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Böcklein
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Es war nach Mitternacht, als ich in die Disco „Z“ kam. Die Luft war bereits eine Mischung aus Schweiß, Alkohol und Zigarettenrauch. Der Sound schlug einem gegen die Brust und die drei Table-Dancer in den kreisenden Spotlights waren ein guter Blickfang. Vor vier Jahren aus den Ruinen eines alten Kinos entstanden, war das „Z“ der wöchentliche Anlaufpunkt derer geworden, die nach der schwul-lesbischen Liebe suchten oder ihre bereits Gefundene ausgelassen auslebten. Hier lernte man sich kennen, pflegte seine Kontakte in unterschiedlicher Art oder präsentierte sich in seinem jeweiligen, vom normalen bis gehobenen, Lebensstandard. Es wurden die Ergebnisse der tagelangen Muskel aufbauenden Quälereien genauso offen zur Schau gestellt, wie die Enttäuschungen tränenreich gezeigt, wenn der Auserwählte, sich längst einem anderem zugewandt hatte. Liebe und Hass lagen eng beieinander und von Klatsch und Tratsch getragen, nahmen sie auch schon mal groteske Züge an.
Wer hierher kam, der wollte für ein paar Stunden seinem Alltag entfliehen oder suchte nach seinem „Mr. Right“. Gleichwohl waren die, die sich mit einer hastigen, sexuellen Befriedigung begnügten, unter ihnen. Wer glaubte, dass er äußerlich chancenlos blieb, nahm sie mit begehrlichen Augen wahr. Alles in allem, ein Ort der Eitelkeiten, der Sehnsucht nach Erfüllung, mit zuweilen einhergehenden Enttäuschungen. Die, die stundenlang einen Platz am Tresen für sich vereinnahmten, waren eher hier, um das ausgelassene und mit jeder Stunde grenzenloser aufgeheizte Treiben der Lesben und Schwulen zu verfolgen. Die zumeist älteren Männer, die rechts und links neben mir die Tresenhocker besetzten, hielten sich an ihren Gläsern fest, schauten vor sich hin oder rauchten wortlos.
Von wenigen kannte ich zwar die Namen und vielleicht auch noch ein paar Informationen, was sie arbeiteten oder welche speziellen sexuellen Vorlieben sie pflegten, doch das überwiegend nur vom Hörensagen. Erst wenn sie der Alkohol lockerte und mutiger werden ließ, kamen sie aus der Lethargie heraus und unterhielten sich. Ich lehnte ihre Anwesenheit nicht ab, keineswegs. Ich mochte es nur nicht, wenn sie mich alkoholbenebelt anquatschten und bemüht waren, mich vor irgendwelchen Gefahren beschützen zu wollen. Ich fand schon, dass das ganze Leben ein endloser Lernprozess sei - Schreiben und Rechnen ist uns nicht angeboren - doch zu meinem Sexleben bedurfte es keiner zusätzlichen Lehrstunde oder noch schlimmer, auf die väterliche Art.
Ich bestellte mir ein Tonic-Water und schaute in die schillernde Runde. Die fröhliche, ungezwungene Stimmung und zuweilen gedopte Ausgelassenheit wollte diesmal nicht auf mich überspringen. Einige der überwiegend halbnackten Jungs und Kerle kannte ich persönlich, oder auch nur vom Strand, wo man gelegentlich zusammen Volleyball spielte. Man nickte sich zu und das war es auch schon. Nach außen hin ein freundliches Lächeln aufgesetzt, dachte ich über manchen Jungen, was für ein Spinner, Gernegroß oder einfach auch nur Arschloch. Mir schien, dass einige der Jungs regelrecht eine Dauerkarte für diese Location besaßen. Obwohl, oder vielleicht gerade deswegen, dass ich in den letzten Monaten das „Z“ gemieden hatte, veränderten sich die Typen zunehmend tuntiger.
Die Outfits waren schriller und das Make-Up dicker aufgelegt. Zusätzliche Fitness und wer es sich leisten konnte, operative Eingriffe, sollten die Zeit aufhalten und ihre Jugendlichkeit verlängern. Die finanziell sehr gut betuchten Schwulen erkauften sich die Zuneigung der knabenhaften Typen und hielten sie stundenlang aus. Dafür saßen die wie Schoßhündchen an ihrer Seite und wenn morgens die Spots verlöschten, fuhr man zu den abgeschirmten Anwesen der alten Herren, wo diese sich ihre Gegenleistung für die kostenlosen Drinks holten. Alles hat eben seinen Preis und Geld regiert die Welt. Ich zog es vor, mir meine kleine, aber unabhängige Welt zu bewahren.
An meinem Tonic-Water nippend besah ich das wilde Körperschubsen auf den beiden Tanzflächen. Der Sound hämmerte die verschwitzt glänzenden Leiber zur Ekstase. Noch konnte ich Mark und Bastian nicht entdecken, doch konnte ich sicher sein, dass ich hier auf sie traf. Beide verpassten kaum eine Disco. Eigentlich brauchte ich nicht zu suchen, denn ohne großes Glück fanden sie mich. Den Platz am Tresen nahm ich schon früher ein und er galt auch an diesem Abend verteidigt zu werden. Der einzige Unterschied war der, dass ich früher zusammen mit Steffan hier stand. Von hier aus besaß man einen guten Überblick. Die neuen Gäste mussten hier ebenso vorbei, wie auch die, die entweder bereits reichlich mit Alkohol abgefüllt waren oder ihren Traumprinzen für eine Nacht gefunden hatten. Bevor ich Steffan kennen gelernt hatte, überließ ich das Suchen nach dem Prinzen eher dem Zufall und wenn es sich nicht ergab, empfand ich es nicht für schlimm. Ich glaubte fest, nie etwas verpasst zu haben, wenn ich hinterher allein in meinem Bett lag. Schließlich begann am Morgen ein neuer Tag, mit neuen Möglichkeiten und so sehr fühlte ich mich dem Adel nicht verpflichtet, dass es gleich ein Prinz sein musste.
„Max!“, schrie Mark meinen Namen vor Freude und umarmte mich.
An seinem weißen, körperbetonten Shirt sah ich noch keine Schweißflecken, was darauf schließen ließ, dass er sich bislang mehr den Cocktails widmete. Zu tanzen war für ihn zweitrangig, aus Angst er könne dabei regelrecht magersüchtig aussehen, verwies er auf seine bereits sichtbaren Rippen. Für Mark war Kontaktpflege wichtiger, was ich eher mit grenzenloser Neugierde verglich.
Ich erkundigte mich nach Bastian und Mark zeigte in Richtung einer der Tanzflächen. Mehr Gespräch gab die laute Musik nicht her und wir stießen unsere Gläser auf eine erfolgreiche Nacht gegeneinander. Seit meinen ersten Gehversuchen auf dem schwulen „Parkett“ kannte ich die Beiden. Wenn es anfangs das vordergründige sexuelle Abenteuer war, entwickelten wir drei Gleichaltrigen im Laufe der Zeit eine bereits mehrfach bewährte Freundschaft.
Die beiden waren echt unzertrennlich und ihre schon lang andauernde Partnerschaft galt allgemein als schon zu perfekt. Doch ich wusste auch von beiden, dass Streit selten ausblieb. Mark sagte oft, dass mancher Streit nur wegen der Versöhnung entstand, doch ich konnte das nur schwer glauben. Sicherlich gab es in ihrer offenen Beziehung viele Reibungspunkte und es kamen ebenso Eifersüchteleien ins Spiel. Da sie charakterlich kaum gegensätzlich waren, wunderte es mich schon, dass sie sich trotzdem immer wieder zusammen schmiedeten.
Bastian kam, vor Freude überschäumend, auf uns zu und hielt einen sehr jungen Tanzpartner an der Hand. Mit seinem bilderbuchhaften Lächeln, das eigentlich jegliche Modelkarriere rechtfertigte, und seiner Ausgelassenheit war er auch der aktive Part in der Beziehung mit Mark. Sein freundschaftlicher Kuss schmeckte nach Wodka mit Cola.
„Das ist Kevin!“, und zeigte auf seine Begleitung.
Während Mark den Jungen auffallend eindringlich musterte, schenkte ich ihm nur einen kurzen Blick. Wer mich kannte, befand meine Beurteilungsgabe sicher als recht eigenwillig. Gelegentlich vernahm ich sogar, dass sie an Arroganz grenzte. Wenn auch nicht fest zementiert, gerieten eher die Gleichaltrigen in meinen Blickfang. Jüngere dagegen galten höchstens als nett anzuschauen. Da war dieser Kevin für mich ein noch kindhafter Typ, dass man sich schon fragen musste, wieso man ihn überhaupt zu nächtlicher Stunde herein ließ. Wenn auch angenehm anzupeilen, kam er sicherlich aus einen der Dörfer um Rostock herum. Anhand von seinem Äußerem und dem scheinbaren Alter, wunderte es mich nicht, dass ich ihn nicht kannte. So urteilte ich über diesen Jungen mit den drei B, was hieß, blonder, blasser und unerfahrener Bengel. Bastian tuschelte Mark etwas ins Ohr und ehe ich mich versah, waren alle drei in der wogenden Masse wieder verschwunden. Wenn ich richtig tippte, fanden sie in dem Kevin ihren „Spielgefährten“ für die Stunden nach der Disco.
Ich bestellte mir noch ein Tonic-Water und rauchte eine Zigarette. In den nächsten zwei Stunden lief ich durch den Saal, sprach dabei mit ein paar bekannten Jungs, doch langsam waren mir die schwül drückende Luft und das Tonic-Water zu viel. Gegen halb vier Uhr merkte ich, dass mir die vorangegangenen zehn Stunden Arbeit im Restaurant meiner Eltern bleiern in den Knochen steckten. Ehe die Freunde mir die Müdigkeit ansahen, wollte ich mich unbemerkt davon machen. Auf Mark und Bastian wollte ich absichtlich nicht warten. Immer wenn ich sie mit nach Hause nahm, landeten wir gemeinsam in meinem Bett und danach gingen sie erst, wenn auch mein Kühlschrank geleert war. Bis zu meinem Wagen waren es drei Querstraßen weiter. In der Nacht hatte es sich nicht abgekühlt und die morgendliche Luft war nur kurz angenehm. Der noch junge Sonntag schien wieder ein sehr warmer Sommertag zu werden.
Den roten Audi hatte ich von Vater übernommen, als der sich eine gehobene Wagenklasse zulegte. Die bereits achtjährige Zulassung sah man den Wagen nicht an, denn Vater legte großen Wert auf Pflege und Instandhaltung. Ich startete und fuhr langsam auf die Hauptstraße zu. Wie aus dem Nichts stand plötzlich dieser Kevin am Straßenrand und schaute genau zu mir. Erst wollte ich so tun, als hätte ich ihn nicht gesehen und wischte auch gleich den Einfall weg, dass der Jüngling mich interessieren könnte. Da ein Weiterfahren nicht mehr möglich war, fuhr ich an den Straßenrand und ließ das Seitenfenster herunter.
„Nimmst mich mit?“, fragte er und hielt schon den Türgriff in seiner Hand. Sein Grinsen war eine Mischung aus provokativer Herausforderung, mit einer Nuance Naivität. So viel Frechheit, oder war es Gerissenheit, traute ich dem Landei gar nicht zu.
Glaubte der Bengel tatsächlich, dass er mich damit beeindrucken konnte?
Ich vermutete, dass Mark und Bastian hinter dieser plumpen Aktion standen. Getreu dem Motto, unter Freunden teilt man gern. Für die Beiden galt stets, dass das Leben aus Fun und Sex bestand. Sicher sagten sie sich, wenn wir ihn nicht haben konnten, dann reichen wir ihn an Max weiter. Keiner aus der schwulen Community konnte bislang von mir behaupten, dass ich irgendwen aufriss, und junges Gemüse mochte ich lieber auf dem Teller, als in meinem Bett.
Ehe ich Kevin etwas entgegen setzen konnte, saß er mit einem siegessicheren Lächeln auf den Lippen auf dem Beifahrersitz. Seine dreiste Art rief bei mir eine innere Abwehrhaltung hervor.
„Wenn Du denkst, das wir …“, raunte ich ihn an, da wehrte Kevin gleich ab.
„Nein, ist schon klar … nur nach Hause“, wehrte er ab und schob gleich noch nach: „… bitte.“
Besaß er etwa so was wie Anstand? Eine Bitte gehörte kaum noch zum Wortschatz der jungen Leute oder es war seiner Unerfahrenheit über das heutige Nehmen und Geben zuzuschreiben. Egal, ich mochte nicht zu früher Stunde alle denkbaren Probleme vertiefen.
Ich gab mich nachsichtig, fuhr los und bog in Richtung City ab. Kevin korrigierte, wenn dann müsste er in die andere Richtung. Wie er so dabei gestikulierend mit den Händen fuchtelte, erinnerte das schon an ein Baby, das sich auf den morgendlichen Brei freute.
„Hey, ich fahre!“
Er nickte stumm und ich schob die CD mit Rosenstolz in den Player. Den Titel, dass die Schlampen nicht müde werden, fand ich als genau passend und drehte die Lautstärke auf. Kevin sagte kein Wort und ich ließ den Wagen gemächlich durch die noch fast menschenleeren Straßen rollen. Ich mochte es, morgens durch die leeren Straßen zu fahren. Spätestens in einer Stunde würde die Stadt richtig erwachen. Mit dem Einsetzen des normalen Straßenbahnverkehrs belebten und verstopften sich die Straßen. Entlang der Breiten Straße lenkte ich den Wagen weiter in Richtung Warnemünde. Kevin blieb stumm, während ich den Klängen von Rosenstolz – Ich geh in Flammen auf - lauschte und manchmal die Melodie mitsummte. Ich wollte so früh wie möglich zu Hause sein. Da erwartete mich mein leeres Bett und das fand ich im Augenblick gut so. Dem Abend im „Z“, gingen wochenlange, eindringliche Gespräche mit Mark und Bastian voraus. Beide waren der Meinung, dass ich endlich mein selbstgewähltes, abgeschottetes Dasein aufgab. Seit Wochen mied ich die Innenstadt von Rostock, wo sich die Szene üblicherweise im „Flamingo“ oder „Nr. Sieben“ versammelte.
Auf der Stadtautobahn in Richtung Norden, fragte ich Kevin, wohin er überhaupt müsse.
„Lichtenhagen.“
„Ok“, und erhöhte sacht das Tempo.
„Max, darf ich Dich mal was fragen?“, meldete sich Kevin.
„Wenn es nicht anders geht.“
„Dass mit Deinem Freund …?“
„Geht Dich überhaupt nichts an! Verstanden!“, unterbrach ich ihn sogleich barsch.
Auch das noch, glaubte der „Grünschnabel“, ich würde mit ihm über Steffan diskutieren.
„Mark meinte, Du …“
„Der erzählt viel, wenn der Tag lang ist“, unterbrach ich ihn brüsk. Ich wollte mich nicht vor diesem höchstens achtzehnjährigen Schnösel rechtfertigen müssen.
In Höhe Groß Klein hielt ich den Wagen an. Nach Lichtenhagen brauchte er nur noch über die Brücke. Kevin bedankte sich und stieg aus. Wie er die Tür hart zuschlug, brauste ich zwar nicht gleich auf, doch murmelte ich, Blödmann, Dorftrottel, Prolet, eben so was.
Kevin klopfte ans Seitenfenster, warf mir einen erwartungsvollen Blick zu und fragte, ob er mich wenigstens anrufen dürfe. Fassungslos warf ich ihm einen ziemlich bösen Blick zu. Sofort tippte ich auf Mark, das alte Waschweib. Der hatte ihn wohl über mich informiert und auch gleich meine Telefonnummer gegeben. Ich hob gleichgültig die Schultern. Es war mir, müde wie ich war, wirklich egal. Nur mit Mark oder Bastian musste ich endlich mal einen richtig ‚dicken Hahn‘ rupfen. Kevin enttäuschte meine Gleichgültigkeit und wandte sich wortlos ab. Ich fuhr los. Im Rückspiegel sah ich, wie Kevin immer noch am Straßenrand stand und sich umschaute. Sicher wohnte er ganz woanders, überlegte ich und gab Gas. Es erinnerte mich an meine frühere Vorgehensweise, wenn ich nicht wollte, dass einer meine Adresse erfuhr. Schon deshalb nicht, damit keiner unerwartet vor meinen Eltern stand und sie so von meinem Schwulsein erfuhren. Nur mit Steffan war das alles ganz anders. Der durfte von mir wissen, wonach er fragte. Steffan, den ich schon lange vorher am Strand kennen gelernt hatte und für den ich sofort grenzenlos schwärmte. Steffan, der vier Jahre ältere, beeindruckte mich mit seiner offenen, natürlichen und noch jungenhaften Art. Er studierte, im zweitem Semester bereits, Sozialwissenschaften.
Es war am Abend nach meinem Abiturball. Leicht betrunken lief ich zum Strand. Steffan saß mit einer Gruppe weiterer Studenten an einem Lagerfeuer und spielte auf der Gitarre. Im Licht des Feuers besaß er für mich etwas Geheimnisvolles, was ich gern ergründen wollte. Wohl vom Alkohol beflügelt, zog ich mich aus und lief ins Meer. Wenig später war Steffan neben mir, nahm mich in die Arme und unter einem sternenklaren Himmel trug er mich küssend durch das kühle salzige Wasser. Wie ausgehungert, gierte ich nach seinem Mund und für einen Augenblick glaubte ich, fliegen zu können. Mit ihm zusammen gestand ich meinen Eltern, wie es um mich stand und wie sehr ich Steffan mochte. Dass ich damit ihre Träume auf Schwiegertochter und Enkel zum Platzen brachte, stimmte sie traurig, doch der familiäre Aufstand blieb aus. Viele Tage später sagte mir Vater, dass wir trotz allem eine Familie seien. Als er mir dann noch Vorsichtsmaßnahmen beibringen wollte, unterbrach ich ihn und gab zurück, dass ich durchaus in der Lage sei, auf mich aufzupassen. Er nickte erleichtert und sprach seitdem nicht wieder darüber. Auch machten sie kein großes Aufheben, als ich vorschlug, die leer stehende Ferienwohnung für mich herzurichten. Die Einweihung feierten Steffan und ich mit Mark und Bastian und danach begann die schönste Zeit in meinem Leben. Da ich noch wegen des Studiums überlegte, kellnerte ich zwischenzeitlich im Restaurant meiner Eltern und Steffan studierte. Steffan und ich lebten hoch oben im siebten Himmel und genossen unsere gemeinsame Zeit in vollen Zügen. Ich war schwer verliebt und selbst meine Eltern waren später der Meinung, dass mir Steffan richtig gut tat. Als dann die Einberufung zur Bundeswehr kam, diskutierte ich mit Steffan über Bewährungszeit und dass wir beide beweisen könnten, wie ernst es uns war. Immer wenn ich noch zweifelte, nahm Steffan mich in die Arme und versprach mir, wie sehr er mich liebte.
Also glaubte ich Steffan und zerstreute meine Zweifel, auch dann noch, als er in eine WG zog, um sich so besser auf sein Studium konzentrieren zu können. Selbst als Mark mir schrieb, Steffan sei wieder öfters in den Bars und Discos zu sehen und ziehe, nicht selten mit ziemlich miesen Typen, durch die Szene. Es war sicherlich dumm und blind von mir, doch ich wollte mein Gefühl von Liebe und Glück aufrecht erhalten und mir selber beweisen, dass ich treu sein konnte.
Zurück vom Bund, erkannte ich gleich, dass unsere Liebe nicht mehr loderte und schimpfte mich einen Narren. Eines Abends zeigte Steffan mir wortlos ein Schreiben der Uniklinik. Ich las nur etwas über HIV und positiv und seinen Namen. Ich fühlte mich nur noch elend und leer. Nach stundenlangem Schweigen stand Steffan auf und ging wortlos. Am übernächsten Tag erhielt ich die Nachricht, dass er sich mit seinem Wagen die Steilküste bei Heiligendamm heruntergestürzt und nicht überlebt hatte. Selbst Wochen nach der Beerdigung lebte ich in einem depressiven Zustand, blieb tagelang im Bett und verkroch mich vor der Außenwelt. Bastian und Mark redeten auf mich ein, dass ich endlich wieder zu mir kommen sollte, doch ich warf sie zweimal hinaus. Erst die beharrliche Art meines Vaters konnte mich wieder aufbauen.
Zu Hause angekommen, zeigte die Uhr bereits die sechste Stunde des Sonntages. Für einen Augenblick schaute ich mir den wolkenlosen, blauen Himmel an, beobachtete die wild kreisenden und kreischenden „Emmas“ und wünschte Steffan, der irgendwo von da oben auf mich herabschaute, einen schönen Tag. Nach der Dusche legte ich mich hin und schlief bald darauf ein.
Bei sommerlich heißen Wetter ging kein Mensch zum Mittagessen ins Restaurant, sondern lag am Strand, brutzelte seine Haut oder planschte im Meer. Im fast leeren Restaurant saßen meine Eltern am so genannten ‚Familytisch‘. Mir blieb noch Zeit, bis sich am Nachmittag einige meist ältere Gäste zum Kaffee trinken oder Eis essen einfinden würden. Später zur Abendessenzeit begann der große Ansturm der Gäste auf jeden freien Platz auf der Terrasse und im Restaurant.
„Na Max, schon auf?“, Vater hatte sicher mitbekommen, dass ich erst früh morgens heimgekommen war.
„Konnte nicht mehr schlafen, ist einfach zu warm“, sagte ich kurz und setzte mich mit einer Tasse Kaffee zu ihnen. Beiden war es ein Gräuel, wenn ich den Tag mit einem ‚Kellnerfrühstück‘ begann, das aus Kaffee und Zigarette bestand. Bei der sommerlichen Hitze bekam ich nichts herunter.
„Ich habe Deine Wäsche mitgebracht“, sagte Mutter und ich bedankte mich bei ihr. Wenn ich auch mit dem Einzug in die Ferienwohnung meine Selbständigkeit anstrebte, eine Waschmaschine konnte ich dort nicht aufstellen.
Mit dem Restaurant „Ostseeperle“ hatten sich meine Eltern ihren lang gehegten Wunsch erfüllt und so war es unser aller Lebensmittelpunkt. Eingereiht zwischen Spielcasino, Hotel „Atlantas“ und weiteren Pensionen, teilten sich die Häuser das Areal um den Leuchtturm und „Teepott“. Seit ich denken konnte, spielte sich unser Leben in diesen Räumen ab. Hier spielte ich als Kind mit meinen Bausteinen und erledigte an diesem Tisch später meine Hausaufgaben. Am „Familytisch“ outete ich mich vor den Eltern und ersparte mir so eine endlose Diskussion, weil sie Familiäres nicht vor den Angestellten besprachen. Für ein paar Monate saß auch Steffan mit an diesem Tisch.
Nach und nach trafen die anderen Kellner ein. Helmut, der Oberkellner, arbeitete hier schon so lange in der „Ostseeperle“, dass ich als Kind glaubte, er wäre sogar mein Onkel. Auch vom Küchenpersonal trudelten die ersten Kollegen ein. Für mich ein Zeichen, mein Revier vorzubereiten. Ich arbeitete lieber auf der Terrasse. Die Gäste wechselten schneller und das Trinkgeld fiel so größer aus.
An diesem Nachmittag kam es zu einem regelrechten Ansturm auf Eisbecher und Kuchen. Die Reviere waren vollends besetzt und weitere Gäste warteten schon hinter manchen Tischen. Vater telefonierte vorsichtshalber mit dem Eislieferanten und gab seine Nachbestellung durch. Zwischen den Kellnern verstummten die üblichen Scherze, denn jeder hastete nur noch zwischen den Tischen hin und her. Mir lief der Schweiß am Rücken herunter und so sehr ich mich auch bemühte, ich schaffte keine kurze Pause, um wenigstens schnell das Hemd zu wechseln.
Erst gegen Abend beruhigte sich das Geschäft und ich verzog mich kurz ins Lager. Da für eine Dusche keine Zeit war, trockene ich mich mit einem Handtuch ab und wechselte endlich meine Kleidung.
Wenn es auch keine Erfrischung war, es sah zumindest besser aus und ich fühlte mich wohler.
Vater kam aus seiner Küche und strahlte seine Zufriedenheit aus. Das Geschäft könnte seiner Meinung nach täglich so sein. Ich selbst überschlug meine Einnahmen und war schon mal mit dem Trinkgeld zufrieden, und dass ich dafür einige Kilometer zwischen den Tischen gelaufen war, rechtfertigte es.
Während die letzten Gäste in meinem Revier noch ihr Eis aßen, richtete ich die ersten Tische für das Abendgeschäft her und fand auch kurz die Möglichkeit eine Zigarette zu rauchen.
„… ist ein gutes Geschäft gewesen, nicht?“
Vater gesellte sich zu mir. Trotz der Hitze nahm er nie seine Kochmütze ab. Ein Koch ohne Mütze ist nur eine bessere Herdhilfe, pflegte er zu sagen, wenn die anderen Köche bei sommerlicher Hitze die Mütze als lästig empfanden.
„Ja, ich merke es an meinen Füßen.“
„Hier Männer, das haben wir uns heute alle verdient.“
Mutter kam verschwitzt, aber immer freundlich lächelnd, hinzu und brachte Radler oder Apfelschorle.
Vater nahm sein Radler und gab ihr einen Kuss. „Du bist die Beste.“
Wie die beiden miteinander umgingen, darunter verstand ich, dass so die Liebe ist. Nie sah ich sie ernsthaft streiten. Sicher, nicht alles lief immer glatt oder es kamen auch Probleme auf sie zu. Dann saßen sie nachdenklich zusammen und diskutierten, doch eben nie laut. Wenn Vater in seiner Küche die Köche anraunzte, ging sie hinein und keine fünf Minuten später herrschte wieder Ruhe. Nicht wie sie es schaffte, war die Frage, sondern dass sie es konnte, machte sie bei allen beliebt. Es machte mich glücklich und immer ein bisschen stolz, ihr Sohn zu sein.
Ich nahm einen großen Schluck von der Apfelschorle und ging zurück ins Restaurant.
Am Abend waren zwar alle Tische besetzt, doch es ging ruhiger zu und ich behielt immer den Überblick im Revier. Den Gästen sah ich ihre Zufriedenheit an und kam auch beim Bedienen mit ihnen ins Gespräch. So erfuhr ich, woher sie kamen und wie lange sie noch in Warnemünde Urlaub machen wollten. Sie waren für Ausflugstipps dankbar und mit ein bisschen Glück kamen sie in den nächsten Tagen nochmals wieder. Zwischen den Kellnern und dem Küchenpersonal gab es die üblichen Wortgefechte, doch die waren selten richtig ernst gemeint. Vater beruhigte die Seiten und spulte seine Weisheiten über den Küchenbetrieb herunter. Qualität brauche seine Zeit, oder der Koch besäße auch nur zwei Hände, dass das Restaurant kein Schnellimbiss wäre, lautete seine Philosophie und wenn sich die Teller auf der Ausgabe stapelten, brachte er sie schon mal selbst an den Tisch der Gäste und ermahnte sanft den Kellner, den Köchen zum Feierabend ein Radler zu spendieren. Ich fand schon, dass der tägliche Betrieb gleich ablief und alles nur Normalität war oder man es im Laufe der Jahre als solches wahrnahm.
„Willst Du um 23 Uhr gehen?“, fragte mich Mutter. Nach all den Jahren besaß sie ein Gespür dafür, wann keine Gäste mehr kamen. Früher waren meine Eltern zum Feierabend hin ungeduldiger, denn sie gingen dann noch zum Strand hinüber und schwammen im dunklen Meer. Erst in der letzten Woche standen Mutter und ich auf der Terrasse und schauten zur Promenade hinüber. Da meinte sie, dass sie das Meer zwar vor der Tür hätte, aber vor drei Jahren das letzte Mal darin geschwommen war. Lächelnd sah sie mich an und fügte hinzu, dass das nicht das Schlimmste wäre, eher wenn hinter der Promenade kein Meer sei.
„Ich habe noch sechs Tische besetzt, das kann dauern“, sagte ich bedenklich.
Sie schaute prüfend und schlug sogar eine Wette vor, dass bis 23 Uhr alle Gäste gegangen waren.
Ich war einverstanden und legte einen Fünfer auf den Tresen.
Im Revier erkundigte ich mich bei meinen Gästen, ob ich ihnen etwas bringen durfte, doch überwiegend wünschte man die Rechnung. Fünf Minuten vor 23 Uhr wollte auch das letzte Paar zahlen und ich gab mich geschlagen. Lachend zog Mutter den Fünfer unter der Vase hervor und steckte ihn ein. Mit ihrem Kassenschlüssel zog sie meine Abschlussbons und ich bestellte mir eine Schorle bei ihr. Am „Familytisch“ saßen bereits Heike und Sven, beide Studenten, die nur während ihrer Semesterferien im Restaurant arbeiteten.
„Max, kommst Du mit in den Studentenclub?“, fragte Sven. Ich traf ihn früher mal im „Z“. Mit der Ledermütze und dem dazu gehörigem Brustgurt hätte ich ihn bald nicht erkannt. Doch zwischen uns fanden sich keinerlei Gemeinsamkeiten, dass er irgendwie für mich von Interesse wäre.
„Im Moment will ich nur eine Dusche.“
Sicher, ich war noch zu sehr aufgekratzt, um an Schlaf zu denken und im Club würde ich mit Sicherheit nicht die Leute treffen, auf die ich im Augenblick große Lust verspürte.
„Also, noch viel Spaß für Euch beide und bis morgen“, verabschiedete ich mich und übergab meiner Mutter das Geld.
„Vergiss nicht, Deine Sachen mitzunehmen“, erinnerte sie mich und gab mir einen Kuss auf die Wange.
In meinem Wohnzimmer entledigte ich mich der verschwitzten Klamotten und lief unter die Dusche.
Erfrischt und ein Handtuch um die Hüften geschlungen, sah ich, dass eine SMS auf meinem Handy war. Nur eine Handynummer, die ich nicht kannte, mehr nicht. Dass das schon mehrmals passierte, nahm ich seit längerem schon in Kauf. Mark wollte einfach, dass ich seit Steffans Tod mich wieder dem Leben öffnete. Schwule neigen ja dazu alles und jeden beurteilen zu können, mich sogar eingeschlossen, doch so langsam nervte es mich, dass er pausenlos meine Telefonnummer unter die Leute brachte. Die Uhr zeigte kurz nach Mitternacht und ich überlegte kurz, ob ich noch zurückrufen sollte. Mit drei Fragezeichen versehen speicherte ich die unbekannte Nummer ab und verschob den Anruf auf ungewisse Zeit. Dafür drückte ich Marks Nummer. Von ihm konnte ich am besten den dazugehörigen Namen erfahren.
„Hey, Süßer. Wie war Dein Abend?“, meldete sich Bastian und ich sah regelrecht sein breites Grinsen vor mir.
„Ziemlich heiß … kam mächtig ins Schwitzen“, ich bemühte mich sachlich zu bleiben.
„Glaube ich Dir. Haben Dich die Typen alle angemacht?“, säuselte er weiter. „… und vielleicht sogar an Deinem ‚Rockschoß‘ gezupft?“
„Nein, das haben sie nicht! Sie haben mich grenzenlos rangenommen, aber hinterher gut bezahlt.“
„Hm, dann bist Du ja heute Nacht eine gute Partie!“, kreischte Bastian auf.
„Ok, Bastian … mal was anderes jetzt“, unterbrach ich ihn. „ Behaltet meine Telefonnummer für Euch!“
„Ja … sicher doch … Max“, stotterte er und wusste sofort worauf ich anspielte.
Bastian versicherte mir, dass er die letzten Tage keinem meine Nummer gegeben hatte. Er sah ein, dass mir so nicht geholfen werden kann. Doch dann gestand er, dass er nur diesem Kevin die Nummer doch noch gegeben hatte, weil der so lieb darum bat.
„Du musst zugeben, dem Schnuckelchen kann man nichts abschlagen?!“, entschuldigte er sich sogleich.
„Dem Kind!“, ereiferte ich mich.
„Wir waren alle mal Kinder und haben angefangen unsere Erfahrungen zu machen“, seufzte Mark. Bastian hatte das Telefon weiter gereicht und hauchte die letzten Worte voller Sehnsucht.
„Mark?! Lass es gut sein, wir sind selbst noch mit Anfang Zwanzig jung“, lenkte ich ein.
„Ja? Bitte sag‘ es mir noch mal, … ganz langsam … ich brauche das jetzt besonders.“
„Nein, Gute Nacht und sag dem Typen zwischen Deinen Beinen einen schönen Gruß von mir.“
Ich legte gleich auf und korrigierte die drei Fragezeichen in Kevin. Ich schüttelte ungläubig den Kopf und konnte mir nicht erklären, was der Typ überhaupt von mir wollte. Ob ich überhaupt anrief, darüber dachte ich im Augenblick nicht nach. Sollte er sich zwischenzeitlich bei mir melden, dann würde ich dem Landei, wie vielen anderen vorher schon, eine gehörige Abfuhr erteilen.
Dem Wäschekorb entnahm ich einen Slip und Socken, aus dem Schrank eine dunkle Jeans und ein schwarzes Shirt und saß Minuten später im Auto.
Während der Fahrt in die Rostocker Innenstadt summte ich die Melodie von Rosenstolz ‚Willkommen‘ mit. Ja, ich wollte willkommen sein, begehrt werden, meine Lust ausleben, die sich unter der Dusche entwickelte und je näher ich der City kam, rasant steigerte. Schließlich war ich jung, ein Mann dazu, der von einem jungen Mann genommen werden wollte. Ich brauchte Hände, die mich berührten, einen gierigen Mund, der mich küsste und einen knackigen Hintern. Selbst um den Preis, dass es hastig mit irgendeinem anonymen Typen hinter einer Hecke geschah. Ich beruhigte im Voraus mein schlechtes Gewissen damit, dass mein letzter Sex schon Wochen zurück lag.
Den Audi stellte ich im Parkhaus ab. Bis zur Wallanlage waren es keine zehn Minuten, die ich zu Fuß ging, auch um mich besser an die Dunkelheit zu gewöhnen.
Der Wall grenzte unmittelbar an die alte Stadtmauer. Mitten in der Stadt gelegen, war er schnell zu erreichen. Am Tage eine Parkanlage, mit vielen Sitzgelegenheiten für die Großen, einem Spielplatz für die Kleinen, war er bei Dunkelheit ein Eldorado der Schwulen.
Ich hielt inne und spürte ein Unbehagen über mein nächtliches Vorhaben in der Magengegend. Immer wieder hatte ich von Übergriffen in den Wallanlagen gehört. Irgendwelche Jugendliche oder Kerle, die Schwule zu hassen schienen, prügelten und schlugen die Nichtsahnenden nieder. Selbst wenn es zu Anzeigen kam, die Täter stellte man nie fest.
In meinem Kopf kreisten die letzten Zweifel, doch je näher ich dem Ziel kam, schwand mehr und mehr der Wille zur Umkehr. Vorbei am alten, backsteinroten Universitätsgebäude stand ich im Dunkel der alten Linden. Von der Dunkelheit geschützt, hörte ich mehr in die finstere Umgebung, als dass ich etwas sah. Nur das Rauschen der Blätter nahm ich wahr und wie ich aufschaute, sah ich einen sternenreichen Himmel dazwischen. Für einen Moment spürte ich den Herzschlag an meinen Schläfen. Noch konnte ich ungesehen umkehren und mit wenigen Schritten die Anlage verlassen.
Die Zigarette beruhigte mich und die Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Zwar erkannte ich nur schemenhaft den Weg, doch die Einzelheiten vermischten sich mit den Erinnerungen von früheren Aufenthalten.
Langsam ging ich den Weg entlang. Meine Aufmerksamkeit lief auf Hochtouren. Jedes Geräusch oder ein dunkler Schatten, der mir entgegen kam, wurde von mir intensiv registriert. Wie ich an die Weggabelung kam, hielt ich inne und bemühte mich wieder, irgendwelche Laute von weiteren Anwesenden festzustellen. Immer wieder schaute ich mich um. Nichts. Nur die nächtliche Konturen der Bäume und der sternenklare Himmel umgaben mich.
Ich erinnerte mich, wie ich mit Steffan hier war. Wir hielten uns fest in den Armen und liefen, uns leidenschaftlich küssend, damals diesen Weg entlang. Hier an der Gabelung blieben wir stehen. Steffan schob mir das Shirt über den Kopf, knabberte an meinen Brustwarzen und schob gierig seine Hand in meine Jeans. Selbst wenn jemand stehen blieb und uns zusah, ließ ich Steffan gewähren mich zu nehmen.
Ein lautes Rascheln riss mich aus meinen Erinnerungen. Ich schreckte auf und sprang sofort zur Seite, als etwas schwarzes, was irgendein Tier sein konnte, neben mir unter einem Strauch verschwand.
Etwa drei Meter weiter tauchte eine Zigarettenglut auf und ich konzentrierte mich auf den Anwesenden.
„War nur eine Katze“, sagte eine Stimme.
„Aha.“
Ich ging langsam auf die aufglimmende Glut zu und blieb neben dem menschlichen Schatten stehen.
„Hey“, konnte ich gerade sagen, denn mein Hals war staubtrocken geworden.
Wenn ich der üblichen Vorgehensweise folgte, rauchten wir stumm nebeneinander stehend jeder noch eine Zigarette. Entweder ich wartete auf die Initiative des Anderen oder nahm es sprichwörtlich selbst in die Hand. Gewährte mir der anonyme Typ, dass ich ihn im Schritt prüfend rieb, waren wir uns so gut wie einig. Worauf der Andere oder ich selbst wirklich standen, ergab sich wortlos und konnte auch bedeuten, dass wir gleich wieder auseinander gingen. Diesmal ging alles zusammen.
Die wenigen Stunden Schlaf waren traumlos, zumindest konnte ich mich nicht an einen Traum erinnern. Gleich zwölf Uhr, zeigte der Wecker und ich hörte mein Handy klingeln. Ich lief ins Wohnzimmer und Bastian meldete sich am anderen Ende.
„Hey, mein Lieber!“, schrie er. Im Hintergrund war Straßenlärm zu hören, was nur heißen konnte, dass er mit Mark bereits in der City weilte.
„Was willst Du mitten in der Nacht?“, knurrte ich ihn an und rieb mir das stopplige Kinn.
Er kicherte laut. Die Beiden luden mich auf einen Brunch im „Rostocker Hof“ ein.
„Kann nicht, Jungs. Außerdem habe ich gleich Schicht.“
„Hm, dann mach‘ mal, Süßer. Wir sind am Nachmittag am Strand“, erzählte er noch und gleich darauf war es still. Für Mark gab es keine Probleme ohne Job über die Zeit seines Studiums und der Semesterferien zu kommen, da er ziemlich großzügig von seinem Vater unterstützt wurde. Zwar sah er den selten, doch Mark meinte, er wolle damit sein Gewissen beruhigen, nachdem sich seine Eltern scheiden ließen. Bastian brach vor Jahren seine Ausbildung ab, war arbeitslos und bekam ‚Stütze‘. Manchmal bekam er Jobangebote, doch bei keinem hielt er länger als vier Wochen durch.
Unter der Dusche kam mir die Idee, Mutter zu fragen, ob ich vor dem Abendgeschäft gehen konnte. Immerhin arbeitete ich die letzten drei Wochen schon durch. Das gäbe mir die Gelegenheit, für ein paar Stunden am Strand zu sein und vielleicht mal wieder Volleyball zu spielen.
„Ich habe mich überhaupt schon gefragt, wie lange Du das durchhalten willst“, kam sie mir entgegen und bestand darauf, dass ich einen ganzen freien Tag nahm.
Sie nahm einen Briefumschlag vom Tresen, „ … der ist heute gekommen.“
Er enthielt Post von der Universität, die mir mitteilte, wann der Termin für die Immatrikulation der Juristischen Fakultät war.
Eigentlich hatte ich keine richtige Vorstellung was ich studieren sollte und bewarb mich eben, einfach auf gut Glück, um sie nicht zu enttäuschen. Als dann vor Wochen die Zulassung kam, waren sie echt freudig überrascht. Also vermied ich alles, was darauf schließen ließ, dass mir meine momentane Situation ganz gut gefiel.
„Gut, dann werde ich mal gehen.“
„Mache Dir einen schönen Tag und geh mal an den Strand. Bist ja braun wie eine Kochmütze“, scherzte Vater und verschwand wieder in seine Küche.
Wieder umgezogen, rief ich Bastian an und verabredete mit ihm, dass ich in den „Rostocker Hof“ kam.
Tagsüber kam man nur beschwerlich auf den Straßen vorwärts und auch einen Parkplatz zu finden, war eine echte Herausforderung. Fast eine geschlagene Stunde brauchte ich für die eigentlich kurze Wegstrecke und fand die Beiden unweit des noch reichlich gefüllten Büfetts. Gäste waren kaum anwesend und ich bediente mich mit Fisch in Aspik und Bratkartoffeln, dazu Remouladensoße und Salat.
„Da hat einer richtig Hunger“, bemerkte Mark.
Während ich den Brief von der Universität und das nächtliche Abenteuer am Wall für mich behielt, besprachen wir, wie wir den Tag verbringen wollten. Dass Bastian mich gleich an Kevin erinnerte und sich nochmals wegen der Weitergabe entschuldigte, tat ich mit einem energischen „Erledigt!“ ab. Der Strandaufenthalt war schon mal festgelegt, nur für das danach diskutierten wir darüber, entweder ins „Warnow“ oder „Flamingo“ einzukehren. Mir war es egal, denn man traf in beiden Lokalen auf Gleichgesinnte.
„Kann doch sein, dass ein Container junger, schwuler Touristen eingetroffen ist“, säuselte Mark und schien, wie ich ihn kannte, wohl bereits an eine ganz private Party für den Abend zu denken.
„Ja, Frischfleisch“, schwärmte Mark weiter, “… zartes unbehaartes Fleisch, mit einem Speer … aber mindestens so groß!“ Dabei streckte er die Hände auseinander, da hätte jeder von uns in Selbstmitleid verfallen müssen. Ich empfand meine zurück gewonnene Energie in mir und es tat mal wieder gut mit den beiden ein paar Stunden zu verbringen. In den drei Jahren, die wir uns kannten, sorgte vor allem Mark für Spaß und Abwechslung.
Das setzte sich auch am Strand fort. In der Gay-Strandregion tummelten sich bereits scharenweise sonnenhungrige, nackte, freizügige Jungs, Männer und auch Opas. Wir hatten Mühe einen Platz für uns zu finden. Dabei war es wichtig, dass wir das „Schaulaufen“ der Schwulen auch gut sahen. Da hier eine komplette Fleischbeschauung möglich war und unsere Beurteilung der knackigen Jungs intensiver und detailgetreuer ausfiel, gaben wir Noten nach unserer selbst definierten Skala ab. Alles was am Wasser entlang lief, selbst wenn manche der Jungs und Männer hier keinen Platz hatten, wurde genauestens begutachtet. Eine besondere Begutachtung fand dann statt, wenn unsere Kandidaten aus dem Wasser kamen. Da zeigte sich erst der echte Mann und die Länge des Gliedes wurde in Ruhe- und Erektionszustand eingeschätzt.
Wir breiteten Decken aus, stellten Campingstühle auf und steckten so unseren persönlichen Bereich ab, den zu betreten, nicht jedermann erlaubt war.
Aus der Erfahrung heraus, das wir weder beklaut werden wollten oder man Müll in unseren Bereich warf, blieb ich als erster zurück, während Mark mit Bastian zum Wasser lief.
Mit Sonnencreme eingeschmiert, gab ich mich langgestreckt den heißen Sonnenstrahlen hin. Nur zehn Minuten, dachte ich und wollte danach den Sonnenschirm aufstellen.
Nebenan wurde laut telefoniert. Irgendein Schatz rief an und erkundigte sich nach dem Befinden des Handybesitzers. Jedenfalls beklagte der gegenüber seinem Schatz, wie langweilig es hier wäre und er doch lieber nach Ibiza hätte reisen sollen. Ich schielte vorsichtig zu dem Handyhalter, schätzte ihn auf gut Vierzig, mit Bauchansatz, rasiertem Schwanz und angegrautem Haarschopf. Für mich einer von den Typen, die sich gern als väterlicher Freund anboten. Nein, danke!
Schade, dachte ich noch, dass der Volleyballplatz weit weg von uns war. Da hätte man eine bessere Aussicht auf knackig sonnengebräunte Körper gehabt.
„Hallo mein Freund, hast Du mal Feuer für mich?“, hörte ich den Angerufenen von links.
Oh nein, wollte er mich etwa anmachen. Schnell warf ich mein Feuerzeug hinüber und war zur Verteidigung meines Platzes auf der Decke bereit.
Natürlich kam er die wenigen Schritte herüber und gab mir dankend das Feuerzeug zurück. Dass Mark oder Bastian zurück kamen, war nicht zu erwarten. Die planschten und knutschten sich gelegentlich. Mir schien, sie wollten damit einen eventuellen zusätzlichen Partygast für heute Abend beeindrucken.
„Möchtest Du vielleicht auch?“, hielt er mir seine Schachtel Zigaretten hin, was ich aber dankend ablehnte.
Schließlich fragte er, ob er sich zu mir setzen dürfe und ich antworte barsch, nein!
Zweifelnd, ob er jetzt richtig verstand, ging er zögerlich zurück und meinte dann laut, dass er hier anscheinend nur vom Pöbel umgeben sei. Seine weiteren abfälligen Äußerungen ignorierte ich.
Bastian kam angelaufen und ließ sich einfach in den Sand fallen.
„Mark wartet“, meinte er und trocknete sich die Haare.
„Ok“, ich stand auf, gab ihn noch einen Wink und zeigte auf den Typen von nebenan. Bastian hatte mich verstanden.
Mark griff sich meine Hand und zog mich ins Wasser. Ich entzog mich ihm, tauchte unter einer Welle hindurch und schwamm ein kurzes Stück hinaus. Das Wasser war einfach erfrischend herrlich. Ich ließ mich, auf den Rücken liegend, von den Wellen treiben. Für einen Augenblick war ich an Steffan erinnert. Nie würde ich woanders leben wollen, überlegte ich.
Mark, der in Strandnähe blieb, deutete er auf einen jungen Mann, der allein am Ufer saß. Er wollte ihn fragen, ob er Lust auf Party besaß. „Ab vier Mann wird es erst richtig spannend oder nicht?“ Ich erzählte ihm kurz von unserem Platznachbarn und Mark kreischte auf, wie ich von dessen Bemerkung über den Pöbel und so erzählte.
Der junge Kerl in Ufernähe hieß Jörg, der hier eine Woche Urlaub machte und eigentlich aus der Nähe von Berlin kam. Ohne Zögern sammelte Jörg seine Utensilien zusammen und folgte uns zu unserem Platz. Bastian war mit dem Älteren bereits ins Gespräch gekommen.
„Oh, entschuldige Ralf ...“, Bastian löste sich aus der Schneidersitzhaltung, die dem Handyquatscher sicher das Feuchte auf seine Eichel trieb. “…doch ich muss zu meinen Freunden rüber. Schön, wenn wir uns mal sehen … also man sieht sich mal.“
Ich merkte gleich, dass Jörg keine Berührungsängste besaß. Wie wir uns auf den Decken drängten, um alle unter dem Sonnenschirm sitzen zu können, berührten sich nicht nur unsere Rücken. Sein Speer versprach einen großartigen Spaß und dass wir ihn, zum besseren Kennenlernen, der Reihe nach küssten, schien ihm sehr zu gefallen.
„Partytime“, säuselte Mark, wobei er seinen vielversprechenden Blick auflegte und den Korken einer Flasche lauwarmen Prosecco knallen ließ.
Jörg legte seinen Kopf in meinen Schoß und gab sich der Ausgelassenheit zwischen uns hin. Sektspritzer, die auf seinem straffen Leib landeten, ließ er sich von Bastian und Mark wegküssen.
Anscheinend war das unserem älteren Nachbarn nun zu viel des Guten und er packte, dabei laut protestierend, dass wir ihn davon ausschlossen, schon mal seine Sachen zusammen.
Das Schnarchen weckte mich auf und brachte mir die Realität zurück. Jörg lag nackt ausgestreckt neben mir. Draußen begann es schon hell zu werden. Marks Wohnzimmer bildete ein mittleres Chaos. Leere Sektflaschen erinnerten mich an die letzten Stunden. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und fing an, meine Klamotten zusammen zu suchen. Die herum liegenden, benutzten Kondome konnten unmöglich von uns beiden sein, doch es beruhigte mich. Eigentlich wollte ich schon vor Stunden heimfahren. Jörg, der anscheinend ausgehungert nach körperlicher Nähe und Sex schien, bewies mehrmals seine Beckenkünste und küsste mich wieder und wieder so sanft und am ganzen Körper, dass ich einfach nicht widerstehen konnte.
Doch nun war es höchste Zeit für mich, wenigstens noch ein paar Stunden ungestört zu schlafen.
Fast lautlos schlich ich mich hinaus und im Flur griff ich nach meinem Autoschlüssel.
Keiner hatte mein Verschwinden bemerkt und vor dem Wohnhaus nahm ich einen tiefen Atemzug. Die Fahrt nach Hause dauerte nur Minuten und fünf weitere drehte ich mich auf meine Einschlafseite.
Gegen Mittag regnete es. Der heftige Wind peitschte den Regen gegen die Scheiben.
Meine Eltern saßen still am Familientisch und schauten zu, wie die Leute am Restaurant vorbei eilten.
„Guten Morgen, Max“, begrüßten mich meine Eltern.
„Wenn der anhält, dann prost Mahlzeit.“ Ich zeigte zur Terrasse und setzte mich zu ihnen.
„Na, wir brauchen auch mal Regen“, meinte Vater und fügte an, dass ich ja gestern Sonnenschein genug hatte. Ich nickte stumm und schluckte meinen Kaffee.
„Arbeitest heute am Büfett?“, fragte Mutter. „Ich muss noch Schreibkram erledigen.“
Ich nickte wieder und jammerte still über den Trinkgeldausfall.
„… und Heike?“, fragte ich in die Stille.
„Hat heute ihren freien Tag.“
Wenn schon kein Trinkgeld, dann war mir nach der letzten Nacht der etwas ruhigere Job am Büfett doch lieber.
Da der Regen auch am Nachmittag anhielt, blieb mir Zeit die Lokalpresse zu studieren. So erfuhr ich was am Wochenende an Veranstaltungen und Events stattfand.
Ich befürchtete schon am frühen Abend, dass Jörg hier auftauchen würde. Gegen 22 Uhr stand er am Büfett, lächelte mich verständnisvoll an und fragte verlegen, wann ich Feierabend hätte.
„Ich muss noch eine Stunde …, dann können wir uns am Leuchtturm treffen“, sagte ich ihm und sah die Freude darüber in seinen Augen. Am Ausgang drehte er sich um, winkte und ging.
Mir blieb also noch eine Stunde und musste mir was einfallen lassen. Eine Urlaubsbekanntschaft konnte nicht von Dauer sein und sicher musste ich ihm das erklären. Die letzten gemeinsamen Stunden, so schön sie auch waren, konnten aber nicht darüber hinweg täuschen, dass wir nur unsere sexuellen Bedürfnisse auslebten, die Liebe von vorneherein ausklammerten. Das konnte auch mein mieses Gefühl darüber nicht ändern.
Nicht ganz pünktlich kam ich zum Leuchtturm, wo Jörg, auf der Mauer sitzend, auf mich wartete. Wie er mich sah, kam er mir entgegen und sein verlegenes Lächeln, erinnerte mich an unser nächtliches Zusammensein.
„Hey“, sagte ich, „bin ich zu spät?“
„Nein, nein, ich freue mich“, entgegnete er und umarmte mich herzlich.
Wortlos ließ ich ihn gewähren und still blieb es auch, als wir die Promenade entlang gingen.
Was sollte man in diesem Augenblick sagen, um nicht gleich missverstanden zu werden? Ich wusste es nicht und rauchte nervös eine Zigarette. Jörg hatte seinen Arm um mich gelegt und schaute verstohlen in den nächtlichen Himmel.
„Max?“, begann Jörg zögerlich. „Das mit gestern Nacht … also ich hatte lange nicht mehr so schöne Stunden mit einem Mann.“
„Danke“, meinte ich leise und wartete was Jörg noch zu sagen hatte.
„Ja … also ich muss ja übermorgen wieder nach Hause fahren … und Du lebst hier.“
Er stellte sich mir in den Weg, nahm meinen Kopf in seine warmen, gut tuenden Hände und schaute mir genau in die Augen.
„Ja, ich weiß und das lässt sich nicht ändern.“
„ … und Du bist ganz lieber … schade, dass das keine Zukunft für uns hat.“
Der Kuss ersparte mir, dass ich das bestätigen musste. Zwischen Erleichterung und Dankbarkeit, spürte ich auch so was wie Verlust und Trauer.
Es tat uns beiden gut, wie Jörg die passenden Worte gesagt hatte und als er mich aufmunternd knuffte, kam auch die Lockerheit zurück.
Zum Abschied tauschten wir unsere Telefonnummern aus, versprachen uns, dass wir im nächsten Jahr uns wieder sahen, und ich nahm auch seine Einladung, ihn in Berlin mal zu besuchen, an. Ich brachte Jörg zu seinem Hotel, widerstand seiner offensichtlichen Aufforderung mitzukommen und wünschte ihm zum Abschied noch einen schönen letzten Urlaubstag.
Die folgenden Tage blieb das Wetter wechselhaft. Die Arbeit war somit weniger so stressig und ich fand endlich Zeit, meine kleine Wohnung aufzuräumen. Es war höchste Zeit, dass ich die Wäsche in den Schrank legte. Zwischenzeitlich telefonierte ich entweder mit Mark oder Bastian und wir planten, dass wir uns am Samstag in der Disco wiedersahen. Dass ich Jörg einen Korb gab, wollte oder konnte zwar keiner der Beiden verstehen, doch für mich war der Schlussstrich unter die einmalige Urlaubsaffäre bereits gezogen. Als ich die Zulassung zum Studium erwähnte, die mich für die nächsten Jahre an Rostock band, war das für sie nur ein Grund, dass wir am Samstag etwas zu feiern hätten. Schließlich gab ich auf, weitere Gründe anzuführen, denn sie nahmen mich nicht mehr ernst. Eine weitere SMS von Kevin, worin stand, dass er mich mehrmals nicht erreichen konnte, löschte ich ohne Rückruf.
Als hätte selbst das Wetter einen ganz bestimmten Rhythmus, weckte mich am Samstag eine strahlende Sonne am Himmel. Ich fühlte mich gut und ausgeschlafen. Wie ich meine Eltern im Restaurant sah, wünschte ich einen wunderschönen Tag und freute mich über ihre ungläubigen Gesichter.
„Guten Morgen, mein Junge“, sagte Mutter und schien zu überlegen, woher meine gute Laune kam.
„Dir geht es doch gut?“
Vater fühlte meine Stirn, als könnte ich fiebern, doch ich konnte ihn gleich beruhigen.
„Ach, was ihr immer gleich habt. Es scheint die Sonne, das merkt auch mein Herz.“
„Mutter, Max ist verliebt!“
„Nein!“, wehrte ich ab, ich fühlte mich schon deshalb gut, weil einfach ausgeruht war.
Wie wir alle im Restaurant feststellen mussten, wechselten wohl an diesem Wochenende die Urlauber, denn selbst bei dem herrlichen Wetter, blieb das massenhafte Kaffeegeschäft am Nachmittag aus. Selbst Mutter zuckte verwundert die Schultern, wenn man sie fragte, ob doch noch ein Bus mit Gästen kommen könnte.
Dass ich so zeitig mein Revier für das Abendgeschäft fertig hatte, gab mir Gelegenheit in Ruhe eine Zigarette rauchen zu gehen.
Punkt 18 Uhr trafen die ersten Gäste, die bereits ihren Tisch vorbestellt hatten, zum Abendessen ein. Viele der vorbestellten Tische gingen an Gäste, die eigentlich schon Stammgäste waren. Sie empfahlen auch das Restaurant stets weiter. Dass man vor allem wegen der Küche kam, sprach für das meisterliche Können meines Vaters. Die vielen Auszeichnungen und Urkunden hingen bescheiden in der Küche.
Als plötzlich der blonde Bengel, namens Kevin, zusammen mit seiner Familie, in meinem Revier stand, stockte mir für einen Moment der Atem. Völlig überrascht, wäre mir fast ein Glas vom Tablett gefallen. Sofort bemühte ich mich zur inneren Ruhe und ging ihnen entgegen.
„Guten Abend, Mümling. Wir hatten einen Tisch bestellt“, sagte der Mann, der unzweifelhaft sein Vater war.
„Guten Abend, Herr Mümling“, erwiderte ich freundlich. „ Ich darf vorangehen?“
Ich führte die Familie an ihren Tisch. Wie ich Frau Mümling den Stuhl hinschob, schätzte ich die Tochter als ungefähr gleichaltrig ein. Ich reichte allen die Speisekarte für den Abend und wünschte ihnen einen Guten Abend. An Kevin richtete ich einen kurzen Blick an dem er eigentlich sofort am Boden hätte liegen müssen. Wenn er mich auch noch angrinsen sollte, überlegte ich, würde mir beim Servieren sicher etwas auf seine tuntig weiße Hose fallen. Dass ich mich nicht so geben konnte, wie ich wirklich war, zeigte mir auf, dass ich noch lange nicht wirklich frei war. So ist nun mal das Leben, das hier ist dein Job, hämmerten meine Gedanken. Ich hatte mich wieder vollends im Griff und übernahm sogleich die Initiative.
„Wünschen Sie einen Aperitif?“, fragte ich höflich und nahm die Bestellung entgegen.
Am Büfett zog mich Mutter zu sich.
„Weißt Du wer das ist?“, fragte sie wichtig tuend und schob auch gleich die Antwort hinterher. „ Das ist Professor Mümling, der Chefarzt, mit seiner Familie. Der hat damals Deinen Vater operiert.“
„Aha“, sagte ich nur und wurde sogleich sanft ermahnt, dass ich auch der Küche Bescheid gab.
Wenn es um die geschäftlichen Interessen der Eltern ging, verbat ich mir kleine Scherze. Das verstand sogar ich, doch wollte ich bei Kevin selbst eine Ausnahme machen. Ich sah es schon direkt vor mir, wie er aufsprang und um seine tuntige Hose weinerlich jammern würde.
Wie ich eine weitere Bestellung in die Kasse tippen wollte, wies mich Mutter an, die Getränke an den Tisch zu bringen.
„Nun mache mal keine Welle. Immerhin ist mein Revier voll und wir sind kein Schnellimbiss.“
„Ach Junge, Du weißt doch gar nichts. Wenn der nicht gewesen wäre, ich weiß nicht, ob Dein Vater heute in der Küche stände.“
Ich wollte auch nichts verstehen müssen und schüttelte nur den Kopf.
„Wenn es Dich beruhigt, ich mache denen einen unvergesslichen Abend, ok?“, entgegnete ich gereizt und erinnerte Mutter an meine weiteren Bestellungen.
Während ich an den anderen Tischen bediente, beobachtete ich den Tisch der Mümlings aus dem Augenwinkel. Noch blätterten alle die Speisekarte durch und schienen sich über die Speisefolge leise zu einigen. Noch war ich mir darüber unschlüssig, ob ihre Anwesenheit rein zufällig oder vielleicht dadurch zustande kam, dass der Bengel nachgeholfen hatte.
„Wer hat den Tisch überhaupt bestellt?“, erkundigte ich mich bei meiner Mutter. Sie glaubte sich zu erinnern und meinte, dass wohl der Junge am Wochenanfang angerufen hatte. Jedenfalls, da war sie sich dann sicher, nicht der Professor selbst oder seine Frau.
Wie Vater auch noch am Büfett auftauchte und mit einer neu umgebundenen Schürze an den Tisch ging, war mir klar, dass es meinen Eltern ziemlich wichtig und ernst war. Also vergaß ich alle meine Absichten und befand, es genügte Kevin zu ignorieren. Ich legte meine freundlichste Miene auf. Sicherlich, so gut kannte ich mich selbst, bekam ich ein anderes Mal eine passende Gelegenheit, ihm eine Lektion zu erteilen.
Familie Mümling entschied sich für das Menü, welches ihnen der Küchenchef vorschlug und wie ich Vater kannte, zauberte er für sie regelrecht. Während ich meine Servierarbeiten im Revier erledigte und sich dabei auch mit Kevin die Blicke trafen, spürte ich, wie er mich beobachtete. Ich fragte mich ernsthaft, wieso er gerade für mich Interesse besaß. Doch ob es sich wirklich um Interesse handelte, strich ich gleich wieder. Schließlich hatte Bastian, seinem Beuteschema folgend, ihn wohl in der Disco gesichtet und mit ihm getanzt. Ich erinnerte mich, dass Kevin für Stunden zusammen mit Mark und Bastian verschwunden war. Wie ich die beiden Freunde nun mal kannte, aus ihren Händen konnte so leicht keiner entwischen. Ich entschied, ich machte mir etwas vor. Dieser Bengel machte seine ersten schwärmerischen Erfahrungen durch, mehr nicht. Alles nur Zufall, wie auch dass er mich anhielt, um nach Hause zu kommen. Nur in einem war ich mir sicher, in Lichtenhagen wohnte der bestimmt nicht.
„Max?!“, hörte ich Heike, die das gegenüber liegende Revier inne hatte, und verwirrt merkte ich, dass ich immer noch nachdenklich am Servicetisch im Revier stand.
„Alles ok, nichts passiert“, scherzte ich und brachte endlich die leeren Teller weg.
Die Familie Mümling, die sich beim Hinausgehen nochmals für das gute Essen und den schönen Abend bedankte, war schon eine Weile weg. In der Küche erwartete mich Svenja, die für die Geschirrspülung zuständig war und übergab mir eine benutzte Serviette.
„Max, heute Abend im „Z“, K.“, stand darauf. Ich fasste es nicht, doch ehe Svenja damit noch die Runde machte, steckte ich lieber die Serviette ein. Die plötzliche Idee, Mark und Bastian abzusagen, verwarf ich gleich wieder. Dazu war es bereits zu spät und überhaupt, warum wollte ich einen Rückzieher machen. Kevin zu sagen, dass ich kein Interesse an ihn hätte, sollte kein Grund für ein Fernbleiben sein, selbst auf die Gefahr hin, diesem Knaben damit weh zu tun. Ich nannte mich schließlich einen Narren, dass ich mir überhaupt darüber Gedanken machte. Er war immerhin nicht der Erste, dem ich eine Abfuhr erteilte. Ich hatte mich nie einfach vereinnahmen lassen.
Nach der Abrechnung bei meiner Mutter, trollte ich mich eilig davon.
Schon eine knappe Stunde später knöpfte ich mir Mark und Bastian zugleich vor und schleppte sie vor die Disco.
„Das glaubt ihr nicht, doch heute war das Landei, samt Familienanhang im Restaurant“, entrüstete ich mich. „Was habt ihr ihm noch alles über mich erzählt?“
„Hm, mal überlegen …“, grübelte Bastian laut. „Deine Nummer, wo Du wohnst und was Du so machst und …“
Ich wartete ungeduldig und Bastian schaute verlegen zu Mark, der bis dahin stur wegschaute.
„Max“, ergänzte Mark, „ der Kevin steht auf Dich! Der wollte einfach alles über Dich wissen. Wir sind dem völlig schnuppe gewesen.“
Wie zur Bestätigung nickte Bastian kräftig.
„Ihr Blödmänner, seit ihr echt so kaputt im Kopf. Von Freunden habe ich echt mehr Verständnis erwartet und Verschwiegenheit ebenso, … ihr Schwuletten!“, und setzte gleich noch hinterher: “Ihr wisst doch, ich entscheide selber mit wem ich was oder wie habe!“
Ich schrie sie förmlich an, so ärgerte ich mich darüber. Dass man sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite nach uns umdrehte, war mir in dem Augenblick völlig egal.
Ich drehte mich von den beiden ab und ging ein paar Schritte. Etwas beruhigt, ging ich auf sie zu und sagte ihnen, sie sollten den Jungen ab sofort ignorieren.
„Entschuldige, aber wir dachten …“, sagte Mark noch, doch ich hielt mir die Ohren zu, bis sie beide im Eingang der Disco verschwanden.
So aufgebracht wie ich mich fühlte, wollte ich Mark und Bastian nicht folgen. Ich lief die Straße entlang, rauchte und überlegte, wie der Abend noch zu retten war. Den Streit mit den beiden Freunden würde ich mit ein paar Gläsern Prosecco schnell beenden und vergessen lassen können, das war für mich das kleinste Übel. Anders verhielt es sich mit Kevin. Seit er im Restaurant auftauchte, galt er für mich als verwöhnter Junge, der seinen Willen durchsetzen wollte. Wie ich in seinem Alter war, sah ich mich nicht nach älteren Jungen um. Im Gegenteil, da war einer mit Zweiundzwanzig für mich schon ein „alter Sack“. Sicher, Steffan war damals älter als ich, eine absolute Ausnahme eben, der vor allem durch seine jungenhafte Art bei mir punktete. Dass ich ihn zu lieben glaubte, kam erst später. Doch je mehr ich gerade über Steffan nachdachte, je mehr Zweifel kamen mir, ab wann oder ob ich Steffan überhaupt geliebt hatte. Hatte ich bislang überhaupt schon mal geliebt? Klar, meine Eltern liebte ich, wie Kinder eben ihre Eltern liebten. Doch das empfand ich nicht als besonders. Wo war wirklich das Besondere an Steffan? Bei ihm empfand ich Zuneigung, Vertrauen, Hingabe und lernte die ersten sexuellen Erfahrungen kennen. Wieso konnte ich nicht sagen, was er für mich fühlte? Auf das Gerede nach seinem Tod, dass er mich und viele andere auch nur betrogen hatte und leichtsinnig beim Sex vorging, gab ich nichts. Klatsch und Tratsch, wie er in der schwulen Community üblich war, waren mir selbst immer fremd.
Wie sich die Gedanken in meinem Kopf immer komplizierter anfühlten, machte ich kehrt und ging ins „Z“. Auf der Toilette ließ ich mir kaltes Wasser über den Kopf laufen.
Das Lied „Ich geh in Flammen auf“ von Rosenstolz kam mir gerade recht und ich sang laut mit. Schließlich hörte mich keiner oder sollte ich eher meinen, zum Glück nicht.
An der Bar bestellte ich mir ein Tonic-Water und setzte mich. Im Spiegel vor mir erkannte ich unerwartet Rico, der eigentlich Enrico hieß und hinter mir auf seine Getränke zu warten schien.
„Hey, Rico“, begrüßte ich ihn und er umarmte mich herzlich. Wir hatten uns gut ein halbes Jahr nicht mehr gesehen. Wir bestritten im letzten Jahr manches Volleyballspiel am Strand und waren kurz richtige Kumpels. Ich erkundigte mich, wo er abgeblieben war. Rico berichtete, dass er seit zwei Tagen wieder in der Stadt sei, nur mal die Eltern besuchte und in München Arbeit gefunden hatte. Leider war die Musik so laut, dass wir nur schreiend eine Unterhaltung führen konnten. Trotzdem erfuhr ich, dass in München ziemlich glücklich lebte und nicht so schnell zurück käme. Wie er seine Getränke bezahlt hatte und an seinen Tisch zurück wollte, wünschte ich ihm alles Gute. Schade, überlegte ich, wie er in der Menge wieder verschwand.
„Na, wieder beruhigt?“, fragte mich Bastian und schob seinen Arm über meine Schultern. Ich grinste und bestellte für ihn ein Glas Prosecco.
„Schatz, komm schnell … er beißt nicht mehr!“, schrie er nach Mark und ich ergänzte meine Bestellung um ein weiteres Glas beim Barkeeper.
„So Jungs … ich musste Euch das sagen, doch nun genug! Partytime!“, äffte ich Mark nach.
Wie stießen an und lagen uns kurz in den Armen.
Als ob an diesem Abend der DJ für mich ein Herz besaß, legte er mehrere Lieder von Rosenstolz hintereinander auf. Als dann die Marianne Rosenberg Hymne, wo sie darüber sang, dass er zu mir gehöre, für alle schwulen Jungen erklang, waren die Massen nicht mehr zu halten. Die Stimmung zwischen uns dreien war lange nicht so ausgelassen und harmonisch. Selbst ich schwang mich auf die Tanzfläche und „steppte“ mit Mark und Bastian zu Bon John Jovis „Have a Nice Day“.
Schließlich gingen wir, schon zu den letzten Gästen gehörend, in den sonntäglichen Morgen. Bastian telefonierte nach einem Taxi. Selbst konnte ich nicht mehr fahren. Den Wagen ließ ich stehen und wollte nicht in der Nacht damit nach Hause fahren.
„Oh man, heute ist absolutes Ausschlafen angesagt“, sagte Mark und legte erschöpft seinen Kopf an meine Schulter.
„Sicher“, entgegnete ich tröstend, indem ich über seinen Rückenstrich, „auf mich wartet wieder eine Schicht.“
Ich hörte auf seinen gleichmäßigen Atem und man hätte denken können, dass er schon im Stehen schlief.
„Schatz?“, flötete Bastian laut herüber. „Ist dir nicht gut?“
„Max?!“, flüsterte mir Mark zu. „Sag‘ ihm niemals, dass ich ihn manchmal regelrecht hasse, ja?“
Ich rief Bastian zur gegenüber liegenden Straßenseite hinüber, dass alles bester Ordnung sei. Der schlenderte leichten Schrittes auf und ab und schaute nervös nach dem Taxi.
„Alles in Ordnung bei Euch?“
Mark löste sich von mir und wenn ich seinen Blick richtig deutete, glaubte ich zu wissen, dass Mark bereits eine bedeutsame Entscheidung getroffen hatte, nur jetzt nicht darüber sprechen wollte.
Ich unterließ weitere Nachfragen und wir gingen zu Bastian hinüber. Das Taxi bog in die Wismarsche Straße ein. Während der Fahrt übergab mir Bastian einen mehrfach gefalteten Zettel, den ich ungelesen einsteckte. Dass er von Kevin stammte, dachte ich mir auch so. Zumindest ließ der Bengel nicht locker, überlegte ich, und fantasierte schon, was ich ihm sagen wollte.
Zu Hause angekommen, duschte ich und fragte mich noch, was Mark vorhin angedeutet hatte, denn das klang nach Krise zwischen den Beiden.
Auf Kevins zerknülltem Zettel stand:
Lieber Max,
es wäre schön gewesen, wenn wir uns heute Abend gesprochen hätten. Wie Du, mit Mark und Bastian, so guter Laune warst, wollte ich mich nicht aufdrängen. Vielleicht telefonieren wir endlich miteinander. Bitte, ich melde mich morgen bei Dir,
mlG Kevin
Es erinnerte mich ein wenig an meine Schulzeit, als wir damals anfingen, auf diese Art Freundschaften zu schließen. Ich warf den Zettel weg und fiel erschöpft ins Bett.
Während der letzten Tage verging die Zeit wie im Gleichklang. Das gleichbleibend sommerliche Wetter beschied uns im Restaurant eis- und fischhungrige Gäste. Trotz aller Anstrengungen und zuweilen stressigen Stunden kam der Spaß unter den Kollegen nicht zu kurz. So ergab es sich, dass ich einen Abend mit Sven in den Studentenclub ging. Selbst mit Heike traf ich mich einmal nach Feierabend zu einem schnellen nächtlichen Nacktbaden.
Kevin rief mich natürlich am letzten Sonntag an. Anfangs blieb ich wortkarg, unterließ es aber doch, ihn mit einem deftigen „Leck mich!“ abzufertigen. Stattdessen musste ich abwehren, dass er mich gleich zu Hause besuchte. Doch kam ich um ein Gespräch nicht mehr herum. Scheiße, dachte ich verwundert, der kann verhandeln. Den Termin schob ich aber so weit wie möglich hinaus. Schließlich einigten wir uns auf meinen nächsten freien Tag. Das gab mir noch genug Zeit, da ich immer noch unschlüssig war. Als Kevin zwei Tage später, gerade im dicksten Eisgeschäft, nochmals anrief, musste ich ihm doch harsch und unmissverständlich klar machen, dass ich bis Montag, 15 Uhr, sehr wenig Zeit hätte.
Am Samstag stand nach Feierabend plötzlich Mark am Hintereingang des Restaurants. Mit dicken Augenrändern – ab wann sind Männer eigentlich erwachsen, dass sie ihre Gefühle im Griff haben? - und von Heulkrämpfen geschüttelt, wie ein ausgewachsener Haufen Elend und sagte nur, dass er Bastian rausgeworfen hatte.
„Hey, wieso?“, wollte ich besorgt wissen.
Schwer schluchzend fiel er mir in die Arme und stotterte mehr, dass Bastian längst mit einem Anderen rummache.
„Komm, wir gehen zu mir“, und schob ihn mehr zu meiner Wohnung.
Ich setzte zuerst Kaffee auf und während das Wasser durchlief, duschte ich. Mark lag mehr auf meinem Sofa und schnäuzte sich dauernd. Mühsam bekam er sich in Griff und konnte wieder sprechen.
„Das geht doch schon eine Weile so mit ihm, hast du denn nichts bemerkt?“, entrüstete er sich, wild gestikulierend.
Ich schüttelte hilflos den Kopf und legte beruhigend den Arm um ihn. Ich versuchte Anhaltspunkte bei Bastian zu finden, doch auf mich wirkte er in den letzten Wochen nicht anders, als sonst auch.
„Die Drecksau!“, ereiferte sich Mark und berichtete, dass er Bastian, mit einem ziemlich schmuddeligen Typen, im Schlafzimmer vorfand. Völlig außer sich, stellte er ihn zur Rede. Bastian warf Mark vor, dass ihre Beziehung nur noch langweilig sei. Dann gab ein Wort das andere und sie machten sich gegenseitig nur noch Vorwürfe. Mark warf ihm Faulheit und Bequemlichkeit vor und dass er ihn durchfüttere und Bastian erwiderte, dass er ihn ständig für dumm erklärte.
„Na, mal ehrlich, Max?“, stellte Mark fest, doch ich schwieg. Darüber zu urteilen hätte bedeutet, Bastian recht zu geben. Mark besaß sicherlich einen höheren IQ, doch damit hielt er sich auch nicht gerade zurück. Manchmal war es schon peinlich, wenn er Bastian damit regelrecht vorführte.
„Schließlich kam es am Nachmittag zum großen Eklat. Bastian rastete völlig aus. Schrie, dass er mich nur noch hasse. Bei jeden weiteren Satz schmiss er einen Teller an die Wand und demolierte sogar meinen Laptop“, berichtete Mark. „Da war das Fass voll und ich handelte. Erst packte ich seine Sachen in einem Koffer und wie er nicht gleich gehen wollte, warf ich den Koffer aus dem Fenster.“
Ich hörte Mark wortlos zu.
„Ich bin im ganzen Hauseingang blamiert“, jammerte Mark schwer schluchzend und ich reichte ihm ein neues Taschentuch. Wie Mark den aufgestauten Kummer mehrmals schnäuzend los war, fand er zu seiner Fassung zurück und brüllte in seiner ganzen Verzweiflung: „Der Arsch!“
„Das vergeht, zur Not kannst Du umziehen.“
In den folgenden zehn Minuten des Schweigens tranken wir Kaffee.
„Ach Max, was soll jetzt nur werden?“, fragte er mich müde.
„Mark, Markilein …“, sagte ich aufmunternd, „darüber kommst Du doch hinweg.“
Wie er so neben mir saß und die traurigen Augen mich erwartungsvoll anschauten, tat er mir richtig leid und ich umarmte ihn. Wer Mark kannte, wusste auch, er würde noch ein zwei Wochen traurig jammern, doch danach die Beziehung, als eine schlimme Erfahrung, endgültig abhaken. Allzu lange würde er nicht allein bleiben, soweit kannte ich ihn.
An einen Discobesuch dachte keiner von uns, doch hier noch stundenlang sein Jammern zu hören, darauf hatte ich keine Lust. So schlug ich Mark vor, einen Spaziergang am Strand zu machen. Frische Luft tat immer gut und mitunter passierte es, dass sie sogar die Gedanken aufhellte.
Das Licht von der Promenade schien herüber und mit der Zeit gewöhnten sich die Augen an die Dunkelheit. Der warme Nachtwind fühlte sich auf der Haut gut an. Die hell erleuchteten Fenster des Hotels „Neptun“ und der angrenzenden Häuser bildeten dazu eine harmonische Kulisse. Auf der Höhe des Hotels machten wir kehrt.
„Weißt Du was das Schlimmste im Moment für mich ist?“, fragte mich Mark und stellte sich mir in den Weg.
Ich schüttelte den Kopf und wie er sagte, dass er seit drei Tagen nichts richtig gegessen hatte, musste ich herzhaft lachen. Das war wieder der Mark, den ich kannte und zog ich ihn vom Strand weg.
Im Kühlschrank fanden sich Eier und Speck, auch Brot war in meiner Küche noch vorrätig. Mein letzter Vorrat an Prosecco war es Wert getrunken zu werden und wir stießen auf eine bessere Zukunft an.
Gegen Mittag weckte mich das Handy.
„Guten Morgen, wie wäre es mit Frühstück?“, flötete Mark aus dem Handy, dem ich auf der Couch ein Schlaflager bereitet hatte.
„Wo?“, fragte ich kurz.
„Familytisch“, gleich nebenan ... und … mit zwei wundervollen Typen, die musst Du kennen lernen.“
Das hieße dann, dass es ihm bereits besser ging und er meine Eltern informiert hatte, schlussfolgerte ich und legte auf.
„Moin moin“, begrüßte ich allesamt noch etwas müde. Wir hatten bis in den Morgen noch miteinander erzählt. Dass wir sogar über diesen Kevin sprachen, störte mich schon weniger. In der Szene gab es eigentlich keine Geheimnisse und es war eben allgemein bekannt, dass Mark und Bastian gern ihren Spaß mit anderen teilten. Er und Bastian glaubten anfangs wirklich, dass der Kevin nur mal an ihrem Spaß teilhaben wollte. Doch dann fragte er sie regelrecht nach mir aus. Mark meinte, ich solle mir nicht so viele Gedanken über Kevin machen. Seine Einschätzung über Kevin hieß, gutaussehend, richtig niedlich, herrlich unerfahren und naiv, ja ernsthaft nannte er ihn sogar einen, für den sich Schwiegermütter scheiden lassen würden.
„Guten Morgen, mein Junge“, begrüßte mich Mutter, die hinzugekommen war.
Mutter setzte sich zu uns und wie sie Marks Hand tätschelte, war mir klar, dass sie seinen momentanen Beziehungsstress bereits kannte. Dass Vater ihm sogar Frühstückseier gekocht hatte, registrierte ich nur kopfschüttelnd und zündete mir eine Zigarette an.
Vor fast zwei Jahren, Mark hatte Bastian gerade bei sich aufgenommen, stellte ich sie als meine Freunde vor. Kaum saßen sie am „Familytisch“, zogen sie eine aufgesetzte, tuntige Nummer ab. Der Verzweiflung nahe und unter den befremdlichen Blicken meiner Eltern, bemühte ich mich zu klären, dass das nur Spaß wäre. Wie Vater sich in seine Küche verdrücken wollte, machte Mark dem Spuk ein Ende. Mutter schloss Mark in ihr übergroßes, mütterliches Herz. Im Laufe der Zeit gab es sogar Situationen, wo sie ihn mir als Beispiel vergleichend darstellte. Der arme Junge, die Eltern geschieden, hin und her geworfen, der auf sich allein gestellt, die ersten Lebenserfahrungen machen müsse. Während ich einwarf, dass Mark sie eingewickelt hatte und es durchaus faustdick hinter den Ohren hätte, blieb sie unbeirrt darin, dass er studierte, zeige doch, dass er trotz allem wusste, worauf es im Leben ankommt. Doch eher wäre ein Kamel durch die Ostsee geschwommen, als das sie ihn ausschloss.
„Dein Freund ist auch meiner“, blieb sie dabei und ich gab auf.
Ich wollte immer, dass die Zeit auf dem Gymnasium nie endet und dann schwankte ich zwischen Ausbildung oder Studium. Ohne zu einem Entschluss gekommen zu sein, legte ich erst mal das Abiturzeugnis in die Schublade. Ich ließ Mutter über Mark reden. Sie kannte nicht die ganze Wahrheit über ihn. Manchmal kam mir das Gefühl, sie würde in ihm den Sohn sehen, den sie immer wollte. Doch zum Glück irrte ich darin. Für mich war damals Steffan wichtig und während ich beim Bund war, wollte ich im Grunde nur Bedenkzeit für mich gewinnen.
Danach, als die Beziehung mit Steffan ein jähes Ende fand, stand ich immer noch ratlos vor dem Nichts. Schließlich nahm ich Vaters Angebot an, vorerst im Restaurant zu arbeiten. Eine richtige Ausbildung als Restaurantfachmann zu machen, kam mir nicht in den Sinn. Die Ferienwohnung war für mich mittlerweile ein Zuhause geworden und preiswert noch dazu. Doch so wie meine Eltern ein Leben im Restaurant zu führen, schloss ich aus.
Vaters Handy klingelte und kurz darauf wischte er sich über sein Gesicht, was hieß, es gab Probleme.
„Svenja fällt aus“, sagte er, weil das Kind wegen eines Badeunfalls ins Krankenhaus muss.
„Und das am Sonntag“, ergänzte Mutter.
Ehe ich gegen den gewöhnlichen Vorschlag meiner Eltern, dass ich einspringen müsse, protestieren wollte, bot sich Mark sofort an. Vater rieb sich nachdenklich das Kinn, doch Mutter kam ihm zuvor und bedankte sich für sein Hilfsangebot. So schnell war das für sie besiegelt und ich drehte mich so, dass Vater mein Grinsen nicht sehen konnte.
„Du arbeitest in der Abwäsche. Nicht am Herd, nicht in der kalten Küche und ansonsten bring‘ mir nicht die Küche durcheinander!“, belehrte Vater ihn und grenzte schon mal das Terrain für Mark ein.
Mark versprach, die anfallende Arbeit ordentlich zu erledigen und damit könne er ja gleich das Frühstück und die weiteren Mahlzeiten abarbeiten.
„Das könnte teuer werden“, warf ich scherzhaft in die Runde, doch Mutter versprach ihm sogleich, dass Arbeit auch bezahlt werden muss.
Später hörten wir gelegentlich aus der Küche, wie Geschirr zu Boden fiel. Mark stand schweißnass vor der Spülmaschine und wischte sich dauernd das Gesicht. Auf dem Boden lagen die Splitter von Tellern, die er mit den Füßen zusammen schob.
„Hey Mann, da fielen wieder für zwei Stunden Lohn auf den Boden“, scherzte ich. Die Stapel benutzten Geschirrs wuchsen auf dem Rückgabetisch. Mark fluchte und jammerte zugleich, dass ihm das unfair vorkäme und allein nicht zu schaffen wäre.
Vater sah von der Ausgabe zu, wie sich Mark zwar mühte, doch noch immer kein System in seinem Tun erkennen ließ. Kopfschüttelnd zeigte er Mark nochmals die Abläufe und worauf er achten muss.
Während die Köche längst weg waren, werkelte er immer noch an der Spülmaschine, „Ich bin fix und fertig!“
„Ja, ja, von wegen das bisschen Tellerwaschen“, witzelte ich.
Erschöpft schleppte sich Mark zum „Familytisch“ und ließ sich auf den Stuhl fallen. Die völlig verschwitzte Kleidung klebte an seinem Körper. Das Gekicher der Kollegen nahm er billigend in Kauf. Meine Mutter brachte ihm eine Schorle, die er ohne Absetzen austrank. Fast schon flehend bat er um ein weiteres Glas.
„Also, zusammen mit dem Essen und den Getränken … mal überlegen“, stichelte ich, „da bekomme ich noch 20 Euro von Dir.“
In das große Gelächter am Tisch, sagte meine Mutter, dass das schon in Ordnung ginge und erinnerte sogleich, wer von den Anwesenden, sie eingeschlossen, schon was fallen ließ.
„Max, ich sage nur … Jugendweihe.“ Schon verstummte ich verlegen, denn das war echt peinlich damals. Beim Servieren der Getränke, fiel zwar nichts zu Boden, doch schüttete ich einem Gast das Bier voll über den Rücken.
„Genug, genug, hier ist meine Abrechnung.“
Nacheinander übergaben die Kollegen ihre Einnahmen und verabschiedeten sich.
Wir saßen noch zusammen und langsam erwachte auch Mark wieder. Da Svenja auch am nächsten Tag nicht erscheinen würde, sagte Mark, ohne langes Bitten, sofort zu.
„Im Moment lenkt mich das noch am besten ab.“
„Arbeit ist die beste Medizin“, sagte ihm Vater. „Bitter, aber tut auch gut.“
Als wir uns später hingelegt hatten und ich glaubte eingeschlafen zu sein, stand er plötzlich nackt vor mir.
„Darf ich zu Dir?“, fragte er und ich rückte ein Stück zur Wand.
„Aber nur zum Schlafen“, um mehr ging es Mark auch nicht.
An meinen freien Tagen pflegte ich mindestens bis Mittag zu schlafen. Darin hatte ich keine Schwierigkeiten. Doch zusammen mit Mark war das unmöglich. Kaum erwacht, fühlte ich, wie seine Finger über mich strichen und wenn ich sie, mürrisch knurrend, weg schob, küsste er mich im Nacken.
„Aufstehen, mein kleiner, lieber Max, Kevin wartet …“, flüsterte er mir direkt ins Ohr.
Wie aus dem Nichts sprang ich wütend auf, schubste ihn auf das zerwühlte Bett und drückte seine Handgelenke fest.
„Lass das! Sonst …“, auf ihn sitzend, bemerkte ich seine Morgenlatte und unterließ weitere Drohungen, „ … geh lieber pinkeln, los!“
Neun Uhr zeigte der Wecker. Obwohl helllichter sonnenklarer Morgen, war es für mich mitten in der Nacht. Ich ging ins Bad, wusch und rasierte mich.
Für ein normales Frühstück, mit Brötchen und Marmelade, fehlten mir die Grundlagen. Mit einem Kellnerfrühstück gab sich Mark nicht zufrieden, da ein ordentliches Frühstück die beste Grundlage für den Tag sei, und rannte gleich selbst in den Discounter.
Ich räumte seine Schlafstätte weg und trank nebenbei den ersten Kaffee. Noch eine Nacht wollte ich nicht mit ihm in einen Bett schlafen. Da es anscheinend mit seinem Einkauf länger dauerte, saugte ich auch noch gleich durch und räumte sogar die Küche etwas auf.
Allein ließ ich mir viel Zeit mit dem Anziehen, doch wie Mark zurück kam, war ich auch schon angezogen und wir deckten den Tisch.
„Was wollt ihr denn heute gemeinsam unternehmen?“, fragte Mark. Die Neugierde brannte ihm auf der Seele.
„Ich habe echt keine Ahnung.“
So sehr ich auch überlegte, mir fiel nichts ein. Es sollte auf keinen Fall schwulentypisch wirken. Also strich ich schon mal vorsichtshalber, dass wir auf einen Strandbesuch bei den Gays oder ins „Nr. Sieben“ gingen. Überhaupt wollte ich nicht nach Rostock hinein fahren oder in Warnemünde sein, da uns dort sicher einer von den Tratschtypen sah.
Mark grübelte vor sich hin, kaute schon an seinen dritten Brötchen und ich überlegte, wie er es schaffte, dabei so dünn zu bleiben.
„Nimm‘ es mir nicht übel“, überlegte er laut. „Du stellst Dich an, als hätte er die Pest.“
„Pass mal auf“, entgegnete ich sogleich scharf, „was soll ich mit dem Schuljungen anfangen. Er geht sicher brav auf das Gymnasium.“
Mark hörte sich geduldig an, wie ich weitere Bedenken anführte, angefangen über gegensätzliche Freizeit, dass er eine privilegierte Lebensauffassung habe und überhaupt käme ich mir ihm gegenüber schon ziemlich alt vor.“
Mark lachte lauthals darüber und schlug sich auf die Schenkel.
„Max“, schulmeisterte er, „das klingt eher danach, dass Du ihn schon magst.“
„Quatsch!“, wehrte ich ab. „Du hast keine Ahnung.“
Ich erinnerte Mark, dass wir immer noch keine Idee hatten.
„Wie wäre es damit … ach nein, geht auch nicht. Moment, ich habe es gleich …“, alberte er weiter und nahm einen großen Schluck Kaffee.
„Zoo?“, ich schüttelte gleich den Kopf. Nein, so kamen wir nicht weiter, sagte ich mir und zündete eine weitere Zigarette an.
„Wieso bist Du so nervös?“, meinte er gleich. „Also ich würde ja …“
„Ich mach’ es aber nicht so“, warf ich ihn gleich an den Kopf, denn was das hieß, wusste ich. Mark wählte Jungs rein nach dem Äußeren aus. Das wesentliche Maß lag in der Größe der Beule im Hosenschritt. Erst danach entschied das Aussehen. Wenn der Sex befriedigend war, überging er gern eventuelle Mängel im Kopf. Das machte es ihm leichter, seine Überlegenheit ins Spiel zu bringen.
Plötzlich fragte er nach Sven. Ich schaute ihn verwirrt an, dass er seine Augen wohl schon auf einen neuen Gefährten gerichtet hatte. Ich sagte nur, dass Sven, als Student ein Streber sei und ansonsten auf Leder stände.
„Ups.“
„Also, lenke jetzt nicht ab und gib mir endlich einen Tipp!“
„Hafenrundfahrt.“
„Hafenrundfahrt?“, wiederholte ich und suchte nach dem Sinn des Wortes.
„Genau. Da seid ihr unter Euch, nur mit älteren unbekannten Touristen, könnt nicht voreinander weglaufen oder ich finde Euch zwei Stunden später hier in Deinem Lotterbett wieder.“
Mit dem Grinsen spielte er auf seine Genialität an.
„Du bist heute Abend wieder bei Dir, denk an Deine Blumen, die brauchen Wasser“, entschied ich sofort und ließ mich von seinem aufgesetzten Schmollmund nicht beirren.
Eigentlich hatte Mark damit recht. Für einen der in Warnemünde aufgewachsen war, stellte sich eine Hafenrundfahrt eher als etwas Langweiliges dar.
Ich schickte Mark rechtzeitig ins Restaurant und stand, fast der Verzweiflung recht nahe, vor meinem Kleiderschrank. Die Auswahl hielt sich in Grenzen, da mir abwechslungsreiche Outfits nicht so wichtig waren, als die Marke des Herstellers. Meist mit Jeans und T- oder Sweatshirts, sah man mich wenig im normalen Hemd oder Hosen aus feinem Tuch. Ich probierte Bluejeans mit rotem Kurzshirt, grauem Muskelshirt oder Langshirt und zog sie doch wieder aus.
Schon wieder verschwitzt, legte ich nun die jeweiligen Kombinationen auf das Bett und entschied mich für die graue Leinenhose, mit einem weißen, kurzärmligen Shirt. So vor dem Spiegel stehend und die Augen mit Sonnenbrille abgedeckt, befand ich mich noch älter aussehend und als landfein genug.
Der Leuchtturm war nicht nur Wahrzeichen und Touristenmagnet der Stadt. Dass man sich hier verabredete, machte ihn zum beliebtesten Treffpunkt, und es war übersichtlich, sich auch gleich zu finden. Ich sah Kevin beim „Teepott“, zumal er wiederholt ganz in weiß gekleidet erschien.
Ihm die weiße Jeans auszureden, verschob ich aber auf einen unbestimmten Zeitpunkt. Mit der Sonne im Rücken ging ich auf ihn zu und amüsierte mich über seinen blinzelnden Blick, der eine verschmitzte Grimasse hervorrief.
„Hey.“
„Hallo Max“, seine Freude war offen und ehrlich, doch auch die Befangenheit war unübersehbar. Als Raucher war es für mich leichter so was zu überspielen, aber Kevin spielte verlegen mit dem Gürtel seiner Hose.
„Wollen wir gehen?“, machte ich den Anfang und ging fest entschlossen in Richtung Alter Strom voraus. Genau dahin, wo die Barkassen der Hafenrundfahrt vor Anker lagen, aber man auch vor lauter Touristen kaum das Straßenpflaster sah. Immer öfters rissen uns entgegenkommende Menschen auseinander und ein Gespräch war so unmöglich. Jeder Einheimische wich im Sommer von vornherein der Touristenflut aus und kam schneller über die Seitenstraßen von Warnemünde an sein Ziel.
Vor einem der Ankerplätze war auf dem Schild zu lesen, dass die nächste Rundfahrt um 16 Uhr erfolgte. Das hieße, erst in einer dreiviertel Stunde, und ich gab schließlich meinen Plan auf. Kevin, der mir immer treu folgte und nichts sagte, schaute nicht schlecht und erkannte wohl meine Absicht.
„Wie wäre es mit Eis?“, schlug ich vor und ging zur nächsten, der menschenüberfüllten Terrassen vor den Cafés.
„Wie lange wollen wir warten, bis einer aufsteht?“, fragte ich und Kevin schien bereits echt angesäuert.
Also gingen wir, diesmal dem Menschenstrom folgend, zurück zur Promenade.
Am „Teepott“ wieder angekommen, schlug Kevin vor, entweder an den Strand zu gehen, „denn Hafenrundfahrt ist doch echt bescheuert, und dass mit dem Eis essen könnten wir am ehesten noch bei Deinen …“
„Vergiss das mal gleich. Ich lasse mich nicht von meinen Kollegen bedienen“, unterbrach ich ihn.
„Ist ja gut“, wehrte er ab und setzte sich auf die Mauer, die die Promenade von den Dünen abgrenzte.
Das ging bis jetzt schon mal schief, resümierte ich still. Im Schutz der Sonnenbrille, konnte ich jede Reaktion von Kevin genauestens beobachten. Es amüsierte ich mich, wie er sich mühte, nach außen hin ruhig und gelassen zu wirken.
„Kevin, noch da?“, fragte ich vorsichtig, da es langsam bedrohlich erschien, wie er so schweigsam da saß.
„Gut Max, Du willst doch gar nicht …“ Er biss die Lippen zusammen und ließ die Bemerkung offen, doch es klang zugleich endgültig.
Ich nahm die Brille ab und suchte seinen Blick. „Sorry, war nicht beabsichtigt.“ Es entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber ich gestand mir ein, dass Kevin das nun doch nicht verdient hatte.
Kevin wich meinem Blick aus und machte dicht. Damit hatte ich wohl den Bogen bereits überspannt und hätte eigentlich am Ziel meiner Absicht sein können. Nur reizte es mich, diesem kleinen, trotzig verwöhnten Bengel seinen Starrsinn zu brechen.
Um Kevin versöhnlicher zu stimmen, schlug ich doch tatsächlich vor, dass wir das Eis auch bei mir essen könnten.
Nach einer endlos langen schweigsamen Minute, fragte Kevin, ob ich immer bestimmen müsse.
„Eigentlich ja, doch hast eine bessere Idee?“
„Nein.“
„Dann komm.“
Ich erinnerte mich, dass wir zur Ferienwohnung auch Sonnenschirm und Mobiliar für die kleine Terrasse in der Garage lagerten. Ich bat Kevin die Sachen aufzustellen, während ich das Eis besorgte.
Mark staunte nicht schlecht, als ich bei meiner Mutter die Bestellung für zwei ‚Spezialeisbecher‘ aufgab.
„Ich wusste gleich, dass Du das versaust“, kopfschüttelnd stapelte er das benutzte Geschirr in die Gitterbox, während ich bemüht war, ernst zu bleiben.
„Du hast Besuch?“, fragte Mutter und wie ich merkte, dass sie gern mehr erfuhr, gab ich ihr einen Kuss auf die Wange und vertröstete sie auf später.
Zurück, waren Tisch und Stühle bereits aufgestellt und Kevin damit beschäftigt, den Sonnenschirm aufzuspannen. Ich stellte das Tablett mit den Bechern ab und holte ein Badetuch aus der Ferienwohnung. Kevin bedankte sich dafür, dass ich gleich an seine weiße Hose dachte.
„Du wohnst hier?“
„Ja, mein eigenes Reich“, erwiderte ich, nicht ohne Stolz mitklingen zu lassen.
Wir löffelten an unserem Eis und Kevin blickte sich wortlos um. Der kleine Garten, den Vater jährlich anlegte und der vor allem viele Kräuter enthielt, schien ihn besonders zu interessieren.
„Wieso warst am Samstag nicht bei der Disco?“, wieder zu mir gewandt.
„Ach, Mark, hat ein paar Probleme im Moment, da ging es eben nicht.“
„Wegen Bastian?“, fragte Kevin.
„Ja“, mehr wollte ich dazu nicht sagen und löffelte fleißig, weil die Hitze das Eis schnell schmolz.
Kevin wusste sogar mehr, als selbst Mark zu glauben schien. Geduldig zuhörend vernahm ich, dass Bastian schon wochenlang mit einem René durch die Szene zog. Der habe Bastian den Kopf auch damit verdreht, dass er bei ihm gutes Geld als Darsteller in Pornos verdienen könne. Nicht eben so normale, sondern bare back.
Schau an, überlegte ich, der Bengel war wohl journalistisch in der Szene unterwegs. Was er erzählte, erfuhr ich nicht im ganzen Jahr, weil es mich aber auch nicht interessierte.
„Dein Eis!“, unterbrach ich Kevin, denn was er erzählte, brachte mich richtig in Rage.
Klar, dass Bastian Geld brauchte, doch dafür seine Gesundheit absichtlich aufs Spiel zu setzen, schrieb ich eben seiner Dummheit zu. Geld, immer wieder Geld! Wenn auch Bastian keine große Leuchte abgab, so blöde konnte er nun wieder auch nicht sein. Wie oft hatten wir darüber diskutiert, dass man zwar bessere Medikamente entwickelt hatte, doch nur um vielleicht länger mit der Krankheit zu leben. Dass die Community den bare back Partys nichts energisch entgegen setzte, schrieb ich ihrer Unverantwortlichkeit zu, sich nur noch um jährliche CSD Events zu kümmern.
„Scheiße!“, schrie Kevin auf und hatte sich Schokoladeneis auf die weiße Hose gekleckert. Mir rutschte heraus, dass die Hose sowieso tuntig wirkte. Eigentlich wollte ich Kevin noch bitten, die großen Augen immer beizubehalten, doch schienen mir Wasser und ein sauberer Lappen wichtiger zu sein.
So sehr er auch rieb, es blieb ein ziemlich großer Flecken zurück. Es brachte ihn auf und wie er verzweifelt immer auf den Fleck schaute, tat er mir sogar ein ganz klein bisschen leid. Sicher mochte er diese Hose, wie ich vor Jahren einen Pulli über alles liebte. Der war wie eine zweite Haut für mich, in dem ich mich richtig wohlig fühlte. Bei einem meiner nächtlichen Abstecher auf dem Wall, blieb ich an einem rostigen Nagel hängen und riss der eine Dreiangel in den Pulli. Obwohl ich ihn nicht mehr anzog, er lag noch immer in meinem Schrank, auch weil manche schöne Erinnerung damit verbunden war.
„Hallo Sonnenschein!“, rief Mark freudig und kreischte auf, als er das Malheur sah. „Oh Gott, ein Fleck!“
Kevin behielt den hilflosen Blick und schaute uns abwechselnd an. Irgendwie fand ich es zu komisch, wie Kevin ungläubig hilflos auf uns schaute. Diesem Spruch ‚Wer den Schaden … braucht für den Spott …‘ folgend, unterdrückte ich den Drang, mich vor Lachen zu krümmen.
„Gut“, sagte ich wieder ernst. „Spaß beiseite. Ich schau mal nach einer Hose für Dich, ok?“
„Max findet sicher was für Dich“, beruhigte Mark ihn und fügte hinzu, als könnte er Kevin damit aufmuntern. „Die ersten Spermaflecken sind immer peinlich.“
Völlig aufgelöst, kam Mark mir nach, sprang er um mich herum und wollte wissen, was bisher war. Ich hielt ihm den Mund zu und bat ihn eindringlich endlich still zu sein.
Als er nickte, ließ ich ihn los und suchte nach einer Hose, die Kevin passen könnte.
„Wieso biste nicht an der Abwäsche?“, fragte ich barsch und Mark flüsterte was von Pause.
Oh man, auch das noch, überlegte ich und suchte weiter. Das würde bedeuten, dass das Kaffeegeschäft gelaufen war und ich damit rechnen musste, dass auch Mutter noch vorbeischaute.
„Mark, ich bitte Dich, geh wieder.“ Ich bat ihn eindringlich darum und Mark trollte sich davon, als ich versprach, ihn noch am späten Abend zu unterrichten.
Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und überlegte schon, wohin ich mit Kevin fahren könnte.
Endlich fand ich eine Jeans, an der ich mal selbst die Hosenbeine abschnitt und ausfranste, weil es damals cool war.
„Machen wir es uns hier gemütlich?“
Kevin blickte auf mein Bett und zog sich die Hose aus. Ich warf ihm die Jeans entgegen.
„Vergiss es!“, zischte ich und ging hinaus. Das Eis war längst geschmolzen, doch ich löffelte weiter.
Ich fand, dass die Jeans passte, doch Kevin wollte vorsichtshalber einen Gürtel dazu.
„Quatsch, die passt!“
„Danke.“
Da er sich nicht vorsehen musste, löffelte Kevin schneller sein geschmolzenes Eis. Wenn es vom Löffel tropfte, fiel es auf seine Oberschenkel. Wenn ich ehrlich war, fand ich es schon reizvoll, die Tropfen aufschlecken zu dürfen.
Da ich Kevin auf seine Schule hin ansprach, erzählte er, welche Fächer er mochte und wofür er sich interessierte. Vor allem Programmieren mache ihm Spaß und er verbringe damit eigentlich viel Zeit, aber auch im Internet am Chat teilzunehmen. Na ja, so erfahre er von anderen Usern im Internet, was so in der Szene eben abgeht.
Aus dem was er sagte, fiel mir nach einer gewissen Weile auf, dass er frühestens in zwei Jahren ein Studium beginnen konnte.
„Moment mal“, unterbrach ich ihn, „wie alt bist Du?“
Kevin schaute verlegen an mir vorbei, „Achtzehn … hm, also … in ein paar Tagen bin ich achtzehn.“
Ich setzte die Sonnenbrille wieder auf und sah mich in die Zeit zurück versetzt. Was hatte ich mit Siebzehn gemacht? Oh man, das war in diesem Augenblick unendlich lange her. Ich sah mich, wie ich einen Brief an Ronny schrieb, für den ich unheimlich lange schwärmte und wie ich, vor Aufregung zitternd, das erste Mal auf den Wall ging.
„Ist das für Dich ein Problem?“, wollte Kevin wissen.
Was sollte ich darauf hin sagen?
„Also, … ich will es … mal so sagen“, formulierte ich vorsichtig, die passenden Worte zu finden, „das Problem heißt, was willst von mir?!“
Kevin schaute auf seine Sportschuhe und schwieg. Ich zündete mir eine Zigarette an und blies den Rauch hörbar aus. Die Stille baute eine drückende innerliche Spannung bei mir auf und gespannt wartete ich darauf, was Kevin dazu sagte.
Der blieb stumm und schien wieder dicht gemacht zu haben. Nur das Scharren seiner Schuhe war zu vernehmen. Ich befand, sein regungsloses Gesicht enthielt seine ganze Enttäuschung darüber, dass ich ihn in Bedrängnis brachte.
„Möchtest etwas trinken, Cola oder einfach Wasser?“, unterbrach ich die erdrückende Stille.
„Ein großes Bier!“, presste er wütend heraus, was ich lediglich kommentarlos zur Kenntnis nahm und ging in meine Küche.
Ich füllte zwei Gläser mit Eiswürfel und goss Mineralwasser dazu. Kevin war mir gefolgt, denn als ich mit dem Tablett zur Terrasse wollte, kam er aus dem Wohnzimmer und hatte wieder seine befleckte weiße Hose an.
Ich sah ihm deutlich an, dass er aufgebracht, wütend, vielleicht auch verzweifelt war.
„Wenn ich gewusst hätte, was für ein Ekel Du bist …“, fauchte er mich an.
„Warte!“, schrie ich ihn an. „Ehe Du ungerecht über mich urteilst.“
Ich holte tief Luft. So kamen wir nicht weiter. Ich entschuldigte mich sogar bei ihm und bat ihn zu bleiben.
„Vielleicht ist Dir nicht klar, dass ich mir nun mal Gedanken darüber mache, wieso ein siebzehnjähriger Junge sich für mich interessiert. Das bin ich nicht gewöhnt und …“, ich machte absichtlich eine Pause, „… da unterscheide ich mich vielleicht von der üblichen schwulen Lebensauffassung, ich fass keinen Minderjährigen an!“
Kevin trank von seinem Wasser.
„Kannst du endlich mal die Brille abnehmen“, sagte Kevin entschlossen, „denn ich schaue gerne in Deine Augen.“
Da das noch nicht alles sein konnte, legte ich wortlos die Brille auf den Tisch und zwang mich, regungslos seine Argumente anzuhören.
Kevin hielt sich nicht mehr zurück. Entweder Alles oder nichts, schien seine Devise und begann damit, dass ich ihm in der Disco, durch meine sachlich natürliche Art aufgefallen war und was eben das Interesse an einem Kennenlernen bei ihm weckte. Sicher wusste er, bei Mark und Bastian nachgefragt, wie alt ich sei und was ich arbeitete. Einzig ob ich mit jemand eng befreundet zusammen wäre, sei ihm wichtig, denn sich in eine Freundschaft zu mischen, empfand Kevin als schäbig und gemein.
Was er sagte klang vernünftig und leuchtete mir ein.
„Ich will Dich lediglich kennenlernen und nicht gleich gefickt werden“, fauchte er förmlich und ging hinüber in Vaters Garten.
Gänzlich unbefangen fühlte ich mich trotzdem nicht. Was Kevin nicht wichtig war, behielt bei mir ein unbehagliches Gefühl.
„Dann hole ich mal noch was zu trinken“, sagte ich aus meiner Regungslosigkeit erwacht.
Kevin hatte mich wohl verstanden und grinste verlegen.
Max, es wird kompliziert, es wird ganz sicher sehr kompliziert. Der entscheidende Spielball, ähnlich wie beim Volleyball, lag in meiner Hand.
Was tun? Was würden seine und meine Familie denken? Damals bei Steffan stellten sich keine Fragen, da ging es für mich nie darum, etwas entscheiden zu müssen. Warum nur müssen wir älter werden?
„Max?“, riss mich Kevin aus meinen Gedanken. „Alles in Ordnung?“
„Ja, ja“, schreckte ich auf und vergoss Wasser. Wie Kevin so neben mir stand und das verschüttete Wasser aufwischte, erinnerte es mich kurz an die Zeit mit Steffan.
„Bekomme ich von Dir noch etwas Zeit?“, fragte ich Kevin.
„Sicher“, sagte er ruhig.
Wie die Schatten der Apfelbäume sich über die Terrasse legten, fand ich in der Garage sogar noch einen Sack Holzkohle. Ich stellte den Grill auf. Kevin kümmerte sich um den notwendigen Wind für die Glut, drehte die Würste um, während ich Schnitten bestrich und belegte.
„Wissen eigentlich Deine Eltern, dass …“
„Ich habe es ihnen gesagt. Nur, sie glauben wohl, ich will mich nur wichtig damit machen.“
Wie ich ihn unsicher anschaute, zögerte Kevin erst und meinte: „Na ja, mir fehlte bisher der Freund als Beweis.“
„Klar, aber ansonsten hattest du ja schon Kontakte. Ich war damals mit Steffan …“
„Nicht so, wie Du denkst“, unterbrach mich Kevin. Ruhig drehte er die Bratwürste um und tat, als konzentrierte sich wohl auf das Kreischen der angelockten Möwen.
Ups, schoss es mir durch den Kopf, womit werde ich noch alles geschockt? Ich holte tief Luft und beobachtete Kevin, ob er vielleicht seinen trockensten Witz erzählte. Nein das war kein Witz.
„Kam auch erst … spät bei mir“, log ich, denn mein als spät bezeichneter Zeitpunkt, war bereits mit sechzehn Jahren. Nicht so, dass man es als unvergesslich bezeichnen konnte. Das war erst mit Steffan gewesen, der sehr einfühlsam damals vorging.
Wir ließen uns die Bratwurst schmecken und Kevin weigerte sich abwehrend, auch noch die Letzte zu verdrücken. Überhaupt gab er sich lockerer und ungezwungener. Die voran gegangen Spannungen schienen vergessen. Ich erzählte ihm, dass ich ab Herbst an der Juristischen Fakultät studieren wolle, doch keine Vorstellung über meine Zukunft hätte.
„Warum hast Du es dann vor?“
„Keine Ahnung, vielleicht wollte ich nur …“, meinte ich nachdenklich, „ach, lassen wir das.“
Eine Diskussion darüber zu führen, wäre jetzt zu mühsam, befand ich. Wie ich anfing den Tisch abzudecken, schlich sich Mark heran.
„Na, ihr Hübschen?“, begrüßte er uns und wie sich unsere Blicke trafen, kicherte er still.
„Nichts zu tun?“, fragte ich leicht gereizt.
Mark fiel übertrieben auf die Knie, faltete die Hände und flehte, dass ich ihn wie einen Sklaven behandle und ich ihm Gnade gewähren könne.
Kevin lachte und verfiel in die Rolle eines Herrschers, „Sklave, fächer mir frischen Wind zu!“
Sofort sprang Mark auf und wedelte mit der Küchenschürze, „Prinz Kevin, ich gehorche. Ich gehöre ganz Dir.“
Kevin konnte herzhaft darüber lachen und steckte mich an.
„Schweig Sklave, ich gehöre einem anderen“, erwiderte er mit betonter Stimme.
Anscheinend waren die Worte für Mark mehr von Bedeutung, denn er schaute mich unverhohlen und fragend an. Ich hielt seinem Blick stand, blieb aber regungslos.
Vom Meer her zog ein frischer Wind auf. Mit ihm schwangen schwarze dunkle Wolken über die Stadt. Ich stellte den Wagen neben der Ferienwohnung ab. Ich nutzte die nächtliche Frische und lief zur Promenade hinüber. Es tat unheimlich gut, sich den Wind ins Gesicht blasen zu lassen und verschaffte mir Gelegenheit das Geschehene der letzten Stunden zu ordnen. Wie nicht anders zu erwarten, erzählte Kevin den ganzen Abend über seinen schulischen Alltag. Als er sich zwei Jahre zuvor eingestand, dass er Jungs vor allem sexuell reizvoll fand. Aus Angst entdeckt zu werden, entzog er sich freiwillig seinen damaligen Freunden. Dass er zunehmend seine Freizeit allein verbrachte, störte ihn nicht und da das Internet ihm als die beste Möglichkeit erschien, fand er dort seine ersten Kontakte und erfuhr so von anderen gleichgesinnten Jungen, wie sie damit umgingen. In der Schule gab er sich zwar weiter so, wie man ihn kannte, doch die Freunde entfernten sich mehr und mehr, weil er sich mit deren Interessen nicht identifizieren konnte. Wenn er von seiner Familie sprach, dominierte seine Mutter, dann sein Vater und wenn er von seiner zwei Jahre älteren Schwester sprach, konnte man deutlich die oft gewöhnlichen, geschwisterlichen Spannungen zwischen beiden spüren.
Kevin wollte unbedingt mit der S-Bahn nach Hause fahren, doch ließ er sich von mir überreden, dass ich ihn fuhr. Kurz vor Lichtenhagen sagte er mir, dass wir richtigerweise nach Gehlsdorf mussten. Dass sein Geheimnis über sein eigentliches Zuhause nicht lange hielt, amüsierte mich, sagte aber nichts.
Schließlich hielten wir vor einer bürgerlichen Villa deren Grundstück an die Warnow grenzte. Kevin bedankte sich für alles, vor allem für die ausgefranste Jeans. Dass er seine weiße Hose vergaß, tat er damit ab, dass ich die sowieso tuntig fand. Ich musste wohl aufpassen, was ich so sagte, selbst wenn es nur nebenbei war.
Die Verabschiedung wollte nicht enden, denn die Unsicherheit, die uns beide erfasste, wirkte schon fast komisch. Dann strich ich Kevin über den Kopf und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Mit einem ‚Schlaf gut‘ warf er schwungvoll die Beifahrertür ins Schloss und verschwand eilig hinter der mannshohen Hecke, die die Villa umgab.
Als ich wieder am Stadthafen war, signalisierte mein Handy das Vorliegen einer SMS.
‚Danke, mag Dich, rufe Dich an, K. ‘, las ich. Mich beschäftigte nicht mehr so sehr, wie ich mich Kevin entziehen konnte. Vielmehr schien mir Zeit für ihn zu fehlen. Die Arbeit im Restaurant teilte meine Freizeit in ein paar Stunden in der Nacht, gefolgt von Schlaf und vor Beginn der Arbeit auf. Für mich allein und ohne weitere Verpflichtungen, war das kein Problem. Nicht gerade ein Leben, das viele Gemeinsamkeiten für zwei Menschen bereit hält, außer beide bestritten alles zusammen.
Es war kurz nach Mitternacht, als ich Mark wartend vor der Ferienwohnung sah.
„Hey Max! Ich warte schon eine Stunde auf Dich.“
„Was willst Du jetzt noch? Ich bin müde und Du schläfst bei Dir!“
Darauf, dass mich Mark ausfragte, hatte ich wirklich keine Lust. Das Handy klingelte und ich hob ab.
„Na, schon im Bett?“, hörte ich Kevin am anderen Ende.
Mark kicherte gleich los und seine Neugierde steigerte sich mit jedem meiner Worte.
„Nein, ich war noch ein bisschen am Strand. Nur so, der frische Wind tat mir einfach gut.“
„Klar, der weht hier zum Fenster rein.“
„Ok Kevin, dann bis Samstag in der Disco. Ich freue mich.“
Ich wollte damit auch gleich auflegen, doch Kevin meinte, dass das ja noch Tage dauern würde. Den Verweis auf meine Arbeit im Restaurant ignorierte er und erkundigte sich eher, ob wir uns auch mal am Vormittag sahen. Sicher, schloss ich es nicht gänzlich aus, doch eben nicht gleich. Damit einverstanden wiederholte er seine Wünsche an mich, für eine gute Nacht.
Mark bettelte förmlich, dass er eine weitere Nacht bleiben konnte. Ich gab schließlich nach und warf ihm später das Bettzeug auf die Couch.
„Kann denn Liebe Sünde sein …“, flötete er mir ins Ohr und riss mich damit aus einem unbedeutenden Traum.
„Geh‘ endlich nach Hause!“, knurrte ich ihn an und wehrte mich gegen seine Streichelungen.
„Mäxchen ist verliebt“, säuselte er im sicheren Abstand zu mir und tänzelte dazu.
Da es bereits kurz vor Mittag war, setzte ich mich auf und rieb mir den Schlaf aus den Augen.
„Mark, hör auf!“, raunte ich und wollte eigentlich nur meine Ruhe.
Mark verstummte sofort und tippelte eher, als er ging, in die Küche, „ …und unterlass endlich die tuntige Art!“
Ehe er mich weiter nervte, erzählte ich während des Frühstücks, wie der gestrige Tag in groben Zügen ablief.
Was Kevin über Bastian wusste, ließ ich lieber weg, denn auf Hörensagen gab ich nichts.
„Ach ja, mich liebt keiner“, schmachtete er voller Wehmut, doch war das nicht wirklich ernst gemeint. Überhaupt blieb Bastian die ganzen letzten Tage schon bei ihm unerwähnt. Wie ich Mark daraufhin ansprach, kam nur ein ruppiges: „Ich haben fertig!“.
Also vertiefte ich das Thema nicht weiter und schwieg.
Mark hatte mit meinen Eltern vereinbart, dass er bei Bedarf, wieder aushalf. Danach konnte die Bezahlung nur gut für ihn ausgefallen sein. Geld konnte er trotz des monatlichen Schecks seines Vaters, immer gebrauchen.
Nach dem Frühstück war Mark gegangen. Ich räumte noch auf und musste danach auch schon zur Schicht. Mutter schüttelte nur den Kopf, als ich ihr den Fleck in Kevins Hose zeigte.
„Die solltest Du zur Textilreinigung bringen“, schlug sie vor und fragte, wo ich die Hose gekauft hatte.
„Ist nicht meine, gehört einem Freund.“
„Aha“, bemerkte sie kurz, doch brauchte ich auf eine Nachfrage nicht lange warten. „Jemand den wir kennen?“
Ich nickte nur und unterließ es absichtlich ausführlicher darüber zu sprechen.
Im Laufe meiner Arbeitszeit erreichten mich zwei SMS von Kevin. In der einen schrieb er, dass er gern an den gestrigen Nachmittag dachte und dann folgte noch eine, dass er mich bereits vermisse.
Nach der zweiten SMS schrieb ich ihm, dass wir nach Feierabend telefonieren sollten. Sofort kam die Antwort, dass er bis dahin an mich denken würde.
Gleich nach der Abrechnung surrte das Handy und Kevin erkundigte sich, wie mein Tag war.
„Ganz gut“, sagte ich und erwähnte, dass ich den Tag auch in den Füßen merkte.
Da Mutter allen Kollegen noch Getränke hinstellte und ich nicht wollte, dass mir alle zuhörten, ging ich an die Hintertür.
„Was hast Du gemacht?“, fragte ich Kevin
„Hm, Mittag aufgestanden, am PC an meinem Programm getüftelt und an Dich gedacht.“
„Danke, nett von Dir“, gab ich zurück und erwähnte, dass ich mit Mark gefrühstückt hatte, „ach, ich soll Dich auch von ihm grüßen.“
Da Kevin nichts sagte, rief ich nach ihm.
„Bin noch da.“
„Fein. Sag mal, wieso bist denn nicht an den Strand gefahren, war doch bestes Wetter dafür?“
„Allein?“, fragte er zurück, was traurig klang.
„Na ja, dann gehen wir an meinem nächsten freien Tag mal zusammen hin.“
„Das dauert ja noch ewig.“
„Stimmt … leider.“
Kevin blieb stumm, doch ich wollte nicht gleich wieder nach ihm fragen.
„Was machst Du gerade?“, fragte er mich und ich sagte ihm, dass ich mit ihm telefonierte, was sonst.
„Bist Du noch im Restaurant?“
„Nein, an der Hintertür zur Küche.“
Wieder entstand eine Pause, wo Kevin schwieg.
„Stimmt“, hörte ich ihn sagen.
Ehe ich richtig begriff, löste sich aus dem Dunkel ein Schatten und wie der auch noch ein ‚Hallo‘ aussprach, erkannte ich Kevin.
Bemüht, meine Freude zu verbergen, ging ich ihm langsam entgegen.
„Was machst Du denn hier?“, flüsterte ich und Kevin fiel mir förmlich um den Hals. Wie aufgeregt er war, merkte ich an seinem schnellen Herzschlag. Ich drückte ihn an mich und strich, wie zur Beruhigung, über seinen Rücken.
„Freust Du Dich?“, fragte er behutsam.
„Ja, tue ich, aber …“
Kevins Kuss unterdrückte weitere Worte. Als ich nach Luft rang, lösten wir uns, gaben uns noch weitere Küsse und ich strich ihm über Kopf und Schultern.
Ich kramte meine Schlüssel hervor und bat ihn, schon mal vorzugehen. Im Restaurant trank ich schnell die Schorle und während einer Zigarette wechselte ich noch ein paar belanglose Worte.
Kevin überraschte mich damit, dass er bei Kerzenschein saß, zwei Gläser und die angefangene Flasche Prosecco auf dem Tisch.
„Du, ich dusche schnell.“
Dass Kevin nicht warten konnte oder wollte, damit musste ich rechnen, überlegte ich fieberhaft, während mir das Wasser über den Rücken lief. Doch sah ich darin nicht das wesentliche Problem für mich. Beklommener fühlte ich mich, wenn ich daran dachte, dass Kevin anscheinend nicht warten wollte. Wie schnell kam man in den Verdacht der Verführung. Ich fürchtete, dass gerade seine Eltern so denken würden. Selbst wenn es nur ein paar Tage sein sollten, mir wäre es lieber, bis dahin zu warten.
Ich nahm mir vor, dass ich mit Kevin darüber sprach. Damit er mich nicht nackt sah, schlich ich vorsichtshalber ins Schlafzimmer.
Kevin hatte die Gläser bereits gefüllt und sah mich strahlend an.
Etwas verlegen über die feierlich anmutende Situation, räusperte ich mich und stieß gegen sein Glas.
Während ich einen kleinen Schluck trank, schüttete Kevin den Sekt herunter und hielt sich die Nase zu.
„Setzen wir uns, wir müssen reden“, sagte ich ruhig.
Kevin ließ sich neben mir auf die Couch nieder.
„Kommt jetzt eine Standpauke?“, was Kevin sicher spaßig meinte.
Doch mir war es wichtig, dass wir bei aller Freude, auch darüber redeten.
„Ich freue mich wirklich, Dich hier zu sehen“, begann ich, „doch … ich fände es in Ordnung, wenn wir nichts überstürzen.“
Kevin erstarrte neben mir und schien wieder unnahbar zu sein.
„Nun schmoll nicht gleich!“
Ich legte meinen Arm um ihn und spielte mit seinen Haaren.
„Deine Eltern wissen garantiert nicht, dass Du hier bist oder?“
Kevin zeigte keine Reaktion. Selbst wenn er offen seine Entrüstung herausgeschrieen hätte, wäre mir das noch lieber, als diese stille Regungslosigkeit.
„Ich mag Dich wirklich, Kevin“, versuchte ich erneut ein Gespräch, „aber, ich habe … also was ich sagen wollte ist, ich sorge mich …“
Da Kevin seinen Kopf an die Brust drückte, verbarg er so seine Augen vor mir. Wie ich versuchte ihn zu mir zu drücken, wehrte er sich energisch.
„Ok, also dann eben so“, protestierte ich, dann auf die harte Tour und sagte ihm meine Bedenken, wegen seiner siebzehn Jahre, was vielleicht seine Eltern denken könnten und ich warten würde bis er volljährig sei.
Kevin saß unbeweglich und verschränkte die Arme vor seine Brust.
So, überlegte ich, jetzt habe ich es gesagt und wenn er hier bis zum Morgen zur Säule erstarrt noch säße, ich hätte dann wenigstens ausgeschlafen. Seine Sturheit empfand ich als kindlich. Das andauernde Schweigen brachte mich auf und fragte ihn barsch, wieso wir nicht darüber reden könnten. Nichts, nicht mal ein stummes Nicken. Ich zündete mir eine Zigarette an und ging vor die Wohnung. Schwach erleuchtete der Mond den Innenhof. Die Fenster der elterlichen Wohnung über dem Restaurant waren dunkel und ich wünschte wenigstens ihnen schon mal eine Gute Nacht.
Eigentlich könnte ich froh sein, wenn Kevin nichts mehr von mir wollte, redete ich mir zur Beruhigung ein, zumal noch nichts passiert war. Später wäre es für uns beide nur schlimmer.
Kevin schob sich wortlos an mir vorbei.
„Kevin, warte doch“, sagte ich, „lass uns darüber reden … bitte.“
„Leck mich!“, zischte er mich an, blieb aber stehen. Ich biss mir auf die Lippen, jetzt anzufangen, darüber Witzchen zu machen.
„Drinnen, bitte.“
Kevin folgte mir im Abstand und warf sich auf die Couch. Noch immer blickte er ausdruckslos vor sich hin.
„Wir sollten darüber sprechen … beide, nicht nur ich.“
„Was geht meine Eltern an, wen ich als Freund habe?“, begann er und der zornige Unterton war deutlich vernehmbar.
„Die kümmern sich nicht um mich“, kam er mir zuvor.
„Glaube ich nicht.“
„Du kennst sie doch gar nicht!“
„Könnte aber mal sein“, erwiderte ich ruhig, „und da will ich nicht von ihnen vorgeworfen bekommen, ich hätte Dich verführt.“
„Spinnst Du jetzt! Ist das wichtig, wenn ich sowieso bald volljährig bin. Außerdem bin ich schon alt genug.“
Diesmal ließ Kevin zu, dass ich meinen Arm um ihn legte und ihn zu mir zog. Er legte den Kopf auf meine Brust und ich fuhr ihm durch die weichen, blonden Haare.
Ich lehnte mich an und sah mich in Gedanken, wie ich früher selbst trotzig versuchte, meinen Willen durchzusetzen und meine Mutter standhaft auf mich einredete, bis die Vernunft siegte.
Als ich meinen Achtzehnten feierte, fühlte ich mich stark und war ständig dabei, die neuen Freiheiten auszuprobieren. Es mag lächerlich klingen, doch mit Zwanzig schon kam mir manches von dem ziemlich albern vor.
„Darf ich hier auf der Couch schlafen?“, fragte Kevin in die Stille.
Ich streichelte ihn über seinen Arm und bat ihn aufzustehen.
„Ich fahre Dich nach Hause, ist besser“, antwortete ich, was er wohl schon erwartet hatte.
Bei den leeren Straßen brauchte ich für die Fahrt nach Gehlsdorf nur die halbe Fahrzeit. Kevin saß still neben mir und ich hörte Rosenstolz zu. Die Uhr zeigte die dritte Stunde an, als wir vor seinem Zuhause standen. Kevin machte keine Anstalten zu gehen und ich nahm seine Hand.
„Gute Nacht, Kevin. Ich rufe Dich gegen Mittag an?“
„Willst eine schriftliche Erlaubnis von meiner Mutter?“, platzte es aus ihm heraus.
„Nein, das nicht“, sagte ich, bemüht nicht aufzulachen.
Kevin holte tief Luft und drehte sich zu mir. So wie er mich ansah, wirkte er sehr entschlossen.
„Na gut! Dann kommst Du zum Mittagessen! 12 Uhr! Dann kannst gleich auch mit meiner Mutter … über was auch immer … sprechen.“
Wie er mich so entschlossen anschaute, wusste ich, dass er es sehr ernst meinte.
„Also Kevin …“, wollte ich ihn besänftigen.
„Du kommst, oder …!“
Schon sprang er aus dem Wagen und wieder hatte ich für einen kurzen Augenblick Mitleid mit der Seitentür, als er sie zuschlug.
Scheiße! Was denn nun?
Ich war nahe dran, ihm nachzulaufen und alles zurück zu nehmen, doch dazu war es die völlig falsche Zeit. Ich ließ die Seitenscheiben runter und rauchte. Langsam zeichnete sich der neue Tag ab und die Vögel trällerten bereits. Ich fragte mich ernsthaft, auf was ich mich bei Kevin eingelassen hatte. Einmal tat er, als könne er kein Wässerchen trüben, dann gab er sich bockig und eigenwillig.
Die Gedanken drehten sich und so sehr ich mich konzentrierte, ich brachte sie nicht in eine ordentliche Richtung.
Vorsichtshalber stellte ich mir abends den Wecker auf 10 Uhr. Doch Mark, der mich anrief, sorgte damit schon dafür, dass ich nicht verschlief.
„Langsam denke ich darüber nach, Dir die Freundschaft zu kündigen“, drohte ich am Telefon und vernahm nur sein Lachen.
„Kann ich rüberkommen?“, fragte er vorsichtig.
„Nein! Ich muss gleich weg“, gab ich aufgebracht zurück, denn ich wusste auch so, dass Mark mich mit seinen Ratschlägen eindeckte, wenn ich ihm dazu die Gelegenheit mit einem Frühstück bot.
„Hm, biste wegen mir so gereizt?“, erkundigte sich Mark sogleich.
„Nein, natürlich nicht.“
Ich erklärte Mark die Situation mit Kevin.
„Max! Du bist von Sinnen! Ich wäre nicht so zimperlich. Kevin, so niedlich der Bengel auch ist, aber bockig?! Den hätte ich aufgebockt und fertig. Dann ohne Freundschaft hinterher!“, ereiferte sich Mark heftig und nach einer kurzen Pause: „Dann nimm seiner Alten aber Blumen mit.“
„Man, ich wollte nicht meine Aufwartung machen!“
„Trotzdem, macht sich immer gut. Weiber mögen es“, beharrte er auf seinen Vorschlag.
Noch am Abend auf der Heimfahrt redete ich mir ein, dass ich mir von Kevin nichts mehr diktieren ließ. Zu Hause, goss ich zuerst den Sekt weg, stellte die Kerze in die Anrichte und ging ins Bett.
Die durchweg kreisenden Gedanken hinderten mich am Einschlafen. Wie auch immer und selbst auf die Gefahr hin, dass ich mich auch noch lächerlich machte, sagte ich mir, na und. Nur noch dieses eine Mal sollte es sein, dass ich seinem Willen nachgab. Ginge es schief, womit ich rechnete, hätte Kevin das Nachsehen.
Ich fuhr rechtzeitig los und unterwegs fand ich auch noch einen Blumenstrauß. Pünktlich stand ich vor der Villa.
Ein wohltuender Dreiklang signalisierte mein Erscheinen und bald darauf öffnete Kevin die Tür.
„Hallo Max“, begrüßte er mich und auf den Strauß schielend, „das ist aber lieb von Dir.“
Ich bemühte mich zur Ruhe und gestattete ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
„Die sind nicht für Dich!“
„Verstehe“, und grinste breit.
Er rief nach seiner Mutter, die er nur kurz Ma nannte.
Kevin übernahm die Vorstellung und sie gab mir freundlich und für die Blumen dankend, die Hand.
Sie bat mich auf die Veranda zu folgen, wo bereits der Tisch für vier Personen gedeckt war. Kevin wies mir freundlich einen Platz zu und setzte sich neben mich. Er wirkte regelrecht ausgewechselt auf mich.
„Ich hole mal was zu trinken“, sagte er und sprang auf. Frau Mümling stellte die Vase, die sie wie aus dem Nirgendwo geholt hatte, mit den Blumen auf den Tisch. Etwas nachdenklich strich sie über die Blüten und schien sich zu freuen.
„Entschuldigung, aber darf ich Max zu Ihnen sagen?“
Ich nickte und setzte schnell noch ein ‚Ja‘ nach. Frau Mümling wusste auch die lateinischen Namen der einzelnen Blumen zu nennen, was ich irgendwie auch nicht anders erwartete.
„Also Kevin ist ja in letzter Zeit immer für eine Überraschung gut“, begann sie, noch immer die Blumen im Blick, „und so oft hier der Name Max schon fiel, da ist das doch leichter für uns, nicht?“
Ich stimmte ihr nickend zu.
Über mich gesprochen? Was denn jetzt wieder? Was hatte denn Kevin von mir erzählen können?
Ich musste wohl entsprechend geschaut haben, denn sie fand gleich beruhigende Worte für mich.
„Oh, ich weiß schon, dass sie miteinander befreundet sind“, richtete sie ihre Aufmerksamkeit nun auf mich. „Und wir, also mein Mann und ich, … also wir haben auch im Kreise unserer Freunde oder mein Mann in der Klinik homo…“
„Sie können auch schwul sagen“, unterbrach ich sie, was sie aber keineswegs aus der Fassung zu bringen schien.
„Ich dachte immer, das wäre schimpfwörtlich gemeint?“
Ich hob kurz die Schulter und verneinte. Frau Mümling lächelte freundlich und beabsichtige das Essen aufzutragen.
„Vielleicht darf ich Ihnen helfen“, bot ich an und sie stimmte dankend zu. Auf dem Weg zur Küche ließ sie nicht unerwähnt, dass ich ja vom Fach wäre und erkundigte sich auch gleich, ob es mir Freude mache, im Restaurant zu arbeiten.
Geduldig erklärte ich ihr die Zusammenhänge, dass ich noch bis Herbst im Restaurant arbeitete und danach studieren wollte. Anscheinend hatte Kevin nicht alle Details erzählt und überhaupt, ich sah ihn nirgends.
„Max, nehmen sie bitte die beiden Platten, dann bringe ich den Salat mit.“
Frau Mümling hatte einen saftig glänzenden Braten vorbereitet, dazu gedünstete Fingermöhren, Farfalle und als Abschluss war der Salat nach Belieben gedacht. Ich lobte artig ihre Kochkünste.
Von der Veranda aus rief sie nach Kevin und Jette. Jette hieß also die ältere Schwester. Ich merkte wie sich meine Nervosität auch gleich legte, denn das vierte Gedeck besetzte demnach sie.
Kevin füllte die Gläser mit Saft und nahm seinen Platz neben mir wieder ein. Das Fräulein Tochter erschien, flüsterte ein kleinlautes „Hi“ und setzte sich an den Tisch.
Diesmal übernahm Frau Mümling die Vorstellung, doch Jette schien das gleichgültig zu sein. Sie nahm sich von allen Platten etwas und gabelte still vor sich hin.
„Ach, da fällt mir ein …“, begann Frau Mümling höflich, wohl in der Absicht, dass sie ein Tischgespräch begann.
„Ist gut jetzt?!“, ereiferte sich Jette und verwies ihre Mutter darauf hin, dass er - gemeint war wohl der Herr Professor - nicht anwesend sei. Leicht irritiert schaute ich in die Runde und war auch gleich auf alles gefasst.
Frau Mümling lächelte still vor sich hin und beabsichtigte wohl zu erklären, dass Kevin, aber mehr aus Spaß eben, es so angedacht hatte, dass …
Aus!, nächster Akt, überlegte ich kurz, denn schon meldete sich das Fräulein
„Dieses ganze schmierige Theater. Der Scheißer will doch nur auf den Putz hauen!“, geiferte Jette dazwischen.
Was geht hier ab, fragte ich mich, doch Kevin blickte nur wütend auf seinen Teller. Fühlte er sich ertappt? Jedenfalls sah ich, wie es an seinen Schläfen arbeitete.
„Jette, bitte!“, bemühte sich Frau Mümling zu beruhigen.
Jette, stützte ihren Ellenbogen auf den Tisch, aß schnell und schwieg. Kevin zeigte Ausdauer im vor sich Hinschauen und ich wusste nicht recht, ob ich essen oder auf weitere Überraschungen bereit sein sollte.
Frau Mümling sah in die Tischrunde und fragte, ob es mir nicht schmeckte.
„Doch, doch, alles bestens.“
„Fein.“
Während Kevin immer noch nicht sein Essen anrührte und wir anderen bereits beim Salat ankamen, suchte ich nach Möglichkeiten ein Gespräch zu beginnen. Irgendetwas schien hier nicht zu stimmen, so viel war mir schon klar, doch was, erkannte ich noch nicht.
Ich legte mein Besteck ab und beobachtete aus dem Augenwinkel Kevin.
„Sag‘ doch auch mal was“, bat ich ihn.
„Macht ihr doch schon“, fauchte er, was auch zugleich hieß, lass mich in Ruhe.
Als wäre es zeitgleich Jettes Stichwort, teilte sie gleich aus, „Das Baby bockt mal wieder.“
„Zicke!“
„Schwulette!“
„Genug!“, ging Frau Mümling dazwischen und spielte mit ihrer goldenen Halskette.
Jette stand auf. An mich gerichtet: „Nimm ihn mal richtig ran! Dann blockiert er nicht mehr stundenlang das Bad!“, und lief ins Haus.
„Jette! Das ist unhöflich und unfair gegenüber Max“, sagte Frau Mümling genervt und stand auf. „Ich ziehe mich jetzt um.“
Da ich mittlerweile Kevin soweit kannte, dass er von selbst kein Gespräch anfing, stand ich auf und zündete mir eine Zigarette an. Der Garten machte auf mich einen ebensolchen verstörten Eindruck, wie die ganze Familie. Ich erkannte darin keinerlei Ordnung und von der Vielfalt der mir unbekannten Pflanzen fühlte ich mich eher überfordert.
Wie nicht anders zu erwarten, war Kevin still entschwunden und ich wusste nicht wohin, mit dem Zigarettenstummel. Schließlich drückte ich ihn ins Gras und gerade darauf erschien Frau Mümling auch im Garten.
„Na Max, gefällt ihnen meine ökologische Oase?“
Frau Mümling gab sich umgänglicher, was durchaus damit im Einklang stand, dass sie jetzt Jeans und Shirt trug.
„Wenn ich ehrlich sein soll“, und das schien mir angebracht, „ich überlegte, ob sich Ihr Gärtner erschossen hat.“
Ihr herzhaftes Lachen stellte meinen Sarkasmus völlig in den Schatten.
„Ach, kommen Sie“, sagte sie und führte mich in den Garten. Sie erklärte mir die verschiedenen Pflanzen und wie sie in Zuordnung innerhalb der untereinander wirkenden Systeme standen.
Mit einem Blick auf meine Armbanduhr unterbrach ich ihren Redefluss und entschuldigte mich, dass ich bereits aufbrechen müsste.
„Gut“, sagte sie freundlich lächelnd, „ich würde mich freuen, wenn wir uns bald wiedersehen würden.“
„Vielen Dank für das Essen und die Führung durch ihre Oase.“
Kurz vor der Veranda hielt sie inne.
„Max, bitte verstehen Sie mich nicht falsch“, sagte sie etwas nachdenklich. „Kevin ist im Moment schwierig, na ja, das machen alle Teenager durch. Ich finde es gut, dass er sie als Freund hat. Auch wenn er so unwirsch reagiert, er hat auch gute Seiten an sich, oder finden sie nicht?“
Ehe ich ihr es bestätigen konnte, erklärte sie, dass Kevin daran gelegen war, mich sozusagen etwas zu beeindrucken oder anders, ich da eine gewisse Vorstellung noch hätte, weil sein Vater Professor sei und ergänzte: „Na ja, das Fernsehen ist ja voll von solchen Klischees. Nur damit halten wir es höchstens mal bei offiziellen feierlichen Anlässen.“
„So wie heute halt“, erwiderte ich freundlich.
„Wir sind eine ganz normale Familie“, resümierte Frau Mümling, „und Sie, Max, können mir behilflich sein, dass Kevin es auch so wahrnimmt.“
Ich nickte zustimmend und bedankte mich nochmals.
Da mir der Zeitdruck im Nacken saß und von Kevin nichts vernahm, bat ich Frau Mümling, Kevin doch auszurichten, dass ich seinen Anruf erwartete.
Für die eilige Rückfahrt bog ich gleich zum Warnowtunnel ab, denn mir blieb echt nicht mehr viel Zeit.
Mutter fragte schon ungeduldig am Handy wo ich bliebe. Ich sagte kurz, dass ich noch unterwegs sei.
Dazu kam ich aber erst nach dem Eisgeschäft, das wieder mit großem Ansturm an diesem Tag war. Mit Blick ins Revier, erzählte ich Mutter, dass ich die Familie Mümling besucht hatte.
Mit groß gewordenen Augen, erkundigte sie sich, nach dem Grund. Also berichtete ich von deren Sohn Kevin, der große Mühen aufbrachte, dass er mich als Freund gewann, und ich ihn mittlerweile auch ganz nett fand. Nur eben, weil mich da noch ein paar Unsicherheiten bedrückten, beabsichtigte ich eben darüber zumindest mit der Mutter zu sprechen. Wie der genaue Ablauf war, vermied ich natürlich zu erzählen, das hätte Mutter nur verwirrt und ihr Klischee zerstört.
„Aha.“
„Was aha?“, wunderte ich mich über ihre kurze nichts sagende Reaktion.
„Mit uns sprichst du nicht darüber.“
„Mache ich doch“, wehrte ich den Vorwurf ab.
Vom Revier gab mir ein Gast das Zeichen, dass er bezahlen wollte. Wie ich wieder am Büfett war, gab mir Mutter zu verstehen, dass ich wichtige Dinge nur zwischen Tür und Angel mit ihr besprach.
„Der Junge weiß doch noch gar nicht, was er will“, sagte sie nur und polierte ohne Unterlass das Glas in ihrer Hand.
„Bitte? Glaub mir, das weiß er sehr genau.“
„Max, in dem Alter da hast selber noch …“
„Da lernte ich Steffan kennen!“, unterbrach ich sie harsch und ging zurück ins Revier, wo ich einen weiteren Tisch abdeckte und für das Abendgeschäft vorbereitete.
Heike, die wohl etwas von dem Gespräch aufgeschnappt hatte, kam zu mir und fragte, ob dicke Luft aufkäme.
„Nein“, sagte ich nur und kassierte bei weiteren Gästen ab.
Wie ich Mutter kannte, musste ich nicht lange warten, bis sie in die Küche rannte, wo sie mit Vater darüber sprach. Sven nahm längst den Platz hinterm Büfett ein, da er keine Gäste mehr in seinem Revier hatte.
„Max, was los?“, fragte Sven und ich beruhigte ihn sogleich.
„Nichts, geht nur um mich.“
Wenn ich auch wusste, dass Vater kein großes Aufsehen machte, war es mir doch unangenehm. Seit meinem Outing, mied er es regelrecht, nach meinem persönlichen Befinden zu fragen.
Bis zum Feierabend blieb mein Handy stumm und auch SMS kamen nicht an. Die Köche waren bereits gegangen, als Vater an der Küchentür stand und mir ein Zeichen gab. Die späte Abendluft war frisch und ich atmete tief durch.
„Kennst ja Deine Mutter, sie macht sich eben Gedanken“, sagte er gleich.
„Klar, doch ich verstehe nicht, wieso sie das so hoch spielt“, erwiderte ich und zündete mir eine Zigarette dabei an.
„Na ja …“
Schweigend schauten wir in die Nacht. Gelegentlich schien der Mond durch die Wolken und leuchte den Innenhof aus.
„Ist für mich selber nicht so einfach“, bemerkte ich und sicher konnte Vater sich denken, dass ich auf Steffans Tod anspielte.
„Max, Deine Mutter und ich haben gelernt Dich so zu akzeptieren, wie Du nun mal bist. Wir haben uns und Dir nichts vorzuwerfen“, Vater nahm dabei seine Kochmütze ab und rieb sich durch die schweißnassen Haare, „ … wir wissen, dass Du nicht unüberlegt handelst.“
Ich hätte ihn gern dafür umarmt, doch das war leider nicht mehr Vaters Art.
„Danke Vater.“
„Irgendwie brauche ich jetzt mal ein Bier, Du auch?“
Ich schüttelte mit dem Kopf und wir gingen ins Restaurant, wo Mutter auf meine Abrechnung wartete. Sie saß allein am Familytisch, die anderen Kollegen waren längst gegangen und wir blieben noch eine Weile zusammen. Während wir Schorle tranken, gönnte sich Vater sein Bierchen zum Feierabend.
Bei der Gelegenheit besprachen wir, wie lange ich noch arbeitete. Mutter bestand darauf, dass ich vor Studienbeginn zwei oder drei Wochen für mich hätte. Sie dachte an Urlaub für mich und schließlich gäbe es für das Studium noch einiges vorzubereiten.
Der neue Tag war schon eine Stunde alt und ich schlenderte in meine Wohnung. Dass Kevin sich nicht meldete, tat ich damit ab, dass er sicherlich wollte, dass ich den ersten Schritt dazu tat. Ein richtiges kleines Böcklein, überlegte ich und fand, die Bezeichnung als Kosenamen für ihn passend.
Dass Kevin Samstag immer noch nichts von sich vermelden ließ, wunderte mich schon. Ich dachte schon daran, dass Kevin nichts mehr von mir wissen wollte, doch schrieb ich es seiner fortwährenden Trotzigkeit zu. Mir war nicht klar, ob er wusste, dass er mir damit weh tat. So sehr ich mit mir rang, ich tat uns beiden keinen Gefallen, immer nachzugeben. Lieber wollte ich ihm die Beule kühlen, wenn er versuchen sollte, mit dem Kopf durch die Wand zu wollen, als seine naive Sturheit zu unterstützen.
Ich war früh aufgestanden und wartete auf Mark. Obwohl die letzten Tage ohne Überraschungen verliefen und die Zeit in ihrer gewohnten Weise zwischen Arbeit und Freizeit verlief, fehlte mir eine gehörige Portion an Schlaf.
Entsprechend seinem persönlichen Geschäftssinn, brachte er die Brötchen mit, während ich den Rest auftafelte. Für mich unwesentlich, da die finanzielle Verteilung zwischen uns, auf meiner Seite überwog.
„Hey Max. Siehst ja richtig erholt aus“, begrüßte er mich, drückte mir einen freundschaftlichen Kuss auf und schaute neugierig durch meine Räume.
„Keiner da!“, rief ich hinterher, während ich die ofenfrischen Brötchen in die Schale legte.
„Schon weg oder noch unter der Dusche?“, fragte Mark und tat enttäuscht über das Ausbleiben eines jugendlich nackten Körper, der sich lasziv auf meinem zerwühlten Bettlaken räkeln würde.
Ich grinste wortlos und schnitt mir ein Brötchen auf. Während ich es belegte, erzählte ich Mark, dass im Moment Funkstille herrschte und ich vermutete, dass das Böcklein Hornpflege betrieb.
„Der Schlingel“, erwähnte Mark zwischendurch und zog einen Vergleich mit sich. „Ich konnte tagelang schweigen und prima die Türen zuschmeißen.“
Ich hob gleichgültig die Schultern und aß ruhig weiter.
„Wieso hast nicht bei ihm angeklingelt?“, wollte er wissen, doch bei meiner Antwort, gestand er sich selbst ein, dass man sonst dem Kleinen nicht beikam.
„Eine ziemlich harte Nuss hast Du Dir da angelacht.“
„Spinnst Du jetzt?“, entrüstete ich mich und gab auch gleich die Antwort, „Ich doch nicht, er will schließlich was von mir!“
„Ok, ok, Max“, beschwichtigte Mark, „aber mal ehrlich, Du stehst auf den Kleinen?“
Ich musste überlegen: „Also stehen würde ich auf irgendeinen Typen, Kevin dagegen mag ich.“
So wie Mark grinste, da hätte man ihm ein Brot quer in den Mund legen können.
„Samstag ist Discotime und sicher ist der Kleine dort, kannst Du glauben“, schlussfolgerte Mark und griff sich dabei das letzte Brötchen.
Als ich mich nach seinem Liebesleben erkundigte, wehrte er ab.
„Woher, wenn nicht stehlen“, hauchte er niedergeschlagen, was aber nicht ernst gemeint war.
„Hast Du doch gar nicht nötig.“
„Tja, dann schlag mal mein Horoskop auf“, meinte Mark und kramte seine Wochenzeitschrift hervor.
Dann las er vor, dass er in der Liebe nicht auf der sicheren Seite wäre und er sich mehr seinem Partner widmen sollte.
„Partner?“, rief er und zeigte seine Hand. „Du bist mein bester Partner. Ich habe mich Dir die ganzen letzten Tage intensiv gewidmet, stimmt‘s?“
Wie zur Bestätigung nickte er heftig dazu.
Ich lachte und meinte, dass er gar nicht an Horoskope glaubte.
Als ich ihn tröstend über den Kopf strich, entschärfte er sogleich sein Selbstmitleid damit, dass ihm seit Bastians Rausschmiss seine Einraumwohnung viel größer und angenehmer vorkomme.
„Sag mal, könnte ich heute bei Euch arbeiten?“, fragte er und rieb die beiden Finger, dass er für die Disco noch was brauchte.
„Da musste schon selber fragen“, konnte ich nur antworten, denn Küchenarbeit entschied mein Vater allein.
Wenn Vater etwas für meine Freunde übrig hatte, dann fand er auch eine Arbeit und Mark zählte sicher schon dazu. Nur behielt ich das für mich. Wenn auch Mark mein bester Freund war, alles braucht auch ein bester Freund nicht zu wissen.
Die Frage nach Arbeit konnte sich Mark sparen.
„Du kommst wie gerufen“, rief Vater Mark zu. „Zieh Dich gleich um.“
Wie ich Vater kannte, machte er schon mal Scherze damit, nur diesmal war es ihm ernst. Dass er Mark sogar freundschaftlich den Arm umlegte, konnte aber nur bedeuten, dass die Arbeit weniger angenehm war.
Da Mark mit Arbeit versorgt war und somit seine Finanzen für den Discobesuch, verschwand ich ohne große Worte ins Restaurant.
Stunden später lief ich in den Keller und fand ihn zwischen ein paar Kisten frischer Heringe, die er ausnahm und spülte. Mit einem Schmunzeln lobte ich seine Ausdauer, während sich sein Gesicht zur Grimasse verzog. Noch in der Küche vernahm ich seine Flüche, doch Vater nahm es gelassen: „So weiß ich wenigstens, dass er nicht weggelaufen ist.“
Trotz einer zweiten gründlichen Dusche und verbunden mit viel Zitronensaft, jammerte er immer noch, nach Fisch zu stinken.
„Quatsch! Frischer Fisch stinkt nicht“, versicherte ich ihm und zur Bestätigung roch ich an seinen Händen. „Ich rieche nichts!“
Damit er endlich Ruhe gab, überließ ich ihm für den Abend, eines meiner liebsten Shirts und ermahnte ihn, es nicht zu versauen.
Kurz nach Mitternacht fuhren wir in die Rostocker Innenstadt. Wie immer parkte ich den Wagen drei Querstraßen vom „Z“. Vor dem Eingang bereits, stießen wir auf Sven, der wieder sein Lederoutfit trug.
„Wollte nur mal wieder reinschauen“, begrüßte er uns verlegen und schnüffelte aber auffällig in Richtung Mark.
„Ich habe es doch gewusst!“, kreischte der auf und als sich alle nach uns umdrehten, schrie er in die Masse, „Was ist? Der ist eben geil auf mich!“
„Riecht das nicht nach Zitrone?“, fragte mich Sven leise.
Ich schob beide durch den Eingang, da es mir peinlich vor den Umstehenden war. Drinnen war die Luft schweißtreibend und drückend. Entweder waren zu viele Gäste im Saal anwesend oder die Klimaanlage bereits ausgefallen. Zum Dream Dance Sound wogten auf den beiden Flächen inmitten der bunt flimmernden Spots tanzwilde Körper. Kein Stuhl war unbesetzt. Selbst auf der Galerie drängten sich die jungen Leute und verbreiteten eine ausgelassene Stimmung. Ich steuerte geradewegs meinen angestammten Platz nahe dem Tresen an. Der Keeper grüßte stumm und schob mir ein Tonic-Water hin. Ich bestellte für meine beiden Begleiter Wodka mit Cola und zahlte.
„Auf einen erfolgreichen Abend“, schrie ich sie an und erhob mein Glas.
Sven beobachtete Mark aus den Augenwinkeln und machte keinen Hehl daraus, dass er sich für Mark interessierte. Der trank sein Glas aus und bestellte gleich noch mal zwei. Während Mark wartete, sendete mir Sven einen fragenden Blick. Ich beugte mich zu ihm: „Mark steht nicht auf Leder!“
Er nickte kurz, doch für mich schien er nicht sofort enttäuscht darüber zu sein. Vielmehr sah es aus, als wäre Sven am grübeln. Ich hielt Ausschau, ob ich Kevin entdecken konnte. Von meinem jetzigen Platz sah ich nicht alles ein. Ich informierte Mark und ging auf die andere Seite des Saals.
So viele bekannte Gesichter waren sonst nicht hier und so grüßte ich mal hier und nickte mal dahin. Nur einen konnte ich nicht finden, Kevin. In mir wuchs die Erkenntnis, dass der Bogen zwischen ihm und mir endgültig überspannt oder sogar schon gebrochen war.
Meine Gedanken kreisten zwischen aus und vorbei und besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Selbst dass ich mir sagte, dass er sich schämte und deshalb in sich verkroch, machte es nicht besser für mich. Ich brauchte dringend frische Luft und ging vor den Eingang. Ihn anrufen ging nicht, da ich mein Handy im Auto ließ.
Auf den Weg dorthin, sah ich plötzlich Bastian. Die Männer, mit denen er zusammenstand, waren mir fremd und wirkten nicht gerade angenehm auf mich. Als er mich erkannte, löste er sich gleich von den Typen und kam auf mich zu.
„Hey, wie geht’s?“, fragte ich ihn. Etwas verwundert stellte ich fest, dass er seine Klamotten ziemlich verschmutzt wohl schon mehrere Tage an sich trug.
„Geht so“, meinte Bastian. Unruhig, die Hände tief in seinen Jeans vergraben, wirkte er eher gehetzt auf mich.
„Was machst Du, wo wohnst Du jetzt?“, wollte ich wissen, doch Bastian blieb kleinlaut und hampelte weiter rum.
„Kannst mir was borgen?“, fragte er stattdessen und versicherte gleich, dass er es mir bald zurück gab.
Ich schaute mich verwirrt um und überlegte, ob ich gerade mitten in einer Reportage über Drogen geraten war.
„Max, bitte“, flehte er leise und es klang echt verzweifelt.
Ich kramte aus der Jeans meinen so genannten „Notzwanziger“ hervor. Schnell schnappte sich Bastian den Schein und steckte ihn ein.
„Danke … ich muss mal was essen gehen … danke“, hörte ich noch, als Bastian eilig verschwand.
Rauchend stand ich bei meinem Wagen und grübelte, ob ich das Geschehene eben als Traum und Wirklichkeit wahrnahm. War das eben der Bastian mit dem ich noch vor Tagen, zusammen mit Mark, am Strand war? Ich suchte nach früheren Anzeichen bei Bastian, dass er überhaupt auf Drogen stand. Nur konnte das am ehesten Mark sagen, denn sie wohnten zusammen. Sicher hatte Mark absichtlich das Thema ausgespart, als er mir Bastians Rauswurf mitteilte. Mark kannte schließlich meine Meinung zu Drogen.
Ich zertrat den Rest der Zigarette und holte mein Handy aus dem Auto.
„Wo bist Du? Max“, schrieb ich an Kevin und ging zurück zur Disco. Das Zusammentreffen mit Bastian behielt ich vorerst für mich.
Die stickige Luft haute mir wie eine Faust ins Gesicht und meinen Stammplatz hatte eine Gruppe bereits eingenommen. Mark war sicher irgendwo in der tanzenden Masse eingetaucht.
Also blieb mir die Bar, wohin ich mich zwischen den Herumstehenden durchschob. Einer der Jungs, der Name fiel mir nicht gleich ein, erkundigte sich, wie es mir ginge und ich nickte zufrieden. Noch ein Ok und schon war ich wieder allein.
Wiederholt stellte ich fest, dass sich viele meiner Kontakte nie richtig vertieft hatten. Mit Mark verband mich nicht nur, dass wir über die Szene einer Meinung waren. Neben seiner manchmal albernen Art, war er ernst genug, Wichtiges zu erkennen und Zusammenhänge zu erklären. Besonders schätzte ich an ihm, dass ich ihm voll vertrauen konnte.
Das Handy signalisierte eine SMS. Endlich.
„Hier! K.“
Ich starrte auf das Display. Was sollte das? Das war doch nichtssagend. Hier, konnte überall sein. Der spielt doch mit mir, überlegte ich krampfhaft, und ärgerlich drückte ich wild auf dem Handy rum.
Ich bestellte noch ein Glas Tonic-Water und als ich wütend den Geldschein hinwarf, war auch gleich das Lächeln des Keeper verschwunden. Mir doch egal, was der jetzt von mir dachte.
Mark kam kreischend, vor Freude überschäumend, zu mir und wie er schon die Arme zur Umarmung hob, gab ich mich seiner wehrlos hin. Doch Mark ging einfach an mir vorbei und ich sah ihm nach. Gerade konnte ich noch Kevins Kopf sehen, wie er gleich darauf wieder, von Mark umarmt und liebkost, verschwand. Während ich außerhalb solche Begrüßungen eher als peinlich empfand, zählte für mich die Disco als Freiraum für schwule Lebensformen.
„Max! Dein Sonnenschein … nun sieh doch mal her!“, schrie er vor Freude und knuddelte Kevin fortwährend dabei.
Wie sich unsere Blicke trafen, glaubte ich zu erkennen, dass er mich Ekel schimpfte. Dafür konnte er von meinen Lippen ‚Böcklein‘ ablesen, was bei ihm ein Lächeln hervor rief.
An mich gepresst, spürte ich wieder seinen heftigen Herzschlag, was mir bereits ziemlich vertraut vorkam.
Als Mark Sektgläser an meinem Ohr zusammen stieß, hörte ich auch die ohrenbetäubende Musik um mich herum.
Sven war auch noch da und mir fiel auf, dass er umgezogen war. Sicherlich würde er mir den Grund, am nächsten Tag erklären.
Wir stießen die Gläser aneinander und Mark schrie zwar noch einen Spruch von dem ich nur etwas - …von nicht mehr trennen! - verstand.
Selbst als ich das zweite Mal fragte, blieb Kevin gelassen und beschwörte sogar, dass er seine Mutter informiert hatte.
„Und mein Pa hat Bereitschaft und kommt irgendwann am Montag erst“, kam er mir zuvor, während er mich unentwegt umarmte und festhielt. Die Sonne stand schon über dem Horizont. Vom Meer wehte ein kräftiger Wind und mir fröstelte. Die Wellen trugen weiße Schaumkronen und rollten rauschend an den Strand. Scharenweise kreischten Möwen vor uns, als stritten sie sich ständig und auf der Promenade sah man ein paar morgendliche Jogger. Sicher war es bereits sechs Uhr durch. Wir saßen umschlungen am Strand und die Müdigkeit ergriff von mir Besitz.
„Gehen wir?“, fragte ich leise.
„Wohin?“, murmelte Kevin, als würde er bereits schlafen.
„Ich muss ins Bett.“
„Ich auch“, sagte Kevin und drückte mich an sich.
Auf dem Heimweg diskutierten wir darüber, wer wo schlief. Obwohl sich Kevin alle Mühe gab, mich am Sprechen zu hintern, für mich blieb es dabei, dass er auf der Couch nächtigen sollte.
Mit der letzten Kraft meiner Geduld und weil Kevins Diskussion nicht enden wollte, warf ich ihm entschieden das Bettzeug auf die Couch. Als ich endlich lag, hörte ich ihn im Nebenraum immer noch murren und schlief aber bald ein.
Erst riss mich der Wecker aus dem Schlaf und gleich darauf merkte ich erschrocken, dass Kevin dicht neben mir lag. Wie er so ruhig atmend schlief, schaffte ich es nicht, ihn hinaus zu werfen. Da ihn der Wecker schon nicht wach bekam, legte ich die Decke über ihn und schlich ins Bad.
Gewaschen, rasiert und bereit für die Arbeit, ging ich hinüber ins Restaurant. Die Sommersonne meinte es mal wieder sehr gut, was hieß, die vor mir liegende Schicht würde es ganz sicher wieder in sich haben. Ein Glück, dass ich danach meinen freien Tag hatte, tröstete ich mich und begrüßte meine Eltern am „Familytisch“.
Mit einem Pott Kaffee setzte ich mich und zündete mir eine Zigarette an.
„Das war eine lange Nacht, wie man sieht“, sagte Vater.
„Geht so“, gab ich zurück und schlürfte den Kaffee, in der Hoffnung, dass er bald meinen inneren Motor anwarf.
„Dein Freund schläft wohl noch?“, fragte Mutter, worauf ich nur nickte. Wie ich Mutter so kannte, wollte sie noch mehr über die Villa der Mümlings von mir wissen und wie sich die Frau des Professors so gab, nur wich ich Mutters Fragen beharrlich aus.
Nach einer Pause, fragte uns Vater, ob er Seehecht oder den Zander als Tagesgericht auf die Karte setzen sollte.
„Ach Vatter“, meinte Mutter, als gäbe es für ihn keine anderen Sorgen. Dass sie, als ehemalige Sächsin, immer mal versuchte plattdeutsch zu sprechen, trieb mir ein Grinsen ins Gesicht.
„Lachst mich jetzt aus?“, fragte sie mich gleich. Sie sah Vater hilfesuchend an. Der aber schaute nicht von seiner Speisekarte auf.
„Wenn nur diese weibliche Neugierde nicht wäre“, warf ich in die Runde und holte mir aus der Küche eine Scheibe Brot.
„Wenn Kevin ausgeschlafen hat, kannst Du ihn gleich ausfragen“, empfahl ich ihr und begann ihren Nacken zu massieren.
„Ich bin nicht neugierig“, sagte sie gelassen, genoss die Massage und selbst Vater unterdrückte den Drang zu lachen.
„Nun lass mal gut sein“, beruhigte Vater. „Die Mümlings sind ganz normale, nette Menschen.“
„Das hoffe ich doch.“
Vater schob ihr die Tageskarte zu und nahm sich das Buch mit den Vorbestellungen. Wie er es so durchblätterte, meinte er gelassen, dass die Saison bisher ein gutes Geschäft war. Während Mutter es auf das lang anhaltende, gute Wetter zurückführte, schlussfolgerte Vater, dass überhaupt wieder mehr Touristen die Ostsee als Urlaubsziel entdeckt hatten. Beide erinnerten sich, dass noch vor wenigen Jahren manche gastronomische Einrichtung schloss, weil trotz besten Wetters, kaum Touristen in der Stadt waren. Dass selbst ihnen kurze Zeit die Insolvenz drohte, machte sie immer noch traurig. Einen Winter lang bangten und hofften sie, dass die folgende Saison besser würde. Unbeirrt hielt Vater an der Devise fest, dass traditionelles Kochen, in bester Qualität zubereitet und fachlich serviert ein wichtiger Garant für den Erfolg ist. Wer bei ihm den Beruf des Kochs lernte, bekam ein gutes handwerkliches Können mit und konnte sicher noch Jahre später seine Devise aufsagen.
Sven kam diesmal fast zu spät und die Ringe um seine Augen bescheinigten sichtbar, dass er die Nacht nicht allein verbracht hatte und so zu wenig Schlaf kam. Eilig bereitete er sein Revier vor und während er die Tische eindeckte, berichtete er auch gleich, dass er bei Mark genächtigt hatte. Die Freude darüber war unübersehbar und flotten Schrittes wirbelte er zwischen Tischen.
Ich wunderte mich noch, dass er in der Disco später umgezogen war. Ehe ich danach fragte, kam er mir zuvor: „War sowieso nicht ernsthaft von mir gedacht.“
Wie ich Mark kannte, bekam ich von ihm die ausführliche Version und fragte so nicht weiter.
Na dann, überlegte ich, brauchte ich mich wenigstens um Mark keine Sorgen machen. Die nächtliche, kurze Begegnung mit Bastian erschien mir aber immer noch als wichtig, worüber ich mit Mark sprechen wollte.
Im ständigen Wechsel der Gäste und der Erfüllung ihrer Bestellungen nach Eis oder Kuchen, verging die Zeit wie im Fluge. Als es anfing, dass der Ansturm der Urlauber und Ausflügler abebbte und die ersten Tische frei blieben, vermisste ich es regelrecht, dass Kevin sich nicht sehen ließ. Ich strich den Gedanken, dass er noch schlafen könnte. Vielmehr nahm ich enttäuscht an, dass er einfach nach Hause gefahren war.
Noch konnte ich nicht aus dem Revier weg und deckte die ersten freien Tische für den Abend ein.
Wieder wechselte ich an den noch besetzten Tischen die Aschenbecher, doch keiner der Gäste deutete an, bezahlen zu wollen. Ein älteres Ehepaar geleitete ich vorsichtshalber gleich in Svens Revier und räumte auch gleich das noch verbliebene Geschirr dort ab. Im Restaurant waren auch noch viele Tische besetzt. Helmut pfiff leise eine Melodie und folgte mir zur Abwäsche.
„Na Max, alles paletti?“
„Klar, alles ok“, gab ich zurück und stapelte meine Teller und Tassen auf.
„Hast also wieder einen Freund?“
Ich stutzte sichtbar und Helmut erzählte, was ihm meine Mutter erzählt hatte, und ich nickte gelegentlich.
„Und richtig große Liebe?“, wollte er wissen.
„Na ja, es entwickelt sich“, deutete ich vorsichtig an.
„Gut … sehr gut …“, meinte Helmut und ging ins Restaurant.
Vater, der uns beobachtet hatte, lächelte freundlich und sah die Bons dabei durch.
„Frühstück bekam er gegen 16 Uhr von mir“, und mit einem Blick auf die Küchenuhr, „müsste also gleich wieder auftauchen.“
„Aha, danke“, sagte ich erfreut.
Wieder auf der Terrasse zahlten weitere Gäste von mir und ich konnte so weiter die Tische für den Abend vorbereiten. Dazwischen half ich Sven beim Abräumen und Säubern der Tische. Hin und wieder fragte er mich über Mark aus. Doch wie ich ihm sagte, dass er das am besten selbst herausfand, stimmte er mir zu. Mit meiner Auffassung war ich in Bezug auf Mark völlig gegensätzlich. Der hätte sofort los geplappert und ich wollte auch gar nicht wissen, was er vielleicht über mich schon alles erzählt hatte.
Ich fand Kevin in der Küche, wie er mit meinem Vater diskutierte und dabei immer auf die Herdreihe zeigte. Da ich erst gar nicht wissen wollte, worum es dabei ging, hob ich erfreut die Hand zum Gruß. Was konnte Kevin schon über einen Küchenbetrieb wissen, überlegte ich noch und wartete nicht länger.
Helmut und Heike trugen massenweise Geschirr zur Abwäsche. Ich vergewisserte mich, dass in meinen Revier so weit alles in Ordnung war und half bei den Kollegen.
„Wie heißt denn Dein neuer Freund?“, wollte Heike von mir wissen und schaute mich neugierig an.
„Man, man“, erwiderte ich gereizt nur so laut, dass es aber auch Mutter hören musste, „wieso sagst sie es nicht auch noch allen Gästen.“
„Ach Max“, säuselte Heike, „wir alle wollen doch nur, dass Du glücklich bist.“
Da sie mir damit ein Grinsen entlockte, sagte ich ihr, dass er Kevin hieß.
Der kam gerade aus der Küche und ging geradewegs zu meiner Mutter. Schnell sprang ich dazu und ehe ich ihn vorstellen konnte, bat Kevin sie bereits, dass sie ihn mit du ansprach. So einfach kann das Leben sein, dachte ich nur und folgte ihm zum „Familytisch“.
„Na, ausgeschlafen?“
Kevin strahlte über sein Gesicht und schien förmlich zu schweben.
„Ja, schon vorhin und Frühstück bekam ich auch schon“, berichtete Kevin freudig.
„Wie schön“, erwiderte ich, „doch bei Kurzbesuchern gilt die Devise - Abspeisen und dann raus!“
„Ach ja? Also ich habe genug Zeit.“
„Ich aber nicht, denn …“
„Weiß ich doch“, unterbrach er mich, „dann hole ich Dich heute von der Arbeit ab.“
„Hm“, meinte ich, „wollte eigentlich ausschlafen.“
„Kannst Du! Ich schlafe wieder auf der Couch“, worüber er aber nur lachen musste.
Ich musste ins Revier und verblieb mit Kevin, dass er zum Feierabend wiederkam.
„Dann werde ich mal meine Zahnbürste holen“, sagte Kevin übermütig lachend, sprang die Stufen der Terrasse herunter und verschwand in der Menschenmasse.
Während allabendlich ein Großteil der Tische im Restaurant vorbestellt war, füllte die Laufkundschaft schnell beide Reviere auf der Terrasse. Wenn Gäste lautstark ihren Unmut darüber im Eingang kund taten und einen das Arbeiten schwer machten, bemühten wir Kellner uns, die Gäste zu beruhigen oder auf ein späteres Vorbeischauen zu vertrösten. Für mich war das längst nichts Besonderes mehr. Das galt dann immer noch als normaler Tagesablauf, weil alles aufeinander abgestimmt ablief.
Plötzlich kam diese gesamte eingespielte Organisation ins Stocken und für einen Moment schien es, dass nichts mehr ging.
Vater kam aus der Küche und verlangte das Telefon. Hastig tippte er die Notrufnummer. Ruhig sagte er Name und Anschrift des Restaurants und was passiert war.
„Helmut …“, stammelte er nur und lief schon wieder in die Küche, „ist hingefallen und …“
Ich stellte mein Tablett am Büfett ab und hechtete Vater hinterher.
Helmut lag auf der Treppe zum Lager und hielt sich, mit schmerzverzerrtem Gesicht, sein linkes Bein.
Da ich so was schon mal beim Bund sah, erkannte ich sofort, dass das Bein gebrochen war.
„Helmut, die sind gleich da“, beruhigte Vater ihn und setzte sich zu ihm.
Ich legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter und wusste nicht, was ich sagen konnte.
Helmut stöhnte vor Schmerz.
„Wie ist das passiert?“, fragte ich Vater, der ahnungslos die Schultern hob.
„Bin abgerutscht, Max“, brachte Helmut schwer atmend hervor.
„Scheiße.“
Ich fühlte mich elend, denn ich wusste nicht, was ich für Helmut tun konnte. Während Vater abwechselnd ihn beruhigte und nach seinem Bein sah, übergab mir Helmut seine Brieftasche.
„Max, hier … und gehe nach oben. Dein Vater ist ja hier.“
„Ja … aber …“, zögerte ich.
In der Küche übernahm Jens Vaters Stelle an der Annonce und Mutter wechselte ständig zwischen Büfett und Helmuts Revier. Der Krankenwagen traf nach wenigen Minuten ein.
Nervös und nachdenklich arbeitete ich im Revier, verwechselte drei Bestellungen und zwang mich schließlich dazu, ruhiger zu werden. Während der weiteren Stunden fiel es mir schwer, mich den Gästen freundlich gegenüber zu verhalten, da mich das mit Helmut immer noch stark beschäftigte. Wortkarg, doch der Höflichkeit geboten, bediente ich weiter.
Als die ersten Tische frei blieben, atmete ich tief durch und sehnte nur noch den Feierabend herbei.
Endlich erreichte Mutter auch jemanden im Krankenhaus, der ihr die Auskunft gab, dass Helmut schon versorgt war und auf Station verlegt sei.
Kevin kam zum Feierabend und merkte gleich, dass es mir nicht gut ging. Ruhig hörte er sich an, was passiert war.
„Das wird schon wieder“, bemerkte Kevin. Die Abrechnung verlief ziemlich still und nachdenklich. Einerseits erschöpft, machte sich Mutter bereits Gedanken woher sie Ersatz für Helmut bekam. Allen war klar, dass mit Helmut ein guter Mann für die kommenden Wochen fehlen würde. Vor allem standen uns die Tage der „Hanse Sail“ noch bevor.
„Ich rufe morgen beim Arbeitsamt an“, warf Vater ein und fügte dazu, dass ein Aushang im Fenster angebracht ebenso half.
„Was glaubst Du, was sich da meldet?!“, entgegnete Mutter und überprüfte die Abrechnungen von Heike und Sven. Die konnten keinen nennen, der schnell bzw. überhaupt dafür in Betracht kam.
Ich verzichtete auf meinen morgigen freien Tag und überlegte, wen ich kannte. Doch da fiel mir auch keiner ein.
„Also, ich habe schon bei meinen Opa … der hat ein Hotel … gekellnert“, meldete sich Kevin, „und Ferien habe ich auch noch.“
Für einen Augenblick schauten wohl alle auf ihn und Kevin wechselte schnell seine Gesichtsfarbe.
„Nein, das geht nicht“, sagte Mutter und ich dachte nur, dass Kevin immer für eine neue Überraschung gut war. Nur diesmal zweifelte ich echt, an dem was er vorgab.
Heike und Sven tranken aus und verabschiedeten sich. Wie wir noch zusammen saßen und berieten und die kommende Schicht organisierten, verschwand Kevin in die Küche. Vater schaute mich ziemlich ernst und fragend an, was das nun wieder sollte.
„Kevin!“, rief ich gereizt, doch anstatt einer Antwort hörten wir nur das Klappern von Tellern. Ich stand auf und ging ihm hinterher.
„Ich beweis es!“, kam er mir entgegen. Konzentriert, aber doch ziemlich sicher, hielt er drei Teller in den Händen und kam zum Tisch. Als er jedem einen Teller hinstellte, waren sie mit Wasser gefüllt und nichts davon auf die Tischdecke gekleckert.
Das beeindruckte sogar meine Eltern und Kevin nahm es nicht ohne Stolz entgegen.
„Das Kassensystem kenne ich auch … also?!“
„Na ja“, überlegte Vater laut, unterließ es aber Mutters Entscheidung zu übergehen. Für den Servicebereich war sie nun mal zuständig und sie entschied nun mal messerscharf.
„Tja, alles schön und gut. Doch das geht immer noch nicht.“
„Na, zwei und zwei wird er ja zusammen zählen können“, warf Vater dazwischen.
„Gesundheitszeugnis?“, meinte Mutter an Kevin gerichtet und schloss demonstrativ die Geldkassette mit den Tageseinnahmen.
„Habe ich natürlich“, Kevin gab sich siegessicher, dass er nun den Job hatte.
Vater hatte genug und verglich die Situation mit einem Pokerspiel. Mutter bestand darauf, dass Kevin erst seine Eltern informieren müsse, ohne ihr Ok gäbe es den Job nicht.
Ein paar Minuten später wünschten wir uns alle eine Gute Nacht.
Die Uhr zeigte längst die zweite Stunde an. Kevin schien kein bisschen müde. Während ich mit den Lidern kämpfte, erzählte er, dass er oft bei seinem Opa in Heringsdorf die Ferien verbrachte und dort immer schon gern im Hotel half. Der habe ihm auch alles gezeigt und beigebracht. Sein Traum sei, dass er mal selbst ein Hotel führe. Am besten gleich ein Gay – Hotel, mit allen drum und dran. Schließlich ließ er nicht unerwähnt, dass er, mit Fünfzehn, im Hotel seines Opas auch sein erstes sexuelles Erlebnis hatte. Mit einem Jungen, der damals schon Neunzehn war, was er aber für unwichtig hielt.
„Du bist der Erste, dem ich das erzähle“, sagte Kevin und küsste mich.
„Danke.“
„Hm, … mit dem Mund sogar“, sagte Kevin genießerisch.
„Auf …“, korrigierte ich ihn.
„Nein, mit dem Mund“, flüsterte er mir ins Ohr, was ziemlich kitzlig zugleich war.
„Böcklein, wie verdorben … verdorben!“
Nach vielen Küssen, entzog ich mich seinen klammernden Händen und bat Kevin, dass er als erster ins Bad ging. Währenddessen legte ich das Bettzeug auf die Couch.
Kevin folgte nur widerwillig meiner Bitte, denn er fand, dass es gerade so schön romantisch war.
Mir wäre es auch lieber gewesen, nur beschäftigte mich das Befinden von Helmut. Hinzu kam, dass der Tag sehr hektisch zu Ende ging.
Kevins Bett war schnell hergerichtet und ich rauchte vor der Wohnung noch eine Zigarette. Was er unter der Dusche sang, verstand ich nicht. Dass er dabei sicherlich an eine Gelegenheit dachte, bei mir zu schlafen, war klar. Keine Frage, gestand ich mir, dass mir selbst der Gedanke daran gefiel. Nur musste ich, auch damit ich glaubwürdig blieb, an meiner Zurückhaltung festzuhalten.
Ich zertrat den Rest der Zigarette und ging hinein. Mit einem Badetuch bekleidet, schlüpfte er unter die Bettdecke. Während ich mich auszog, grinste Kevin mich regelrecht herausfordernd an, was ich geflissentlich überging.
Nach der Dusche fühlte ich mich erfrischter, doch lastete die Müdigkeit übermächtig und bleischwer in meinen Gliedern.
Kevin lag, wie ein braves Kind, beide Hände lang auf der Decke neben sich liegend und tat als schliefe er bereits. Da ich es besser wusste, gab ich ihm einen Kuss und ging sogleich in mein Schafzimmer.
„Gute Nacht, Böcklein“, rief ich ihm zu und zog die Decke zu mir. Wie ich so lag, spürte ich gleich doppelt meine Erschöpfung und empfand es nur noch als angenehm, wenn ich die Augenlider fest schloss. Dass Kevin nichts sagte, störte mich nicht, denn ich war im Begriff in den Schlaf hinüber zu schweben.
Ich wusste zwar nicht, wie lange ich geschlafen hatte, auch nicht was mich geweckt hatte. Wie spät es bereits war, wollte ich erst gar nicht wissen, denn ich fühlte mich keineswegs ausgeschlafen. Als ich die Augen öffnete sah ich, dass Kevin vor meinem Bett stand. Ich rutschte zur Seite und hob einladend die Decke. Kevin kuschelte sich fröstelnd an und ich nahm ihn in meinen Arm.
Schlummernd und in der Annahme, noch mal einschlafen zu können, lagen wir still und ich hörte seinen gleichmäßigen Atem. Es formten sich Bilder, wie wir nackt am Strand lagen, uns dabei eng umschlungen liebten und schließlich lachend ins Meer liefen. Ich lief auf Kevin zu und hob ihn vor Freude hoch und über uns drehten sich die Wolken herum. Überglücklich fielen wir uns in die Arme, küssten uns heftig und begehrlich. Kevin entriss sich mir, lachte herzlich und rannte davon. Schneller und schneller rannte ich ihm nach. So sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte seinen Arm nicht erreichen. Ich hörte sein Lachen und lief ihm nach. Immer schwerer kam ich voran, weil meine Füße tiefer in den Sand eintauchten. Je länger ich still stand, je tiefer rutschte ich in den Sand.
Schon auf Brusthöhe, nahm er mir den Atem und ich sah noch wie eine Welle auf mich zukam.
Ich entriss mich aus dem Schlaf und sah unerwartet in Kevins besorgtes Gesicht.
„Max, Du hast geträumt?“, sagte er leise
„Hm.“
„Ein schlimmer …?“
„Nein“, und drehte mich zu ihm, worauf er sich eng an mich schmiegte.
Ich mochte den Geruch seiner Haare und fühlte die warme feste Haut seines Rückens. Auch das er nackt war, gab mir ein wohliges Gefühl der Zuneigung und drückte Kevin fest an mich. Er hob den Kopf und unsere Lippen trafen zusammen. Schweigend erkundeten und fanden unsere Hände die sensiblen Regionen. In deren Folge des gesteigerten Verlangens unsere Körper aneinander zu reiben, drehte ich Kevin auf mich und schlang die Arme packend um ihn. Es gab nichts schöneres, als den Augenblick, wo sich unsere pulsierenden Körper nahtlos in Ekstase brachten und gemeinsam angekommen, sich eine wundervolle Wärme zwischen uns ausbreitete. Die angenehme Erschöpfung hinterher machte das Glücksgefühl vollkommen.
Kevin atmete gleichmäßig und ich streichelte liebevoll über seinen Rücken. Für einen Moment erinnerte ich mich an die erste Begegnung in der Disco, worüber ich kurz lächeln musste.
Vom angenommenen, kindlichen Dorfbengel zum geliebten „Böcklein“, war es an sich nur ein kurzer Weg. Dass der ziemlich anstrengend für mich war, schrieb ich seiner unerfahrenen Art zu, die genauer zu erkunden ich mir aber mittlerweile vornahm.
„Böcklein?“, flüsterte ich.
„Ja.“
„Ich mag Dich“, sagte ich und es kam von Herzen, „sehr sogar.“
Kevin antwortete nicht gleich, lag immer noch auf mir und hob schließlich seinen Kopf.
„Ich liebe Dich sogar“, sagte er und küsste mich.
„Vorsicht mit großen Worten“, riet ich ihm, „und Liebe ist eines.“
„Stimmt. Dann könnte ich meine Gefühle für Dich nicht mehr steigern“, überlegte er laut und legte den Kopf auf meine Brust, „was ich für diesen Herzschlag empfinde, lässt sich nicht mehr steigern.“
Ich strich ihm durch die Haare und lachte.
Als es sich nicht länger aufschieben ließ, entzog ich mich seinen Armen und stand auf.
Kevin witzelte über den Fleck auf meiner Boxershorts. Sie ausgezogen, warf ich sie ihm ins Gesicht.
Ausgelassen und lachend, schnüffelte er daran und meinte, dass das ungemein nach Liebe rieche.
Während der gemeinsamen Dusche, und von unzähligen Küssen unterbrochen, wuschen wir uns gegenseitig.
Kevin zuliebe, aß ich beim Frühstück ein halbes Brötchen und ging dann vor die Wohnung, um eine Zigarette zu rauchen. Ich sollte damit aufhören, überlegte ich, denn zum ersten Mal störte es mich selbst.
Während der Fahrt nach Gehlsdorf, versprach die Vormittagssonne einen heißen Tag und Kevin sang fröhlich mit Rosenstolz – Ich geh‘ in Flammen auf.
Vor der Villa sprang er aus den Wagen und warf wieder laut die Seitentür zu.
„Ma?!“, rief er schon im Flur, „Max ist hier!“
Frau Mümling begrüßte mich erfreut und bat mich auf die Veranda.
„Max, trinken sie einen Kaffee mit?“, fragte sie höflich und ging mir voran.
Kevin und ich hatten vorher ausgemacht, dass ich es übernahm, ihr die Situation im Restaurant zu erklären.
Es überraschte mich, dass Herr Mümling zeitungslesend am Tisch saß.
„Micha, darf ich Dir Max vorstellen“, beherrschte Frau Mümling locker, „der Freund Deines Sohnes.“
Der Professor legte die Zeitung zusammen, sah mich kurz prüfend an und reichte mir die Hand.
„Guten Tag“, sagte ich gefasst und fügte respektvoll schnell hinzu, „Herr Professor.“
„Hi Pa“, sagte Kevin dazwischen und verschwand sogleich ins Haus.
„Max, setzen Sie sich doch bitte“, überspielte Frau Mümling die Förmlichkeit und hatte auch gleich eine Tasse für mich auf den Tisch gestellt.
Das Schweigen des Professors hemmte mich, gleich auf das eigentliche Thema zu kommen. So erwähnte ich kurz, dass es schien, ein heißer Tag zu werden.
„Ja, doch wir brauchen dringend auch mal wieder Regen“, meinte Frau Mümling und schaute zum Garten hinüber, „das täte nicht nur den Pflanzen gut.“
Diesmal verkniff ich mir eine scherzhafte Bemerkung über ihre ökologische Oase und nahm lieber noch einen Schluck Kaffee.
„Haben Sie beide heute was Besonderes vor?“, fragte sie mich. „Ist doch Ihr freier Tag, nicht?“
Ihre Frage kam wie gerufen für mich und antwortete sogleich, dass sich das überraschend geändert hatte. Auch nannte ich den Grund und ging dann dazu über, dass Kevin sich helfend angeboten hatte.
Während der Professor weiter schwieg, erwähnte Frau Mümling lediglich, dass es Kevins Ferien wären. Wieso ist der nie da, wenn man ihn brauchte, überlegte ich und nahm den letzten Schluck aus der Tasse. Das Schweigen lag unerträglich auf mir und am liebsten hätte ich mich verabschiedet.
„Was sagst Du?“, wandte sich Frau Mümling an ihren Mann.
Der faltete die Zeitung in seiner Hand, schaute mich eindringlich an, als suchte er die Antwort bei mir.
„Max?“, mich fragend, ob es mir so recht sei und wie ich es bejahte. „Könnten Sie das meinem Sohn nicht ausreden?“
Welche Gedanken mir auch gleich durch den Kopf gingen, sie schienen mir als nicht geeignet, dass ich ehrlich genug antwortete.
„Würde mir sehr schwer fallen“, sagte ich ruhig und war bereit nicht nur meine eigenen Interessen an Kevin zu verteidigen.
„Warum?“, fragte der Professor ernst und warf die Zeitung auf den Tisch.
Ich überlegte, formulierte Sätze blitzschnell und suchte die passende Antwort.
„Weil … Kevin gern helfen möchte“, begann ich zögerlich, „und auch … weil er …er mein Freund ist.“
Der Professor neigte den Kopf zur Seite, als würde er mir gleich sagen wollen, dass ich das Thema der Klausur völlig verhauen hätte, ‚Sechs! Setzen!‘
Sein bohrender Blick nahm mich völlig in Bann. Kluge Augen, umgrenzt von Lachfältchen, überlegte ich, die eigentlich völlig gegensätzlich zu seinen ernsten Worten standen. Was wollte er von mir? War ich schädlich für seinen Sohn, eine schwule Bakterie, die man bekämpfen musste? Sicher war es für ihn längst beschlossen, was Kevin studierte und später arbeitete. Den revoltierenden Kevin tat er doch als pubertäres Gehabe ab. Wann oder über was, erforschte ich an seinen Augen, konnte dieser Mann überhaupt lachen?
„Micha!“, warf Frau Mümling ihm entgegen. Sie kannte ihn schließlich besser und wusste, wie man ihren Mann zu nehmen hatte, „Max ist nicht einer Deiner Studenten!“
Der Professor nahm es regungslos zur Kenntnis.
„Und wenn ich es verbieten würde?“, richtete er an mich.
„Dann würde ich kämpfen“, gab ich entschlossen zurück.
Nachdenklich schaute er mich an und hob den Kopf.
„Siehst ja, ich habe bei beiden überhaupt keine Chance“, was er plötzlich völlig gelassen, an seine Frau gerichtet sagte. „Mehr wollte ich gar nicht wissen.“
Da ich etwas länger brauchte und mich ernsthaft fragte, ob ich damit einen Test bestanden hatte, fragte Frau Mümling beiläufig, „Geht es ihrem Kollegen schon wieder besser?“
Dass zu erfahren, gab ich zurück, wusste momentan nur meine Mutter, die bereits morgens ins Krankenhaus fuhr.
Auch interessierte sie, wie lange Kevin gedenke, zu arbeiten. Sie ließ nicht unerwähnt, dass er den Montag darauf Geburtstag hätte und eigentlich eine Gartenparty in Planung war. Ich nannte zwar keinen genauen Tag, nur dass meine Eltern sicher bald einen Ersatz für Helmut fanden.
Kevin kam hinzu und schaute abwechselnd auf seine Eltern.
„Alles klar?“, fragte er kurz und schaute mich ungeduldig an.
„Kevin, Schatz“, fragte ihn seine Mutter, „seh‘ ich dich denn mal zwischendurch?“
Kevin nickte und schubste mich an, als Zeichen, dass wir aufbrechen sollten.
Unentschlossen, und auch weil ich es einfach als unhöflich fand, wartete ich lieber, bis Kevin sagte, dass es für uns Zeit würde.
Der umarmte seine Mutter und hielt dann seinem Vater die Hand hin. Der Professor schaute auf und konnte sogar lächeln. Wie er die Hand nahm, beugte sich Kevin zu ihm herunter, gab ihm flüchtig einen Kuss auf die Wange und murmelte einen Dank.
In meiner Wohnung zog er sich gleich um und stand minutenlang vor dem Spiegel. Immer wieder prüfte er den Sitz der schwarzen Hose und zupfte am Kragen des weißen Hemdes.
„Bleib ruhig und setze Dich“, wies ich ihn genervt an.
„Ach, ich bin aufgeregt“, umarmte er mich und ergänzte, „mehr als heute Morgen.“
Nach dem Kuss blieb mir nichts anderes übrig und zog mich um.
Im Restaurant saß Vater allein am „Familytisch“ und schrieb an der Tageskarte. Als ich mich nach Mutter erkundigte, zeigte er in Richtung Helmuts Revier.
Dort sah ich sie, mit einem Mann, im mittleren Alter und gepflegtem Äußeren, sitzen. Es war augenscheinlich, dass er sich auf den Aushang hin gemeldet hatte.
„Was meinst Du?“, fragte ich Vater, ob sie ihn nahm.
„Könnte schon sein“, schätzte Vater, „macht einen guten Eindruck.“
Erst jetzt merkte ich, dass Kevin schon wieder, mit verschränkten Armen, vor sich schaute. Oh, oh, dachte ich und irgendwie tat er mir leid, weil er sich so ins Zeug gelegt hatte.
Still schaute Vater abwechselnd auf mich und Kevin. Wie Vater mich so anschaute, glaubte ich für einen Moment, dass er selbst schon eine Lösung für Kevin parat hatte. Deshalb schwieg ich weiter und Kevin saß erstarrt neben mir.
Minuten später, Mutter gab dem Unbekannten die Hand, kam sie an den Tisch.
„So, das war Herr Burmeister und fängt in einer Stunde an zu arbeiten“, sagte sie zufrieden und schaute erstaunt auf Kevin.
„Guten Tag Kevin.“
Der murmelte irgendetwas, was keiner von uns verstand. Zu meiner großen Verwunderung, lachte sie sogar darüber. Schon wollte sie Episoden aus meiner Kindheit erzählen, doch konnte ich das rechtzeitig verhindern.
„Wie geht es Helmut?“, fragte ich dazwischen und sie erzählte, dass Helmuts Bein in Gips sei und wenn er aus dem Krankenhaus entlassen wird, erstmal in meinem früheren Zimmer wohnte.
„Er hat doch keinen, der sich kümmern könnte. Wir sind doch seine Familie“, sagte Vater.
„Ach mein Herzblatt“, wandte Mutter sich an Kevin, was für mich gleichbedeutend war, dass sie ihn schon ins Herz geschlossen hatte, „für Dich habe ich trotzdem einen Job.“
Sie erklärte uns, wonach sie Kevin ans Büfett nahm und sie ihn an den beiden Freitagen für Heike und Sven einsetzen wollte. Schließlich taute Kevin auf und wie er ihr das Gesundheitszeugnis gab, umarmte er sie dankbar.
„Herzblatt“, machte ich Mutter nach und knuffte ihn sanft, „Böcklein passt besser zu Dir.“
Während der Zeit mit Kevin, in der ich unerwartet auch an Steffan erinnert war, entwickelte ich mehr und mehr Abstand zur Vergangenheit. Zumal es nur Kleinigkeiten waren, dazu noch unwesentliche, die mich daran erinnerten, dass sich manches im Leben wiederholt. Ich lebte bewusster in der gegenwärtigen Zeit. Durch das Zusammensein mit Kevin und das behutsame Entdecken der noch unbekannten Seiten an ihm, verblassten die Erinnerungen an Steffan. Das abendliche Herrichten seiner Bettstelle auf der Couch erübrigte sich und ich fand es normal, dass seine Zahnbürste neben meiner stand.
Als Mark uns eines Morgens weckte und Brötchen zum Frühstück dabei hatte, stellte er auch fest, dass mir die Liebe besser bekam. Für ihn selbst, müsste Amor erst einen speziellen Pfeil anfertigen, doch sei er auch so mit Sven ganz zufrieden. Kevin lud ihn natürlich zu seiner Geburtstagsparty ein und Mark klagte, dass er dafür nicht den richtigen Fummel besaß. Unter großem Gelächter aller, schlug Mark vor, dass er am besten gleich nackt erschien und wir malten uns aus, wie die Reaktionen der Eltern und Schwester von Kevin aussehen konnten.
Die erste Überraschung bekam Kevin bereits Sonntag kurz vor Feierabend, als Vater Minuten nach Mitternacht eine kleine Torte, mit achtzehn Kerzen bestückt, ins Restaurant rollte und auch die restlichen Gäste ins Geburtstagsständchen einstimmen. Mutter unterdrückte gerührt die Tränen und umarmte ihr Herzblatt. Vater wünschte ihm alles Gute und klopfte ihn anerkennend, für seine gute Arbeit der letzten Tage, auf die Schulter und als ich ihn endlich in den Armen hielt und einen Kuss gab, schluchzte selbst Kevin.
Da ich ein Geschenk angedeutet hatte, was er aber erst zur Party erhalten sollte, brauchte ich mich nicht wundern, dass er mich aufgeregt weckte und anschließend pausenlos danach ausfragte.
Bevor wir nach Gehlsdorf aufbrachen, wollte Kevin unbedingt an den Strand. Schließlich gab ich nach und als wir ausgezogen zum Meer liefen, rannte er mir voran. Zusammen tauchten wir in die erste Welle.
Prustend kam er auf mich zu und wir küssten uns. Ich nahm ihn in meine Arme und wir drehten uns.
Später auf der Geburtstagsparty, als Mark sich als guter Gesprächspartner für den Professor erwies, Jette, mit ihren Freund, zu Rosenstolz tanzte und seine Mutter mit Kevins Opa im ökologischen Garten standen, führte mich Kevin an das Ufer der Warnow. Von dem Bootssteg aus besaß man einen guten Blick auf Schmarl und das Geländer der IGA.
Wieder rieb er sanft über den silbernen Freundschaftsring, den ich ihm schon am Strand auf den Finger aufschob.
„Ich weiß genau, dass das mit dem Hotel klappt“, sagte Kevin nachdenklich, „immerhin habe ich mich bei Dir auch nicht geirrt.“
„Das ist gut, denn … also ich weiß gar nicht … ob das mit Jura für mich was ist“, entgegnete ich.
„Das ist nicht so schlimm“, sagte er und kam auf mich zu, „dann kannst immer noch in meinem Hotel arbeiten.“
Man konnte Kevin schon mehr als mögen, überlegte ich und küsste ihn.
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