hatte es nicht so weit, lediglich Bartje erschien etwas später. Zur großen Überraschung von Tim war auch Kevin erschienen.
„Was machst du denn hier? Ich dachte…“
„Was glaubst du denn? Ich werde dich bei dieser Sache bestimmt nicht alleine lassen. Oder willst du mich nicht dabeihaben?“
Mit sieben Leuten wurde es ganz schön eng in Dimas Wohnung und so setzten sich Fabi und Tom einfach auf den Boden. Tim, Kevin und Bartje saßen an dem kleinen Tisch, Dima hockte auf dem Bett und Nick hatte sich auf die Arbeitsplatte der Küche gesetzt.
„Ich habe euch hier alle zusammengerufen, weil wir erstens etwas mehr über den Hintergrund von Tanjas Tod herausgefunden haben und das, zweitens, nicht unbemerkt geblieben ist.“
Mit kurzen Sätzen schilderte Tim den Inhalt des Tagebuches und dann den Grund des Besuches der Leiterin des LND. Lediglich den Grund, warum Horst Bangert gesucht wurde, behielt er für sich.
Die Reaktionen reichten von tiefem Erschrecken (Bartje) über fassungsloses Kopfschütteln (Fabian) bis hin zu offener Begeisterung (Nick).
Tim sah jeden in der Runde eindringlich an.
„Ich sage es klar und deutlich. Das ist kein Spiel. Wenn wir tatsächlich weitermachen und diesen Horst Bangert ausfindig machen wollen, dann begeben wir uns in Gefahren, die niemand von uns abschätzen kann. Ich möchte nicht, dass irgendjemandem etwas passiert. Fabi nicht, Nick nicht und Tom schon gar nicht.“
„Aber wir sind schon so dicht dran. Ich will unbedingt wissen, warum meine Schwester sterben musste.“
„Ich verstehe dich Nick, aber das ist kein Grund, dass du vielleicht ebenso endest. Dein Leben ist viel zu wertvoll, so wie das von euch allen.“
„Du solltest dich einmal reden hören. Du klingst fast wie einer der Primusalenpriester bei uns zu Hause in Uppland. Natürlich ist ein Leben wertvoll und muss geschützt werden. Aber ebenso muss der Gerechtigkeit genüge getan werden. Wenn in Uppland ein Verbrechen geschieht, sind die Priester in der Pflicht sie aufzuklären, denn sie leiten ihre Gemeinde an und führen sie. Willst du die Führung und Verantwortung für unsere kleine Gemeinschaft übernehmen?“
Tim sah irritiert zu Bartje. Sie waren doch keine Gemeinschaft. Oder doch? In gewisser Weise schon. Tim machte sich gerade mit Erschrecken klar, dass nach dem Besuch von Nick immer mehr Leute dazugekommen waren. Nick hatte ja zunächst nur ihn gefragt, dann Bartje und dann Dima. Tom kam wegen des Telefons dazu und Fabi wohl hauptsächlich wegen Tom.
„Ich möchte keine Führung übernehmen. Zumindest werde ich keine Befehle geben. Allerdings…“
„Jetzt kommts,“ sagte Tom halblaut, während Fabian ihm bedeutete, still zu sein.
„Allerdings hat der LND auch eine Belohnung in Aussicht gestellt, falls der besagte Herr ergriffen wird.“
„Eine Belohnung?“
„Wieviel?“
Die letzte Frage kam gleich mehrfach aus verschiedenen Richtungen. Tim senkte seinen Kopf.
„Wenn wir es durch sechs teilen sind es gut vierzigtausend LEX pro Person.“
Das Schweigen im Raum wurde förmlich greifbar. Nick wollte gerade etwas sagen, wurde aber durch Dima unterbrochen.
„Vergesst einfach, was ihr alle gerade gedacht habt. Eine Menge Geld, richtig? Aber was ist der Preis dafür? Ist vierzigtausend nicht ein bisschen wenig, wenn dafür jemand von uns auf der Strecke bleibt?“
Wieder gab es nur betretenes Schweigen, bis Bartje erneut begann.
„Tim, du hast mich nicht verstanden. Es geht um Gerechtigkeit. Ich würde die Sache auch verfolgen, wenn es kein Geld dafür geben würde.“
Tim nickte langsam und sah Bartje dankbar an.
„Das muss jeder mit sich selber ausmachen. Wie gesagt, ich werde die Angelegenheit zusammen mit Nick weiterverfolgen. Es steht jedem frei, die Wohnung jetzt zu verlassen, der nicht involviert werden möchte.“
Tim ließ eine geraume Zeit verstreichen, ohne dass sich auch nur einer gerührt hatte.
„Also gut. Dann wollen wir mal sehen, was wir noch an Informationen haben, die uns weiterhelfen könnten.“
Tom griff nun zu der Umhängetasche, die er keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte und holte seinen Laptop hervor.
„Ich habe einmal alles zusammengefasst, was wir bisher herausgefunden haben. Nick hat mir heute Vormittag in der Schule erzählt, was in dem Tagebuch steht.“
Tim sah Tom erstaunt an. Er wusste gar nicht, dass Tom und Nick sich aus der Schule kannten. Tom bemerkte den Blick und grinste leicht.
„Nick ist in einer anderen Klasse mit dem Schwerpunkt auf Bio und Agrar. War aber nicht schwer, ihn zu finden.“
Tom tippte auf seinem Laptop und sah dann in die Runde.
„Es sieht also folgendermaßen aus: Am 22. August letzten Jahres beginnt Tanja mit ihrem Tagebuch. Weiter zurück gibt es keine Informationen, aber aus dem Ablauf wird ersichtlich, dass vorher nichts Wichtiges gewesen ist. Am 28. August erwähnt sie das erste Mal einen ‚merkwürdigen Typ im schwarzen Anzug‘. Der wird sich später als Horst Bangert herausstellen. Eine Woche später stellt sie klar, dass dieser Horst höchst wahrscheinlich aus dem BFS stammt und sie jetzt regelmäßig bucht. So heißt das doch, oder?“
Tim nickte lediglich und Tom fuhr fort.
„Der nächste Eintrag vom 8. Oktober 97 deutet auf etwas anderes hin. Horst hat große Pläne? Ich will da nicht raten, aber die haben bestimmt was mit dem LND zu tun. Im Dezember macht Horst Tanja Geschenke. Hier wird nicht gesagt was, aber es scheint sich im Rahmen zu halten. Dann will er Tanja anscheinend an der Agentur vorbei buchen. Das hab ich nicht so ganz verstanden.“
Die Antwort kam von Bartje.
„Wenn jemand einen Begleiter bucht, zahlt er einen bestimmten Betrag an die Agentur und an den Begleiter. Ich kann natürlich versuchen, den Begleiter ohne Agentur zu buchen, damit ich die Gebühr dort spare. Aber das kostet den Begleiter seinen Job, wenn es herauskommt.“
„Oh. Aha. Sie hat aber nicht geschrieben, wie sie sich entschieden hat. Allerdings war da die kurze Nachricht auf ihrem Telefon, dass sie versucht hat, irgendein Profil zu löschen. Entweder wollte sie tatsächlich den Typen nebenher oder er hat sie überredet, seine Spuren zu verwischen.“
„Möglicherweise beides. Er stiftet sie dazu an, sie löscht das Profil. Seine Spuren sind weg und er bekommt sie günstiger.“
Tom sah etwas erstaunt zu Fabian neben sich, schüttelte aber dann den Kopf.
„Um das Geld schien es ihm nicht gegangen zu sein. Am 27. Januar nimmt er sie mit auf eine Versteigerung. Wo sie dann ausgerechnet auf eine alte Schulkameradin trifft. Ist das normal, dass jemand einen Begleiter auf so eine Veranstaltung mitnimmt?“
Tim, Bartje und auch Dima nickten gleichzeitig.
„Daher hat die Berufsbezeichnung ‚Begleiter‘ ja auch ursprünglich ihren Namen. Jemand, der dich auf öffentlichen Events begleitet. Besonders in besseren Kreisen gerne genommen, weil ein Single sich dann nicht als Ziel für unerwünschte Anmache präsentiert.“
„Dann hat er anscheinend eine Menge investiert. Besonders weil er ihr dann dieses wertvolle Armband gegeben hat. Was hat er damit beabsichtigt? Wollte er eine festere Beziehung, oder wollte er sicherstellen, dass sie die Klappe hält?“
„Eine festere Beziehung wäre wohl kaum in Frage gekommen. Höchstens das übliche Verhältnis, das meistens eine kleine Wohnung beinhaltet, wo er sie nach Belieben besuchen kann und sie auch jederzeit zur Verfügung stehen sollte. Meistens endet das Ganze nach etwa einem Jahr, wenn er sich beruflich verändert oder ihrer Überdrüssig wird. Dann hat sie nichts mehr. Außer er hat ihr in dieser Zeit weitere Geschenke gemacht.“
Tom schwieg einen Moment nach dieser etwas harsch vorgebrachten Erklärung von Bartje.
„Ja, sieht so aus. Dieser Horst hat wohl tatsächlich von einer Beziehung angefangen und die auch gleich eingeschränkt. Er hat Frau und Kinder in Janbergen. Wo ist das? BFS doch sicherlich, oder?“
Dima nickte.
„Eine der neueren Kuppel des BFS, soviel ich weiß. Keine Ahnung, was die da so treiben. Du kommst ja nirgendwo hin, außer nach Las Mares.“
„So, dann kommen wir zu den neueren Ereignissen. Tanja soll ihre Wohnung ‚vermieten‘. Er bietet ihr sage und schreibe 20.000 LEX für einige Stunden. Warum? Ich meine, für den Preis hätte er sich auch im ‚Vier Strömungen‘ einmieten können.“
Fabi sah auf und schüttelte den Kopf.
„Für den Preis auf jeden Fall, aber nicht zu den Bedingungen. Erstens werden alle beim Einchecken registriert und gemeldet. Zweitens braucht man für den Zugang, genau wie für Lod 1, eine Unbedenklichkeitsbescheinigung.“
„Wenn er in der BFS-Kuppel wohnt, kann er doch nach Lod 1.“
„Er vielleicht, aber wen wollte er treffen?“
Tom seufzte und wandte sich wieder seinem Laptop zu.
„Am 14. Juni ist Horst anscheinend von seiner Verabredung versetzt worden. Hat etwa vier Wochen gedauert, von Wohnung besorgen bis zum Zeitpunkt der Verabredung. Diesem Zeitansatz nach hat er es gleich danach noch einmal versucht. Für den 16. Juli und das ist bemerkenswert. Der 16. Juli ist nämlich ein offizieller Feiertag im BFS.“
„Was? Das wusste ich ja gar nicht.“
„Ich auch nicht, wurde aber automatisch im Kalender angezeigt, als ich im Citynet nach offiziellen Seiten des BFS gesucht habe.“
„Warum denn ausgerechnet an einem Feiertag?“
Die Antwort kam etwas unerwartet von Kevin.
„Weil dann die BFS-Kuppel für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Na ja, wenigstens die Null-Ebene. Es gibt da etliche Feiern und Events und der GeSiDi steht an jeder Ecke. Vielleicht hat er ja gedacht, wenn die alle beschäftigt sind, könnte er leichter untertauchen.“
„Aha. Was tatsächlich passiert ist, können wir nur raten. Horst ist auf jeden Fall nach diesem Treffen spurlos verschwunden. Tanja bekommt Panik und bringt ihr Tagebuch zu Lena. Einen Tag später wird ihre Wohnung durchwühlt und sie selbst stirbt an einer Überdosis.“
„Da passt doch einiges nicht zusammen. Warum sollte man ihre Wohnung durchsuchen und sie dann umbringen?“
Dima sah Bartje etwas mitleidig an.
„Du bist ganz schön naiv. Ihre Wohnung wurde bestimmt nach Hinweisen durchsucht, wo dieser Horst abgetaucht sein könnte. Und die andere Sache? Na, ich könnte mir vorstellen, die brauchten keine Zeugen, die sie identifizieren könnten.“
„Was bleibt uns denn jetzt noch? Haben wir noch irgendwelche Hinweise?“
Tim sah etwas hilflos von einem zum anderen, bis Tom wieder von seinem Laptop aufsah.
„Eins haben wir noch. Das ist das Citynet-Kennwort, das wir nicht zuordnen konnten. Wir haben doch erst gedacht SEEWOLFUNTEN ist eine Kneipe oder sowas, aber unter dem Namen ist nichts registriert. Und an die privaten Kennworte kommt man so einfach nicht ran.“
Fabi stieß Tom leicht an.
„Wie heißt das Kennwort? Seewolf?“
„SEEWOLFUNTEN. Warum? Kennst du jemanden, auf den das passt?“
„Seewolf hab ich schon mal gehört, aber ich weiß nicht mehr genau… Warte, warte. Mein Alter hat mal von einem Seewolf gefaselt. Da war er zwar stockbesoffen, aber man weiß ja nie so genau, ob er nur fantasiert. Ich kenne den Zusammenhang nicht mehr. War wohl einer seiner Saufkumpane.“
Nun wurde Tim aufmerksam.
„Könntest du ihn nicht fragen?“
„Was? Meinen Alten nach seinen Saufbrüdern? Der verrät nicht einmal den Heringen, wann der nächste Hai kommt.“
Dima kletterte von seinem Bett herunter und streckte sich ein wenig.
„Dann machen wir das anders. Deine Eltern haben doch diesen Klappenladen auf der 41, richtig?“
Fabian sah erstaunt zu dem Stawa auf, der nun dicht vor ihm emporragte.
„Äh, ja. Aber woher…“
„Ich habe mit Herrn Harms auch über dich gesprochen. Belassen wir es erst einmal dabei. Ich erkläre es dir später, wenn wir etwas mehr Zeit haben. Ich würde dich gerne nach unten begleiten und deinem Vater einen netten Besuch abstatten. Dabei könnten wir dann auch das eine oder andere Wässerchen zu uns nehmen. Habt ihr Cichawoda im Programm?“
„Was? Da kostet die Flasche 700 LEX. So ein Zeug würden wir nie verkauft bekommen.“
Dima nickte, als hätte er eine solche Antwort erwartet. Bedächtig ging er zu einem Schrank und holte eine Flasche heraus. Fabian sah ihm mit großen Augen zu.
„Du willst doch nicht ernsthaft das teure Zeug an meinem Alten verschwenden?“
„Wieso verschwenden? Erstens trinke ich auch etwas und zweitens werden wir hoffentlich etwas erfahren. Willst du auch einen Schluck?“
Fabi wechselte zunächst einen schnellen Blick mit Tom, bevor er den Kopf schüttelte.
„Nee, danke. Mein Alter ist mir Warnung genug.“
„Du willst ernsthaft mit einem Alkoholiker trinken, um ihn auszuhorchen?“
„Nein, Tim, nicht ernsthaft. Ich gehe davon aus, dass er sonst nur das billige Cidration oder dieses Strahlemann-Zeug kippt. Eine halbe Flasche hiervon und ich habe alles, was ich wissen will.
„Du hast das schon öfter gemacht.“
Dima zuckte lediglich mit den Schultern und gab Fabi ein Zeichen zum Aufstehen. Tim schüttelte lediglich etwas ungläubig seinen Kopf.
„Also gut. Wenn sonst niemand mehr etwas hat, ist die Versammlung beendet. Ich werde euch alle benachrichtigen, wenn wir mehr wissen.“
Etwas zögernd löste sich die Versammlung auf und Tom verabschiedete sich umständlich von Fabi. Dima wandte sich an Kevin.
„Ihr geht sicherlich zu dir nach Hause. Bestell bitte Halldur, dass ich wahrscheinlich ziemlich spät eintreffen werde. Ich bete nur zur Heiligen Barbara, dass alles so funktioniert, wie ich es mir vorstelle.“
Es war noch vor Mitternacht, als Dima von Fabi abgeliefert wurde. Dann musste Fabi auch schon weiter, denn seine Schicht begann um Mitternacht. Dima hingegen schwankte leicht und machte sich wortlos auf in Halldurs Schlafgemach.
„Dann werde ich wohl heute auf dem Sofa schlafen.“
Tim und Kevin sahen Halldur verblüfft an.
„Wieso das denn?“
Der ältere Mann lachte leise.
„Jahrelange Erfahrung. Alkoholisierte Personen neigen dazu, ziemlich laut zu schnarchen. Werdet ihr vielleicht auch noch erleben. Gute Nacht.“
Und die hatten sie, auch wenn sie erst weit nach Mitternacht wirklich zum Schlafen kamen. Zunächst musste Tim Kevin beichten, was er im ersten Moment gedacht hatte, als Robert ihm seinen Auflösungsvertrag vorlegte. Auch, dass er dann erkannt hatte, warum alles so schnell gehen musste.
„Dann ist es ja gut, mein Kleiner. Manchmal ist alles nicht so, wie es auf den ersten Blick erscheint. Aber ich verspreche dir, dass ich dich demnächst rechtzeitig vorwarnen werde.“
Tim kuschelte sich an Kevin.
„Das ist nett. Aber tu mir einen Gefallen, sag nicht immer Kleiner zu mir.“
„Warum nicht? Du bist doch kleiner als ich.“
Kevins Hände bewegten sich an Tims Bauch abwärts.
„Hm, das nehme ich wieder zurück. Hast du mit dem Ding noch etwas Besonderes vor?“
„Was? Äh, nein.“
„Dann hätte ich da schon eine Idee,“ murmelte Kevin und drehte sich auf den Bauch.
Am Morgen wurden beide durch Arbeitsgeräusche von unten aufgeschreckt. Kevin sah blinzelnd auf die Uhr.
„Halb neun? Das kann Frau Kuberski noch nicht sein.“
Neugierig verließ er das Schlafabteil und schlich bis zur Treppe. Dann kehrte er zu Tim zurück.
„Das ist Fabi mit dem Frühstück. Er muss von der Arbeit direkt hierhergekommen sein. Aber warum…“
„Weil Frau Kuberski den Laden mal wieder aufmachen muss. Wenn Dima Erfolg gehabt hat, liegt der alte Kuberski wahrscheinlich noch in sauer.“
„Stimmt, wir sollten vielleicht runter und mal sehen, ob Dima schon wach ist.“
Bevor die beiden jedoch etwas unternehmen konnten, klopfte es leise an die halb geöffnete Tür. Fabian schaute vorsichtig um die Ecke, ob er nicht vielleicht bei irgendetwas störte.
„Guten Morgen Fabi. Was gibt’s?“
„Das Frühstück wäre dann so weit. Ich komme gerade von der Arbeit und wollte fragen, ob ich hier duschen darf.“
„Klar. Tu dir keinen Zwang an. Du weißt, wo alles ist.“
Fabi nickte und begann sich ohne Hemmungen komplett auszuziehen. Tim bewunderte ein wenig den sportlichen, aber immer noch schlanken Körper mit der doch ziemlich hellen Haut. Die Sonnenlichtlampen im übrigen Lod hatten eine deutlich schlechtere Leistung als die in der Goldkuppel. Kevins Haut war da deutlich dunkler.
Tim zuckte zusammen, als er einen leichten Schlag am Hinterkopf verspürte.
„Aua. Was soll das?“
„Du hast ihm gerade auf den Hintern gestarrt. Hattest du noch nicht genug, heute Nacht?“
„Spinnst du? Ich habe nur seine Statur bewundert. Für meinen Geschmack schon etwas zu viel Muskeln. Außerdem möchte ich Tom ungerne in die Quere kommen. Nicht, dass ich von ihm versenkt werde.“
Auf Kevins fragenden Blick hin erzählte Tim ihm Fabians Bemerkung über Toms ‚Torpedo‘.
Kevin kicherte leise.
„Wenn es danach geht, hast du letzte Nacht schon genug Schiffe versenkt. Los, komm mit nach unten, bevor Fabi fertig ist und du wieder das Starren anfängst.“
„Ich habe nicht gestarrt,“ maulte Tim, griff aber gehorsam nach seinen Sachen.
Unten saß Halldur Harms an der Küchenzeile und blätterte in einer gedruckten Ausgabe des ‚Lod-Herold‘, während im Hintergrund Musik lief.
„Ah, die jungen Herren sind auch schon wach. Sehr gut. Dima ist in der Dusche und Fabian habe ich nach oben geschickt. Ich nehme an, er duscht ebenfalls. Dann können wir gleich Frühstücken.“
„Auch dir einen guten Morgen, Großvater.“
„Guten Morgen, Großvater Harms.“
„Guten Morgen, ja. Ich bin wohl doch noch nicht so ganz wach. Auf dem Sofa zu schlafen ist nichts mehr für einen alten Mann wie mich.“
„Du hättest nur etwas zu sagen brauchen und ich hätte auf dem Sofa geschlafen.“
Dima war aus dem Schlafabteil gekommen und begrüßte Halldur mit einem Kuss. Tim beobachtete die beiden und musste innerlich Abbitte leisten. So ganz hatte er es nicht geglaubt, aber die Blicke, die sich die beiden zuwarfen, sprachen für sich.
„Wenn ich einen Kaffee bekomme, erzähle ich euch, was ich herausgefunden habe.“
„Kommt sofort!“
Fabi kam die Treppe herunter und wäre beinahe gestürzt.
„Langsam, du tollpatschiger Lellek. Du willst doch sicher auch mit uns auf die Jungfernfahrt.“
Tim und Fabi sahen Dima erstaunt an, während sich Halldur laut und vernehmlich räusperte. Dima sah verlegen in die Runde.
„Oh, hab ich was Falsches gesagt?“
„Nein, aber wir wollten Tim damit überraschen, Fabi und Tom eigentlich auch.“
„Tut mir leid. Ich… äh…“
„Schon gut, ist ja nichts passiert. Also, was war das mit Herrn Kuberski?“
Während des kurzen Gesprächs ging Halldur hinüber zum Esstisch und setzte sich wie immer an das Kopfende. Etwas unsicher sah er nun zwischen Kevin und Dima hin und her. Kevin lachte.
„Das ist doch ganz einfach. So, Dima, du setzt dich hier rechts von Großvater. Ich nehme diesen hier.“
Damit setzte sich Kevin an das andere Kopfende. Sein Großvater sah ihn erstaunt an.
„Dort hat dein Vater immer gesessen. Bis jetzt wolltest du nie dort sitzen.“
„Bis jetzt hatte ich auch noch keine eigene Familie.“
Tim starrte Kevin vollkommen überrascht an. Fabian hätte beinahe den Korb mit den Algenbrötchen fallengelassen.
„Das mache ich mit Tim alleine aus. Jetzt wollen wir erst einmal hören, was gestern Abend los war.“
„Also gut. Fabi hat mich mit runter genommen und mich seiner Mutter vorgestellt. Als einen Bekannten aus dem Sportstudio.“
„Hat sie dich nie vorher hier gesehen?“
Dima warf Halldur einen entschuldigenden Blick zu, bevor er Tim antwortete.
„Ich bin nie über Nacht geblieben. Also, sie war ganz nett und wir haben ein wenig über Stawa geredet. Dabei haben wir feststellen müssen, dass sie ebenso wie ich, ursprünglich aus Nida stammt. Nun ja. Mika kam dann auch noch vom Training und wir haben ein bisschen über Kraftsport geredet.“
„Mika?“
„Mein kleiner Bruder.“
„Und der macht Kraftsport?“
Fabian lachte.
„Mika ist sechzehn. Er trainiert schon seit sechs Jahren. Obwohl, ich denke, er macht das nur, weil unser Vater so großen Wert darauf legt. Mika hat ganz andere Interessen.“
„Ja, und dann kam Wlad nach Hause. Schon leicht angetörnt hat er mich auch gleich über Kraftsport und Simon Mocny vollgetextet. Angeblich hat er selbst mal beim Meister trainiert.“
Auf Toms und Kevins verständnislose Blicke hin, deutete Dima auf Fabi.
„Erklär du es ihnen.“
„Oh, Mann. Simon Mocny ist einer der berühmtesten, nein, der berühmteste Kraftsportler Stawas. Er hat siebenmal den Titel eines ‚stärksten Mannes Stawas‘ errungen. Nach ihm bezeichnen sich die ganzen Kraftsportler als Simon. Er hat auch heute noch ein Studio in Stawatycze. Und er ist ein fanatischer Doping-Gegner. Im Gegensatz zu leider manch anderen Hallen.“
Dima nickte zustimmend.
„Als ich ihn dann zu der Flasche eingeladen habe, wurde ich fast adoptiert. Erst musste ich mir die rührselige Geschichte seiner Verletzung anhören. Tut mir leid, Fabi, aber anders kann man es nicht ausdrücken. Dann kamen wir allmählich über die Arbeit hin zu seinen Bekannten und Saufkumpanen hier in Lod 5.“
Tim schüttelte sich. Er kannte nur zu gut die Redseligkeit von Betrunkenen und hatte sich nie daran gewöhnen können.
„Ganz beiläufig habe ich dann den Seewolf eingeflochten und er ist auch darauf angesprungen. Den Typen gibt es tatsächlich. Er soll ein Unionler sein und mit richtigem Namen Larsen heißen. Der Typ betreibt ein kleines Gewerbe mit Schlägern. Nimmt Aufträge zur Eintreibung von Schulden entgegen und was sonst noch so anfällt. Ist in den unteren Ebenen wohl auch einigermaßen erfolgreich.“
Kevin war erstaunt.
„Ein Schuldeneintreiber? Woher kennt Herr Kuberski den denn?“
„Er hat ihn einmal beauftragt. Wlad lässt seine Kunden manchmal anschreiben, hauptsächlich seine Saufkumpane. Und da hat wohl einer sehr lange nicht bezahlt. Auf jeden Fall hat er den Seewolf mit der Eintreibung beauftragt. Hat ihn allerdings fast genauso viel gekostet wie die Außenstände.“
„Das hätte ich mir aber zweimal überlegt.“
Dima zuckte nur mit den Achseln.
„Auf jeden Fall bezahlen seine Kunden jetzt pünktlich.“
Halldur hatte die ganze Zeit schweigend zugehört und unterbrach nun.
„Wie helfen uns die Information über diesen Larsen denn nun weiter?“
„Keine Ahnung. Notfalls müssen wir uns mit ihm in Kontakt setzen und ihn direkt nach Tanja fragen.“
„Das könnte riskant werden. Wenn er da tatsächlich mit drinsteckt, hat er bestimmt schon von ihrem Tod gehört. Wenn wir da auftauchen, sagt der bestimmt nichts.“
Fabian wedelte Aufmerksamkeit heischend mit einer Hand.
„Nicht, wenn Nick dort hingeht.“
„Bist du bescheuert? Du kannst doch Nick nicht zu einer Schlägerbande schicken.“
„Das sind keine Schläger, das sind Schuldeneintreiber. Den Erzählungen meiner Eltern nach, ein üblicher Anblick in Stawa. Auch weiter unten in Lod 5 gibt es einige davon. Ich weiß aber, ehrlich gesagt, auch nicht, was ein Schuldeneintreiber mit der ganzen Angelegenheit zu tun haben könnte.“
Dima lehnte sich etwas nachdenklich zurück und sah Kevin an.
„Du bist reich, du wohnst in Lod 1, und plötzlich musst du aus irgendeinem Grund verschwinden. Wohin würdest du gehen?“
„Nach unten. Ich kann mir denken, worauf du hinauswillst. Dieser Horst hat sich vor dem zweiten Treffen einen Unterschlupf gesucht, falls etwas schief geht. Wenn er tatsächlich irgendwo da unten ist, muss sein Versteck aber schon ziemlich gut sein. Bisher haben ihn weder der LND noch der GeSiDi gefunden.“
Fabi lächelte schwach.
„Wenn du ein paar Beziehungen und genug Geld hast, findet dich da unten keiner. Schnüffler fallen sofort auf und die Leute dort sind äußerst misstrauisch. Die verraten dir nicht mal die Uhrzeit.“
„Würdest du mit ihm hingehen? Größere Gruppen fallen dort wahrscheinlich eher auf.“
Fabi nickte.
„Und sie machen die Leute nervös. Mehr als zwei Mann bedeutet meistens Ärger. Aber die Idee ist nicht schlecht. Wenn Nick einverstanden ist, werde ich ihn begleiten.“
„Und sieh dich vor. Der Junge ist ganz schön aufgedreht. Er steht wohl auf Typen mit etwas mehr Muskeln.“
Fabian und Halldur sahen Dima erstaunt an, während Tim den Kopf schüttelte. Dann erzählte Tim die Geschichte mit Nick und Dima, ohne allerdings auf die Details einzugehen.
„Keine Sorge. Wenn er zu aufdringlich wird. Werde ich es ihm schon erklären, dass ich bereits vergeben bin.“
Kevin schien mit dem Ergebnis der Besprechung nicht so ganz einverstanden zu sein.
„Und was machen wir während der Zeit. Ich meine, wir können die beiden dort unten doch nicht wirklich unbeaufsichtigt herumlaufen lassen. Was ist denn mit einem versteckten Mikrofon oder sogar einer Kamera?“
Fabian schüttelte heftig seinen Kopf.
„Keine Chance. Bei einer jugendlichen Schlägerbande vielleicht, aber nicht bei professionellen Schuldeneintreibern. Bei denen gehört das Scannen ihrer ‚Ziele‘ zum Alltagsgeschäft. Sie mögen zwar nicht so effektiv sein wie das Department, aber entdecken könnten sie trotzdem etwas.“
Kevin zuckte mit den Schultern.
„War ja nur ein Vorschlag. Ich habe keine Ahnung von sowas. Vielleicht sollten wir jemanden fragen, der mehr Ahnung hat.“
„Zum Beispiel?“
„Es gibt bestimmt den einen oder anderen privaten Ermittler hier in Lod. Der wüsste doch sicherlich, was zu tun ist.“
„Kommt gar nicht in Frage. Keine Außenstehenden. Die gute Ira vom LND kriegt einen Anfall, wenn sie mitbekommt wie viele inzwischen von der Sache wissen. Aber ich habe da eine andere Idee. Ich werde gleich einmal telefonieren und dann sehen wir weiter.“
Kevin sah erstaunt seinem Großvater hinterher, der sich seine Kaffeetasse geschnappt hatte und in Richtung seines Schreibtisches aufmachte.
„Was machen wir jetzt?“
Tim grinste leicht.
„Ich hätte da schon eine Idee…“
Fabi verdrehte die Augen.
„Ihr seid doch gerade mal eine Stunde raus aus dem Bett.“
„Na und? In der Nacht haben wir ja auch tatsächlich geschlafen.“
„Ihr habt es gut. Ich durfte mir die Nacht um die Ohren schlagen. Ich könnte so umfallen. Darf ich kurz auf dem Sofa etwas ausruhen?“
Kevin warf Tim einen fragenden Blick zu, den dieser nicht interpretieren konnte. Deshalb wurde er von Kevins Antwort auch einigermaßen überrascht.
„Du kannst auch bei uns schlafen.“
Fabian sah Kevin genauso überrascht an wie Tim.
„Was? Bei euch? Ich… ich glaube, da ist nicht so viel Platz für drei.“
„Wenn es nur der Platz ist, der dich stört, dann kann ich dich beruhigen. Tim und ich brauchen nicht viel Platz. Du kannst ruhig schon mal hoch. Tim und ich räumen hier ab.“
Immer noch etwas ungläubig erhob sich Fabian langsam, ging dann aber doch die Treppe hoch. Tim sah ihm hinterher und drehte sich dann zu Kevin.
„Was soll das denn? Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?“
Kevin zuckte mit den Schultern.
„Warum nicht? Er will nur schlafen und das kann er auch ungestört. Ich habe nicht vor, mich ihm ungefragt zu nähern. Außerdem kann ich mich an deine Blicke erinnern. Du findest ihn auch hübsch. Also warum nicht einfach ein wenig seine Nähe genießen.“
Tim war erstaunt. Sicherlich, bei seiner Arbeit war er auch schon mit zwei oder auch noch mehr Kunden und Kollegen konfrontiert gewesen, doch das hier war etwas anderes. Und dann war er sich nicht sicher, was Tom zu der ganzen Angelegenheit sagen würde.
Tim wurde aufgeschreckt, als Kevin tatsächlich anfing den Tisch abzuräumen. Tim half ihm dabei und folgte dann Kevin etwas zögernd nach oben.
Fabian hatte tatsächlich das Schlafabteil genommen und den Sachen nach zu urteilen, die er fein säuberlich davor aufgestapelt hatte, bevorzugte er ohne Bekleidung zu schlafen. Kevin grinste lediglich und zog sich ebenfalls aus. Tim folgte seufzend.
Im Schlafabteil hatte sich Fabian ganz an eine Wand gedrückt und lag auf der Seite. Wie es aussah, schlief er bereits tief und fest. Kevin und Tim schlüpften leise unter ihre Decken und kuschelten sich aneinander. Es war tatsächlich genug Platz für drei. Und sogar für vier, durchfuhr es Tim unwillkürlich. Moment, den Gedanken wollte er besser nicht fortführen, besonders, weil sein eigener Bruder darin vorkam.
Jetzt mit Kevin etwas anzufangen war nun doch etwas unbequem und auch nicht ganz fair gegenüber Fabian. Deshalb umarmte Tim Kevin lediglich und trieb langsam in einen leichten Dämmerschlaf hinüber.
Geweckt wurde er vom Geräusch der sich öffnenden Tür des Schlafabteils. Er konnte Halldurs etwas verblüffte Gesicht erkennen, doch nach einem Moment verschwand dieser wieder kommentarlos.
Dann spürte Tim, dass er etwas eingeengt war. Seine Vorderseite war dicht an Kevin gedrängt und an seine Rückseite hatte sich nun Fabi angeschmiegt. Deutlich spürte er auch, dass Fabi wohl gerade einen sehr schönen Traum hatte, denn dessen Erektion war unmissverständlich fest an seinen Hintern gepresst. Die leichten, stoßenden Bewegungen waren ebenso unmissverständlich und Tim befreite sich vorsichtig aus der leichten Umarmung. Fabi seufzte und drehte sich auf den Rücken. Tim sah unwillkürlich an ihm herab und lächelte leicht. Ein perfekter gestalteter Körper in allen seinen Aspekten.
Ohne Fabian oder Kevin zu stören stand Tim auf, zog sich an und ging dann nach unten. Halldur saß zusammen mit Dima in der Sitzecke und sie diskutierten leise.
Halldur sah auf, als Tim nähertrat.
„Setz dich ruhig zu uns. Oben ist es ja ein bisschen eng.“
Tim hatte die unausgesprochene Frage bemerkt.
„Es war Kevins Idee. Wir haben nur geschlafen. Jeder für sich.“
„Aha. So genau wollte ich das gar nicht wissen. Es geht mich nichts an, was ihr dort oben treibt. Aber denkt auch an Tom.“
Tim war erstaunt, dass Großvater Harms sich um Tom Sorgen machte. Hatte er ihn etwa auch so etwas wie adoptiert?
„Ich habe mit einem alten Bekannten beim Department 1 telefoniert. Ich habe ihm erklärt, dass ich Hilfe brauche auf meinen Schiffen, weil der Schmuggel von Drogen überhandnimmt. Da hat er mir einige moderne Detektoren erklärt und mir auch eine Kontaktadresse gegeben.“
„Aber wir suchen doch keine Detektoren, sondern etwas, womit wir eine Spur verfolgen können.“
Halldur nickte.
„Richtig. Aber wer Detektoren baut, muss sich auch mit den Dingen auskennen, die sie aufspüren sollen. Ich habe nämlich erst vor kurzem einen Artikel gelesen, in dem es um einen chemischen Stoff geht, der im Wasser nachverfolgt werden kann. Bei den Erprobungen haben sie wohl einen Schwimmkörper präpariert und einen Torpedo mit einem chemischen Tracking-Sensor versehen. Der Torpedo hat den Schwimmkörper ohne Probleme über fünf Kilometer verfolgen und erfolgreich zerstören können.“
„Das stand im Net?“
„Nein, natürlich nicht. Es gibt auch Firmenveröffentlichungen, die nur für bestimmte Personenkreise zugänglich sind.“
„Aha. Aber wir wollen niemandem im Wasser verfolgen. Wir brauchen etwas für die Kuppel.“
Halldur verdrehte die Augen und Dima lachte.
„Deshalb habe ich ja auch nach einem entsprechenden Kontakt gesucht. Ich habe über meinen Bekannten einen Termin vereinbaren lassen und war einigermaßen überrascht, dass ich den Herrn heute noch aufsuchen kann. Möchtest du mich begleiten?“
Tim sah etwas unsicher zu Dima, doch der winkte ab.
„Ich habe heute noch jede Menge zu erledigen. Du kannst gerne mitgehen. Aber was ist mit Kevin?“
Tim warf einen Blick zur Treppe und lächelte dann leicht.
„Den lassen wir mal da, wo er ist. Für den Fall, dass er aufwacht, bevor wir zurück sind, hinterlasse ich ihm eine Nachricht. Aber vielleicht wird er ja auch von einer kleinen Überraschung geweckt.“
Dima sah Tim fragend an, schwieg aber, als er keine Antwort bekam.
„Wo müssen wir denn überhaupt hin?“
„In die Kuppel der Scientianer.“
Tim sah sich neugierig um, als sie sich von Sektor 4 um den Zentralkern herum zu Sektor 2 begaben, in dem sich der Übergang zur Kuppel der Scientianer befand.
Die Kuppel selbst war mit 150 m Höhe und 90 Metern Durchmessern der drittgrößte Anbau an die Kuppeln Lods, doch er war in den Augen vieler Lod wohl der wichtigste. Hier befand sich in einer der unterirdischen Ebenen ein Fusionsreaktor, der die gesamte Anlage von Lod mit Energie versorgte.
Der Durchgangsverkehr in die Länderkuppel war nicht besonders hoch, so dass Halldur und Tim nicht besonders lange warten mussten. Tim beobachtete einige Plätze vor ihnen einen hoch aufgeschossenen jüngeren Mann in knallbunter Kleidung. Offensichtlich ein Scientianer. So ganz konnte Tim den merkwürdigen Modegeschmack der Scientianer nicht nachvollziehen, doch er wollte sich nicht beschweren. Zählte doch ein Designerstück von Carl Konrad seit neuestem ja ebenfalls zu seinen Besitztümern.
Was Tim aber aufmerksam machte, war die Art der Kontrolle. Die Beamten der Scientia-Miliz scannten normalerweise die BIDS der einreisenden Bürger Lods. Dieser Scientianer fuhr lediglich mit seiner Hand über ein Eingabefeld und wurde durchgewunken.
Halldur hatte Tims Blicke bemerkt und flüsterte diskret.
„Die Scientianer haben einen Datenchip im Handrücken implantiert. Der Chip ist in allen zentralen Rechnern registriert. Wer also zur Arbeit geht oder zu Hause ist, für den öffnen sich die Türen automatisch. Du kannst Kevin gelegentlich nach dem elektronischen Haushaltungssystem fragen. Da gibt es einige Sachen, die dich sicher überraschen werden.“
Als die Reihe an sie kam, wurden ihre BIDs von einem Lesegerät gescannt. Bei Halldur war das kein Problem, doch bei Tim sahen sich die beiden Beamten fragend an. Einer der beiden wandte sich an einen etwas abseits stehenden Beamten des Departments 1, dann kam er wieder zurück.
„Sie entschuldigen das kleine delay, aber wir hatten to ensure, dass sie sind in company der angegebenen person.“
Tim war etwas verwirrt, doch er bedankte sich und sie gingen durch die erste Kontrollstelle. Als zweites folgte ein Komplettscan für die Suche nach Waffen und illegalen Substanzen. Als sie durch die Kontrollen durch waren, sah sich Halldur um, ob ihn jemand von den Wachen hören konnte.
„Sie sind da ein bisschen eigen. In die Kuppel hinein dürfen nur Leute mit einer Unbedenklichkeitsbescheinigung Lods. Jemand mit einer Arbeitsbescheinigung darf nur in Begleitung eines Repräsentanten der entsprechenden Firma eintreten.“
Tim nickte verstehend, wurde aber durch die Ausstattung der Nullebene abgelenkt. Bei einer Deckenhöhe von fünfzehn Metern war architektonisch so einiges möglich. Die klaren, streng gegliederten Linien scientianischer Architektur wetteiferten hier mit einem unerwarteten Grün.
Einige Gebäudefassaden waren mit Efeu bedeckt, es gab meterlange Kästen mit echten Luftblumen und in kleinen Grünanlagen standen sogar richtige Büsche und Bäume.
Halldur sah auf sein Mobiltelefon.
„Wir müssen nach oben. Ebene 2, Sektor 1. Na, wenigstens im richtigen Sektor sind wir schon mal.“
Nach einigen Minuten des Suchens fand Halldur dann auch die richtige Adresse. Tim las neugierig das Schild neben einem Touchpad: James Bulmer, MD, PhD, Greystokes Labs Representative.
Etwas ratlos sah er Halldur an. Er selbst hatte nie Scientianisch gelernt, im Gegensatz zu Tom, der es fast perfekt konnte.
„Doktor Bulmer ist Arzt und besitzt einen weiteren Doktortitel. Und er ist der Vertreter der Firma Greystokes hier in Lod. Ich habe ein paar Informationen besorgt, bevor wir losgegangen sind. Dieser Doktor Bulmer soll ein begnadeter Chemiker sein, allerdings etwas hm… schwierig.“
Halldur berührte das Touchpad und im Inneren erklang ein melodisches Läuten. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet und Halldur und Tim sahen sich mit einer kuriosen Gestalt konfrontiert, die sie selbst bei einem Scientianer nicht erwartet hätten.
Der Mann war wohl um die 40 Jahre alt und groß, sicherlich an die zwei Meter, aber dafür dünn wie ein Hering. Das erste, was Tim auffiel, war der weiße Laborkittel, den der Mann trug. Der umschlotterte ihn ein wenig, war von verschiedensten Flecken übersät und hatte an einigen Stellen sogar Löcher.
Das zweite auffällige Merkmal waren die hellroten Haare, die wirr vom Kopf abstanden und der Figur etwas Unwirkliches gaben. Der Mann sah die beiden Besucher verwirrt an.
„How can I help you?“
Als keiner der beiden sofort reagierte, versuchte es der Mann noch einmal.
„How… oh, äh… wie kann ich helfen Ihnen?“
Tim musste genau aufpassen bei dem schweren Akzent, doch Halldur war da etwas erfahrener.
„Mein Name ist Halldur Harms. Ich suche Doktor Bulmer.“
Der Mann dachte einen Moment über das Gesagte nach, dann strahlte er förmlich.
„Oh, sie haben found ihn. Ich bin James Bulmer. Come in.“
Der Doktor machte den Weg frei und seine Besucher betraten einen merkwürdig geschnittenen Eingangsbereich. Die Deckenhöhe betrug fast sechs Meter, doch durch die geringe Grundfläche hatte er etwas Beklemmendes. Es gab eine Treppe, die zu einem kleinen Absatz in etwa drei Metern Höhe führte, von dem eine Tür in die obere Etage führte. Unten gab es ebenfalls nur eine weitere Tür.
„Sie werden apologize meine outfit, aber ich war gerade bei eine kleine experiment. Eigentlich sollte… Henry! Where the heck… Henry!“
Oben auf dem Treppenabsatz öffnete sich die Tür und ein junger Mann erschien. Das erste was Tim an ihm auffiel waren die gleichen roten Haare wie bei Doktor Bulmer.
Der junge Mann sah herab und erkannte, dass Besucher anwesend waren. Schnell kam er die Treppe herunter.
„I am Kenneth Bulmer, the nephew of Doctor Bulmer.“
Halldur lächelte leicht.
„Sehr erfreut. Ich bin Halldur Harms, dies ist Tim Senger. Doktor Fenslow hatte mich avisiert, mit ihrem Onkel zu sprechen.“
„Oh, richtig. Davon hat er mir erzählt. Allerdings hat er wohl die Uhrzeit darüber vergessen.“
„Kenny, where the heck is Henry?“
„Sei etwas höflicher, Onkel James. Wir haben Gäste. Und Henry hast du selber weggeschickt, die Lieferung am Hafen abzuholen.“
„Habe ich? Oh. Ja, jetzt kann ich remember. Aber wo bleibt er denn damit?“
„Onkel James, das ist erst zehn Minuten her. Es wird wohl noch eine Weile dauern.“
„Was? Dann können wir gehen upstairs. In den livingroom.“
Kenneth nickte zustimmend und lud die Besucher mit einer Handbewegung ein, ihm zu folgen. Oben öffnete sich die Tür in einen großzügig geschnittenen Wohnbereich mit Sitz- und Essecke. Im Hintergrund konnte man weitere Türen erkennen.
„Nehmen sie bitte Platz. Mein Onkel wird auch gleich erscheinen. Ich habe ihn mit viel Überreden dazu gebracht, nicht im Laborkittel hier oben zu erscheinen.“
Tim hatte nun etwas Zeit, den jüngeren Bulmer genauer zu betrachten. Die roten Haare waren entgegen der momentanen Mode in Scientia ziemlich kurz. Die Haut war zu Tims Erstaunen sehr hell. Scientianer legten normalerweise viel Wert auf eine angemessene Erscheinung und dazu gehört einfach eine gesunde gebräunte Haut und ein sportlich trainierter Körper.
Die Haut entsprach nicht dem Schönheitsideal, doch der Körper war deutlich in Form gehalten worden. Er war zwar nicht so groß wie sein Onkel, doch er erreichte sicherlich die 1,90 m. Tim hatte das Gefühl, er hätte den jungen Mann schon einmal irgendwo in Lod gesehen.
„Sie sprechen sehr gut Lodt, Mister Bulmer.“
„Danke. Es war auch nicht einfach für mich. Sprachen liegen mir nicht besonders. Ich bin mehr der Bastler. Also eigentlich bin ich Elektroniker. Spezialist für Biomechanik.“
Spezialist für Biomechanik? Wie alt war dieser Typ denn eigentlich?
Kenneth bemerkte die etwas fragenden Blicke und seufzte leicht.
„Ich habe mit sechzehn angefangen zu studieren. Meine Eltern waren sehr stolz, einen dermaßen intelligenten Sohn zu haben. Und dann habe ich ihre gesamten Wünsche und Planungen ignoriert, ein Fach studiert, das ich wollte und nicht sie. Wir haben uns verkracht und ich bin hier in Lod bei Onkel James gelandet.“
Kenneth sah Tim an, der mit hochgezogenen Augenbrauen dem kleinen Ausbruch gelauscht hatte.
„Entschuldigen Sie bitte. Ich bin immer noch etwas ungehalten, wenn es um meine Eltern geht. Wo bleibt Onkel James denn jetzt? PANDORA, wo ist James?“
Eine leise Frauenstimme ertönte aus versteckten Lautsprechern.
„Der Doktor befindet sich in Labor Nummer drei.“
„PANDORA, Doktor James daran erinnern, nach oben zu kommen.“
„Wird erledigt, Kenny,“ hauchte die Frauenstimme.
„Was war das denn?“
Kenneth grinste Tim breit an, wobei dem etwas warm wurde.
„Das war PANDORA. Unser eHa-System. Das elektronische Haushaltssystem ist in die gesamte Wohnung integriert und reagiert auf Sprachsteuerung.“
Noch bevor Tim antworten konnte, erschien Doktor Bulmer. Er hatte seinen Laborkittel gegen ein Jackett getauscht, auf welchem auf einem hellblauen Untergrund chemische Symbole in den verschiedensten Farben aufgemalt waren.
„Sehr nice. Dann kommen wir mal zu dem Grund ihres visits. Doktor Fenslow hat mir mitgeteilt, sie wären interested an meine neueste design.“
„Ja, wie ich gehört habe, geht es bei Ihnen um das Aufspüren von geringsten Mengen chemischer Substanzen in der Luft.“
„Indeed. Das ist alles ein wenig complicated, denn wir sind so weit, in die testingphase einzutreten. Unfortunately hat man uns nicht gestattet, in unserer Base ein chemical freizulassen, um es tracken zu können.“
Halldur Harms lehnte sich etwas zurück und überlegte, ob es das Risiko wert war, möglicherweise die Regierung von Lod zu verärgern.
„Und wenn ich Ihnen anbieten würde, einen Test in Lod durchführen zu können?“
„Das wäre äußerst advantageous, aber für Lod haben wir unfortunately ebenfalls keine license.“
„Onkel James, lass die Herren doch mal ausreden. Ich denke, sie sind nicht ohne Grund hergekommen.“
Halldur betrachtete nun ebenfalls den jungen Mann, aber aus etwas anderen Gründen als Tim. Kenneth Bulmer schien über eine gute Menschenkenntnis und Kombinationsgabe zu verfügen.
„In der Tat. Es gibt einen besonderen Grund, warum wir hier sind. Wir müssten jemanden verfolgen, ohne dass optische oder elektronische Gerätschaften dies registrieren können.“
Halldur war auf ein paar skeptische Blicke gefasst und wurde nicht enttäuscht.
„I am sorry, aber ich bin nicht sure, was ihre intentions damit sind.“
„Wir möchten ungerne in irgendeine Art von illegalen Handlungen verstrickt werden.“
„Das ist auch nicht der Fall. Ich werde ihnen kurz darlegen, worum es sich handelt.“
Halldur erzählte kurz von dem Tod von Tanja und der Suche ihres Bruders nach den Ursachen. Den BFS-Diplomaten ließ er allerdings ebenso aus, wie die Beteiligung des LND.
„Das dürfte no problem sein. Sie brauchen nur den boy zu prepare und dann mit unserem detection-device der Spur zu folgen.“
„Ist das sehr auffällig? Die Gegend ist nicht besonders sicher und wir möchten gerne alles verdeckt durchführen können.“
„Oh, no problem. Das detection-device ist only so groß wie…“
Suchend sah sich Doktor Bulmer um und deutete dann auf eine Blumenvase mit echten(!) Blumen.
„Like this.“
Tim betrachtete skeptisch die fast halbmeterhohe Vase. Würden sie mit so einem Ding unauffällig durch die Gänge von Lod 5 laufen können?
„Das ist aber nicht besonders unauffällig. Ich meine, wir suchen etwas, was sich leichter verstecken lässt. Etwas, wo niemand draufkommt, dass wir einen Schnüffler benutzen.“
„Schnüffler? Ich glaube, ich habe da eine Idee.“
Tim sah zu Kenneth, der sich erhoben hatte und zu einer der Türen im Hintergrund ging. Als er näher kam öffnete sich eine davon automatisch und er sah in den Raum hinein.
„Chip, komm her.“
Vollkommen verblüfft sah Tim einen Hund aus dem angrenzenden Raum hereinkommen. Der Hund war nicht gerade klein und Tim überlegte, was Kenneth denn ausgerechnet jetzt mit ihm wollte.
„Chip ist ein iPet. Ein elektronisches Haustier. Ich habe das elektronische Innenleben und eine ergänzende Programmierung für meine Masterarbeit entworfen.“
Tim beobachtete erstaunt den Hund, der in keiner Weise von einem echten Hund zu unterscheiden war. Nicht, dass es viele Möglichkeiten für Tim gegeben hätte, einen echten Hund zu bewundern. Aber er war am Anfang seiner Bekanntschaft mit Kevin auch einmal bei Cannriters Tierhandlung in Lod 1 gewesen und hatte dort das Angebot an lebenden Tieren bewundert.
Die iPets kannte er ebenfalls nur aus der Werbung, denn 30.000 LEX für einen Hund oder auch nur 15.000 LEX für eine Katze lagen weit über seinem Budget.
„Onkel James, im Bauchraum ist noch genug Platz. Da könnten wir doch den Detektor einbauen, oder?“
„Yes, aber was ist mit die detection-sensor?“
Kenneth grinste.
„Die legen wir bis in die Nase. Das wird ein echter Spürhund, ein Schnüffler.“
„Excellent. Das wird ein chemical-detection-dog. Ein neues toy für customs.“
Halldur Harms war der ganzen Unterhaltung kommentarlos gefolgt. An seinem inneren Auge wanderten fast endlose Bilder von neuen technischen Entwicklungen, neuen Geschäftsbeziehungen und neuen Investitionsmöglichkeiten vorbei. Er hatte nicht umsonst die von seinem Vater gegründete Reederei so erfolgreich ausbauen können, wenn er nicht das richtige Gespür für ein gutes Geschäft gehabt hätte.
„Mister Bulmer, wenn Sie freundlicherweise Ihren Onkel und mich entschuldigen würden, aber ich hätte da gerne ein paar geschäftliche Angelegenheiten mit ihm besprochen.“
„Aber selbstverständlich.“
Tim und Kenneth verließen die beiden Männer und gingen hinunter in den Eingangsbereich. Kenneth sah Tim mit leicht schräg geneigtem Kopf an.
„Wir können ja mit Chip etwas nach draußen gehen. Du warst noch nie in unserer Kuppel, oder?“
„Nein. Herr Harms war so freundlich, mich mitzunehmen.“
Kenneth betrachtete Tim nachdenklich.
„Ich möchte jetzt nichts Falsches sagen oder so, aber du hast nicht… ich meine, du bist nicht… ach, verdammt. Vergiss es.“
Tim wunderte sich ein wenig, dann fiel ihm plötzlich ein, wo er Kenneth schon einmal gesehen hatte. Und jetzt machte auch die abgebrochene Frage einen Sinn.
„Nein, bin ich nicht. Herr Harms ist mein Großvater, sozusagen.“
Jetzt hob Kenny fragend eine Augenbraue, was bei den roten Haaren und der hellen Haut fast gar nicht auffiel. Tim grinste.
„Sein Enkel ist mein Boyfriend.“
„Oh.“
Nun wanderte auch die zweite Augenbraue nach oben und Kenneth schwieg einen Moment lang verblüfft.
„Und dann hat er dich einfach hierher mitgenommen?“
„Warum nicht? Ich bin ja auch derjenige, der die ganze Sache ins Rollen gebracht hat.“
Kenneth nickte.
„Du hast das so einfach erzählt mit deinem Boyfriend. Hattest du keine Angst vor einer negativen Reaktion?“
„Nein. Bei dir bestimmt nicht. Ich habe dich nämlich schon einmal im ‚Hole in One‘ gesehen.“
„Ach so. Dann ist ja alles geklärt. Chip, bei Fuß!“
Tim sah den Hund näherkommen und mit dem Schwanz wedeln, oder wie das Ding da hinten auch immer hieß. Er glich tatsächlich in allen Einzelheiten einem echten Hund, soweit Tim das beurteilen konnte. Das glatte Fell war hellbraun, fast golden und glänzte seidig. Die Ohren waren hoch am Kopf angesetzt und hingen seitlich herunter.
Chip setzte sich und sah Tim mit schräggelegtem Kopf an.
„Er reagiert tatsächlich wie ein richtiger Hund.“
„Das sollte er auch. Die Programmierung ist hochkomplex. Sämtliche Verhaltensweisen eines Hundes sind darin erfasst. Es gibt sogar Sondermodule für den Einsatz als Wachhund. Aber die unterliegen in Scientia den gleichen Einschränkungen wie Feuerwaffen. In Lod weiß ich es gar nicht.“
„Wahrscheinlich genauso. Sonst wäre bestimmt schon öfter etwas bekannt geworden über Zwischenfälle mit iPets.“
„Garantiert. Aber es muss ja nicht gleich ein Wachhund sein. Chip zum Beispiel habe ich verbesserte Sensoren verpasst. Er erfasst die Umgebung und registriert jede mögliche Bedrohung. Da ihm die Programmierung das Kämpfen verbietet, versucht er dann, mich aus dem Gefahrenbereich zu bringen. Ebenso betrachtet er jeden, der sich mir nähert, erst einmal neutral, bis ich etwas anderes veranlasse. Ich kann ihm sagen, dass er denjenigen ignorieren soll, als bösartig betrachten oder ihn als freundlich registrieren. Komm bitte einmal näher.“
Tim trat näher zu Kenneth und Chip sah ihn nun aufmerksam an.
„Chip, gib Pfötchen.“
Gehorsam hob der Hund die rechte Pfote.
„Du musst jetzt die Pfote schütteln.“
Etwas verunsichert beugte sich Tim herab und erfasste die erhobene Pfote, die er auch gleich wieder losließ. Chip setzte die Pfote wieder ab und sah zu seinem Herrchen auf.
„So, damit bist du als freundlich registriert. Chip wird dich auf unserer Tour weitestgehend ignorieren, es sei denn, du sprichst ihn direkt an.“
„Er würde auf mich reagieren?“
„Nur die grundlegenden Sachen. Also sowas wie: ‚Geh aus dem Weg!‘ oder ‚Bleib weg!‘. Also schön. Dann wollen wir mal. Die Kuppel Scientias ist zwar klein, hat aber doch eine ganze Menge zu bieten.“
Als sie langsam losgingen drehte sich Tim mehrere Male zu Chip um. Der Hund folgte ihnen in einem kurzen Abstand und nichts deutete darauf hin, dass er ein elektronisches Innenleben hatte.
Als Halldur und Tim in die Goldkuppel zurückkamen, bemerkte Tim, dass der ältere Mann deutlich beschwingt war. Das lag sicherlich nicht nur an dem Glas Wein, bei dem Kenneth und Tim Halldur und Doktor Bulmer bei ihrer Rückkehr überrascht hatten.
„Anscheinend ist das Gespräch ja ganz gut verlaufen.“
Halldur sah Tim spöttisch an.
„Willst du mich jetzt aushorchen?“
Auf Tims erschrockenen Gesichtsausdruck lachte Halldur lediglich.
„Du wirst es ja sowieso erfahren. Ich habe mit Doktor Bulmer über eine offizielle Erprobung seiner Erfindung geredet und eine finanzielle Unterstützung bis zur Entwicklung der Serienreife. Wenn ich die Zollbehörden von Lod von einem elektronischen Spürhund überzeugen kann, werden wir eine gemeinsame Vermarktung durchführen. Wenn nicht, werde ich zumindest meine eigenen Schiffe damit ausrüsten.“
„Sowas ließe sich doch sicherlich nicht nur in Lod verkaufen.“
„Sieh an. Da kommt ein kleiner Geschäftsmann durch. Wo würdest du denn eine solche hochspezialisierte Ware anbieten wollen?“
„Spürhunde, die auch geringste chemische Substanzen erkennen, wären doch ideal für die Erkennung von Drogen, Alkohol, wahrscheinlich sogar Sprengstoff. Die würde ich in den Ländern anbieten, in denen die striktesten Gesetze über die Einfuhr und den Handel existieren. Also Drogen und Alkohol in der UNL und Sprengstoff wahrscheinlich in Scientia.“
Halldur lachte laut.
„Schau an. Du hast dir tatsächlich Gedanken darüber gemacht. Aber du hast vollkommen recht. Es gibt noch eine ganze andere Reihe von Einsatzmöglichkeiten und wir könnten damit in fast allen Ländern Erfolg haben. Es gibt da lediglich ein kleines Problem.“
„Oh, was denn?“
„Die iPets. Naxon hat ein Patent auf die Tiere. So einfach dürfen wir die nicht modifizieren.“
Tim schwieg betroffen. Damit hatte er sich noch nie beschäftigt. Ein großes Unternehmen zu führen, beinhaltete wohl wirklich etwas mehr als nur zu kaufen oder zu verkaufen.
Zurück in der Wohnung strebte Tim nach oben, um Kevin von seinem Ausflug in die Welt der Technik und der Wirtschaft zu erzählen. Erstaunt musste er feststellen, dass Kevin immer noch schlief. Und zwar fest angekuschelt an Fabian. Tim lächelte, als er die beiden so nebeneinander sah. Der tiefschwarze, etwas wirre Haarschopf von Fabian kontrastierte stark mit dem weißblonden Haar von Kevin, ebenso wie umgekehrt die dunklere Haut Kevins mit der Blässe von Fabi.
„Aufwachen. Es ist Mittagszeit!“
Fabian fuhr erschreckt hoch, während Kevin blinzelnd die Augen öffnete. Dann sah Kevin erstaunt zu Tim, der in der Tür stand. Langsam drehte er sich um und bemerkte nun Fabian, der sich vorsichtig von ihm löste.
„Fabi? Tim? Was…“
Dann fiel Kevin ein, wie sie alle drei in diese Situation gekommen waren und drehte sich noch einmal zu Fabian. Dann sah er hoch zu Tim.
„Es ist nicht so, wie es gerade aussieht.“
Tim seufzte und schüttelte den Kopf.
„Der berühmte letzte Satz. Natürlich ist es so, wie es aussieht. Ihr habt zusammen geschlafen, wobei die Formulierung so einiges offenlässt. Nein, warte. Lass mich ausreden.“
„Es gibt sicherlich den Unterschied, ob ich mit oder bei jemandem schlafe. Aber der ist jetzt nicht relevant. Ich habe zugestimmt, dass wir alle drei hier zusammen schlafen. Ob du es glaubst oder nicht, aber es war mir bewusst, dass es vielleicht die Möglichkeit geben könnte, dass wir uns nicht nur auf das Schlafen beschränken. Ich bin bei deiner Einladung eigentlich davon ausgegangen, dass du diese Möglichkeit ebenso in Betracht gezogen hast. Was Fabian betrifft, muss er das lediglich mit sich und mit Tom ausmachen.“
Fabian sah etwas zerknirscht zu Tim auf.
„Du sagst doch nichts, oder?“
„Das musst du, wie gesagt, selbst mit dir ausmachen. Aber an deiner Stelle würde ich es ihm erzählen. Lass es erst gar nicht erst zu irgendwelchen Geheimnissen komme. Die Angelegenheit kommt vielleicht durch irgendeinen dummen Zufall ans Licht und wird dann plötzlich zu einem riesigen Drama.“
Fabian nickte nachdenklich. Dann stand er auf und trat auf Tim zu. Er beugte sich leicht vor und gab Tim einen Kuss. Der Kuss dauerte etwas und Fabi löste sich seufzend. Mit einem erstaunten Blick an seinem nackten Körper und einem ziemlich herausragenden Körperteil herab, verschwand er in der Nasszelle. Tim hörte ihn noch murmeln
„Der eine wie der andere.“
Kevin hatte die ganze Szene etwas erheitert verfolgt. Fabi war wirklich wunderschön und der Kuss mit Tim ließ seine Gefühle und Gedanken in eine ganz bestimmte Richtung wandern. Einladend schob der die Bettdecke herunter und erlaubte Tim einen Blick auf seinen ausgestreckten Körper. Der verstand die Aufforderung und legte seine Sachen ab.
Als Fabi aus der Nasszelle kam, sah er Tim und Kevin im Schlafabteil eng umschlungen liegen. Aufseufzend schob er die Tür zu und griff nach seinen Sachen. Er hatte zu arbeiten und das Mittagessen zu machen. Außerdem würde er erst mit Tom über die ganze Sache sprechen müssen.
Tim und Kevin hatten es geschafft, rechtzeitig zum Mittagessen nach unten zu kommen. Dima war ebenfalls wieder eingetroffen und so saßen sie wieder zu fünft am großen Esstisch.
Halldur und Tim berichteten abwechselnd von ihren Erlebnissen in der Scientia-Kuppel, bis Fabian sich nachdenklich zurücklehnte.
„Habe ich das richtig verstanden? Ihr wollt Nick mit einer Chemikalie präparieren und ihn dann mit einem Hund aufspüren? Wer kommt denn auf sowas?“
„Bis jetzt anscheinend noch niemand.“
„Das habe ich nicht gemeint. Zugegeben, es ist unauffällig, was die Sache mit diesem chemischen Detektor betrifft, aber habt ihr euch mal darüber Gedanken gemacht, wie auffällig ein iPet unten ist? Die Dinger sind teuer. Das könnte schon ein paar unerwünschte Interessenten hervorlocken.“
Nun sah Halldur Tim erwartungsvoll an, aber der starrte ins Leere. Das hatte er überhaupt nicht bedacht. Wenn sie so tief unten in Lod 5 waren, war die Begleitung eines iPets natürlich mehr als auffällig.
Dima sah Tims leeren Blick und warf mit einem kleinen Löffel nach ihm.
„Huh? Was?“
„Du träumst. Ich habe eine Idee. Wir machen das so, dass es völlig normal aussieht. Dieser Kenny oder wie der heißt, sieht doch aus wie ein typischer Scientianer, oder?“
„Hm, ja. Eigentlich schon.“
„Sehr gut. Dann wird das der Abenteuerausflug eines reichen Schnösels in die Unterwelt von Lod. Solche Typen gibt es öfter dort unten, die ihren Kick dadurch kriegen, dass sie sich in die gefährlichen Abgründe wagen. Natürlich nur mit Leibwächtern.“
Tim verdrehte die Augen.
„Und wo willst du die herkriegen?“
„Sieh dich um. Ich habe solche Jobs schon öfter gemacht. Guck nicht so. War immer an meinen freien Tagen und Robert musste nicht alles wissen. Der junge Herr hier hat auch die nötige Statur und ausreichende Kenntnisse.“
„Was? Fabi?“
„Was glaubst du, was im Sportstudio gemacht wird? Muskelaufbau ist nicht alles. Da kannst du auch verschiedene Kampfsportarten lernen.“
Tim schüttelte wortlos den Kopf. Bevor er etwas antworten konnte, ergriff Halldur das Wort.
„Bevor es so weit ist, bedarf es noch einiger Vorbereitungen. Ich habe mir erlaubt, eines der kleinen Probleme aus dem Weg zu räumen, während sich die jungen Herren oben vergnügt haben.“
Tim sah betroffen zu Halldur und auch Kevin wunderte sich, was sein Großvater nun wollte.
„Leute, die ganze Sache ist nun nicht mehr einfach unser Privatvergnügen. Es sind weitere Institutionen darin verwickelt und wir müssen das Ganze auf eine etwas professionellere Basis stellen. Da wir mehrere Personen haben, die nicht dauerhaft in Lod 1 residieren – und nein, Tim, damit meine ich nicht dich – habe ich überlegt, eine Art Treffpunkt zu organisieren, den alle problemlos erreichen können, der unauffällig ist, der Platz für alle bietet und wo nicht viele Fragen gestellt werden.“
„Fünf oben,“ kam es prompt von Fabian.
„Vollkommen richtig. Die oberen Ebenen von Lod 5 sind noch angenehme Wohnebenen, durchaus mit denen von Lod 2 vergleichbar. Das Unauffällige an ihnen ist der starke Personenverkehr, der an den Durchgängen herrscht. Ich habe mir deshalb erlaubt, eine Wohneinheit in Lod 5 zu erwerben, die als Treffpunkt oder als sogenanntes Hauptquartier dienen könnte. MD ist gerade mit der Konfigurierung der Wandelemente befasst. Ihr könnt heute Nachmittag dort hin und es euch ansehen.“
„Ein Hauptquartier? Ja, für was denn? Nur weil wir hier ein paar Informationen sammeln, brauchen wir doch kein Hauptquartier.“
„Das sehe ich etwas anders, Tim. Ihr solltet vorsichtiger sein mit euren Nachforschungen. Außerdem benötigt dein Bruder wohl auch eine etwas bessere und umfangreichere Ausrüstung als er jetzt hat. Zudem könnt ihr euch jederzeit unauffällig treffen, ohne dass eure Familien direkt davon betroffen sind.“
Tim schwieg eine ganze Weile, dann nickte er langsam.
„Ich glaube, ich beginne zu verstehen. Das ist kein Spiel mehr, wo nur wir alleine darin verwickelt sind. Gut. Wir werden vorsichtiger sein und ich werde mir dieses Hauptquartier einmal ansehen.“
„Kevin kann es dir zeigen. Ich habe ihn bei MD als Kontaktperson angegeben, weil du nicht anwesend warst und ich einen Fingerabdruck als ID-Merkmal brauchte.“
„Oh, wofür wollten die denn einen Fingerabdruck?“
„Weil ich das Apartment gekauft und nicht gemietet habe. Ein Mitarbeiter von MD erwartet euch gegen 15:00 Uhr dort.“
„Gekauft?!“
Tim war sich nicht ganz sicher, aber selbst in Lod 5 lagen die Kosten für ein Apartment locker im siebenstelligen Bereich.
„Nun reg dich nicht auf. Großvater versucht nur, die Angelegenheit so diskret und sicher wie möglich über die Bühne zu bringen. Außerdem wollen wir das… ah, egal. Sag mal, da fällt mir ein, hast du dich schon an der Uni eingeschrieben?“
Tim lief knallrot an.
„Nein. Das habe ich total vergessen. Da muss ich gleich los.“
„Dann sieh zu. Das Sekretariat hat zwar rund um die Uhr geöffnet, aber wir wollen ja nicht, dass du nochmal so sehr abgelenkt wirst, dass du alles vergisst.“
Tim warf Kevin einen giftigen Blick zu. Wer hatte denn hier wen abgelenkt?
Die Einschreibung bei der Universität dauerte gar nicht so lange, wie Tim geglaubt hatte. Er brauchte lediglich seine BID vorweisen, dann hatte die ältere Dame im Sekretariat auch schon seine Daten aufgerufen.
„Herr Senger, ihr Abschluss ist ja bereits zwei Jahre alt. Haben sie in der Zwischenzeit ein Studium oder eine berufliche Ausbildung begonnen?“
Tim verkniff sich ein Grinsen. Berufliche Ausbildung konnte man das ja kaum nennen.
„Nein.“
„Sehr gut. Dann erfüllen sie immer noch die Kriterien des ersten Bildungsweges. Sie haben einen kostenfreien Zugang zu den Studiengängen der Universität der Schifffahrt, der Handelshochschule oder der Hochschule für Informatik und Datenverarbeitung. Welchen Studiengang möchten sie denn gerne belegen?“
„Geschichtswissenschaften.“
„Geschichte? Oh, das wird relativ selten genommen. Aber das ist kein Problem. Da brauchen sie sich nicht so in die Vortragsräume zu klemmen. Ihre Zulassung wird auf ihrer BID gespeichert und ist gleichzeitig die Zugangsberechtigung für die Hochschule. Alle weiteren Informationen bekommen sie an das angegebene Kennwort.“
Tim verabschiedete sich rasch und eilte zurück zu Kevin. Dabei wurde ihm klar, dass er soeben nicht nur ein Studium begonnen hatte, sondern auch einen gut bezahlten Job bei TNL angenommen hatte. Schmerzhaft wurde ihm ebenso bewusst, dass er diese Entscheidung ohne eine Rücksprache mit seiner Mutter getroffen hatte. Er hatte keine Ahnung, wie sie reagieren würde. Seine Großmutter würde bestimmt begeistert sein von der Wahl seines Studienfachs.
Den frühen Nachmittag nutzte Tim, um im Netz nach dem Aussehen und dem Verhalten von Hunden zu suchen. Es gab nicht viel Brauchbares. Mit Erstaunen musste Tim feststellen, dass es in der voreiszeitlichen Kultur wohl über 300 verschiedene Rassen von Hunden gegeben hatte, die alle von einem Urahn abstammten. Es gab einige wenige Abbildungen und Tim war mehr als verblüfft als er ein Bild fand, das betitelt war mit: Deutsche Dogge und Rehpinscher im Vergleich. Wobei ihm nicht klar war, wer von den beiden die Dogge war, aber er tippte auf den kleineren der beiden. Und was war ‚Deutsche‘?
Dann gab es ein Bild, das sich Tim sofort ausdruckte. Es war untertitelt mit Golden Retriever und zeigte ganz klar, nach welchem Vorbild Chip erschaffen worden war.
Etwas hektisch sah Tim auf die Uhr, als Kevin zu ihm kam.
„Wir müssen los. Hast du die anderen benachrichtigt?“
Tim nickte und sie machten sich auf nach Lod 5.
Nur kurze Zeit später standen Kevin, Tim, Fabian, Tom, Bartje, Nick und Dima in Lod 5 vor einer unscheinbaren Tür.
„Lod 5, Sektor 5, Ebene 5 und Apartment Nummer 5. Was für eine Adresse.“
Tom sah immer noch etwas überrascht auf die große, aufgemalte 5 neben der Tür.
„Mich würde eher interessieren, wo der Typ von MD bleibt.“
Die Frage wurde durch das etwas spektakuläre Eintreffen des Mitarbeiters von Morquard Duties beantwortet. Bei der Enge und dem hohen Aufkommen an Fußgängern waren größere Fahrzeuge nur in Ausnahmen gestattet. Es gab vielerlei individuelle Lösungen, wie Tretroller oder Inliner, doch MD hatte seine Mitarbeiter mit Fahrrädern ausgestattet. Das gelb-grüne Klapprad war das Markenzeichen von MD, genau wie der gleichfarbige Overall seiner Mitarbeiter.
Einer dieser Mitarbeiter eilte nun mit gefährlicher Geschwindigkeit heran, was einige der Passanten dazu zwang, fluchend beiseite zuspringen. Schwer atmend stellte ein noch ziemlich junger Mann das Fahrrad beiseite und sah sich fragend um.
„Herr Kerner?“
Kevin trat vor.
„Das bin ich. Was kann ich für Sie tun?“
„Mein Name ist Michael Weiland. Ich komme von MD. Mein Bezirksleiter lässt sich entschuldigen. In Ebene 17 gab es einen größeren Stromausfall und unsere gesamte Schicht ist dort unten. Ich bin beauftragt, Ihnen jetzt das Apartment Nummer 5 vorzuführen und eine Einweisung vornehmen. Ich hoffe, es ist alles zu Ihrer Zufriedenheit.“
Kevin nickte lediglich und der junge Angestellte öffnete die Eingangstür.
„Der Empfangsraum. Ausgestattet mit einem Multifunktions-Desk mit integriertem Monitor und Anschluss an das elektronische Haushaltssystem. Das müsste durch Sie noch initialisiert werden. Hier links geht es in den Bürotrakt.“
Kevin und Tim wechselten einen vielsagenden Blick, wobei Tim nur den Kopf schüttelte. Wozu, um alles unter Wasser, gab es hier einen Bürotrakt?
Der freundliche Mitarbeiter von MD öffnete die Schiebetür zur linken.
„Wenn Sie bitte eintreten würden. Hier links ist der Platz für einen Schreibtisch mit der entsprechenden Bestuhlung für den Nutzer und eventuelle Besucher. Die Einrichtung wurde noch nicht geliefert, da sie sich aus unser Executive-Line das entsprechende Design aussuchen können. Zur rechten zwei gegenüberliegende Bildschirmarbeitsplätze mit den entsprechenden dazugehörigen Büromöbeln. Die sind aus der Office-Line und bereits voll funktionsfähig. So viel zum Bürotrakt. Bitte folgen Sie mir in den Wohntrakt.“
Der junge Mann schien es etwas eilig zu haben, doch das war Kevin egal. Er würde wohl noch einige Zeit hier verbringen müssen, um sich alles genau anzusehen.
Es ging zurück in den Empfangsraum und dort durch eine weitere Schiebetür in den Wohntrakt.
„Der Wohntrakt wurde etwas großzügiger ausgestaltet als normalerweise üblich. Wenn Sie mir bitte bis hinten folgen wollen.“
Nun kamen alle neugierig näher.
„In diesem Abschnitt befinden sich vier Doppelstockbetten und Stauraum für insgesamt acht Bewohner. Gleich daneben eine Toilettenanlage und eine Doppeldusche.“
Der Tonfall, in dem dies gesagt wurde, war eindeutig fragend, doch Kevin nickte lediglich. Dima und Fabi mussten sich ein Lachen verkneifen. Tim grinste lediglich. Er war sich sicher, dass der junge Mann sich so seine Gedanken machen würde.
„Dann hier eine Küchenzeile mit gesondert geordertem Stauraum für Tiefkühlware. Und dann zum Schluss hier hinten links ein Wohn- und Aufenthaltsbereich mit zwei Dreisitzern, zwei Einsitzern und einem entsprechenden Tisch. Dazu passend hier oben an der Wand der 3D-Panoramabildschirm, ebenfalls an das eHa angeschlossen. Haben Sie noch weitere Fragen?“
Kevin sah sich prüfend um.
„Eigentlich eine ganze Menge, aber das hat noch ein wenig Zeit. Vordringlich wären die Möbel und das eHa.“
„Selbstverständlich. Sie können uns über das Citynet erreichen. Einfach bei MDPREMIUM einloggen und dann dieses Passwort eingeben. Sie werden dann zu ihrem Firmenaccount geleitet, von wo aus sie alles arrangieren können.“
Mit diesen Worten zückte Herr Weiland eine kleine Karte in den auffälligen Farben von MD. Darauf befand sich sein Name, die Adresse des Apartments und ein achtstelliger Zahlencode.
„Wenn Sie noch weitere Wünsche zur individuellen Umgestaltung haben, kontaktieren Sie einfach unser hiesiges Büro in Lod 5. Sie entschuldigen mich dann bitte, ich muss weiter.“
Erstaunt sah Kevin dem jungen Mann hinterher, während Tom breit grinste.
„Der hat es ja ganz schön eilig. Wenn der überall so schnell ist…“
Fabi verpasste Tom einen leichten Schlag auf den Hinterkopf, während Kevin sich unschlüssig umsah.
„So, Leute. Wir müssen als erstes das eHA initialisieren, dann möchte ich gerne eine Verbindung zu MD. Die Büroecke ist ja schon in Betrieb. Tom, würdest du bitte mitkommen?“
Tom sah Kevin fragend an, doch dann folgten er ihm in den Bürotrakt. Fabi durchsuchte inzwischen die Küchenzeile.
„Hey, alles drin. Komplett ausgestattet. Da könnte man tatsächlich für acht Mann kochen.“
Tim und Dima sahen sich in der Schlafecke um, während Bartje und Nick es sich im Wohnraum gemütlich machten.
„Oh, Mann,“ murmelte Bartje.
„Diese sogenannte Wohnecke ist größer als mein ganzes Apartment.“
Nick hatte den Bildschirm aktiviert, doch es gab nur ein Testbild der Herstellerfirma EasyLife.
Plötzlich erklang eine angenehme Männerstimme im ganzen Apartment.
„Guten Tag. Ich bin EDWARD, ihr elektronisches Haushaltssystem. Für eine dauerhafte Zugangsberechtigung zu diesem Haushalt sind insgesamt acht Personen erfasst worden. Da niemand von ihnen im Besitz eines EMN-Chips ist, möchte ich die Anwesenden höflichst bitten, ihre BID am Zugang einzulesen. Dort erfolgt dann eine erste Stimmidentifikation. Bitte vergessen sie auch nicht, sich beim Verlassen des Apartments mit ihrer BID wieder auszulesen. Vielen Dank.“
„Was war das denn?“
Bartje grinste Nick an.
„Das war das eHa. Anscheinend haben sie es entsprechend konfiguriert. Du möchtest doch nicht, dass eine zarte Frauenstimme dich mit ‚Hallo, Süßer‘ begrüßt.“
„Das meine ich nicht. Was war das mit der BID?“
„Keine Ahnung. Lass uns nach vorne gehen.“
Am Eingang stand Kevin mit Tom. Grinsend sahen sie den anderen entgegen.
„Na, wer möchte als erster?“
Nick schob sich vor und Tom nickte ihm zu.
„Dann halte mal deine BID vor das Lesegerät.“
Das Lesegerät befand sich direkt neben der Tür und Nick hielt schwungvoll seine BID vor den Scanner.
„Bewohner identifiziert. Wister, Nick. Bitte führen sie jetzt die erste Stimmidentifizierung durch.“
Nick sah etwas zweifelnd auf ein Blatt, doch dann begann er laut und deutlich abzulesen.
„The quick brown fox jumps over the lazy dog.“
„Stimmidentifizierung registriert. Herzlich willkommen, Nick.“
Nick sah sich zweifelnd um.
„Das war alles?“
Tom nickte und zupfte ihm das Blatt aus den Fingern.
„So, der Nächste bitte.“
Bartje bekam das Blatt und sah genauso zweifelnd darauf wie Nick.
„Was soll das denn heißen?“
„Das ist scientianisch. Der Sinn ist völlig uninteressant. Aber wenn du mal genau hinsiehst, wirst du bemerken, dass alle Buchstaben des Alphabets drin sind. Versuchs mal.“
Bartje brauchte zwei Anläufe, bis das eHA ihn registriert hatte. Bei Tim sah es ähnlich aus.
Als dann alle registriert waren, drückte Kevin die Unterlagen für das eHA Tom in die Hand.
„Die kannst du im Büro ablegen. Und dann wollen wir mal sehen, ob das auch so funktioniert wie gedacht. EDWARD, bitte die Bewohner in den Wohnraum.“
Sofort erklang die Stimme des eHA.
„Kevin bittet die Anwesenden, sich im Wohnraum zu versammeln.“
„Dann mal los.“
In der Wohnecke wurde es reichlich eng, doch es fanden alle sieben Personen einen Sitzplatz.
Tim war aufgestanden und sah sich um.
„Ich habe euch hier zusammengerufen, weil ich einige Sachen zu berichten habe, die sich im Laufe der letzten Zeit ergeben haben. Nick ist sicherlich schon gespannt, was wir Neues herausgefunden haben und ich möchte kurz alles chronologisch zusammenfassen.
Nach dem doch etwas längeren Vortrag saßen alle einen Moment schweigend herum. Der erste der sich meldete war Nick.
„Ich mach es. Ich gehe da runter. Wenn das wirklich alles funktionieren sollte mit diesem… diesem Spürhund, dann bin ich dabei.“
„Dann sollten wir keine Zeit verlieren. Ich weiß, dass Kenny nur auf unsere Nachricht wartet. Nick wird den Seewolf aufsuchen und ihn nach diesem Horst fragen. Wenn er wissen will, warum, dann sagst du einfach, der wüsste Genaueres über den Tod deiner Schwester. Wenn er wissen will, warum du zu ihm kommst, zeig ihm einfach das Telefon deiner Schwester mit seinem Kennwort.“
„Und du meinst, das reicht aus?“
„Zumindest, um eine Reaktion hervorzurufen. Es kann sein, dass er Nick gleich hochkant rauswirft. Dann müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen. Möglich, dass er Nick sogar zu diesem Horst führt, was für uns ein Glücksfall wäre. Ungünstig wäre es, wenn er Nick einfach irgendwo einsperrt, damit der nicht weiter rumschnüffelt.“
„Aha, rumschnüffeln. Wozu dann der Hund?“
„Das haben wir doch erklärt, Bartje. Der Hund kommt zum Einsatz, wenn sie Nick woanders hin verschleppen sollten. Wir müssen da außer Sichtweite bleiben.“
„Das hab ich schon verstanden, aber woher wissen wir denn, ob sie ihn verschleppen, wenn wir es nicht sehen können?“
Tom hob kurz seine Hand wie in der Schule.
„Ich habe eine Möglichkeit ihn zu tracken, wenn sein Telefon eingeschaltet bleibt. Wenn sie ihn verschleppen, müssen sie über Gänge und Straßen und da liegen die Induktionsfelder. Ich kann von hier aus alle Bewegungen seines Telefons nachvollziehen.“
„Und wie bleibst du dann mit uns in Verbindung?“
„Na, ebenfalls mit Telefon.“
Kevin schüttelte den Kopf.
„Nein. Das ist zu riskant. Tom, wir beide gehen gleich noch einmal einkaufen. Tim, du kannst Ken benachrichtigen, dass wir loslegen wollen.
Eine gute Stunde später waren Kevin und Tom wieder da. Beide legten eine ganze Anzahl von kleineren Paketen auf den Tisch der Sitzecke.
„Was ist das denn?“
Tom strahlte
„Spielzeug. Für jeden von euch ein Satz Knopflautsprecher, Knopfmikrofone und ein Sender-Empfänger. Die Lautsprecher werden im Ohr getragen, die Mikrofone irgendwo oben an der Kleidung versteckt. Die sind mit der Sender-Empfängereinheit verbunden und so können wir problemlos miteinander sprechen. Was das Geilste ist, die Sender haben eine Schlüsselmatrix.“
Dima hob erstaunt die Augenbrauen.
„Wo habt ihr denn das Zeug her? Die Lautsprecher gehen ja noch, aber die anderen Sachen gibt es nicht offen zu kaufen.“
Kevin zuckte mit den Schultern.
„Du musst nur ein paar Leute kennen und das nötige Kleingeld haben. So, verteilt mal die Sachen.“
Tom gab jedem einen Satz der Ausrüstung und die meisten musterten schweigend den Inhalt der kleinen Kartons. Lediglich Nick hatte nichts bekommen. Doch dann drückte ihm Tom ebenfalls ein Päckchen in die Hand.
„Was ist das denn?“
„Ein Telefon. Dein neues Telefon, um genau zu sein. Wir tauschen nachher den Chip und du kannst es ganz normal verwenden wie sonst auch. Der Trick bei der Sache ist, wenn man es ausschaltet, bleibt es trotzdem im Induktionsfeld des Citynet eingeloggt. Das ist nicht ohne Weiteres zu erkennen. Dazu müsste dann schon jemand dein Telefon nachverfolgen.“
Nick sah zweifelnd auf das Telefon. Es gehört zur neuesten Generation und war bestimmt mehr als zehnmal so teuer gewesen wie sein jetziges.
„Und was hast du da noch?“
„Noch ein bisschen Ausrüstungen. Zum Beispiel ein Headset für mich. Ich will ja nicht den ganzen Abend mit einem Knopf im Ohr am Rechner sitzen. Außerdem brauche ich die Hände frei. Ich wüsste jetzt aber ganz gerne…“
Ein leiser Gong ertönte und das eHa meldete sich.
„Ein Gast ist eingetroffen. Herr Kenneth Bulmer und das iPet Chip.“
„Woher weiß das eHa, wer vor der Tür steht?“
Nick war sichtlich irritiert, doch Kevin winkte ab.
„Er ist Scientianer. Die haben ihre Version unserer BID, das EMN, in den Handrücken implantiert. Das kann jedes eHa lesen und entsprechend reagieren. Was den Hund anbetrifft nehme ich an, er hat ebenfalls irgendein elektronisches Erkennungssystem. EDWARD, öffnen und Herrn Bulmer hereinbitten. Ich komme nach vorne.“
Während Tim Kevin begleitete, sah er ihn von der Seite an.
„Du kennst dich gut aus mit diesen Sachen aus Scientia.“
„Einige meiner Schulkameraden hatten die Dinger zu Hause. Großvater hat es immer abgelehnt, eines zu installieren.“
„Ah, Kenneth. Herzlich willkommen in unserer bescheidenen Unterkunft. Dies hier ist Kevin Kerner, mein Freund.“
„Hallo. War ganz schön aufregend die kurze Tour hierher. Chip scheint doch ein etwas seltener Anblick in Lod zu sein. Oh, sorry. Ich bin Kenneth Bulmer. Und der hier ist Chip.“
Kevin nickte automatisch zu Begrüßung. Er zeigte das typische Verhalten aller Lodt, denn ein Händeschütteln wurde tunlichst vermeiden. Wer mit seinem Gegenüber die Hand schüttelte, ging einen rechtsgültigen Vertrag ein. Das hatte in Lod 4 schon oft zu argen Unstimmigkeiten zwischen Händlern und Touristen geführt.
Doch Ken kannte die Gebräuche und lächelte. Tim deutete auf die Tür zum Wohnbereich.
„Dann immer hinein. Ich werde auch gleich alle anderen vorstellen.“
Drinnen sahen alle neugierig den Neuzugängen entgegen. Besonders Chip war das Zentrum der Aufmerksamkeit.
„So, Leute. Dies ist Kenneth Bulmer, von dem ich erzählt habe. Und das ist Chip. Lasst euch nicht täuschen, er ist wirklich ein iPet, auch wenn er manchmal wie ein echter Hund wirkt.“
„Dies hier ist Bartje Steendijk, ein ehemaliger Arbeitskollege. Ebenso wie Dimitry Koschwitz. Die beiden sind Fabian Kuberski und mein Bruder Tom. Und hier vorne sitz Nick Wister, unsere Hauptperson.“
Nick lächelte etwas scheu und sah staunend zu dem großen Scientianer hoch. Wie groß war der denn?
„Hallo zusammen. Wie Tim bereits gesagt hat, ich heiße Kenneth, aber ihr könnt ruhig Ken sagen. Das ist wohl etwas einfacher und wie ich gehört habe, Sitte in Lod.“
Fast alle grinsten. Ihre Vornamen waren alle dem Sprachgebrauch in Lod zum Opfer gefallen, lediglich Bartje kämpfte auf verlorenem Posten gegen das kürzere Bart.
„Der hier ist Chip. Wie Tim ebenfalls gesagt hat, ein echtes iPet. Lasst euch nicht von seinem Verhalten täuschen. Er folgt nur einer, wenn auch komplexen, Programmierung.“
Chip hörte seinem Herrchen mit schief gelegtem Kopf zu und fing dann leise an zu winseln.
„Wie gesagt, er folgt einer Programmierung. Es ist kein fühlendes Wesen. Das heißt aber nicht, dass man nicht mit ihm interagieren kann. Ihr könnt mit ihm spielen und spazieren gehen wie mit einem lebendigen Hund.“
„Danke, Ken. Wenn ihr alle nichts dagegen habt, werden wir uns jetzt auf unseren Einsatz vorbereiten. Nick, hast du Tanjas Telefon dabei?“
„Ja, hab ich.“
„Dann macht Tom bitte seine Station fertig. Wir anderen machen uns mal mit der Ausrüstung vertraut. Ken, hier ist ein Ohrhörer und ein Mikro für dich.“
„Ah, sehr gut. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich bei Chip auch noch ein paar andere Sachen einbauen können.“
Tom blieb auf seinem Weg nach draußen stehen.
„Was denn, zum Beispiel?“
„Oh, er hat ohnehin verstärkte Audio-Aufnahme. Da könnte man noch einen zusätzlichen Speicher für Aufzeichnungen einbauen. Oder einen Transmitter zum Mithören.“
Tom nickte und wanderte nun nachdenklich in Richtung des Büros.
„GAYLOD eins von GAYLOD-Center, over.“
Tim verdrehte seine Augen und griff nach dem kleinen Mikro.
„GAYLOD 1 hört. Wie bist du denn auf diese schwachsinnigen Rufzeichen gekommen?“
„Das überkam mich ganz plötzlich. Warte, Kevin ist zwei, Dima drei, Bartje vier, Fabi fünf, Ken sechs und Chip sieben.“
„Warte, wieso hat Chip ein eigenes Rufzeichen? Der kann doch gar nicht antworten.“
„Damit kann man ihn aber erwähnen, ohne einen Namen zu nennen. Und jetzt weiter. GAYLOD zwei, wie ist die Verständigung, over?“
Tim achtete nicht weiter auf den Funkverkehr, sondern rief sich auf seinem Telefon noch einmal einen Grundrissplan von Lod 5 auf. Sie würden hier in Sektor fünf bis hinunter auf die Ebene 44 fahren und dann dort von Sektor fünf nach Sektor vier wechseln. Dort residierte der Seewolf, angeblich in einer kleinen Bude. So ganz glaubte Tim nicht, dass ein Schuldeneintreiber nur eine winzige Wohnung hatte, aber das würden sie dann schon in Erfahrung bringen.
Zunächst also Nick, Kevin, Bartje und er selber. Sie mussten Nick im Auge behalten und darauf achten, wo er hineinging und ob er wieder herauskam. Sollte er herausgebracht werden, würden sie Abstand halten und dann kam Chip ins Spiel. Ken würde mit Dima und Fabi seine Sightseeing-Tour machen und Chip dann die Spur aufnehmen. Moment, die Spur!
„Ken, hast du die Chemikalie für Nick mit?“
„Oh, hab ich. Das hatte ich vergessen zu erwähnen. Nick, komm mal bitte her.“
Ken zückte etwas aus seiner Hosentasche und Nick kam neugierig näher.
„Zieh dich mal bitte aus.“
Auf Nicks halb entsetzten Blick korrigierte sich Ken sofort.
„Nur die Jacke und das Hemd. Die Chemikalie kommt direkt auf die Haut und wird durch die Körperwärme noch verstärkt.“
Etwas zögernd zog Nick Jacke und Hemd aus. Tim musterte ihn neugierig, ebenso wie etliche andere. Nick war schlank, seine leicht gebräunte Haut glänzte leicht.
„Keine Angst, tut nicht weh.“
Schnell hob Ken eine kleine Sprayflasche an und sprühte bei Nick Brust und Rücken kurz an.
„Schon fertig. Einfach abwaschen, wenn wir fertig sind.“
Nick schaute mit einem Blick zu Ken auf, den Tim nur zu gut kannte.
„Kannst du mir das dann nachher abwaschen?“
Ken sah Nick etwas verblüfft an, während Tim nur den Kopf schüttelte.
„Konzentrier dich lieber auf deine Aufgabe. Wenn du wieder angezogen bist, können wir los.“
Ebene 44 glich schon nicht mehr den oberen Ebenen von Lod 5. Hier residierten meist Lod mit einfachen oder ungelernten Jobs. Die Unterkünfte waren selten größer als 20 Quadratmeter und auf den endlos erscheinenden Fluren folgte eine Tür neben der anderen. Vereinzelt lag Müll in den Gängen und müde erscheinende Leute schlurften achtlos hindurch.
Ab und zu wurde die Eintönigkeit durch eine kleine Kneipe oder einen Klappenladen unterbrochen und immerhin hatte es Nova geschafft, auf jeder fünften Ebene eines ihrer Nova-Lokale zu etablieren.
Nick marschierte zielstrebig durch den Sektor 4 auf der Suche nach der richtigen Adresse. Einziger Anhalt waren auch hier die kleinen Hinweisschilder am Anfang und Ende jeden Ganges. Kevin, Bartje und Tim folgten ihm in Sichtweite.
Die Tür unterschied sich in nichts von den anderen hier unten und Nick verglich noch einmal die aufgemalte Nummer mit der Adresse in seinem Mobiltelefon. Es gab keine Klingel, also klopfte er laut.
Nur einen kurzen Moment später öffnete sich die Tür einen Spalt weit und ein mürrisches Gesicht blickte Nick an.
„Was willst du?“
„Ich muss Herrn Larsen sprechen.“
„Der is nich zu sprechen. Verschwinde.“
„Es geht um meine Schwester. Sie ist tot und ich will wissen, warum.“
„So ein Quatsch.“
Lautstark wurde die Tür zugeschlagen und Nick war etwas verblüfft. So schnell hatte er sich das Gespräch nicht vorgestellt. Er zögerte einen Moment und wollte schon ein zweites Mal klopfen, als die Tür aufgerissen wurde und der gleiche Mann erschien.
„Los, komm rein. Der Chef will dich sehen.“
Als Nick nicht sofort reagierte, wurde er mit einem kurzen Griff durch die Tür gezogen, die sich sofort wieder hinter ihm Schloss.
Er hatte kaum Zeit, sich zu orientieren, als er schon von zwei weiteren Männern umringt wurde. Mit geübten Handgriffen wurde er durchsucht und Nick musste peinlich berührt feststellen, dass sie vor keiner Körperregion haltmachten.
„Ist sauber, Chef. Nur zwei Telefone.“
„Zwei Telefone?“
Die Stimme gehörte dem Mann, der nun den Raum durch eine Tür im Hintergrund betrat. Er war etwa Mitte vierzig und hatte hellblonde, kurze Haare und zeigte ein mürrisches Gesicht.
„Das musst du mir erklären.“
„Das eine hat meiner Schwester gehört. Tanja Wister. Da ist das Kennwort drauf, mit dem ich hergefunden habe.“
„Ach so? Du hast genau zwei Minuten, mir zu erklären, warum du hier bist und was das mit deiner Schwester auf sich hat.“
Nick brauchte etwas mehr als zwei Minuten, obwohl er seinen Text so schnell abspulte, dass die Männer um ihn herum Schwierigkeiten hatten, alles zu verstehen.
„Aha. Du suchst also diesen – wie heißt der noch, Bangert? Und dann ausgerechnet hier bei mir? Du bist hier in der falschen Schleuse, Kleiner. Ich habe den Kerl noch nie gesehen. Du solltest dich lieber mit dem zufriedengeben, was das Department erzählt hat.“
„Aber das kann nicht sein. Ich muss ihn unbedingt fragen, warum meine Schwester sterben musste. Und diese Adresse ist das Einzige was sie noch hinterlassen hat. Die hat sie ja wohl nicht umsonst gespeichert.“
Der Typ, von dem Nick annahm, dass es Wolf Larsen war, schüttelte verärgert seinen Kopf.
„Noch einmal. Er – ist – nicht - hier. Also verschwinde. Oder meine Leute verabreichen dir genug Prügel, um dich den ganzen nächsten Monat an den Besuch hier zu erinnern.“
„Dann gehe ich mit den Sachen eben zum Department.“
„Du hast es nicht anders gewollt.“
Der Schlag kam unerwartet und Nick hatte keine Zeit zu reagieren. Weitere Schläge prasselten auf ihn ein und schon kurze Zeit später wurde es bei ihm dunkel.
Einer der Schläger sah zu seinem Chef auf.
„Bewusstlos. Was sollen wir mit ihm machen?“
„Fesseln und ab ins Lager. Wir lassen ihn wieder frei, wenn wir ein neues Versteck für diesen BFS-Idioten gefunden haben.“
„Was ist mit den Telefonen?“
„Zeig mal her. Aha. Das billige hier könnt ihr verticken. Das teure ist wahrscheinlich registriert. Nehmt die W:E-Zelle raus und dann kann er es behalten. Wir dürfen die nächste Zeit nicht dumm auffallen.“
„Wir können ihn auch entsorgen.“
„Auf keinen Fall. Was ist, wenn er jemandem erzählt hat, wo er hingeht? Er hat lange genug draußen im Gang gestanden, dass sich jemand an ihn erinnern könnte. Was ich gesagt habe. Kein Risiko. Solange wir diesen Deppen am Hals haben müssen wir vorsichtig sein.“
„Ja, Chef. Aber im Lager ist der BFS-Typ. Soll der da wirklich mit da rein?“
„Wir haben im Moment nichts anderes. Ich kümmere mich darum. Erst mal wegsperren und dann sehen wir weiter.“
Wortlos haben zwei der Männer den bewusstlosen Nick an und trugen ihn durch die hintere Tür in einen angrenzenden Bereich.
„GAYLOD eins von GAYLOD-Center, over.“
Tim dreht sich etwas zur Gangwand und versuchte so unauffällig wie möglich zu antworten.
„GAYLOD 1 hört.“
„Beide Telefone wurden deaktiviert. Das Präparierte ist aber nach wie vor eingeloggt. Es bewegt sich langsam nach Norden.“
Tim rief sich den Grundrissplan ins Gedächtnis.
„Dann verlassen sie gleich den Sektor. GAYLOD eins an GAYLOD drei, over.“
„GAYLOD drei hat mitgehört. Wir sind in Sektor zwei und bewegen und langsam rüber nach eins, Ende.“
Tim drehte sich wieder um und sah Kevin und Bartje an, die ebenfalls mitgehört hatten.
„Also los, langsam rüber nach eins.“
Dima und Fabi begleiteten derweil Ken durch die Gänge von Lod 5. Scheinbar unmotiviert kreuzten sie durch einige Sektoren und gingen auch einige Wege zweimal. Die Leute dort sollten sich ruhig an sie erinnern. Chip lenkte ohnehin eine Menge Aufmerksamkeit auf sich.
Nach der kurzen Durchsage von Tom machten sie sich ebenfalls auf den Weg in den Sektor eins. Es dauerte eine Weile, bis sie sich dem Gebiet genähert hatten, in dem Nick vermutet wurde.
„GAYLOD-Center an alle. Das Signal ist in 44-1 mehrere Male aufgetaucht und wieder verschwunden. Sie müssen durch etliche Betriebe oder Lager gegangen sein. Letzter registrierter Ort war in der Nähe von Nummer 356. Ende.“
Jetzt musste Tim doch einen Grundrissplan von Lod 5 bemühen. Mitten in seinen Betrachtungen wurde er unterbrochen.
„GAYLOD eins von GAYLOD drei.“
„Hört.“
„Wir sind jetzt in Sektor eins. Bewegen uns langsam in Richtung der Adresse. Hier sind hauptsächlich Kleinfabriken und Lagerräume.“
„GAYLOD eins verstanden. Wenn ihr was gefunden habt, nichts unternehmen. Wartet, bis wir auch dort sind.“
„GAYLOD drei verstanden. Ende.“
Tim winkte Kevin und Bartje, sich zu beeilen.
Dima erklärte inzwischen wild gestikulierend Ken die sagenhafte Kulisse von Lod 5-44. Die wenigen Arbeiter auf den Gängen sahen den drei Männern und dem Hund mehr als einmal hinterher und etliche schüttelten bloß den Kopf.
Plötzlich blieb Ken stehen und tätschelte Chip den Kopf. Das war das Zeichen, dass der Hund die Fährte aufgenommen hatte.
Zielstrebig folgte der Hund dem Gang, um dann in einen schmalen Weg abzubiegen, der anscheinend entstanden war, als man von einem Wohnraum oder einem Lager ein Element zurückgebaut und den Zugang vom Gang her offengelassen hatte.
„GAYLOD drei an alle. Hier führt ein Weg zwischen den Lagern durch. Wir gehen erst mal den Gang weiter und warten an der nächsten Kreuzung.“
Tim nickte unbewusst, während Tom leise fluchte. Kein Wunder, dass er das Signal nicht mehr verfolgen konnte. Wenn der Weg von einem Lager abgezweigt worden war, verliefen dort auch keine Induktionsschleifen.
Als sich Tim, Kevin und Bartje dem Treffpunkt näherten, wurden sie von Dima bereits von Weitem bemerkt. Langsam schlenderte die kleine Gruppe um Ken wieder zurück zu dem schmalen Zugang des Weges.
Nach einem kurzen Rundumblick schlüpfte Dima als erster in den Durchgang und Ken und Chip folgten ihm. Fabi macht den Abschluss. Tim hatte verfolgt, wo die vier verschwunden waren und bewegte sich auch dorthin. Langsam folgten sie der ersten Gruppe.
Der schmale Weg endete an einem ebenso schmalen Quergang, der auf beiden Seiten nach wenigen Metern vor einer Tür endete. Dima sah unentschlossen von links nach rechts, doch Chip war bereits nach rechts unterwegs.
Als Tim, Kevin und Bartje eintrafen wurde es etwas eng, doch Tim drängte sich entschlossen nach vorne bis zur Tür.
„Abgeschlossen. Und was jetzt?“
Nun drängelte sich auch Kevin nach vorne.
„Du kannst dich erinnern, dass ich mit Tom einkaufen war? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dein Bruder hat eine leichte kriminelle Ader.“
Unter den erbosten Blicken von Tim holte Kevin einen kleinen Gegenstand aus seiner Hosentasche und präsentierte ihn Tim.
„Ein elektronischer Türöffner.“
„Sehr witzig. Wenn wir den Türcode nicht kennen, nützt der uns gar nichts.“
„Der hier schon. Der hat nämlich ein wundersames Innenleben. Pass mal auf.“
Kevin hielt den Türöffner neben das elektronische Schloss und an der Oberfläche blinkte eine kleine rote Anzeige. Nach etwa 30 Sekunden leuchtete die Anzeige konstant grün und das Türschloss öffnete sich mit einem leisen Klicken.
„Bist du bescheuert? Das ist Einbruch.“
„Willst du da rein, oder nicht?“
Tim grummelte etwas Unverständliches, öffnete die Tür aber ganz. Ein kurzer Blick ließ erkennen, dass es sich um einen Lagerraum handelte. Überall waren Kisten, Fässer und sogar Säcke gestapelt.
Tim winkte die anderen herein und schloss die Tür. Kevin sah sich suchend um.
„Und jetzt?“
Die Antwort wurde ihm von Chip abgenommen, der schnüffelnd durch den Raum ging und hinter einem Stapel von Kisten verschwand. Sofort folgten ihm Ken und Dima.
„Hier ist er. Sieht ein bisschen lädiert aus. Ist aber wohl nur bewusstlos, nichts Schlimmes.“
„Verdammt, dann sind wir kein Stück weiter. Könnt ihr ihn aufwecken?“
Nun drängelte sich Bartje an Dima und Ken vorbei und untersuchte Nick. Dann holte er ein kleines Fläschchen aus einer Umhängetasche, die er schon den ganzen Tag lang mit herumschleppte. Das geöffnete Fläschchen hielt er Nick unter die Nase, bis dieser nach wenigen Sekunden hustend erwachte.
„Was? Wer? Au, verdammt, das tut weh.“
„Bleib ruhig liegen. Wo sind die Schmerzen am stärksten? Ist was gebrochen?“
„N-nein, ich denke nicht. Aber die Rippen haben was abbekommen und der Schädel brummt.“
„Warte mal.“
Bartje kramte in seiner Umhängetasche und zog ein weiteres Fläschchen hervor.
„Hier. Streck mal die Zunge raus!“
Nick musterte Bartje misstrauisch, streckte aber dann seine Zunge raus. Bartje tröpfelte etwas darauf und Nick zog automatisch seine Zunge wieder ein. Dann schüttelte er sich.
„Bäh, was war das denn?“
„Ein Mittelchen von meiner Großmutter. Hilft bei leichten Schmerzen. Sollte in ein paar Minuten anfangen zu wirken.“
Während Nick versorgt wurde, sah sich Kevin etwas genauer in dem Lagerraum um. Etliche der Kisten trugen Aufschriften von Fabriken oder Frachtfirmen. Vor einem kleinen Stapel blieb Kevin stehen.
„Hey, Tim. Komm mal bitte her!“
„Was gibt’s?“
„Siehst du die Kisten hier? Die sind mit JosGep-Fracht beschriftet. Und hier unten ist als Transportmittel LZS SEESTERN eingetragen.“
„Ja und?“
„Die SEESTERN war das letzte Schiff von JosGep und ist seit einem Monat als Verlust gemeldet. Ich kann mich deshalb dran erinnern, weil die Firma dann in Konkurs gegangen ist und Großvater die Konkursmasse aufgekauft hat. Der Inhaber war nämlich ein alter Bekannter von ihm.“
„Und wie kommt die Frachtkiste jetzt hier her? Oder ist die aus einer vorherigen Lieferung?“
„Die Kisten sind fast alle versiegelt. Sie sind von mehreren unterschiedlichen Firmen. Ich habe den dummen Verdacht, da kauft jemand günstig Waren, die nicht auf legalem Weg beschafft wurden.“
„Ein Hehler? Dann hat der Larsen also doch Dreck an der Schwanzflosse.“
„Wenn das so ist, müssen wir so schnell wie möglich hier verschwinden.
„GAYLOD eins von GAYLOD-Center. Braucht ihr Unterstützung?“
„GAYLOD-Center von GAYLOD zwei. Woher weißt du, was hier bei uns los ist?“
„Weil die Eins vergessen hat, sein Mikro auszuschalten. Und die Dinger sind ganz schön empfindlich.“
Tim fluchte leise, ließ sein Mikro aber eingeschaltet.
„Ich habe keine Ahnung, wie wir jetzt weiter vorgehen sollen. Wenn unser Ziel hier in der Nähe sein sollte, wäre wohl etwas Unterstützung ganz nett. Du kannst Herrn… äh – den Patriarchen über die Situation benachrichtigen. Er soll über weitere Schritte entscheiden.“
„Den wen? Oh, GAYLOD-Center verstanden. Ende.“
Kevin sah Tim grinsend an, doch der zuckte nur mit den Schultern. Nick war inzwischen wieder auf den Beinen und wurde von Bartje gestützt. Chip wanderte schnüffelnd zwischen den Frachtkisten umher.
„Wie geht es Nick?“
„Der kann schon wieder laufen. Aber er sollte sich nicht überanstrengen.“
„Dann wollen wir sehen, dass wir hier so unauffällig wie möglich wieder rauskommen.“
„Das dürfte sich für Sie erledigt haben!“
Alle fuhren herum und starrten zur Tür, wo leise drei Männer in den Lagerraum eintraten. Die typischen dunklen Anzüge mit Krawatte ließen keinen Zweifel an ihrer Herkunft.
„GeSiDi,“ murmelte Tim und hoffte, dass Tom es auch gehört hatte.
Viel bedrohlicher waren allerdings die Waffen, die sie in ihren Händen hielten. Zwei der Männer hatten einen Taser gezückt und der dritte war mit einer kleineren, leichteren Pistole bewaffnet.
Tim wusste, so wie jeder Bewohner des RDL, dass reguläre Schusswaffen absolut verboten waren. Nicht einmal das Department oder die URT besaßen Schusswaffen, mit Ausnahme ganz weniger Spezialeinheiten.
Ursache war die - technisch gesehen - unbegründete Angst, dass Geschosse die Außenwand einer Kuppel beschädigen könnten. Deshalb waren die einzigen zugelassenen Waffen Taser, Harpunen oder Druckluftwaffen.
„Was wollen sie von uns?“
„Von ihnen? Gar nichts. Das heißt, wir wüssten gerne, wo sich der Überläufer versteckt. Ich nehme an, Herr Wister kann uns da helfen.“
Damit deutete der Mann mit der Pistole auf Nick. Der schüttelte nur den Kopf.
„Ich weiß gar nichts.“
„Zu Schade. Sind Sie sich sicher? Sie möchten doch nicht so enden wie ihre Schwester, oder?“
Nick fuhr auf.
„Was war mit meiner Schwester? Stecken sie also dahinter?“
Der Mann zuckte mit den Schultern.
„Sie wollte genauso wenig reden. Also mussten wir dafür sorgen, dass sie auf Dauer den Mund hält. Das könnte Ihnen genauso passieren, wenn sie weiterhin die Auster spielen wollen.“
„Sie haben sie tatsächlich umgebracht? Mit einer Überdosis?“
Der Mann lächelte geringschätzig.
„Natürlich. Es ist ganz einfach. Diese Pistole ist mit Gel-Geschossen geladen. Je nach Wunsch mit der erforderlichen Substanz präpariert. Ein schneller, leiser und sicherer Tod.“
Tim starrte entsetzt auf die Pistole, während er aus den Augenwinkeln heraus plötzlich eine Bewegung wahrnahm.
Dima hatte zum Sprung angesetzt und stürzte sich auf den linken der drei Männer. Diese waren so gut ausgebildet, dass lediglich der Angegriffene seinen Taser auf Dima richtete und abfeuerte.
Zur allgemeinen Überraschung traf der Pfeil zwar sein Ziel und der Taser entlud sich, doch Dima schien unbeeindruckt und ging in den Nahkampf über. Das veranlasste die beiden anderen Männer, nun ebenfalls auf ihn zu zielen.
Doch bevor der Mann in der Mitte seine Pistole zum Einsatz bringen konnte, flog ein Schatten auf ihn zu. Mit einer schnellen Reaktion wirbelte er herum und schoss zwei Mal auf den Hund, der ihn angriff.
Als seine Schüsse keinen Erfolg zeigten, stutzte der Mann einen Moment. Das wurde ihm zum Verhängnis, denn Chip prallte gegen ihn und riss ihn um. Sekundenbruchteile später spürte er ein stahlhartes Gebiss an seiner Kehle.
Der dritte Mann zögerte ebenfalls etwas zu lange, welches Ziel er bekämpfen sollte. Fabi und Ken hatten sich von zwei Seiten genähert. Fabian wusste, dass er im Nahkampf wohl wenig Chancen hatte und griff sich ein Brecheisen von einer der Frachtkisten. Ein schneller Schlag auf den Unterarm mit der Waffe und man hört deutlich die Knochen brechen.
Dima hatte mit seinem Gegner ebenfalls keinen leichten Stand, doch nach einem kurzen Schlagabtausch lag der GeSiDi-Agent am Boden.
Tim wandte sich dem schwer atmenden Dima zu.
„Wie hast du das denn gemacht? Dich hat doch der Taserpfeil voll getroffen.“
Die Pfeile hatten genügend Durchschlagskraft, um durch mehrere Schichten von Bekleidung zu dringen. Dima öffnete lächelnd die Lederjacke die er trug. Darunter kam eine Körperpanzerung zum Vorschein. Tim bekam große Augen. Auch diese Sachen waren nicht frei verkäuflich und sie durften sich nicht damit erwischen lassen.
Als vor der Tür leise Geräusche ertönten, sahen sich alle sichernd um. Dima nahm den Taser seines Gegners auf und ging mit Tim zur Tür. Draußen standen zwei Männer und eine Frau in der unauffälligen Kleidung von Büroarbeitern. Die Frau, etwa um die Dreißig, sah Tim prüfend an, dann nickte sie.
„Herr Senger? Mein Name tut nichts zur Sache, aber wir wurden geschickt, um hier aufzuräumen. Außerdem könnte sich hier ein gemeinsamer Bekannter aufhalten. Haben sie irgendwelche Hinweise für uns?“
Tim sah die Frau erstaunt an, dann dämmerte es ihm, was sie wollte.
„Oh, sehr gut. Da drin sind drei Herren, derer Sie sich annehmen sollten. Was den gemeinsamen Bekannten angeht, haben wir keine Ahnung, aber es gibt hier noch einen zweiten Raum, den wir noch nicht erkundet haben.“
Damit wies Tim auf die gegenüberliegende Tür. Die Frau nickte und sprach leise in ein Mobiltelefon. Wenige Augenblicke späte kamen drei weitere Männer durch den schmalen Gang zu ihnen.
„Zwei Mann nach dort drüben. Die anderen nach drinnen. Wir wollen unsere Freunde in Schwarz nicht enttäuschen.“
Schweigend sah Tim zu, wie nach einer Weile die drei GeSiDi-Agenten mit Handschellen gefesselt abgeführt wurden.
„Was passiert mit ihnen?“
Die Frau seufzte.
„Nichts.“
„Nichts?“
„Sie sind Angestellte der Botschaft. Diplomatische Immunität. Wir werden einen Antrag auf Ausweisung stellen und das wars.“
Nun betrat die Frau, gefolgt von Tim, die Lagerhalle. Interessiert sah sie sich um.
„Irgendwelche sonstigen Auffälligkeiten?“
Schweigend wies Kevin auf die Frachtkiste von JosGep. Die Frau drehte sich zur Tür.
„Rick!“
Ein noch ziemlich junger Mann erschien und sah sie fragend an. Sie deutete ebenfalls nur auf die Kiste. Der junge Mann las die Beschriftung und stutzte. Leise tuschelten die beiden einen Moment, dann wandte sich die Frau wieder an Tim.
„So, Herr Senger. Wir werden uns über einen Kontaktmann melden. Ach übrigens, unser gemeinsamer Bekannter war tatsächlich nebenan. Ich denke, es ist an der Zeit, dass Sie mit ihrer Truppe das Lokal verlassen. In spätestens zehn Minuten wird nämlich ein Einsatzteam des Department 4 hier eintreffen und sich um Herrn Larsen und seine Waren kümmern. Bis dahin sollten Sie alle Ihre Spuren beseitigt haben.“
Ohne eine Antwort abzuwarten drehte sich die Frau um und verließ den Lagerraum.
„Los Leute. Ihr habt es gehört. Nichts wie weg. Und nichts vergessen. Keine Spuren hinterlassen.“
Eine halbe Stunde später hatten sich alle im Wohnbereich ihres neuen Hauptquartiers versammelt.
Lediglich Nick fehlte. Er lag tief und fest schlafend nebenan in einem der Betten.
Fabian war von Tom so stürmisch begrüßt worden, als sei er jahrelang weggewesen. Auch Tim und Kevin hatten ein paar ruhige Minuten gefunden, in denen sie sich lediglich schweigend ansahen und an den Händen hielten.
Dima unterhielt sich leise mit Ken, während Bartje etwas geistesabwesend Chip tätschelte. Tim sah sich nachdenklich um, dann räusperte er sich.
„So, Leute. Das wäre ja beinahe schief gegangen. Ein deutlicher Hinweis für uns, uns nicht mit Dingen zu beschäftigen, von denen wir keine Ahnung haben. Ich bin heilfroh, dass nicht mehr passiert ist. Wie geht es Nick?“
Bartje fühlte sich sofort angesprochen.
„Wie schon gesagt, nichts Ernsthaftes. Keine Knochenbrüche, nur ein paar Prellungen im Gesicht und an den Rippen. Da wird er die nächsten zwei Wochen mit zu kämpfen haben.“
„Da hat er wirklich Glück gehabt. Ich kann immer noch nicht glauben, dass diese Typen uns so einfach…“
Tim brach ab und schüttelte seinen Kopf. Währenddessen zückte Kevin sein Mobiltelefon und sah erstaunt auf das Display.
„EDWARD, Bildschirmwelle Lod auf den Bildschirm im Wohnbereich.“
Der große Wandbildschirm wurde aktiviert und alle sahen interessiert hoch. Auf dem Bildschirm war ein Lagerraum zu erkennen und ein Reporter des Senders berichtete anscheinend live.
„…hier in einem Lager in Lod 5, Ebene 44. Das Department 4 hat vor wenigen Minuten dieses und einige angrenzende Lagerräume gestürmt und dabei eine große Anzahl von Waren sichergestellt. Ersten Erkenntnissen nach stammen diese Waren aus Frachtlieferungen, die nie ihre Empfänger erreicht haben. Der Eigentümer der Lagerräume wurde festgenommen und wird zurzeit noch verhört. Ob es sich hierbei um Bergungsdiebstahl oder gar Piraterie handelt, muss noch geklärt werden. Wenn sie mehr erfahren wollen, bleiben sie eingeschaltet bei Bildschirmwelle Lod, dem Sender…“
„EDWARD, Bildschirm abschalten.“
Der Bildschirm erlosch und Tim lehnte sich entspannt zurück.
„Also hat es Larsen doch noch getroffen. Gerade im Hinblick auf Nick hatte ich mir gewünscht, dass er nicht ungeschuppt davonkommt. Mich würde nur interessieren, was aus diesem Bangert geworden ist.“
Dima sah zu Tim hinüber.
„Der sitzt wahrscheinlich hoch und trocken in einer Luxuswohnung und ist dabei, alles zu erzählen, was er über die Aktivitäten des BFS weiß.“
„So viel kann der doch gar nicht wissen. Der war doch irgendwie im diplomatischen Dienst, oder nicht?“
Tom schüttelte den Kopf.
„Nicht ganz. Die höheren Beamten des BFS werden im Laufe ihrer Karriere alle einmal im diplomatischen Dienst in anderen Ländern verwendet. Unser Herr Bangert war laut offiziellen Darstellungen vor seiner Stelle hier stellvertretender Leiter der Wirtschaftsplanung in Janbergen.“
„Wirtschaftsplanung? Was ist daran denn so interessant?“
Tom seufzte.
„Daran eigentlich nichts. Aber es geht um Janbergen. Die Kuppeln des BFS sind ohnehin für jeden ausländischen Zugang gesperrt, bis auf Las Mares natürlich. Aber von den meisten weiß man, was da so los ist. Wer da wohnt, was da produziert wird und so weiter. Lediglich Janbergen ist bisher so geheim, dass nicht einmal die genaue Tiefe bekannt ist, in der sich die Kuppel befindet.“
„Na, herzlichen Glückwunsch. Dann hat sich die ganze Sache also doch…
Nun wurde Tim von seinem Mobiltelefon unterbrochen. Es war nur eine kurze Textnachricht, die ihn stutzig werden ließ.
‚Onkel B. gut zu Hause angekommen. Reisespesen werden erstattet.‘
Etwas hektisch rief Tim nun seinen Kontostand auf und starrte auf das Display. Der letzte Eintrag war eine Überweisung von 250.000 LEX mit dem kurzen Hinweis ‚Reisespesen‘.
[1] Aus: Wiesler, André Lodland Rollenspielbuch, Image 3033-Verlag, 2003
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