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Blaues Licht

Teil 6

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Inhaltsverzeichnis

Liniennetz

Worin das Studium einer Skizze zu tieferer Einsicht führt

Unsere kleine Vorortsiedlung lag 12 S-Bahnstationen vom Innenstadtbahnhof entfernt. An den Wänden der Züge befanden sich sogenannte »Netzspinnen« - Karten, die das Liniennetz schematisch darstellten. Jede Station war auf diesen Netzplänen als kleiner, halbseitiger Querstrich eingezeichnet. Bahnhöfe, an denen sich zwei oder mehr Linien kreuzten, besaßen größere Querstiche. Endbahnhöfe waren durch beidseitige Striche symbolisiert. Diese Karten vermittelten den Eindruck des absoluten Wissens über das Liniennetz. In Wirklichkeit täuschten sie ihre Betrachter. Die Karte zeigte zwischen allen Stationen den gleichen Abstand. Während dies im Innenstadtbereich sogar halbwegs zutreffend war, sah die Wirklichkeit weiter draußen ganz anders aus. Vom Hauptbahnhof gerechnet, entsprach die reale Entfernung zwischen den ersten 5 Bahnhöfen etwas weniger als zwischen dem 5. und 6. Bahnhof.

Michi und ich waren schon eine Weile unterwegs. Ralfs Weg war ein anderer. Seine Bahn fuhr genau in die entgegengesetzte Richtung. Wir saßen nebeneinander, miteinander gesprochen hatten wir bisher nicht. Ich war tief in das Studium des Liniennetzes vertieft. Dieser Widerspruch zwischen dem Erscheinungsbild einer Sache und der Wirklichkeit beschäftigt mich. Ich fragte mich, ob dieser Widerspruch nur für das Liniennetz galt. Mein Vater zum Beispiel: Jasper David vanBrüggen, Doktor der Chemie, liebender Vater und Ehemann sowie einer der leidenden Produktentwickler einer einfach Pharmaziefirma. So präsentierte sich das Bild der Öffentlichkeit. Die groben Eckdaten mochten so ungefähr stimmen, wie bei einem Liniennetzplan. Nur das die Relationen nicht maßstabsgetreu sind. Stimmte der Maßstab bei meinem Vater? Arbeitete er wirklich für eine einfache Pharmaziefirma? Würde ein liebender Vater seinen Sohn für Experimente missbrauchen? Würde er seine Ehefrau derart hintergehen?

Und was war mit mir? Tobias Christian Peter vanBrüggen, mittelmäßiger Schüler in der gymnasialen Oberstufe, schüchtern, Einzelgänger, Lonley Wolf? Stimmte das Bild noch?

Welches Bild ist keine Lüge?

Ich ließ meinen Blick durch den Wagen wandern. Der Zug war voll. Wir hatten den Feierabendverkehr erwischt. Auf den Bänken saßen dicht gedrängt müde Menschen. Einige dösten vor sich hin. Ein Jungmanagertyp hatte sich in seine Financial Times vertieft. Er sah mindestens so geschafft aus, wie sein Anzug. Beides roch regelrecht nach einem anstrengenden Tag. Er war nicht ernsthaft am lesen. Seine Augen machten, was sie wollten und fielen ständig zu. Auch er war wie das Liniennetz, kämpfte dafür, sein wirkliches Selbst vor allen anderen zu verstecken. Sein Auftreten, dunkler Zweireiher, geschmackvolle Krawatte mit dezenten Farben, weißes Hemd, kurze Frisur, schlank bis athletisch, stylisches Lederaktenmäppchen, Hose, Schuhe, alles präsentierte einen Mann mit Erfolg, potentiell mit Macht, einen Machertyp. Seine Augen, die ihm partout nicht gehorchen wollten, zeigten ihn, was er wirklich war: ein kleiner Junge, der hundemüde war, den sei Job die letzten acht oder mehr Stunden gestresst hat und der sich nichts sehnlicher wünschte, als nach Hause zu kommen und seiner Verkleidung entfliehen.

»So still?«

Michi holte mich aus meinen Gedanken heraus zurück in die Realität.

»Hm?«

»Woran denkst du?«

»Das Liniennetze eine Verzehrung der Realität sind.«

»Oh!«, staunte Michi. »Und das bedeutet?«

»Nichts! Sie sind wie wir, nichts maßstabsgetreu.«

»Ähm, Ok ... Hattest du vorhin Cola oder Wein?«

»Cola«

»Du magst ihn?«, Michi sprang wie immer von Thema zu Thema.

»Ich befürchte, ich mag ihn sogar noch etwas mehr.«

»Armer Tobi«, Michi legte mir seine Hand auf meine Schulter. »Ich wünsch dir viel Glück. Du wirst es brauchen.«

Ich raufte mir die Haare und wendete mich anschließend Michael zu: »Mehr als nur Glück. Für wie groß hältst du die Wahrscheinlichkeit, dass da was zwischen Ralf und mir zustande kommen könnte?«

»Was willst du von mir? Eine mathematische Antwort oder eine Antwort aus dem Bauch?«

»Beides.«

Michi seufzte, kratze sich an der Wange, wiegte seinen Kopf hin und her und begann: »Mathematisch gesehen hast du beschissen schlechte Chancen. Versuch mal als Hete, wie ich es bin, eine wirkliche Freundin, was Ernsthaftes, zu finden, also keine hormonelle Zweckgemeinschaft. Faktisch null. Ich hab' die Suche fast aufgegeben, wenn da nicht eine Sache wäre.«

»Und die ist?«

»Die Hoffnung, dass es eben doch noch mal klappt! Und mit der Hoffnung kommen wir zum Bauch. Mein Bauch sagt mir, dass es zwischen euch gefunkt hat.«

»Echt?«, ich wollte kaum glauben, was ich da hörte, aber es wurde noch besser.

»Oh, mein lieber Tobi, ich muss dir was erzählen. Nicht nur du hast jemanden die ganz Zeit jemanden abgecheckt.«

»Du hast es bemerkt, dass ich Ralf«

»Aber holla! Ich habe deinen Ständer gesehen, du alte Sau! In der S-Bahn hatte ich schon Angst, du würdest Ralf an die Wäsche gehen. Ich weiß, was du sagen willst. Ja, du hast dir wirklich alle Mühe gegeben, dass Mann nichts merkt, d.h. das Ralf nichts merkt. Dass ich dein Sabbern sah, hat dich überhaupt nicht gestört, mein Alter!«

»Oh!«

»Ich glaube, Ralf hatte ebenfalls eine erektile Versteifung in seiner Hose! Immerhin hat er dich abgecheckt.«

»Kein Scheiß?«

»Kein Scheiß! So wahr ich Michael Müller heiße.«

Toll! Ganz toll! Michis Offenbarung machte meine Situation nicht wirklich einfacher. Bisher konnte ich mir einreden, dass der gute Ralf hetero war und sich von daher weitergehende Maßnahmen nicht lohnten. Aber wenn Ralf auch schwul war? Mich möglicherweise sogar attraktiv fand? Was dann? Die nächste Kaskade Fragen lauerte gleich hinter der nächsten Ecke. Wenn Ralf schwul war, wollte er dann einen Freund oder was zum Poppen? Schlimmer noch, wollte ich einen Freund oder was zum Poppen?

Ralf war schon ein nettes Stück Mann und durchaus als Vorlage für einen feuchten Traum geeignet. Sex könnte sicherlich nett sein, doch das würde bedeuten, den zweiten vor dem ersten Schritt zu machen. Erst einmal galt es zu klären, ob Ralf überhaupt Interesse an Jungs besaß. Und die nächste Frage drängte sich auch gleich auf. Würde ich überhaupt genug Mut aufbringen, um mich vor Ralf zu outen?

Das Tolle an der Freundschaft mit Michi war unsere Fähigkeit der nonverbalen Kommunikation. Anders wäre nicht zu erklären gewesen, dass mir Michi kumpelhaft seine linke Hand auf meine rechte Schulter legte und mir versicherte: »Du wirst schon das richtige machen.«


»Schau dir diese scheiß Schwulen an!«

Wir saßen immer noch in der S-Bahn. Michis Hand schnellte mit Überlichtgeschwindigkeit von meiner Schulter.

»Was für ein süßes Pärchen.«

Der Zug hatte sich zwischenzeitlich geleert. Im Feierabendverkehr karrte die Bahn die Menschenmassen aus den Büros und Werkshallen zu den Schlafstädten der Vororte. Mit jeder Station wurden die Bahnen leerer. Mittlerweile hatte sich unser Zug deutlich geleert. Mussten wir zuerst noch im dichten Gedränge stehen, gab es inzwischen massenweise frei Sitzplätze.

Die Pöbelei hatte mich aus meinen Gedanken gerissen, weswegen ich einen Moment brauchte, um ihre Quelle auszumachen. Es waren vier Typen, etwa in unserem Alter, d.h. einer schien vielleicht ein Jahr jünger und zwei etwas älter zu sein. Ich tippte so auf 16 und 17 bei den einen und ca. 19 bei den anderen beiden Typen. Vom stupiden Inhalt ihres Wortbeitrages hätte man sofort auf einen Trupp tumber Skins getippt, aber dem war mitnichten so. Die Jungs waren gut, um nicht zu sagen mit teuren Markenklamotten, gekleidet. Wo man Springerstiefel vermutet hätte, zierten Caterpilar, Nike und Co den Fuß. Soweit die Typen markenfixiert waren, so waren sie es nicht im vulgären Sinn. Die Style-Police hätte keinen Grund zum Eingreifen gesehen. Das Auftreten war gepflegt. Obwohl ich es aus meiner Entfernung nicht sehen konnte, ging ich davon aus, keinen Dreck unter ihren Fingernägeln zu finden.

Alles im Allen: vier Mal Mamis Liebling. Es waren die typischen Kinder des gehobenen, wohlhabenden Mittelstandes. Der Sohn von Dr. X oder von Frau Rechtsanwältin Y.

So gepflegt und frisch gewaschen ihr Äußeres war, so reinigungsbedürftig war ihre Sprache und Denke.

»Wer von euch beiden ist den die Frau?«

Albernes Gelächter überspielte eigene Unsicherheit.

Ich hob eine Augenbraue und schaute zu Michi: »Was meinst du?«

Michi antwortete nicht direkt, sondern stand auf und drückte mir sein Skateboard in die Hand: »Halt mal!«

Mit diesen zwei Worten zog er sein Kapuzensweatshirt zurecht und ging mit gelassener Selbstsicherheit auf die vier Typen zu.

»Habt ihr ein Problem?«, er stand direkt vor den vier, den Blick aufrecht.

Michi war kein bulliger oder athletischer Typ. Er war eher das genaue Gegenteil, nämlich ein schlanker, fast dünner Typ. Das hieß aber noch lange nicht, das er schwach war. Jemand, der fast tägliche mehrere Stunden im Skaterpark verbringt, ist nicht schwach. Wenn man noch bedenkt, dass Michis zweites Hobby Freeclimbing war, ahnte man, in welche Richtung die Sache ging. Er war sehr gelenkig, sehr kräftig und sehr schnell. Nichts davon sah man ihm an. Die vier Dumpfbacken taten es auch nicht.

»Was willst du Tucke?«, blökte einer der Älteren. »Brauchst du Stress oder was?«

Wenn die Sache nicht so ernst gewesen wäre, wäre sie zum Totlachen. Nichts ist peinlicher, als vier Muttersöhnchen, die sich in Gettosprache versuchen.

»Stress?«, fragte Michi nach. »Eigentlich nicht. Ich habe dir nur eine Frage gestellt: Hast du ein Problem?«

Unter Deeskalationsstrategie fiel Michis Vorgehensweise definitiv nicht. Ich hoffte inständig, dass er die Show nicht wegen mir abzog. Er musste nicht als mein Beschützer auftreten.

»Bist du sein Stecher? Ist das dein Frauchen?«, kam es aus dem Mund eines der Jungen, dem jüngsten, der aussah, als wenn seine Mutti ihm eben gerade noch sein Pausenbrot geschmiert hätte.

»Bin ich dein Stecher, Frauchen?«, rief Michi mir quer durch den Wagen zu.

Ich wäre fast geplatzt vor Lachen: »Nicht das ich wüsste.«

»Ey komm, lass die Typen zufrieden.«, fing einer der vier, der Mittelalte an, aber seine Kollegen schienen Blut geleckt zu haben. Dass man ihnen etwas entgegensetzte, kratzte an der Ehre.

»Nichts da! Ich lass mich von so einem Arschficker nicht anmachen.«, kläffte der Kleine und erinnerte mich damit an den Rehpinscher meiner Tante. Diese drahtige kleine Ratte kläffte auch immer unter allen anderen Kötern am lautesten.

»Wenn's deine Freundin in den Arsch braucht. Du scheinst sie ja nicht befriedigen zu können!«, säuselte Michi. Ich war immer wieder erstaunt, auf was für ein Niveau sich mein alter Freund hinanbegeben konnte.

Die Antwort kam prompt. Der Rehpinscher plusterte sich auf und trat einen Schritt auf Michi zu: »Was hast du gerade gesagt?«

»Ich habe gesagt, dass du dich abregen sollst! Ich weiß ja nicht, was du für Probleme hast. Aber haltet die Klappe und belästigt keine anderen Leute.«

»Oh, er macht auf harten Mann.«, verhöhnte einer der älteren mit vertuckter Stimme Michi. »Musst du deinem süßen Kerlchen zeigen, wie hart du bist?«

»Jetzt reicht's!«, knurrte Michi und wollte gerade zum Schlag ausholen. Ich musste intervenieren.

»Stop!«, fuhr ich dazwischen. Ich schmiss das Skateboard und meinen Rucksack auf die Sitzbank und sprang mit ein paar Schritten an Michis Seite: »Du weißt doch, was passiert, wenn man auf Scheiße draufschlägt? Die Kacke spritz in alle Richtungen und trifft einen am Ende nur selbst.«

Oh, falls man es noch nicht bemerkt hat, auch ich war in der Lage mein sprachliches Niveau fast beliebig tief zu senken.

»Wer ist hier Scheiße?«, fragte einer der Typen, während ich mich fragte, ob mein Niveau immer noch zu hoch war.

»Ihr! Oder seht ihr hier noch jemanden, dem ein ähnlicher Mist aus dem Mund quillt wie euch?«

Man hätte meinen können, dass das Testosteron im Wagen dermaßen am Dampfen war, dass es schon an den Wagenfenstern kondensierte. Wir konnten das Weiße in den Augen unserer Gegner sehen. Jedem von uns standen zwei Typen gegenüber. Wie abgerichtete Kampfhunde fletschten sie ihre Zähne. Hoffentlich rief niemand »Fass!«.

Sekunden vergingen. Keine Seite tat etwas außer die andere Seite zu belauern. Unsere vier Gegner wirkten zwar nicht direkt verunsichert, waren aber doch in sofern überrascht, dass wir nicht zögerten, gegen sie anzutreten. Wir hatten ein Patt. Ich war mir sicher, dass jeder der vier Typen seine Chancen durchkalkuliert hatte, einem Kampf mit uns ohne Blessuren zu überstehen. Da noch niemand seine Fäuste erhoben hatte, sah das Ergebnis der Berechnung wohl nicht ganz so positiv aus.

Wir belauerten uns also weiter. Mir war durchaus klar, dass jedes unüberlegte Wort einen Kampf ausgelöst hätte, unabhängig davon, wie die Chancen standen. Die sechs kleinen Machos, die wir nun mal waren, ging es uns natürlich auch um unsere Ehre.

Die Situation musste gelöst werden und zwar schnell. Der kleine Rehpinscher schien mir emotional am instabilsten zu sein. Während seine Freunde uns mit coolem Pokerface gegenüberstanden, wirkte er zappelig und hypernervös. Das Patt zerrte an seinen Nerven. Erste Fasern schienen bereits Risse bekommen zu haben.

Und dann riss es ihn von den Beinen und mit ihm die anderen drei ebenfalls.

Notstop

Worin der Zug zum stehen kommt, andere Dinge dafür deutlich an Fahrt gewinnen

Ein starker Ruck ging durch den Wagen, als die Sicherheitstechnik des Triebwagens die Zwangsbremsung einleitete. Innerhalb weniger Sekunden kam der Zug zum Stehen. Dem Impulserhaltungssatz folgend, blieben weder Michi und ich noch die vier Dumpfbacken stehen. Wir stolperten durch den Wagen. Genaugenommen landeten die vier Idioten auf uns drauf. Der Rehpinscher und einer der beiden älteren Typen landeten auf mir. Michi wurden unter den anderen beiden begraben.

»Fass mich nicht an! Nimm deine Wichsgriffel von mir!«, kreischte der Typ hysterisch.

Ich hatte überhaupt nicht beabsichtigt, ihn anzufassen. Ich konnte es aber auch nicht vermeiden mit ihm direkten Körperkontakt zu haben, schließlich lag er auf mir und ich nicht auf ihm.

»Junge, entspann dich! Niemand ist an deinem Arsch interessiert! Echt nicht!«, knurrte ich ihn an, weil mich die Geschichte langsam anödete. Seine Homophobie schien mir fast schon krankhaft zu sein.

»Ist irgendwem was passiert?«

Michi war mal wieder die Vernunft in Person. Er kämpfte sich frei und half seinen Opponenten sogar auf die Beine. Die schauten ihn skeptisch an, nickten aber anerkennend. Möglicherweise hatten sie etwas von Michis verborgener körperlichen Kraft gespürt und schätzten ihre Chancen für einen Kampf als weniger aussichtsreich ein als vorher. Vielleicht war die ganze Sache auch einfach nur lange Weile gewesen: Leute anmachen.

Ganz anders mein kleiner Springinsfeld. Er schlug mit seinen Händen wild um sich, um von mir loszukommen, wobei seine Hand kurzzeitig meine berührte.

Ich ersten Moment dachte ich, mich hätte ein elektrischer Schlag getroffen. Einen kurzen Moment später merkte ich, dass meine Augen etwas anderes sahen, als das Bild, welches vor ihnen lag. Der Effekt war bei einer Fernsehfernbedienung, wenn man die Kanal-Plus und Minus drückt. Meine Augen und, wie ich bemerkte auch meine Ohren, snappten wie wahnsinnig durch Erinnerungen, Szenen, Bilder und Geräusche. Keine entstammte meiner bisherigen Erlebniswelt.

Meine Hand zuckte zurück. Sofort war meine Wahrnehmung wieder klar. Ich muss den Rehpinscher völlig entgeistert angestarrt haben, denn er sah mich irritiert an. Dass ich dann auch noch regelrecht von ihm wegsprang und auf allen Vieren rückwärts krabbelte, brachte ihn völlig aus dem Konzept.

Was mich so erschreckte war nicht, dass ich es sehen konnte, sondern was ich sah. Es war entsetzlich. Es war entsetzlich. Die Fülle der Eindrücke überwältigte mich. Der Inhalt war grauenvoll. Michi erzählte mir hinterher, dass ich mich wie ein verängstigtes Kind in eine Ecke des Wagens verkrochen haben soll. Dort hockend soll ich minutenlang zitternd und schlotternd gehockt haben. Nicht ansprechbar sollen aus mir nur unverständliche Geräusche und Lautfragmente gekommen sein. Ein Gutes soll meine Reaktion gehabt haben, die vier Idioten sollen vor mir Angst bekommen und sich in die gegenüberliegende Ecke verzogen haben. Michi meinte, sie hätten sich sogar entschuldigt: »Wir meinten das nicht so.«

In Wirklichkeit tat mir der Rehpinscher leid. Was mich dermaßen fertig machte, war, dass ich seine Erinnerungen und Erlebnisse unvorbereitet und ungefiltert abbekommen hatte. Alles was er erlebt hatte, jeden seiner 5 Sinne, erlebte ich auch: jedes Bild, jedes Geräusch, jeden Geruch, jede Berührung und jeden Schlag. Ich verstand seine Abneigung gegen Schwule, da ich so fühlte, wie er sie lebte. Dabei war Abneigung nicht das richtige Wort, es war Hass. Hass geboren aus Verzweiflung, Scham und Schmerz. Unter der Hülle des braven Jungen einer vorbildlichen Mittelstandsfamilie lag eine gebrochene, kleine Seele verborgen. Eine Seele gepeinigt von Dämonen.

Den Dämonen des Missbrauchs. Josef-Peter Schilling, kurz Joe, hasste nicht Schwule an und für sich. Er hasste Ihn. Er hasste seine nächtlichen Besuche, die hinter ihm verschlossene Zimmertür, die Gewalt, mit der er genommen wurde, die Schläge, die ihn gefügig machten und ihn schweigen ließen. Er hasste seinen Vater, der vorgab, ihn zu lieben.

Mir war speiübel. Hätte mein Gehirn nicht einen autonomen Warmstart gemacht, wäre der Wagen wohl um einen säuerlich riechenden Haufen anverdauter Pasta bereichert worden. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich mich kurzzeitig von der Außenwelt abgekoppelt hatte. Ich kam wieder zu mir, als mich Michi packte und rüttelte. Ich keuchte, um Luft zu bekommen.

»Alles in Ordnung mit dir?«, Michi hatte Panik im Gesicht. »Du hattest einen Anfall ...«

Ich schüttelte meinen Kopf, um klar sehen zu können: »Anfall?«

»Ja! Leidest du unter ... du weißt schon.«

»Epilepsie? Nicht dass ich wüsste. Wo sind wir?«

»Immer noch im Zug. Auf der Strecke scheint es einen Unfall gegeben zu haben. Eben wurde der Fahrstrom abgeschaltet.«

Ich setzte mich auf und orientierte mich erst einmal. Die Wagenbeleuchtung war aus. Nur eine Notbeleuchtung glimmte schwach. Da es draußen erst begann zu dämmern, war Licht kein Problem. Michi sah mich immer noch skeptisch an.

»Mir geht es gut!«, versicherte ich ihm, obwohl ich den Eindruck hatte, dass er mir nicht glaubte. Was hätte ich tun sollen? Ihm sagen, dass ich eben eine Geistverschmelzung mit dem Rehpinscher hatte? Dass das Kind deswegen Schwule hasste, weil sein liebenswürdiger Vater ihn alle Nase lang den Arsch aufriss und dass in mehrfacher Hinsicht?

»Ich weiß nicht, was mit mir los war. Lass mich einfach ein paar Minuten durchatmen, bitte?«, beruhigte ich Michi. Er taxierte mich kurz, nickte dann aber zufrieden.

Ich nutzte die Minuten, um meine Gedanken zu ordnen. Der Junge war eine tragische Figur. Er hatte sich schuldig gemacht. Sein Hass auf seinen Vater hatte sich schon mehrfach ein Ventil gesucht. Und das bestand aus Übergriffen seitens des Jungen. Josef-Peter stellte niemanden in sexuelle Weise nach, er ließ seine Aggressionen in Form von Gewalt, unbändiger Gewalt, freien Lauf. Natürlich waren seine Opfer die Schwachen, die, die sich nicht wehren konnten. Ohne es zu merken, wurde er so zu einem Ebenbild seines Vaters. Eine Spirale der Gewalt.

Sie musste enden. Egal wie!


»Mein Gott, Tobi, du blutest ja!«, schrie Michi entsetzt.

Ich verstand überhaupt nicht, was er meinte, bis er meine Handgelenke ergriff und vor mein Gesicht zog. Ich hatte meine Hände zu Fäusten geballt. Aus einer Hand tropfte Blut. Ein Fingernagel muss in mein Fleisch eingeschnitten haben.

»Bitte, bring mich nach Hause.«, flehte ich Michi an. Mir wurde schwindelig, mein Bewusstsein driftete in einen halbwachen, nebelartigen Zustand.

Nach einer Ewigkeit setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Schemenhaft bekam ich mit, dass die vier Typen den Zug an der nächsten Station verließen. Im Rausgehen schmissen sie mir noch ein paar ängstliche Blicke zu, beeilten sich aber gleichzeitig, so schnell wie möglich aus dem Zug zu kommen.

Zwei Stationen später verließen Michi und ich ebenfalls den Zug. Mir ging es deutlich besser. Die frische Luft tat mir gut. Ich lächelte sogar.

»Und dir geht es wirklich gut?«

»Ja, wenn ich es dir doch sage!«, strahlte ich Michi an. Was ich ihm nicht sagte, war, dass es mir nur deswegen gut ging, weil ich Joes Erinnerungen verdrängt hatte. Wie ich sie verdrängen konnte und wie ich überhaupt an sie rangekommen bin, war mir ein Rätsel, das mich erstaunlicherweise aber nicht beunruhigte.

»Wirklich?«, fragte Michi nach.

»Wirklich! Ich glaube, ich bin einfach dünnhäutiger als ich dachte. Erst mein Coming Out, dann Ralf, Carsten und die Nudeln und dann diese Arschlöcher und dann auch noch der Notstopp. War wohl etwas viel.«

»Wahrscheinlich hast du Recht.«, Michi zuckte mit dem Mundwinkel.

»Bestimmt. Ich gehe heute früh ins Bett und morgen bin ich wieder fit, hundertpro!«

»Ok!«

Das war's. Wir trennten uns vor den Häusern unserer Eltern. Michi ging zu sich, ich zu mir. Meine Mutter erwartete mich bereits mit einem Abendbrot. Von meinem Vater gab es keine Neuigkeiten. Nach dem Abendbrot erledigte ich noch zwei Hausaufgaben, surfte ein wenig im Internet und ging ins Bett. Endlich Ruhe!

Nachtschatten

Worin ein Dämon zum Schweigen gebracht wird

Ich stand vor einem Haus und lag in meinem Bett. Ich lag mit dem Rücken flach auf meinem Bett und starrte die Decke an. Ich schlief und war wach. Meine Augen sahen die Decke und sahen ein Haus. Ein Einfamilienhaus. Es war tiefe Nacht. Meinem Blickfeld nach zu urteilen stand ich auf dem Gehweg und sah eine Auffahrt aus Verbundsteinen hinauf. Trotz der Dunkelheit konnte ich die gartenbauliche Anlage des Hauses gut erfassen. Sie war ausgesprochen gut gepflegt, aber ein wenig steril. Vermutlich besaß man einen Gärtner. Vermutlich? Man besaß einen Gärtner. Ich wusste es.

Ich ging die Auffahrt hinauf, vorbei an einem Kleinwagen (A-Klasse) und einem der automobilen Oberklasse (7er). Ich stand vor der Haustür. Massivholz mit Kassettenfenstern. Die Bewegungsmelder, die eine Rundumbeleuchtung des Gartens und der Auffahrt steuerten, wurden von mir nicht aktiviert. Mein Blick fiel auf das Namensschild an der Klingen: »Familie Schilling«

Einen Lidschlag später stand ich im Flur. Mir präsentierte sich ein ordentliches, aufgeräumtes Haus. Ich wusste was ich sehen würde. Ich kannte das Haus. Ohne ein Geräusch bewegte ich mich durch das Haus. Ich stand im Wohnzimmer und sah mich um. Ein großes Fenster und eine Terrassentür führten in den Garten. Ein großer, teurer Fernseher, eine Sitzgruppe, ein Wohnzimmerschrank, ein paar geschmackvolle Dekostücke; es war das Wohnzimmer einer glücklichen scheinenden Familie.

Auf der Fensterbank standen Bilderrahmen. Die Familie, Mama, Papa, Tochter, Tochter mit Ehemann und Sohn. Alle lächelten glücklich. Ich ertappte mich dabei, mit meinen Fingern nachdenklich über das Bild zu streichen. Eine glückliche Familie? Lüge! Heuchelei!

Ich stand mitten im Zimmer von Josef-Peter. Er lag in seinem Bett, zusammengekrümmt, zitternd, ängstlich, träumend. Ich sah genauer hin, sah seinen Kopf, sein Gesicht, seine Augen hinter den geschlossenen Lidern, ich sah durch sie hindurch in seinen Geist in seinen Traum. Ich sah in einen Albtraum. Im gleichen Moment befand ich mich in seinem Traum.

»Wer bist du?«, fragte eine Stimme hinter mir.

Ich drehte mich um. Vor mir stand ein Junge, Josef-Peter oder kurz Joe, er sah ängstlich aus, aber nicht aggressiv.

»Ich glaube ich kenne dich, aber ich kann mich nicht erinnern.«, fuhr Joe fort.

»Das macht nichts«, antwortete ich.

»Warum bist du hier?«

»Ich weiß es nicht. Weißt du, warum ich hier bin?«

»Um mich vor ihm zu beschützen?«

»Wer ist er?«

»Er ist er!«, entgegnete Joe nachdrücklich und wütend.

»Ich kann es versuchen ...«

»Du wirkst schon schwach. Du bist durchsichtig. Weißt du das?«

Verblüfft hielt ich mir meine rechte Hand vors Gesicht: »Du hast recht, ich bin durchsichtig.«

Etwas polterte. Joe zuckte zusammen und schmiss sich auf den Boden, er zog seine Beine fest an seinen Körper und umklammerte sie mit seinen Armen. Er schien zu schrumpfen: »Er kommt!«

Ich riss meine Augen auf und stand wieder im Zimmer von Joe. Wir waren nicht mehr allein. Er war da. Er, das war Josef-Peters Vater, Josef-August Maria Schilling, Dr. jur. Ich sah, wie er die Zimmertür verschloss, den Schlüssel abzog und auf die oberste Platte eines Bücherregals neben der Tür legte. Joe war aufgewacht. Seine Augen waren weit aufgerissen, feucht vor Tränen und angsterfüllt. Der Typ, der sich sein Vater nannte, zog sein 30 Euro Schlaf-T-Shirt aus und schob kommentarlos seine Boxershorts runter.

Ich wusste, was jetzt passieren würde, ich hatte es in den Erinnerung Joes selbst erlebt.

Ich entschied, dass es nicht mehr passieren würde. Nie wieder.

Ich stand Josef-August gegenüber. Er blickte durch mich hindurch auf seinen Sohn, der zitternd, aber schweigend sich seiner Nachtbekleidung entledigte. Ich wusste, warum Joe keinen Laut von sich gab. Josef-August etwas entgegenzusetzen, es endete meist schmerzhaft.

Joe erwartete den Beginn des gewalttätigen Aktes, aber er kam nicht. Stattdessen stand sein Vater mitten im Raum und begann zu zittern. Ich stand nicht mehr vor Josef-August. Ich hatte im ins Gesicht gesehen, in seine Augen und tief in sein Bewusstsein. Mein Wille und mein Geist waren in seinem Bewusstsein. Ich stand quasi in seinem Schädel und schrie ihn an. Ich ließ ihn spüren, dass noch jemand anderes anwesend war. Ich offenbarte mich ihm, mitten in seinem Bewusstsein.

Und dann tat ich ihm Gewalt an. Erbarmungslos.

Ich übertrug alle Empfindungen seines Sohnes auf ihn. Ich ließ ihn seine eigene bittere Medizin kosten. Ich ließ ihn spüren, was er seinen Sohn angetan hatte. Ungefiltert und ohne Warnung ließ ich die Erinnerungen der Jahre des Leidens in ihn eindringen.

Ich stand wieder im Raum und schaute Dr. jur. Josef-August Schilling an. Er wurde von Spasmen gepackt, die ihn durchschüttelten. Schaum quoll ihm aus dem Mund, Tränen liefen seine Augen hinunter. Er wirkte plötzlich jämmerlich und hatte alle seine Bedrohlichkeit verloren. Langsam kehrte Ruhe in ihn ein. Mit glasigen Augen und ausdruckslosem Blick, zog er seine Boxershorts an, nahm den Schlüssel vom Bücherregal, öffnete die Tür und ging hinaus.

Sein Sohn sah ihm nach. Fassungslosigkeit und Unverständnis standen in seinen Augen geschrieben. Er verstand nicht, was gerade geschehen war, aber das musste er auch nicht. Es reichte, dass er erleichtert aussah und dass er ahnte, dass er nie wieder Angst haben musste.

Ich betrachtete Joe noch einen Moment. Dann verließ ich ihn. Ich stand wieder im Flur. Einen Lidschlag später stand ich vor der Haustür: »Familie Schilling«

Ich ging die Auffahrt herunter, drehte mich um und sah ein Haus. Ich kannte das Haus. Ich konnte durch das Haus hindurchsehen und sah die Decke meines Zimmers. Ich schlief.

Brötchendienst

Worin man Neuigkeiten beim Frühstück erfährt

Martinshörner hören wir relativ selten in unserer Siedlung. Noch seltener hören wir sie nachts um 4:23 Uhr. Es war also wenig überraschend, dass mich ihr Lärm aus meinem wohligen Schlaf riss. Ich öffnete mühsam meine Augen und sah als Erstes das blaue Geblinke der Blaulichter an meiner Zimmerdecke. Neugierig, wie ich nun einmal war, ging ich ans Fenster und schaute hinaus. Mein Fenster blickt eigentlich direkt auf das Müllersche Anwesen, sogar direkt auf Michis Fenster. Aber zur Linken kann man die Straße sehen. Mindestens drei Polizeieinsatzwagen und ein Rettungswagen fuhren mit einem Affenzahn die Straße hinunter. Auch Michi wurde von der nächtlichen Ruhestörung geweckt, denn ich sah ihn verschlafen aus seinem Fenster glotzen. Ich öffnete mein Fenster und er tat dasselbe mit seinem.

»Was ist da los?«

»Keine Ahnung! Kannst du sehen, wo die hinfahren?«, fragte Michi.

Da Michis Fenster in die Richtung schaute, aus der die Wagen kamen, konnte nur ich ihren Weg verfolgen. Die Wagen bogen an der nächstgelegenen Kreuzung nach rechts ab.

»Sie scheinen ins Nachbardorf zu fahren. Hörst du es?«

Sehen konnte man die Fahrzeuge nicht mehr, aber hören. Nach Richtung und Lautstärke zu urteilen, waren sie direkt auf den Weg ins Nachbardorf.

»Spätestens Morgens wird unser lokaler Informationsdienst Bescheid wissen.«, meinte Michi.

»Allerspätestens!«, bestätigte ich.

Der lokale Informationsdienst das waren Michis Mutter sowie die Bäckers- und die Schlachtersfrau. Schließlich lebten wir in einer Vorortsiedlung. Nachrichten hatte eine extrem hohe Verbreitungsgeschwindigkeit. Der Sohn der Bäckersfrau war bei der freiwilligen Feuerwehr, somit bestand eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass er im Rettungswagen mit von der Party war. Bei der Schlachterin lag die Sache ähnlich. Der Schwager der Schlachtersfrau hingegen war bei der Polizei. Michis Mutter war das Informationstransportmedium, da sie für unsere Hausecke morgens immer Brötchen, Zeitungen und den Aufschnitt und Käse besorgte und an uns verteilte.

»Nacht!«

»Nacht!«


»Bist du auch von den Einsatzwagen wach geworden?«, begrüßte mich meine Mutter, als ich zum Frühstückstisch kam.

»Ja, bin ich.«, antwortete ich müde, »Weiß man schon was los war?«

»Nein, die Brötchen sind noch nicht da.«

Ich sah auf die Uhr. Michis Mutter war für ihre Verhältnisse erstaunlich spät dran. Während ich noch die Uhrzeit dekodierte, klingelte es dann allerdings an der Haustür. Die Brötchen waren da und mit ihnen die neusten Neuigkeiten.

»Morgen!«, trompetete Erna, Michis Mutter, gehetzt und völlig aufgeregt. »Mein Gott, was für eine schlimme Sache! Habt ihr das heute Nacht auch gehört? Die Polizei und alles?«

Wir nickten stumm.

»Mein Gott, mein Gott, mein Gott, es ist alles so schrecklich! Grauenvoll! Eine Tragödie!«, Erna wählte gerne starke Formulierungen. »Dr. Schilling. Die arme, arme Familie. Du kennst doch Dr. Schilling, den Anwalt? Er hat sich heute Nacht umgebracht. Mit seinem Jagdgewehr! In den Mund! Mit Hirschmunition!«

Erna Müller war eine Seele von Mensch, aber auch etwas geschwätzig, etwas sehr geschwätzig. Wenn man wollte, dass sich eine bestimmte Information schnellstmöglich in unserem Dorf und der näheren Umgebung verbreitete, dann war Erna erste Wahl. Was Erna Müller erzählt war in der Tat eine Neuigkeit, eine sehr gruselige Neuigkeit. Vor allen, wenn man die blutigen Details in epischer Breite schilderte. Ich gebe zu, wir waren durchaus begierig, alle Details zu erfahren.

»Ich glaube, du musst langsam los.«, erinnerte mich meine Mutter an den unvermeidlichen Schulbesuch.

»Geh ruhig rüber. Die Schlafmütze, die sich mein Sohn nennt, müsste langsam fertig sein«, fügte Erna hinzu.

Ich schnappte mir ein belegtes Brötchen, stopfte es in meinen Rucksack, nahm meine Jacke und sprang los. Michi war ebenfalls fertig. Er rollte mir auf halbem Wege bereits entgegen.

»Hast du die Sache mit dem Anwalt gehört?«, begrüßte mich der Skate-Punk.

»Wer bringt uns unsere Brötchen?«, antwortete ich mit einer Gegenfrage.

»Krass was? Aber die Sache wird noch viel krasser! Weißt du, wer der kleine Typ von den vier Idioten aus der S-Bahn war? Du weißt doch, die Penner, die gestern diesen Stress gemacht haben. Das war der Sohn vom Schilling! Das Kid war zwar ätzend und ich hätte ihm gerne noch ein paar Manieren beigebogen, aber sowas. Scheiße, weißt du, was eine High-Performance Schrottpatrone mit 42g Füllung für ein Loch macht? Die müssen sein Hirn mit einem Spachtel von den Wänden abgekratzt haben.«

»Bitte, Michi, ich habe gerade gefrühstückt«, Michis Detailverliebtheit musste in der Familie liegen. Mir war es ein bisschen zu viel Information.

»Aber der kleine Punk, unser junger Schwulenhasser, war sein Sohn?«, setzte ich leise nach. »Ich kenn ihn nicht wirklich, aber er tut mir Leid.«

»Junge, du bist einfach zu gut für diese Welt.«

Das bezweifelte ich dann doch stark. So gern ich Michi erklärt hätte, warum mir Joe leidtat, so unmöglich war es. Wie hätte ich ihm erzählen können, dass ich gestern die Gedanken des Kleinen lesen konnte? Ich hatte aber obendrein noch ein weiteres Problem, ein moralisches. Joe würde niemals wieder von seinem Vater belästigt werden. Das war soweit gut. Musste sein Vater dafür aber sterben? War der Preis nicht ein wenig zu hoch? Viel zu hoch? Hätte es keine andere, weniger endgültige Lösung gegeben? Und warum hatte ich das Gefühl, in die Geschichte massiv involviert zu sein?

Schon als Erna die Nachricht überbrachte, dass Dr. Schilling tot sei, war ich nicht wirklich überrascht gewesen. Es schien mir eine logische Konsequenz gewesen zu sein. Die Frage war nur, wovon war es eine logische Konsequenz? Und warum hatte ich obendrein noch das unbestimmte Gefühl, Dr. Schilling begegnet zu sein? Ich kannte ihn nicht mal, hatte ihn nie gesehen und trotzdem war mir, als wenn ich vor kurzem sogar mit ihm gesprochen hatte.

Egal, ich schob den Gedanken mit der Entschuldigung beiseite, mir nicht die Probleme der ganzen Welt zu eigen machen zu können.


Nächster Halt: Schule. Wir hatten die Stätte unserer Bildungsversorgung erreicht und trafen auf den üblichen Pulk eintrudelnder und miteinander quatschender Schüler. Natürlich war auch hier das Thema Nummer 1 der Tod von Dr. Schilling. Ich konnte mich zwar nicht daran erinnern, dass sein Sohn ein Schüler unserer Schule war, aber dem schien tatsächlich so zu sein. Seine Schwester besuchte uns ebenfalls. Ganz überraschend war dies natürlich nicht, schließlich waren wir das für diese Region zuständige Gymnasium.

Überall hörte man die Leute von dem Selbstmord sprechen und natürlich war die Art und Weise der Tat ein gefundenes Fressen für die Freunde plastischer Schilderungen.

Ein Satzfetzen drang an mein Ohr: »Es soll eine Abschiedskassette geben ... So auf Video ...«

Und wieder war da dieses Gefühl. Ich meinte zu wissen, worum es in diesem Abschiedsvideo gehen würde. Ich meinte den Grund für seinen Freitod zu kennen, wusste aber nicht, woher. So sehr ich mein Gehirn materte, so wenig fiel mir dazu etwas ein. Das Einzige, was ich bekam, waren Kopfschmerzen.

»Was ist denn heute los?«, hörte ich Ralf Stimme hinter mir.

»Moin, Alter! Was los ist? Der Alte eines Mitschülers hat sich den Kopf vom Hals geschossen. 42g Schrotladung!«

»Michi!«, musste der Kerl immer so direkt sein.

»Übel!«, kommentierte Ralf und begrüßte uns erst einmal.

»Ja, megaübel! Aber das Härteste ist. Sein Sohn hat uns gestern in der S-Bahn angemacht.«, Michi war nicht zu bremsen.

»Angemacht?«, fragte Ralf nach.

Ich bekam Schweißausbrüche. Dieser Müllersche Mitteilungsdrang würde nochmal mein Verderben sein. Ernas Sohn trat voll in ihre Fußstapfen. Ohne auch nur ansatzweise einmal nachzudenken, erzählte er von unserem kleinen Streit. Und er würde natürlich auch nicht aufhören zu erzählen, worin dieser Streit bestand.

»Er hat uns als Schwule beschimpft!«, natürlich, Michi sprach es aus. Einmal in Fahrt, war Michi einfach nicht zu stoppen. Er bemerkte gar nicht, dass ich ihn mit blassem Gesicht und sprachlosem, weit aufgerissenem Mund anstarrte. Er laberte munter fort.

»Nur weil Tobi schlecht drauf war. Die Sache mit den Nudeln gestern. Du weißt ja. Jedenfalls hatte ich ihm ganz freundschaftlich eine Hand auf die Schulter gelegt und, naja, wir lehnten auch aneinander. Jedenfalls kommt da dieser Typ an und labert was von ,scheiß Schwulen` Auf welchem Affenplaneten wohnt denn der? Also, ich hab' überhaupt nix gegen Schwule und Tobi ja sowieso ... Ähm, hat natürlich auch nix gegen Schwule.«

Super Michi! Einfach Spitzenklasse! Ich glotzte Michi immer noch sprachlos an. Wie konnte er nur? Er hatte zwar noch im letzten Moment gemerkt, was er da sabbelte, aber ob er noch rechtzeitig die Kurve gekriegt hatte, wer weiß das schon?

Ihm war sein Fehler peinlich. Er zog eine schmerzhafte Grimasse und bis sich auf die Zunge. Junge, damit machst du die Sache nur noch schlimmer! Wenn Ralf eins und eins zusammenzählen kann, dann weiß er jetzt Bescheid!

Ich wurde von der Schulklingel erlöst: »Ich muss los!«


Die nächsten Stunden verliefen ereignislos. Maximal langweiliger Unterricht mit ebenso langweiligen Lehrern ließen in mir den Wunsch aufkeimen, ob ich nicht während des Unterrichts Häkeln, Stricken oder Seidenschaalfärberei machen könnte. Bei allem Verständnis für meine Wissensvermittler, aber das, was sie mir versuchten zu vermitteln, wirkte auf mich wie kalter Kaffee.

»Tobias, Sie scheinen nicht sonderlich interessiert zu sein.«, weckte mich mein Geographielehrer.

»Doch sehr. Ich zweifle nur das statistische Modell an, dass in Ihrer Quelle für die Wertschöpfung pro Hektar angesetzt wird. Wenn ich die Daten auf das Beispiel des Masttierhofs anwende, kommt man auf einen Preis pro Kilogramm Rind von 780 Euro. Bei allem Subventionswahnsinn, aber so teuer sind Rindersteaks nun wirklich nicht. Und für meinen Hamburger zahle ich keine 100 Euro.«

Mit dieser für mich und meinen Lehrer unerwarteten Antwort erstickte ich jede Frage nach meiner Aufmerksamkeit. Mir war das bisher nie so krass aufgefallen, aber der gesamte Unterricht lief in einem ähnlichen Kaliber ab, wie der Geographieunterricht. Ich wunderte mich, dass nicht mehr Leute, die teilweise hanebüchenen Fehler in unseren Unterlagen und Lehrbüchern bemerkte. Obwohl, warum wunderte ich mich über meine Mitschüler, wenn selbst unsere Lehrer die Fehler nicht sahen, man sie ihnen sogar haarklein erklären musste.

»Tobias, Sie haben Recht. Da steht wirklich völliger Unsinn.«

Sag ich doch!

»Streber!«, zischelte es hinter meinem Rücken. Ich drehte mich natürlich nicht um, das wäre dann in der Tat richtig peinlich. Es besser wissen als der Lehrer und dann auch noch sauer auf einen Mitschüler reagieren? Keine wirklich gute Idee! Ganz im Gegenteil war ich für diese anonyme Beleidigung dankbar. Wenn ich nicht als unerträglicher Schlaubi-Schlumpf enden wollte, musste ich mich besser, möglichst cooler, verkaufen. Soll heißen, ich musste mein Wissen mit den anderen teilen. Dabei durften die Leute natürlich nicht das Gefühl bekommen, ich wollte ihnen was beibringen oder sie belehren. Nein, ich musste einfach nett rüberkommen, die Sachen cool einbringen, auch wenn das hieß, dass ich meine Lehrer gelegentlich als Volldeppen da stehen lassen musste. Lassen musste? Es waren Volldeppen! Von dieser Seite gab es also kein Problem.

Während der nächsten Stunden überlegte ich mir eine Strategie, wie ich meine intellektuelle Potenz geeignet verhüllen konnte. Ich spielte ein paar Varianten durch und probierte sie auch mit der einen oder anderen Wortmeldung aus. Die ersten Versuche waren Eigentore. Sie waren nicht ganz vergebens, als dass ich bei meinen Mitschülern punktete, weil ich die Lacher auf meiner Seite hatte, allerdings dann selbst, als der eben erwähnte Volldepp da stand. Aber Übung macht den Meister. Schrittweise wurden meine Fragen und Antworten treffsicherer. Ich entwickelte so etwas wie Heckenschützenmentalität und feuerte meine Bemerkungen genau dann ab, wenn unsere Bildungsvermittler es am wenigsten erwarteten. Immerhin, ich erntete respektvolle Blicke meiner Mitschüler und anerkennende Lacher.

»Die hast du aber eiskalt erwischt. Ich dachte die Alte platzt gleich!«, war eines der nettesten Komplimente.

In der zweiten großen Pause traf ich auf Michi und Ralf.

»Tobi, ich hab' noch was vergessen zu erzählen. Erna holt mich direkt nach der Schule ab, du brauchst also nicht auf mich warten.«

»Schade. Was habt ihr vor?«

»Knurr!«, Michi sah unglücklich aus. »Zahnarzt!«

»Mein Beileid!«

Ralf sah zwischen uns hin und her, sagte aber nichts, sondern lächelte nur.

Coladusche

Worin Ralf Tobi besucht und eine Erfrischung getrunken wird.

»Hi!«

Ein Finger tippte mir vorsichtig auf die Schulter. Folgerichtig wandte ich mich dem tippenden Finger zu. Vor mir stand Ralf und sah mich leicht schüchtern, leicht lächelnd und leicht unsicher an. Es war einfach umwerfend süß, wie er mich so ansah. Spontan bildete sich ein Kloß in meinem Hals, der runtergeschluckt werden wollte.

Ich antwortete mit einem nicht sonderlich kreativem: »Hi!«

Es bildete sich einer dieser klassischen peinlichen Momente. Wir standen uns gegenüber und wussten nicht so recht weiter. Viel zu ängstlich irgendetwas, möglicherweise schwachsinniges, zu sagen, begann ich unsicher mit meinen Füßen zu scharren. Ralf seufzte und wusste seinerseits nicht so recht, wo er seine Augen hinrichten sollte. Nach einigen unsteten Blicken sammelte er sich: »Da Michi nicht da ist ... Also, ich wollte Fragen ...«

Ich muss ihn angeschaut haben wie ein Autobus mit Fernlicht. Was wollte der Kerl mir sagen? Es war natürlich unheimlich niedlich, wie er sich wandte und drehte, fast zu niedlich nach meinem Geschmack, denn es brachte meine Hormone in massive Wallung.

»Na ja, meine Leute kommen erst spät Abends nach Hause ...«

Der Groschen (Oder war es ein 10 Cent Stück?) fiel. Ich hatte vergessen, dass Ralf neu in der Stadt war. Er hatte natürlich niemanden, mit dem er seine Zeit verbringen konnte. Zur Schule gehen, 6 Stunden dort abhängen, nach Hause fahren, Essen, Hausaufgaben, Computer oder Glotze, Essen, nochmal Computer oder Glotze und schließlich Bett, sowas stellt nicht notwendigerweise einen interessanten Tagesablauf dar. Obwohl, ich habe davon gehört, dass es Leute gab, die Computer und Glotze als die Erfüllung ihres jungen Lebens sehen.

»Hast du Lust, mit zu mir zu kommen?«, mein Nachmittag hätte nämlich ähnlich öde ausgesehen, wie der eben beschriebene.

Ralfs Ausdruck hellte sich auf. Er strahlte. Total begeistert meinte er: »Gerne ... Also, wenn ich darf. Ich will mich nicht aufdrängen. Wenn es dir nicht passt, dann ist das auch kein Problem. Ich weiß ja nicht, was du heute schon geplant hast. Also ...«

»Stop!«, unterbrach ich Ralf. »Nochmal zum Mitschreiben: Hast du Lust mit zu mir kommen? Ja oder nein? Ich würde mich freuen. Das würde mich vor einem ansonsten öden Nachmittag retten, denn meine Leute kommen auch erst abends nach Hause. Was heißt überhaupt Leute? Mein toller Vater ist überhaupt nicht im Lande.«

Den letzten Satz meinte ich mehr zu mir selbst, als zu Ralf. Er bekam auch prompt einen verwirrten Gesichtsausdruck.

»Geschäftsreise. Mal wieder!«, erläuterte ich knapp.

Wir gingen gemeinsam los. Ein völlig neues Gefühl. Wir gingen! Beide! Michi rollte immer neben mir her. Ich war ständig dabei, mit ihm Schritt zu halten. Eigentlich ging ich nicht neben Michi her, ich lief. Mit Ralf konnte ich erstmals, das heißt innerhalb eines nicht mehr erinnerlichen Zeitraums, langsam, gemütlich, entspannt und nicht hetzend nach Hause gehen.

»Du läuft tierisch schnell, weißt du das?«, keuchte Ralf. Ich zuckte entschuldigend mit meinen Schultern: »Michi hat eine Skateboard!«

»Verstehe!«, kommentierte Ralf. »Du hast keins?«

Ralf erntete einen schmerzverzerrten Gesichtsausdruck: »Sagen wir, ich und Skateboards passen nicht wirklich gut zusammen. Sagen dir die Worte Arm- und Schlüsselbeinbruch etwas?«

»Autsch!«

»Immerhin bin ich nicht gänzlich unsportlich, ich bin in einem Schwimmverein.«, meinte ich abwiegelnd. »Nichts spektakuläres. Ich bin jetzt kein Megatalent, auf das man bei der nächsten Olympiade achten muss. Ich schwimme, weil's mir Spaß macht. Na ja, vielleicht auch, weil alle anderen Sportarten mich mehr oder weniger hassen. Aber das ist eine Sache, die auf Gegenseitigkeit beruht.«

»Hey, ich schwimme ebenfalls. Genaugenommen war ich im Schwimmverein, bis wir umgezogen sind.«

»Wenn du Lust hast, komm doch einfach mal mit zum Training und frag unseren Trainer. Ich glaube wir haben noch Plätze frei.«

Ralf stoppte unvermittelt: »Weißt du was?«

»Nöh?«

»Du bist heute ganz anders drauf. Viel lockerer.«

Ich stoppte ebenfalls. Im ersten Moment fehlten mir dir Worte: »Danke ... Glaub ich jedenfalls.«

So ganz sicher war ich mir nicht. War das ein Kompliment oder was? Wir gingen weiter. Ralf grinste hinterhältig in sich hinein. Nach ungefähr der doppelten Zeit, die ich sonst mit Michi brauchte, standen wir schließlich vor dem Haus meiner Eltern.

»Wir sind da. Das Haus links neben unserem ist übrigens Michis Domizil.«

»Ihr seid Nachbarn?«, bemerkte Ralf das offensichtliche.

»Klassische Sandkastenbekanntschaft.«

»Dann kennt ihr euch schon mehr als 11 Jahre?«

»Yap. Es sind 13 Jahre. Ich war noch nicht eingeschult, als meine Eltern das Haus bauten. Müllers bauten zur gleichen Zeit und sind einen Monat nach uns in ihr Haus eingezogen. Seid dem sind Michi und ich Freunde. Mit ein paar Unterbrechungen.«

»Unterbrechungen?«

»Oh, wir haben uns ein paar mal richtig verkracht und monatelang nicht miteinander geredet. Aber irgendwie haben wir uns immer wieder versöhnt. Aber selbst diese Freundschaftspausen haben unsere Beziehung zueinander im Endeffekt nur noch verstärkt. Wir müssen einander nichts vormachen, uns nicht beweisen. Wir kennen unsere Stärken und Schwächen. Und haben keine Geheimnisse voreinander.«

Als ich Ralf verunsicherten Blick sah, wusste ich, dass er mich falsch verstanden hatte.

»Gott nein!«, korrigierte ich mich schnell. »Wir sind nur Freunde. Michi hat ständig 'ne neue Freundin.«

Ralf Blick wechselte von verunsichert auf verblüfft und ich merkte, dass ich die Sache eigentlich nur noch schlimmer gemacht hatte, in dem ich betonte, dass Michi Freundinnen hatte.

»Mich will ja niemand«, schob ich ungelenk nach und hoffte, dass Ralf die geschlechtsneutrale Formulierung richtig interpretierte. Aus seinem Gesicht war nichts herauszulesen. Der Begriff »verwirrt« entsprach seinen Ausdruck noch am ehesten. Selbst seine Augen flackerten nur schwach grau.

»Wollen wir rein gehen?«

Wir standen immer noch auf der Straße und ich fand, dass es Zeit war, das Thema zu beenden. Ein Wechsel des Ortes zieht meistens auch einen Wechsel des Themas nach sich.


»Kartoffelauflauf mit Porree und Hacksoße«, stellte ich nach intensiver Inspektion des Zettels am Kühlschrank fest. Unser Kühlschrank war mit Magnetknöpfen übersät, diente doch die pulverlackierte Oberfläche des Kühlgeräts als zentrales Informationszentrum der Familie vanBrüggen. Meine Mutter hatte wie immer einen Zettel mit genauen Zubereitungsrichtlinien für mein Mittagessen hinterlassen. In diesem Fall war es einfach. Ich sollte den vorgekochten Kartoffelauflauf aus dem Kühlschrank in den Backofen schieben, dem Teil ordentlich einheizen und 30 Minuten warten. Es handelte sich also um eine Zubereitungsprozedur, die ich gerade eben noch bewältigen konnte.

Wie immer war reichlich Essen vorhanden. Michi und ich aßen wechselweise bei seiner oder bei meiner Mutter. Selbst wenn Michi nicht beim Zahnarzt gewesen wäre, hätten wir zu dritt ausreichend Essen gehabt.

»Kartoffelauflauf ist super!«, meinte Ralf.

Ich heizte dem Auflauf ein.

»Ihr habt so viel Platz«, meinte Ralf als wir auf das Essen warteten. »Ich wohne mit meiner Familie in einer Wohnung. Ok, ich habe mein eigenes Zimmer, aber es wirkt alles viel enger als bei dir.«

Familie Antonides residierten in einer Mietwohnung mit 78qm. Das war zwar nicht sonderlich groß, aber auch nicht wirklich klein. Nachdem Ralfs Bruder zum Umzug erst gar nicht mit in die neue Wohnung eingezogen war, bekam Ralf das eigentlich für ihn geplante Zimmer, welches deutlich größer war, als sein bisheriges. Im Vergleich zu den 220qm Wohnfläche des Hauses meiner Eltern musste Ralfs Wohnung trotzdem winzig wirken. Aber Ralf war nicht neidisch. Ganz im Gegenteil. Er staunte mit offenem Mund und freute sich für mich. Da der Auflauf noch locker weitere 25 Minuten brauchte, bot ich Ralf eine kurze Tour durchs Haus an. Ausgehend von der Küche gingen wir ins Esszimmer, folgten dem Flur zum Wohnzimmer, warfen ein Blick ins Arbeitszimmer meines Vaters, ließen das Gästeklo links liegen und wählten schließlich die Treppe ins Obergeschoss. Oben angekommen fand sich ein Bad, das Elternschlafzimmer, Gästezimmer und schließlich mein Reich.

Mehr als einen kurzen Blick gönnte ich Ralf nicht, sondern meinte: »Dazu nach dem Essen mehr.«

Wir stiegen die Treppe abwärts und erkundeten den Keller. Meine Eltern liebten die finnische Sauna, weswegen sich eine solche inclusive Fitnessgeräten und zweitem Badezimmer im Untergeschoss befand. Heizungs-, Lager- und Hobby- bzw. Werkraum vervollständigten das Bild.

»Ihr habt wirklich viel Platz. Dein Zimmer ist größer als mein neues und mein altes Zimmer zusammengenommen.«, bemerkte Ralf ganz ohne Neid, trotzdem war mir der scheinbare Luxus unangenehm.

Ralf bemerkte meine Unsicherheit: »Hey, dass deine Eltern ein großes Haus haben, muss dir nicht peinlich sein. Vermutlich arbeiten sie auch viel dafür. Dein Vater ist auf Dienstreise, deine Mutter arbeitet offenbar auch den ganzen Tag. Es ist Ok.«

»Ich glaub der Auflauf ist fertig.«


45 Minuten später saßen wir gesättigt in meinem Reich. Ralf, der das Zimmer bei der Tour nur kurz gesehen hatte, schaute sich jetzt ausführlich um. Ich hockte auf meinem Bett und beobachtete ihn, wie er von Regal zu Regal ging, die Rücken meiner Bücher, CDs und DVDs las, meinen Schreibtisch untersuchte.

»Anders, aber doch passend!«, war Ralfs erster und nach meinem Geschmack etwas kryptischer Kommentar. Ralf sah die Fragezeichen in meinem Gesicht.

»Ich habe mir dein Zimmer völlig anders vorgestellt.«

»Wie denn?«

»Das kann ich dir jetzt gar nicht genau sagen ...«

Ralf drehte sich einmal um seine eigene Achse und nahm dabei die Atmosphäre meines Zimmers auf: »Irgendwie anders ... Aber so, wie es ist, passt es ebenfalls zu dir.«

Jetzt musste ich mich selbst umsehen. Was in meinem Zimmer spiegelte denn meine Persönlichkeit wieder? Der unaufgeräumte Schreibtisch? Die Art, wie ich meine Bücher sortiert hatte? Was ich für Musik hörte?

»Hab' ich dich verunsichert?«, fragte Ralf mit einem unterschwelligen ironischen Tonfall in der Stimme: »Ich hatte an meiner alten Schule ein paar lockere Freunde. Obwohl, Freunde ist fast übertrieben. Wir haben ein paar Referate zusammen vorbereitet und gelegentlich zusammen abgehangen. Aber deren Zimmer sahen deutlich anders aus als deins.«

»Und?«

»Du hast keine Poster an den Wänden. Keine Bilder von dicktittigen Pseudosängerinnen. Aber auch keine Poster von irgendwelchen anderen Leuten.«

Das stimmte soweit. Das einzige Bild, das ich besaß, war ein Kandinsky Kunstdruck, gerahmt und hinter Glas. Ich kannte auch meiner Schule Leute, die sich über mehr oder weniger gute Musikgruppen definierten. Das war nie mein Ding. Ich hörte zwar allerlei, empfand die Interpreten aber nie als Vorbilder, Rollenmodelle oder gar Traumpartner für mich. Was nicht heißen soll, dass ich den einen oder anderen Typen nicht geil fand.

»Ich weiß nicht ...«, startete ich einen Erklärungsversuch. »Schwärmerei für irgendwelche Promitypen war noch nie mein Ding. Oder hättest du jetzt ein Starschnitt von irgendeiner Gesangstusse bei mir erwartet?«

Ralf grinste hintersinnig: »Nicht wirklich.« Und nach einer kurzen Pause: »Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Es ist witzig, obwohl dein Zimmer sicherlich nicht aufgeräumt ist, wirkt es auf seine Weise ordentlich

Während ich noch darüber nachgrübelte, ob es sich um eine Kompliment oder eine Beleidigung handelte, ließ ich ein weiteres Mal meinen Blick durch mein eigenes Zimmer schweifen. Ralf hatte recht. Mein Zimmer war weit davon entfernt aufgeräumt zu sein. Mein Schreibtisch hatte sich überwiegend der Entropie ergeben. Hier und da lag ein altes T-Shirt herum, ein Paar Nikes bildeten ein Stillleben eigener Art und trotzdem, mein Zimmer wirkte in sich ordentlich oder besser geordnet. Bisher war mir das nie aufgefallen. War ich wohlmöglich ein langweiliger Spießer? Ein Pingel?

»Hey!«, unterbrach Ralf meine Gedanken. »Ich mein das nicht negativ. Mir gefällt dein Zimmer. Es ist gemütlich. Man fühlt sich auf Anhieb wohl.«

Ralf hatte sich auf meinen Schreibtischstuhl gesetzt und zu mir gedreht. Er musterte mich, wie ich da auf meinem Bett hockte. Plötzlich fing er an zu schmunzeln.

»Was?«, fragte ich verwundert.

»Nichts ... Nur ...«, Ralf kicherte albern. »Der Käfig deiner einäugigen Schlange steht offen.«

»Häh?«, es brauchte eine Weile, diesen Satz zu dekodieren. Als ich schließlich den Klartext in meinen Händen hielt, passierten gleichzeitig zwei Dinge. Ich lief knallrot an und knöpfte in Windeseile meinen Hosenstall zu.

»Einäugige Schlange?«, fragte ich.

»Kennst du den Begriff nicht?«, fragte Ralf zurück.

»Nee!«, gestand ich und musste lachen. »Das war wirklich neu.«

Glücklicherweise trug ich Baggy-Jeans, die verdeckten, dass meine einäugige Schlange gerade dabei war zu erwachen. Ralf saß derart provozierend attraktiv auf meinem Bürostuhl, dass meine Schlange sich sogar schmerzhaft bemerkbar machte. Er hatte sein Kapuzenshirt ausgezogen und saß in einem zweifarbigen, körperbetonenden (Arme in einer Farbe und das Mittelteil in einer anderen) T-Shirt gegenüber. Sein Sixpack zeichnete sich deutlich unter dem Stoff ab. Ich konnte sogar seine Brustwarzen sehen. Ob sie wohl vom Stoff gereizte wurden, denn seine Nippel stachen deutlich vergrößert hervor. Der Typ zog mich einfach an. Ich konnte mich von seinem Anblick kaum losreißen. Allein seine muskulösen Oberarme, die den Stoff unter Spannung hielten, ohne prollig zu wirken, sorgten dafür, dass ich deutlich tiefer atmen musste. Mein Mund nahm die Luftfeuchtigkeit der Sahara an.

»Willst du was trinken?«, fragte ich, um auf andere Gedanken zu kommen.

»Gern!«, entgegnete Ralf. Ich stürmte aus dem Zimmer, sortierte auf den Weg in die Küche meine Kronjuwelen, schnappte eine Flasche Cola und zwei Gläser und sprintete die Treppe wieder hinauf. Ralf saß da, wo ich ihn zurückgelassen hatte. Er schaute mich erwartungsvoll an. Ich gab ihm eines der Gläser, stellte das andere auf meinen Schreibtisch. Ralf hielt mir sein Glas entgegen. Ich öffnete die Colaflasche.

Die Flasche bekam einen Orgasmus. Mit ungeheurer Kraft ejakulierte sie ihren klebrigen braunen Inhalt. Die Ladung landete direkt auf Ralfs T-Shirt.

»Shit! Was ist das den für einen Scheiß?«, stammelte ich. »Was ist mit der verdammten Flasche los?«

»Hey, alles halb so schlimm. Es hat nur mein T-Shirt erwischt und das kann man waschen«, versuchte Ralf mich zu beruhigen und tat genau das Gegenteil, er zog sein T-Shirt aus. Meine Blutdruck sackte in den Keller und mir wurde kurz schwarz vor Augen. Ralf saß, nur mit seiner Jeans bekleidet auf meinem Schreibtischstuhl. Sein Oberkörper sah noch geiler aus, als sich bei textiler Verhüllung ahnen ließ.

Es bedurfte meiner gesamten verbliebenen Selbstbeherrschung mich von diesem Anblick loszureißen: »Ich hol dir eins von meinen.«

Mit einem Ruck sprang ich los in Richtung Kleiderschrank, öffnete ihn und durchforstete meine Sammlung an T-Shirts. Natürlich suchte ich ihm eines meiner Lieblingsteile aus: »Hier!«

»Kann ich mal kurz ins Badezimmer?«, fragte Ralf, als ich ihm mein T-Shirt hin hielt. »Um die Cola abzuwaschen.«

»Sicher!«

Ein paar Minuten später betrat Ralf mit meinem T-Shirt bekleidet mein Zimmer. Es verschlug mir erneut die Sprache. Wie konnte dieses blöde Baumwollteil nur so unterschiedlich wirken? Trug ich mein T-Shirt, sah es »Ok« aus. Bei Ralf sah es aus, als wenn es nur für ihn gemacht war. Vermutlich würde auch ein Kartoffelsack bei ihm super aussehen!

»Zweiter Versuch?«, fragte Ralf und erntete Unverständnis.

»Cola!«, ergänzte er schließlich erläuternd.

Diesmal ließ sich die braune Brause ohne Probleme einschenken. Schweigend tranken wir die Amibrause.

Es war Ralf, der schließlich das Schweigen brach: »Tobi? Darf ich dir eine Frage stellen?«

Kontakt

Worin man eine gewisse Grenze überschreitet.

»Sicher!«, meine Stimme klang entschlossener als mein inneres Gefühl. Themen, die mit der Frage beginnen, ob man eine Frage stellen darf, neigen dazu, meistens ernsthafterer Natur zu sein. Da Ralf sich gerade als so etwas wie mein zweiter Freund nach Michi entwickelte, konnte man mit Fug und Recht behaupten, dass ich nicht wirklich viel Erfahrung in diesem ganzen Freundschaftsding hatte. Ich bewegte mich auf absolutem Neuland und war dementsprechend unsicher. Ralfs überdeutliche Attraktivität machte die Angelegenheit auch nicht gerade leichter.

»Ok, sei mir aber nicht böse. Ok?«

»Ja, natürlich. Warum sollte ich dir böse sein?«, mein Paniklevel stieg.

»Ich werde aus dir nicht schlau«, begann Ralf. Er ließ den Satz eine Weile ihm Raum stehen. Ich wagte nicht zu antworten. Ich war kurz davor aus dem Zimmer zu rennen.

»Versteh mich nicht falsch, aber du bist für mich ein Rätsel«, fuhr Ralf fort. »Auf dem Weg von der Schule hier her, selbst während du mir das Haus gezeigt hast und als wie den Auflauf aßen, warst du völlig normal.«

»Aber?«, ich ahnte worauf das hinaus lief. Das Anzeigeröhrchen meines Paniklevels verließ den gelben Bereich und erreichten den orangen.

»Von einer Sekunde auf die andere wirkst du total verkrampft.«

Das wäre jetzt der perfekte Moment, um aufzuspringen und loszubrüllen, was er eigentlich für einen Scheiß erzählen würde. Ich und verkrampft? Lächerlich! Absolut absurd. Er würde sich was zusammen fantasieren. Doch ich sagte nichts.

»Mach ich dich nervös?«

Nervös? Junge, merkst du nicht, dass ich mental auf dem Zahnfleisch vor dir rum krieche?

»Ja!«, stammelte ich. Was passiert hier? Wie konnte ich einfach »Ja!« sagen?

Ralf lächelte nachsichtig, zog das T-Shirt hoch, zeigte auf seinen Brustkorb und sein Sixpack und meinte: »Etwa deswegen?«

»Ja!«, stammelte ich.

»Lächerlich!«, meinte Ralf. »Du willst mir doch nicht einreden, dass mein Aussehen dich einschüchtert? Warte mal ...«

Ralf griff nach seinem Rucksack, angelte nach seiner Brieftasche und fischte ein Foto heraus, welches er mir reichte: »Hier!«

Auf dem Foto war ein dicker, nein fetter Typ mir 70iger Jahre Kassengestellbrille und ungewaschenen öligen Haaren zu sehen. Ein Typ, bei dem man am liebsten die Straßenseite wechseln würde. Ich war kurz davor zu fragen, wer das denn sei, als es mich wie ein Blitzschlag traf. Das Foto zeigt Ralf.

»Du?«

Ralf nickte: »Vor zwei Jahren sah ich noch so aus.«

Ich verglich den aktuellen Ralf mit dem ehemaligen Ralf.

»Was ist passiert?«, die Frage lag einfach nahe.

»Ich habe eine Entscheidung getroffen«, antwortete Ralf nebulös.

»Was für eine?«

»Merkst du was?«, wich Ralf meiner Frage aus. »Jetzt bist du wieder locker und unverkrampft.«

Verdammt, der Typ hatte Recht. Ralf saß mir immer noch unerträglich attraktiv gegenüber, aber mein Interesse hatte sich auf das Geheimnis seiner erstaunlichen Wandlung verlagert.

»Ja, aber trotzdem. Was für eine Entscheidung hast du getroffen?«

»Mich zu akzeptieren, wie ich bin.«

»Toll!«, weiß der Teufel, was ich als Antwort erwartet habe. »Du hast also akzeptiert, dass du fett bist und drei Tage später warst du Mr. Sixpack?«

»Nein, natürlich nicht.«, Ralf lächelte hintersinnig. »Ich habe akzeptiert, dass ich in manchen Beziehungen anders bin, als etwa meine Mitschüler. Bis zu dem Zeitpunkt habe ich mich gegen diese Erkenntnis gesträubt und mich selbst betrogen.«

»Und was hat das mit mir zu tun?«

Ralf antwortete nicht direkt: »Auch ich war ein Einzelgänger ohne viele Freunde. Ich denke, auch du musst eine Entscheidung treffen. Als ich dich das erste Mal sah, im Plattenladen, hatte ich das Gefühl mich in dir wiederzuerkennen. Ich kann mich täuschen, aber ich habe glaube, dass du mit dir selbst kämpfst.«

Ich seufzte: »Nein, der Kampf ist seid einiger Zeit vorbei.«

Ralf hob überrascht seine Augenbrauen: »Und das heißt?«

»Ich weiß, was ich will. Ich weiß, wer ich bin«, ich musste seufzen. »Das ist ja gerade mein Problem.«

»Das versteh ich nicht.«, Ralf wirkte sichtlich irritiert. »Warum ist das ein Problem?«

Mein Paniklevel oszillierte zwischen rot und grün hin und her. Einerseits wollte ich Ralf erzählen, was ich für ihn empfand, andererseits hatte ich Angst vor seiner Reaktion. Die am wenigsten üble Reaktion, die ich mir vorstellen konnte, war: »Tobi, leider empfinde ich nicht so wie du, aber lass uns weiter Freunde sein.« In einem alternativen Szenario sah ich mich mit gebrochenen Rippen, Kiefer, massenweise Hämatomen und einem Schädeltraume auf der Intensivstation liegen. Eine wohlwollende Reaktion lag außerhalb meines Vorstellungshorizontes.

»Ich ... ich ... ich kann nicht.«, stammelte ich.

Ralf zuckte mit den Schultern und wechselte überraschend das Thema: »Du ließt viel SciFi.«

Von diesem unerwarteten Themenwechsel überrumpelt, murmelte ich ein verstörtes »Ja ...Wieso?«

»Nur so. Eine Zeit lang hab ich alles verschluckt, was irgendwie nach SciFi oder Fantasy roch. Die meisten Bücher in deinen Regalen hab' ich auch gelesen.«

»Und jetzt liest du sie nicht mehr?«

»Weniger ... Meistens fehlt mir dir Zeit.« Ralf studierte die Buchrücken und runzelte seine Stirn, »Deine Buchauswahl erzählt viel über dich. Viele Geschichten handeln von Einzelgängern mit dunklen Geheimnissen oder einem Alter Ego

»Zufall ...«, knurrte ich, dem die Präzision in Ralfs Folgerungen nicht gefiel. Natürlich gefielen mir die Außenseiter, die zu Helden wurden, sie waren wie ich und die Entwicklung ihrer geheimen Persönlichkeit war immer so etwas, wie ein Coming Out. Natürlich identifizierte ich mich mit ihnen. Natürlich wollte auch ich etwas Besonderes sein und aus der Masse hervorstechen. Wer will das nicht?

»Ralf, was willst du von mir?«

»Die Frage ist wohl eher, was willst du von mir?«, er tat es schon wieder. Wie vor ein paar Tagen im Aufenthaltsraum in unserer Freistunde. Ralf provozierte mich. Warum tat er das?

»Warum tust du das ständig?«, ich war es Leid. Wenn er unbedingt die Wahrheit erfahren wollte, bitte, sollte er. Ich hatte einfach keine Lust mehr auf seine Spielchen.

»Was?«

»Warum provoziert du mich?«

»Tu ich das?«

»Ja, jetzt gerade. Ständig kommen irgendwelche Andeutungen von dir. Oder du stellst mehrdeutige Fragen. Was für ein Spiel spielst du? Ich dachte, du suchst neue Freunde und vielleicht auch eine Freundschaft mit mir. Schließlich bist du ja neu in der Stadt. Behandelt man so einen potentiellen Freund?«

»Ich weiß nicht. Behandelst du mich denn wie einen Freund?«, Ralf blieb nach wie vor kryptisch.

»Shit! Du tust es schon wieder!«, fauchte ich und sprang von meinem Bett auf. Wütend stand ich im Raum und stierte auf Ralf hinab, der immer noch auf meinem Bürostuhl hockte und mich interessiert musterte. »Was willst du von mir?«

Ralf antwortete nicht direkt. Statt dessen erhob er sich langsam und ging auf mich zu. Wenn er mich schlagen wollte, sollte er es nur versuchen. Ich würde nicht zurückweichen! Aber Ralf wurde nicht gewalttätig, er tat eher das Gegenteil. Er stand unmittelbar vor mir, schaute einen Moment unsicher aus, gab sich dann ein Ruck und tat dann etwas, das mich völlig überrumpelte. Mit beiden Händen packte er zärtlich meine Wangen, zog mein Gesicht zu sich heran und flüsterte schüchtern: »Ich will dich!«

»Aber ...«, stammelte ich, denn Ralf hatte mich völlig überrumpelt. »Woher weißt du? Du bist ?«

»Das du schwul bist?«, Ralf grinste und ließ mich wieder los. »Junge, hältst du mich für blind? Glaubst du etwa, ich merke nicht, wenn du unruhig hin und her rückst, weil du mal wieder eine Latte verbergen willst? Mann, du versuchst derart krampfhaft deine Erregung zu verheimlichen, dass das Bände spricht! Ich denke nur an unsere S-Bahnfahrt gestern in die Stadt.«

»Dann hast du tatsächlich die ganze Zeit versucht, mir Signale zu zusenden?«

»Der Kandidat erhält 100 Punkte. Irgendwie musste ich doch eine Reaktion aus dir rauskitzeln. Glaubst du, ich zwäng mich freiwillig in diese doofen engen T-Shirts? Wohlmöglich, weil ich bei den Mädels punkten will?«

»Ähm, tja ...«

»Aber du, mein lieber Tobi, bist so total ängstlich und schüchtern, dass ich fast verzweifelt wäre. Du scheinst dir partout nicht vorstellen zu können, dass es noch andere Jungs wie dich gibt, oder? Oder schlimmer noch, dass es Typen gibt, die sich auch noch in dich verlieben?«

»Verlieben ...«, in einer Übersprungshandlung überdeckte mein Hirn meine Sprachlosigkeit indem es die Kernsausage von Ralfs Satz wiederholte. Nach einem Moment mentaler Leere stotterte ich schließlich: »Verlieben? Du in mich? Wie kann sich ein Traumtyp wie du in mich verlieben?«

Ralf seufzte matt und ließ sich wieder in den Bürostuhl fallen: »Was soll ich dir sagen? Willst du eine rationale Erklärung haben? Ich kann sie dir nicht geben. Ich kann dir nur sagen, dass du, Tobias, ein miserables Selbstwertgefühl hast. Findest du es wirklich so absurd, dass ich dich attraktiv finde, dass ich die Art liebe, wie du die Dinge siehst, wie du dich bewegst, wie du redest, wie du lebst? Ist das wirklich so seltsam?«

»Aber du könnest jeden oder jede haben!«

»Ich will aber nicht jede oder jeden! Ich will dich und nur dich! Verdammt, mich hat es in dem Moment erwischt, als ich dich im Schallplattenladen gesehen habe. Ich bekam spontan Schmetterlinge im Bauch und fühlte eine Leichtigkeit ... Es war unbeschreiblich. Ich musste dich einfach kennen lernen, aber das war ja unmöglich ... Das du dann auf meine neue Schule gingst, sogar in den selben Jahrgang, war als wenn ein Traum in Erfüllung ging.« Ralf machte eine Pause. »Und ein Albtraum!«

»Albtraum?«

»Aber du hast auf keines meiner Signale reagiert. Ich konnte zwar sehen, dass es dich ebenfalls erwischt hatte. Es war sogar überaus deutlich in dein Gesicht geschrieben. Aber du bist mir immer nur ausgewichen. Ich litt darunter zu sehen, wie du mit dir am Kämpfen warst. Und dann bist du weggelaufen! Ich bekam Panik, dass ich zu viel Druck auf dich ausgeübt hatte.«

Ich musste grinsen: »Das war ziemlich blöd von mir, oder? Aber du musst verstehen, du hast mich wirklich völlig verunsichert. Wirklich total! Da waren einerseits diese Gefühle, die ich empfand, dann aber auch die Furcht davor, wie du wohl reagieren würdest.«

»Also, wenn du Angst hast, dass jemand dich für schwul hält, solltest du auf Michis Mundwerk ein wenig besser aufpassen.«

»Shit! Du hast es registriert, wie er sich verplapperte?«

»Jemand, der nicht auf alle Signale in dieser Richtung achtet, hätte es vermutlich überhört ... Ich hingegen gierte nach jedem Informationsfetzen und wenn er noch so winzig war. Um also auf deine Frage zu antworten: Natürlich hab ich seinen Versprecher mitbekommen.«

»Aber dann verstehst du auch, warum ich so vorsichtig bin. Du hast die Geschichte aus der S-Bahn mitbekommen. Die vier Typen haben uns angemacht, weil sie Michi und mich für schwul hielten. Ist das kein Grund?«

»Auf jedem Fall ist es ein Grund. Ich halte zwar nichts davon, sich zu verstecken, wenn mir aber körperlicher Schaden drohen würde ... Ich bin heil froh, dass dir nichts passiert ist.«

Mir ging meine übersinnliche Erfahrung durch den Kopf. Ralf hatte unrecht. Mir war etwas passiert. Nicht physisch, aber ich war in die Gedanken eines anderen Menschen eingedrungen und hatte etwas erlebt. Es hatte mich verändert.

»Tobi?«, Ralf riss mich aus meinen Gedanken.

»Ja? Was ...«

»Du warst eben völlig weg, als wenn du mit deinen Gedanken an einem völlig anderen Ort warst. War die Geschichte in der S-Bahn wirklich harmlos?«

»Ja.«, ich hoffte ich klang überzeugend genug.

»Ralf?«, diesmal wechselte ich das Thema, »Würde es dir etwas ausmachen, nochmal dein T-Shirt auszuziehen ...«

Auf Ralfs Gesicht breitete sich ein lüsternes, hinterhältiges und sehr breites Grinsen aus, seine Augen strahlten in einem intensiven gold-silbernen Farbton. Ralf griff das Bund seines T-Shirts und zog es sich langsam über den Kopf. Wie ein Kaninchen vor der Schlange starrte ich ihn mit offenen Mund an. Da saß er nun in all seiner Pracht und lächelte mich verliebt an. Seine tiefschwarze Jeans unterstrich den Kontrast zu seiner Haut, die in einem leicht dunklen bronzenen Ton schimmerte.

»Anfassen erlaubt ...«, flüsterte Ralf.

Ich biss mir auf die Lippe und hatte plötzlich Angst vor meiner eigenen Courage: »Ich hab' noch nie ...«

»Ich auch nicht ...«, gestand Ralf und ergriff die Initiative. Er erhob sich von seinem Bürostuhl und kam zu mir ans Bett, auf dem ich inzwischen wieder hockte. Ohne zu fragen, griff Ralf nach meinem T-Shirt und zog es mir ebenfalls über den Kopf, während ich ihn wehrlos und ungläubig anstarrte. Verarschte er mich? Wollte er mich reinlegen, in dem er mich dazu brachte, an ihm rumzufummeln, um dann hinterher überall rum zu erzählen, was für eine gottverdammte Schwuchtel ich sei? Meinte er es wirklich ehrlich?

Ich sah ihm in die Augen. Forschend, fordernd und analysierend. Doch bei all meiner Angst und all seiner Vorsicht konnte ich keinen bösen Hintergedanken erkennen, keinen Verrat entdecken. Ich sah nur zwei gold-silbern scheinende Sonnen, die mich verliebt und deutlich lüstern anhimmelten. Ralf schien meinen Anblick regelrecht aufzusaugen. Seine Augen war die eines Verdurstenden. Ich habe noch nie soviel Sehnsucht gesehen. Unendlich schüchtern näherte sich Ralfs rechte Hand. Ein fragender Blick, eine genickte Einwilligung und Ralf berührte meine Brust. Ein Schauer lief durch meinen Körper und ich bekam eine Gänsehaut.

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich danach gesehnt habe, dich zu berühren«, gestand Ralf, während seine Hand zärtlich über meine Brust strich und mit meinen Nippeln spielte. »Du ahnst gar nicht, wie schön du bist. Deine Natürlichkeit ...«

Ich legte Ralf meinen Zeigefinger an seine Lippen. Keine Worte mehr. Dann zog ich ihn zu mir aufs Bett. Wir lagen nebeneinander, unsere nackten Oberkörper nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Obwohl wir uns nicht berührten, konnte ich die Wärme seines Körpers spüren. Meine Hand näherte sich Ralf Brust und nahm schließlich ebenfalls Kontakt auf. Aus Michis Sicht war dies wohl eine eher lächerliche Version des Themas Sex, aber für Ralf und mich, war es eine unheimlich sinnliche Erfahrung. Natürlich lechzten wir nach mehr, zwei Jungs in unserem Alter sind schwerlich zu bremsen, wenn erst einmal die Hormone die Kontrolle übernommen haben. Demnach war es sicherlich kein Wunder, dass sich plötzlich unsere beiden Gesichter nur knapp 10 Zentimeter voneinander entfernt befanden. Wir sahen uns in die Augen, entdeckten gegenseitige Lust und Verlangen, öffneten unsere Münder und verringerten den Abstand unserer Köpfe zueinander auf null.

Mein erster Kuss mit einem anderen Junge wirkte wie eine starke Droge. Hormonkaskaden pulsierten durch meinen Körper und erreichten jede Haarspitze. Ralf ging es ähnlich. Wir hielten unsere Köpfe schief, um noch besser und noch tiefer ineinander eindringen zu können. Wir ließen uns fallen. Wir kamen uns näher, unsere Oberkörper berührten sich und lösten die nächsten Schauer intensiver Gefühle aus. Wellen elektrischer Energie durchliefen unsere Körper. Ohne den Kuss zu unterbrechen, umschlangen wir uns, schmiegten und pressten uns aneinander. Wir konnten einfach nicht genug voneinander bekommen. Es war schlicht überwältigend.

Doch irgendwann benötigen auch völlig hormonkontrollierte Liebespaare Frischluft. Widerwillig trennten wir uns und glichen unser Sauerstoffdefizit aus.

»Wow!«, meinte Ralf, der als erstes wieder zu Atem kam. »Das war besser und geiler als ich es mir jemals vorstellt habe. Tobi, du bist ein Traum, du bist der Himmel auf Erden.«

Ich habe selten jemand so debil glücklich gesehen, wie Ralf in diesem Moment. Das das völlig stulle wirkte, störte mich nicht die Bohne, wusste ich doch, dass ich mindesten genauso schwachsinnig verliebt aus der Wäsche schaute.

»Du meinst das ernst, oder?«, meinte ich plötzlich sehr ernst. »Das liebst mich?«

Auch Ralf wurde ernst: »Ja, absolut und hoffnungslos. Ich liebe dich! Und ich meine dabei nicht Lust oder Sex. Ich kenne dich erst seit wenigen Tagen, wenn man es überhaupt kennen nennen kann, aber das reicht mir. Wenn ich nicht in deiner Nähe sein kann, fühle ich mich unvollständig.«

»Wow!«, zu einem qualifizierteren Urteil war ich momentan nicht fähig. »Bei mir ist es ähnlich. Wenn du da bist, kribbelt es in mir und ich könnte sofort über dich herfallen. Doch das ist nur das körperliche. Da ist mehr. Viel mehr. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Du verströmst eine Tiefe und Ernsthaftigkeit, die mich einfach zu dir hinzieht. Weißt du was verrückt ist? Als wir uns eben in den Armen lagen, fühlte ich eine nie dagewesene Geborgenheit, einen Frieden und eine Sicherheit, die weit über den puren Körperkontakt hinausging. Ralf Antonides, du hast mir mein Herz gestohlen!«

Ralf lächelte, nein, er strahlte und hatte dabei eine Träne im Auge: »Sagen wir lieber, wie haben unsere Herzen aneinander verloren.«

Ich glaube, wie waren in diesem Moment die glücklichsten Menschen im Universum. Aber so denken wohl alle frisch Verliebten. Ja, wir machten uns hoffnungslos zum Affen.

Unterbrechungen

Worin widrige Umstände eine Vereinigung verhinderten.

»Ich habe eine Latte!«, bemerkte Ralf und blickte auf die große Beule in seiner Hose.

»Me too!«

»Und was machen wir dagegen?«, fragte Ralf scheinheilig.

»Ich könnte mir da verschiedene Arten der Erleichterung vorstellen ...«, begann ich ähnlich scheinheilig wie Ralf. »Wir könnten uns unserer Hosen entledigen und jeder für sich oder gegenseitig.«

Ralf blinzelte mich verschmitzt an, sagte aber nichts.

»Ich weiß, was Michi machen würde, wenn wir unterschiedlichen Geschlechts wären«, umschrieb ich eine weitere Option.

»Und das wäre?«, fragte Ralf, obwohl er genau wusste, was ich meinte.

»Wir könnten unsere Geschlechtsorgane in verschiedene Körperöffnung des anderen stecken«, wagte ich mich weit vor.

»Willst du das?«, Ralf fragte sehr vorsichtig, aber gleichzeitig hatte er so ein gewisses Glitzern in den Augen. Ich ahnte, was er dachte.

»Ich weiß nicht. Ich denke schon. Ich weiß, wovon ich immer geträumt habe. Aber das waren Fantasien. Das hier ist Realität ...«

»Und?«

»Jetzt bin ich hin und hergerissen. Einerseits habe ich Angst, andererseits platze ich vor Geilheit.«

»Lustmolch!«, grinste Ralf. »Ich weiß ja nicht, ob es dich tröstet, aber mir geht es genau so.«

Wir lächelten uns schüchtern an, kicherten albern, taten aber erst einmal nichts, sonder schwiegen. Nach einer Weile nahm ich allen Mut zusammen und räusperte mich: »Ralf? Darf ich ...«

»Sag es. Hab' keine Angst!«, flüsterte Ralf, dem vor Anspannung die Stimme versagen wollte.

»Ich möchte ...«, was für ein Glück, dass ich schon lag, sonst wären mir die Knie weggesackt, »... dich blasen.«

»Du musst nichts machen, was du nicht willst«, flüsterte Ralf.

»Aber ich will! Ich weiß nur nicht, ob du ...«

»Mach!«, Ralf klang fast flehend.

Ich griff nach seinem obersten Hosenknopf und öffnete ihn. Knopf für Knopf wurde aus seinem Knopfloch entfernt, bis schließlich keine geschlossenen Knöpfe mehr übrig waren. Dafür hatte sich das V von Ralf Hosenstall verbreitert und gab einen Blick auf seinen weißen Slip frei. Ich packte seine Jeans an den Seiten, Ralf hob sein Hintern ein wenig an und ich zog ihm die Hose erst runter und dann aus.

Da lag er nun. Mein Ralf, nur noch von einem kleinen weißen Sportslip bedeckt. Unter dem Stoff zeichnete sich eine mächtige Erektion ab. Sogar die Venen seines Schwanzes konnte man durch den Stoff erkennen.

»Du musst es wirklich nicht.«, meinte Ralf besorgt.

»Aber ich will es!«, entgegnete ich entschlossen.

Ralf lag mit dem Rücken auf meinem Bett. Bevor ich weitermachte, ließ ich meinen Blick über seinen Körper streichen. Ralf war haarlos, bis auf eine dunkle Spur Haare, die knapp unter seinem Bauchnabel begannen und hinter dem Bund seines Slips verschwand. Das war der Pfad. Ich legte meine Hand auf Ralfs Bauch. Er zuckte zusammen und stöhnte lustvoll auf. Ich ließ meine Hand weiter abwärts gleiten bis zum Bund seines Slips. Mit drei Fingern griff ich unter den Bund und zog ihn hoch. Sofort sprang Ralf Schwanz heraus. Mit beiden Händen packte ich den Slip und zog ihn bis zu Ralfs Kniekehlen herunter.

Jetzt zögerte ich einen Moment. Kurzfristig verließ mich mein Mut, doch die Lust war stärker. Ich wollte es wissen, wollte wissen, wie sich Ralf Schwanz anfühlte. Und so griff ich zu. Er pulsierte in meiner Hand. Er war so überaus lebendig und fühlte sich völlig anders an, als wenn ich meinen eigenen packte. Ralf atmete tief, sehr tief. Er gab grunzende und jauchzende Laute von sich. Er wimmerte regelrecht vor Lust.

Ich war nicht mehr zu halten und ging auf Autopilot. Ich näherte mich mit meinem Kopf. Ich wollte ihn. Und dann war es soweit, Ralfs Eichel berührte meine Lippen. Ich gab' ihm einen Kuss und schmeckte das erste mal den Lusttropfen eines anderen Jungen. Ich öffnete meine Lippen ...

»Tobi, bist du da?«

Roter Alarm! Es dauerte keine Sekunde bis ich Inhalt und Quelle der vier Worte identifiziert hatte. Meine Mutter war nach Hause gekommen!

»Scheiße!«, fluchte ich gerade so laut, dass Ralf es hören konnte. »Meine Mutter. Schnell!«

Ich brauchte glücklicherweise nur mein T-Shirt anziehen. Ralf hatte da etwas mehr zu tun, war aber trotzdem in Rekordzeit vollständig bekleidet. Ich schätze, die Aktion hatte insgesamt weniger als eine viertel Minute gedauert, bis wir sittsam und auf unterschiedlichen Möbeln saßen. Ralf hockte wieder auf meinem Schreibtischstuhl, ich hockte auf meinem Bett. Wir waren starr vor Angst. Mein und sicherlich auch Ralfs Herz raste.

Zwei Sekunden später ging meine Zimmertür auf: »Oh, du bist nicht allein.«

»Darf ich vorstellen, dass ist Ralf Antonides. Ein neuer Schüler an unserer Schule und ein Freund.«, erklärte ich, ohne nach zu denken.

Sichtlich verblüfft sah meine Mutter von Ralf zu mir und wieder zurück zu Ralf: »Sehr erfreut, Ralf. Ich darf Sie doch Ralf nennen?«

»Nur, wenn sie mich duzen«, Ralf legte mechanisch sein charmantestes Mutterzumschmelzenbringgesicht auf.

»Ok!«, meinte meine Mutter. »Habt ihr zwei Hunger?«

Wir nickten. Unser Vorrat an Konversationsfloskeln war erschöpft.

»Gut, ich rufe wenn das Essen fertig ist. Inzwischen solltet ihr mal lüften. Hier riecht es wie in einem Iltiskäfig!«


Wir brauchten über eine Minute, um uns wieder bewegen zu können. Langsam ließ die Panikattacke nach, Puls und Blutdruck normalisierten sich.

»Meinst du, sie hat was gemerkt?«, Ralf fand als erste seine Sprache wieder.

Ich zuckte mit den Schultern. Meistens konnte ich die Gedanken meiner Mutter erraten, aber das betraf dann Standardsituationen. Ich wusste, wann sie von mir erwartete, dass ich im Haushalt mithalf. Ich wusste, wann sie schlechte Laune hatte und man sie besser nicht ansprach. Ich wusste auch, wann sie gut gelaunt war und empfänglich für Wünsche war, die einen Etat außerhalb des regulären Taschengeldauszahlungsplans bedurften. Umgekehrt konnte ich selten etwas vor ihr geheim halten. Auf eine mir unerklärliche Weise wusste sie immer, wenn ich eine schlechte Klassenarbeit zurückbekommen hatte. Genauso wusste sie immer sofort, wenn ich Stress mit meinen Mitschülern hatte. Was, so fragte ich mich, hat sie jetzt erraten? Was hatte sie sich bei ihrem kurzen Besuch in meinem Zimmer zusammengereimt? Und was bedeutete die Bemerkung mit dem Iltiskäfig?

»Ich weiß es nicht«, beantwortete ich Ralfs Frage. »Meine Mutter weiß noch nicht, dass ich schwul bin.«

»Bist du dir da so sicher?«, fragte Ralf mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck.

Ich wurde unsicher: »Wie meinst du das?«

»Mütter neigen dazu, einen sechsten Sinn für solche Dinge zu haben. Hast du nicht ihr amüsiertes Lächeln bemerkt, als sie meinte, wie sollten den Iltiskäfig lüften?«

Ich zuckte mit meinen Schultern. Ich hatte zwar ein Coming Out gegenüber meiner Mutter geplant, aber bei einer Planung war es bisher auch nur geblieben. Ich erwartete eigentlich eine neutrale bis positive Reaktion meiner Mutter, trotzdem blieb ein Restrisiko. Und genau dieses Restrisiko hielt mich bisher davon ab, meiner Mutter alles zu erzählen.

»Tobi?«, Ralf sah mich mit einer beunruhigenden Unsicherheit an.

»Ja?«, meine Nackenhaare stellten sich auf. Kam jetzt der Killersatz: »Das vorhin ist nie geschehen! Ich bin gar nicht schwul!«

»Das vorhin ...«, Ralf begann meinen Albtraum war zu machen, denn eigentlich konnte ich immer noch nicht ganz glauben, was vorhin geschehen war. Ralf und ich? War das wirklich möglich? Konnte das sein?

Und so begann ich zu zittern und ungefiltert meine Angst zu artikulieren: »Red' nicht weiter! Ich weiß, was du sagen willst. Das vorhin war ein Ausrutscher. Du bist gar nicht schwul und nur der Mangel an einer Frau ...«

Ein schmerzverzerrter Blick huschte über Ralfs schönes Gesicht. Er sagte nichts, sondern ging auf mich zu, zog mich zu sich heran, umarmte mich und begann mich zärtlich zu küssen. Es waren keine stürmischen Küsse, bei denen meine Mandeln poliert wurden. Es waren Küsse, die etwas verdeutlichen wollten, die mir etwas versicherten.

»Tobi, alles was ich gesagt habe ist wahr. Es ist genau das, was ich meine und was ich fühle. Ich liebe dich. Ich kann es nicht erklären, aber es ist so. Was ich für dich empfinde, ist kein hormoneller Ausrutscher, der vorbei ist, sobald ich eine Freundin finde. Ich bin wie du. Und du bist der Mann, den ich will. Und wenn deine Mutter nicht dazwischen gekommen wäre, hätte ich es dir bewiesen.«

Ralf kam noch ein Stück näher, sein Mund war direkt neben meinem Ohr, als er flüsterte: »Ich will dich. Ich will dich in mir. Ich will alles von dir: deinen Körper, deine Liebe, den ganzen Tobias vanBrüggen. Ich will mit dir eins werden!«

Mir schossen Tränen in die Augen. Ich hasse es, wie eine weinerliche Tucke zu sein, aber Ralfs Liebeserklärung traf mich mitten ins Herz und zerriss es in infinitesimale Stücke. Von diesem Moment an war ich nicht mehr der gleiche Mensch. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich versuchte es, aber mehr als ein paar gestammelte »Ich ... Ich ...« kamen nicht über meine Lippen.

Ralf strich mir durch meine Haare, streichelte meine Wangen: »Sag' nichts, ich kann in deinen Augen sehen, was du fühlst. Und ich bin stolz darauf, wie du für mich empfindest.«

»Hallo Jungs! Der Zahnarzt hat überhaupt nicht ... Wow!«

Offensicht war heute der Tag der unmöglichen Störungen. Während Ralf und ich uns mehr oder weniger heulend in den Armen lagen und unsere Wangen aneinander schmiegten, kroch Michis unverkennbares Organ in mein Hörorgan. Etwas benebelt von meinem Gefühlsorkan, löste ich mich zögerlich von Ralf, blitzte planlos und fokussierte träge auf Michi, der im Türrahmen stand.

»Da lässt man euch zwei mal einen Nachmittag allein!«, kommentierte Michi das Gesehene mit einem schadenfrohen Unterton.

»Ähm ...«, stammelte ich.

»Ähm ...«, stammelte Ralf.

Wir lösten unsere restliche Umarmung und drehten uns Michi entgegen. Jener grinste breit: »Da haben sich offensichtlich zwei gefunden. Weiß deine Mutter schon von ihrem neuen Schwiegersohn?«

»Michi!«, knurrte ich mit erhobener Stimme.

»Keep cool! Du weißt doch, für mich ist da Ok und so wie ihr zwei euch anhimmelt, scheint ja alles zu passen. Wie habt ihr es voneinander rausbekommen?«

»Das fragst du ernsthaft? Wer konnte heute Morgen seine Klappe nicht halten?«

»Oh!«, antwortete Michi einsilbig und wurde krebsrot, es wusste ganz genau, dass er sich verplappert hatte.

»Na ja«, stammelte er unglücklich. »Es hat ja offensichtlich keinen Schaden angerichtet.«

Etwas Genugtuung musste sein. Ralf und ich hielten Michi mit unseren Blicken gefangen, sagten nichts, schauten dafür aber grimmig drei. Auf Michis Stirn bildeten sich Schweißperlen, er wurde sichtlich nervös und begann mit seinen Extremitäten zu zappeln.

»Och Mann, Tobi, bitte!«, flehte er schließlich. »Es tut mir Leid, du weißt doch, dass mein Mund manchmal schneller ist als mein Verstand. Bitte sei mir nicht mehr böse.«

Ich ließ ihn vom Haken, indem ich meinen verärgerten Blick in einen grinsenden änderte: »Hab dich!«

»Och Mann, dass war gemein!«, jammerte Michi, als er merkte, dass ich ihn verarscht hatte.

Ralf war der Erste, der losprustete und sich totlachte. Michi und ich schlossen uns wenige Momente später an. Wir waren ein hoffnungsloser Haufen Idioten. Natürlich hatte ich Michi seinen Versprecher spätestens nach Ralfs Liebeserklärung nicht mehr übel genommen. Er hatte faktisch das ausgelöst, was ich mir sehnlichst erträumt hatte. Wir lachten und lachten und lachten, bis uns schließlich die Luft ausging. Als einer nach dem anderen wieder zu Atem kam, wurden wir etwas ernster. Michi wollte natürlich alles haarklein erklärt haben und war richtig enttäuscht, dass wir die erotischen Details bei unserer Schilderung ausließen.

»Das heißt«, fasste Michi unsere Schilderung am Ende zusammen, »ihr zwei seid jetzt richtig zusammen?«

So hatten wir das bisher noch nicht formuliert. Ich sah Ralf fragend an. Ralf antwortete ebenso fragend. Schließlich sagte er: »Ich denke, man könnte es so nennen. Ja, Tobi und ich sind zusammen.«

»Wow! Da hat unser schüchterner einsamer Wolf doch tatsächlich den ersten Preis abgestaubt!«

»Michi!«, protestierte ich.

»Was denn? Ist doch wahr! Vor weniger als zwei Wochen warst du ein anderes Wort für Schüchternheit. Du warst der Prototyp des Einzelgängers. Soll ich die Namen deiner Freunde aufsagen: Michael Müller -- Ende.« Michi hatte recht, was ich als ziemlich erschreckend empfand. »Und jetzt sie dich an. Du hast dir nicht irgendjemand gekrallt. Du hast dir die Nummer 1 der Traummänner unserer weiblichen Schülerschaft geschnappt. Nichts für ungut, Ralf, aber ich weiß sehr genau, was die Mädels reden. Die meisten Jungs würden dich am liebsten umbringen, weil sie neben dir alt aussehen.«

»Ich glaube, du solltest etwas lockere und luftigere Klamotten anziehen. Etwas weniger körperbetonendes«, schlug ich Ralf scherzhaft vor.

»Meinst du?«, schmunzelte Ralf.

»Ich glaube, es verbessert auch meine Konzentrationsfähigkeit.«

Hier endete unsere Unterhaltung, denn meine Mutter verkündete die Bereitstellung des Abendbrots. Liebe hin oder her, mein Magen knurrte und meinen beiden Freunden ging es nicht anders. Ich stellte noch schnell ein Fester auf kipp, um den »Iltiskäfig« zu lüften, und sprang anschließend den beiden vorauseilenden Freunden hinterher.

Cumulus nimbus

Worin eine metrologische Sondersituation zu einem heimeligen Abend führt.

Das Abendbrot war rustikal. Schwarz- und Graubrot, Käse, Serranoschinken, Salami, Mozzarella mit Basilikum, Olivenöl und Parmesan, Salat mit einer italienischen Vinigret. Es schmeckte einfach super. Ich hatte Hunger für zwei. Emotionale Wechselbäder scheinen den Appetit anzuregen, denn Ralf, der erst sehr zurückhaltend zugriff und von meiner Mutter mehrfach ermuntert werden musste, griff später ähnlich gut zu.

»Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich ein paar Fotos von dir mache?«

Ich hatte mich schon gewundert, dass meine Mutter nicht schon früher fragte. Dazu muss man wissen, dass meine liebe Mutter Unitdirector einer Werbeagentur war. Da die Werbung immer auf der Suche nach neuen Gesichtern war, beschäftigten die Agenturen eine ganz Herde von Trüffelschweinen. Die Ergebnisse ihrer (Trüffel-)Suche landete am Ende auf dem Schreibtisch meiner Mutter. Ihr Geschmack entschied letztlich, ob ein Gesicht oder ein ganzer Typus für eine Kampagne zu gebrauchen war. Das Beste war, die Werbekunden vertrauten ihr. Sie hatte mehrfach den perfekten Riecher bewiesen und einen echten Flop hatte sie noch nie gelandet. Eigentlich war sie eine Entscheiderin und beurteilte die Arbeit ihrer Artdirektoren, Trendscouts und Marktanalysten. Doch manchmal juckte es meiner Mutter in den Finger und sie wurde selbst zum Trüffelschwein. Sie hatte immer eine Profipolaroidkamera dabei. Man weiß ja nie, was einem vor die Linse kam.

Dass meine Mutter an Ralf ein professionelles Interesse entwickeln würde, war mir in dem Moment klar, als ich sah, wie sie Ralf ansah. Von all dem konnte Ralf natürlich unmöglich etwas wissen und sah meine Mutter dementsprechend irritiert an.

»Oh, oh! Du hast das professionelle Interesse meiner Mutter geweckt. Mein aufrichtiges Beileid.«

Auf diesen Satz erntete ich einen flehenden Blick von Ralf. Er sah ganz verloren aus.

»Mum ist Abteilungsleiterin einer Werbeagentur. Und du scheinst gerade in ihr Beuteraster zu fallen.«

Ralf nickte und sein Gesichtsausdruck hellte sich ein Stück weit auf: »Ich weiß nicht. Werbung? Ich?«

»Warum nicht?«, meine Mutter hatte ihr Urteil über Ralf gefällt. Ich kannte sie zu gut: »Überleg es dir doch mal. Wir können hier ein paar Polaroids machen. Doch, wenn ich dich so ansehe, du hast gute Chancen als Modell!«

Ich sah mich genötigt Ralf aus den Fängen meiner Mutter zu befreien. Er machte einen nervös verstörten Eindruck und warf mir permanent ängstliche Blicke zu: »Michi, Ralf, was haltet ihr davon, wenn wir noch in den Invalidenpark fahren? Es ist gerade mal halb sechs und draußen sind noch locker 30 Grad.«

Michi antwortete als Erstes: »Du hast die letzte Zeit nicht aus dem Fenster geschaut, oder?«

»Wieso?«

»Wenn du aus dem Fenster geschaut hättest, würdest du bemerkt haben, dass sich ein heftiges Gewitter zusammen braut. Nach Süden raus ist der Himmel rabenschwarz. In spätestens einer halben Stunde bricht hier ein mega Unwetter los.«

Für September war es einfach zu war. Wir hatten die Tage immer noch so um die 27 Grad Celsius gehabt. An diesem Tag war das Thermometer sogar auf rekordverdächtige 30 Grad gestiegen. Wie es aussah, sollte diese spätsommerliche Hitzeperiode mit einem fulminanten Feuerwerk zu Ende gehen und endlich dem Herbst Platz machen.

»Gut, dann bleiben wir hier. Wie wär's mit Computern?«

»Tobi, wo ist denn deine physikalische Grundbildung geblieben? Schon mal was von Induktionsschäden gehört? Oder legst du es auf eine neue Kiste an?«

»Nein, nicht wirklich. Die ist noch fast neu und ich habe keine Lust alles wieder neu installieren zu müssen.«

Computer sind für mich ein Werkzeug, nichts mit dem ich angeben musste. Bei wem auch? Außer Michi, dem übrigens eigentlich die Anerkennung gebührte, meinen PC installiert zu haben, und jetzt vielleicht Ralf, gab es niemanden. Mein Compi war Ok. Für meine Spiele und Surfen allemal ausreichend, aber keine überteuerte Rennrakete. Ich war froh, dass er mir so gut wie keinen Stress bereitete und einfach das tat, was ich von ihm wollte. Nichts wäre nerviger als eine Neuinstallation.

»Dann machen wir es uns oben in meinem Zimmer gemütlich.«, schlug ich vor.

»Macht aber keinen Unsinn.«

Dieser Satz kam von meiner Mutter und irritierte mich. So etwas hatte sie bisher noch nie gesagt. Was meinte sie mit Unsinn und warum diese explizite Ermahnung? Ich schaute zu ihr hin, konnte in ihrer Mimik aber keine weiteren Hinweise auf die Bedeutung dieses Satzes herauslesen. Statt weitere Erläuterungen von sich zu geben, drückte sie mir eine volle Flasche Cola und Knabberkram in die Hand: »Für die Gemütlichkeit.«

Michi und Ralf gingen leichtfüßig, ich hingegen nachdenklich die Treppe hinauf. Als ich mein Zimmer betrat, war es fast dunkel. Aus der Ferne konnte man das erste Grollen des herannahenden Gewitters hören. Ich knipste meine Schreibtischleute an. Sie leuchtete nicht sonderlich hell. Ich kräuselte meine Stirn, bis mir wieder einfiel, dass am Vortag zwei der drei Halogenbirnchen durchgebrannt waren.

»Moment mal. Mir sind gestern zwei der Birnchen durchgebrannt. Ich müsste hier noch irgendwo Reserve haben ...«

Mit diesen Worten begann ich meine Schreibtischschubladen zu durchwühlen und wurde nach ein paar Minuten sogar fündig. Ich friemelte die Birnchen in die Fassungen, knipste die Lampe wieder an und es wurde hell.

»So, ich glaube, dass ist besser.«, stellte ich zufrieden fest.

»Warum erhellst du den Raum nicht mit deinen Vitaminkapseln.«

Michi! Er tat es wieder. Ich wusste zwar nicht warum, aber die Geschichte mit den leuchtenden Vitaminkapseln wollte ich nicht unbedingt vor Ralf erörtern. Vermutlich schämte ich mich für meinen Vater.

»Vitaminkapseln? Raum erhellen?«, fragte Ralf verwundert.

Ich seufzte, denn ich wusste, dass ich die Geschichte nun erzählen musste. Schließlich war Ralf ja jetzt offiziell mein Freund und Liebhaber. Es wäre ein schlechter Start für unsere Beziehung, wenn ich sie mit einem Geheimnis beginnen würde. Also erzählte ich die Geschichte, wobei Michi mir tatkräftig und wortreich dabei half. Ralf hörte gespannt zu. Je mehr ich respektive Michi erzählte, desto interessierter wurde er. Mir fiel auf, dass seine Augen immer mehr eine rote Färbung annahmen.

»Habe ich das richtig verstanden? Michi hat nichts gesehen? Für dich hat es hingegen deutlich geleuchtet?«

»Ja, verrückt war? Ich vermute, das Zeug ist irgendwie auf mich eingestellt.«

»Vermutlich ...«, Ralf klang, als wenn er nicht unbedingt meinte, was er sagte. Er wirkte sonderbar nachdenklich, im gleichen Moment aber auch merkwürdig nervös, fast alarmiert. »Hast du noch solch eine Kapsel?«

»Eine? Ich habe Massen davon!«

Ich hielt Ralf die braune Glasflasche hin, die zu mehr als der Hälfte mit den bewussten Kapseln gefüllt war. Ralf angelte eine heraus und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger vor sein rechtes Auge: »Sieht unauffällig aus.«

»Mal sehen, ob du das Leuchten sehen kannst«, meinte Michi und schnappte Ralf die Kapsel weg. Bevor noch einer von uns etwas sagen konnte, hatte er sein Messer aus der Hosentasche gezogen, eine Klinge ausgeklappt und begann die Kapsel zu zerschneiden. Ich sah sofort, wie die klare Flüssigkeit austrat. Ein strahlendes, helles blaues Licht ging von ihr aus und bedeckte einen Teil meiner Schreibunterlage sowie die Klinge von Michis Messer.

»Wow!«, hörte ich Ralf und wusste sofort, dass er es ebenfalls leuchten sah.

»Sag' nicht, du siehst es auch?«, fragte Michi und klang deutlich enttäuscht, dass er es als einziger nicht sehen konnte.

»Oh ja, ich sehe es!«, Ralf Stimme klang beeindruckt. Man kann auf verschiedene Arten beeindruckt sein. Ralf Stimme sagte mir, dass ihn das Leuchten auf eine beunruhigende Art beeindruckte. Etwa wie ein Bombenentschärfer, der vor einer respekteinflößenden Monsterbombe steht, die sein ganzes Wissen und seine ganze Erfahrung verlangt.

Es blitze. Zwar auch elektrisch, aber diesmal nicht durch eine Entladung in einer mit Xenon gefüllten Blitzröhre eines Fotoapparates, sondern durch das sonnenheiße Plasma der aufflammenden Luftmoleküle. Cumulus nimbus, die gemeine Gewitterwolke, wählte offenbar wirklich einen Weg über unseren Stadtteil.

Ich zählte. Eins, zwei, drei ... Ich kam bis neun. Dann ging ein lautes Grollen und Donnern los. Das versprach ein echtes Megaunwetter zu werden. Wenn bei dieser Entfernung der Donner noch dermaßen laut war, musste es ein wirklich monströses Gewitter sein, das zu uns herüber zog.

Irgendwie war ich für das Gewitter dankbar. Es lenkte von der Leuchtkapsel ab. Mir wurden die Dinger langsam unheimlich, insbesondere weil Ralf so merkwürdig auf sie reagierte.

Im Zimmer wurde es noch dunkler. Ich schaltete ein paar zusätzliche Lampen ein.

»Hat einer von euch Angst vor Gewitter?«

»Nöh!«, etwas Anderes hatte ich von Michi auch nicht erwartet. »Obwohl mal ein Blitz eine Tante von mir auf dem Scheißhaus erwischt haben soll. Die soll regelrecht durch das halbe Badezimmer geflogen sein, als der Blitz in die Wasserleitung einschlug. Sie hat's aber überlebt! Etwas Gaga war sie schon vorher.«

»Wo hast du nur diese Horrorstorys her?«

»Das sind Tatsachenberichte! Keine Horrorstorys! Und, Ralf, wie steht das mit dir und Gewittern?«

»Kein Problem. Ich bin heftige Gewitter gewöhnt. Ich komm aus Süddeutschland, genauer aus dem Allgäu. In den Bergen gibt es recht heftige Entladungen.«

Blitz! Mein Zimmer war für einen kurzen Moment taghell erleuchtet. Wir zählten die Sekunden. Eins, Zwei, Drei ... Fünf. Krach! Donner! Polter. Das Getöse war ohrenbetäubend.

»Es zieht wirklich hier her«, Ralf sah nachdenklich aus dem Fenster. Er schien regelrecht zu träumen. Mit andächtigem, tranceartigem Blick schaute er denn Beginn des Unwetters entgegen. Als wenn jemand einen Schalter umlegte, setzt plötzlich ein Rauschen und Prasseln ein. Hagel! Dicke fette Hagelkörner rieselten aus dem Himmel. Zuerst klein, wie Stecknadelköpfe, dann immer größer werdend: Erbsen, Kidneybohnen, Kirschen und schließlich waren sie Taubenei groß. Das Prasseln war in ein krachendes Rauschen übergegangen. Immer mehr Blitze durchzuckten den Himmel und malten Lichtspuren in die Wolken. Blau-weiße Blitze. Orange-rote Blitze. Grollender Donner.

Genauso plötzlich, wie der Hagel begann, hörte er auch wieder auf. Das Gewitter beschränkte sich vorübergehend auf Blitz und Donner. Nach meinem Wecker war es gerade mal sechs Uhr abends, aber draußen herrschte inzwischen finsterste Nacht.

Blitz -- Donner

Es gab keine Pause. Das Gewitter befand sich direkt über uns. Es gab wieder einen Blitz. Das Flackern setzte sich bis in mein Zimmer fort und nahm Besitz von allen eingeschalteten Glühlampen. Mit dem Erlöschen des Blitzes erloschen auch die Lichter in unserem Stadtteil und in meinem Zimmer.

»Es muss die Überlandleitung oder Trafostation erwischt haben.«

Wir saßen im Dunkeln. Es war zappenduster, schließlich brannten nicht einmal die Straßenlaternen. Ohne Strom wäre eine Lichtemission auch ausgesprochen überraschend. Wir hätten natürlich ein paar meiner Vitaminkapseln aufschneiden können, nur hätte Michi davon nichts gehabt.

»Alles Ok bei euch da oben?«, meine allzeit besorgte Mutter rief die Treppe hinauf.

»Alles Ok, Mumi, sollen wir runter kommen?«

»Nee, lasst mal, ihr brecht euch nur die Haxen.«

»So ein heftiges Gewitter habe ich noch nie erlebt«, mir wurde fast ein bischen mulmig. Aber was ein echter Mann ist ...

»Du hast recht. Dieses Gewitter ist sehr stark. Selbst in den Bergen hatten wir so ein Unwetter sehr selten. Vielleicht einmal in fünf Jahren, wenn's hoch kommt.«

Michi wirkte unruhig: »Leute, es ist zwar recht nett bei euch, aber ich glaube, ich lauf schnell rüber zu meiner Mutter.«

»Michi, lass das, dass ist viel zu gefährlich. Was soll das bringen?«

»Du kennst doch meine Mutter. Sie ist ganz alleine und ohne Strom. Paps ist noch bei der Arbeit. Und du weißt ganz genau, dass sie mit technischen Dingen ein bisschen auf dem Kriegsfuß steht. Sie bekommt ja schon fast einen Herzinfarkt, wenn ihre Mikrowelle im falschen Moment piept. Ich glaub es wäre wirklich ganz gut, wenn ich schnell rüberlaufe. Ich ruf dich gleich an. Auf dem Handy! Hast du ne Taschenlampe?«

Klar hatte ich eine. Meine gute MagLite, die uns auf unserer Europareise gute Dienste geleistet hatte. Wir schlichen zusammen die Treppe runter, ich leuchtete den Weg aus. Unten erwartete uns meine Mutter.

»Ihr solltet doch oben bleiben.«

»Michi meint, er sollte schnell rüber laufen. Du weist doch, seine Mutter sitzt da im Dunklen ...«

»Stimmt schon. Erna ist ja immer etwas nervös, wenn die Technik nicht so will wie sie.«

Michi fand da ganz andere Worte. Seiner Meinung nach erfüllte seine Mutter regelmäßig den Tatbestand der vorsätzlichen Technikverweigerung. Die vollprogrammierbare Mikrowelle, die sich die Müllers vor einiger Zeit gekauft hatten, entpuppte sich als die reinste Geldverschwendung. Das Gerät konnte außer Mikrowelle auch Grillen, Auftauen und Backen mit Umluft, Ober- und Unterhitze, besaß ein elektronisches Bratenthermometer sowie Anbrat- und Gewichtsautomatik. Sie konnte einfach alles. Außer in den Händen von Michis Mutter, da konnte sie nur eine Sache: Mikrowelle bei voller Leistung. Michi meinte, seine Mutter hätte einfach Angst vor Technik, deswegen wollte er auch so schnell wie möglich nach Hause. Ohne Licht musste sie kurz vor einem Panikanfall stehen.

Wir öffneten die Haustür. Michi sprang raus, hechte durch den peitschenden Regen, und schwamm zur Haustür seiner Eltern. Als Nachbarn und gute Freude hatten unsere Eltern glücklicherweise einen Weg zwischen den Häusern angelegt, so dass Michi nicht den Umweg über die Straße nehmen musste. Aber auch dieser Vorteil nützte wenig. Eine halbe Minute, nachdem Michi im Haus verschwunden war, klingelte mein Handy.

»Leute, bleibt bloß im Haus. Ich bin bis auf die Unterhose nass geworden.«

»Wie geht's deiner Mutter?«

»Es geht. Sie beruhigt sich gerade wieder. Es war gut, dass ich rübergegangen bin. Sie war wirklich sehr nervös wegen des Stromausfalls.«

»Ok, wir reden morgen weiter.«

Im Schein einiger Kerzen, die meine Mutter angezündet hatte, sah ich von ihr zu Ralf und wieder zurück.

»Alles in Ordnung. Michi ist nur etwas nass geworden und seiner Mum geht es den Umständen entsprechend.«

»Typisch Erna.«

»Äh, Ralf, wann musst du den eigentlich nach Hause?«

»Oh, seit ungefähr einer halben Stunde sollte ich zu Hause sein.«

Im Hintergrund hörte man Feuerwehrwagen, die die nahe Hauptstraße entlang fuhren. Meine Mum überlegte.

»Ich könnte dich natürlich mit dem Auto nach Hause fahren, aber ich bin mir nicht sicher, ob dass momentan eine so gute Idee ist. Das Gewitter scheint auch nicht schwächer zu werden. Was hältst du davon, wenn du bei dir anrufst und heute bei uns bleibst.«

Ralfs Augen funkelten blau-weiß, sein ständiges Lächeln wurde zu einem glücklichen Strahlen und mir rutschte vor seiner so deutlich demonstrierten Freude das Herz in die Hose.

»Nur wenn es keine Umstände macht«, höflich war er auch noch. Mein Traummann wusste offensichtlich genau, welche Knöpfe er bei meiner Mutter drücken musste. Das konnte bei meinem unvermeidlichen Coming Out noch hilfreich sein.

»Und wie das Umstände macht. Aber nicht für mich, sondern für Tobi, der kann nachher nämlich dein Bett aufbauen. So Sohn, dann gib Ralf mal dein Handy, dass er bei sich zu Hause anrufen kann.«

Ich tat wir mir befohlen wurde und Ralf führte sein Telefongespräch. Soweit man das aus den Worten von Ralf schließen konnte, waren seine Eltern von der Idee meiner Mutter recht angetan, wollten sie aber noch persönlich sprechen. Ralf gab das Telefon weiter. Zwei Elternteile unterhielten sich: »Aber nein Frau Antonides, das macht überhaupt keine Umstände.«, »Nein, sie brauchen sich nicht zu bedanken.«, »Oh doch, Ralf scheint ein ganz lieber Junge zu sein.« Elterngebrabbel halt. Das Gespräch schien länger zu dauern, so dass Ralf und ich wieder nach oben in meine Zimmer schlichen. Mit einer Kerze in der Hand erklommen wir vorsichtig den ersten Stock, der Strom war immer noch nicht wiedergekommen.

Wie sich später rausstellte, sollte der Stromausfall auch noch eine Weile andauern. Der Feuerwehrbericht für die kommende Nacht sprach später von 2537 Einsätzen, es mussten allein 1533 Keller ausgepumpt werden, diverse umgestürzte Bäume beseitigt und Splitter von vom Hagel zerschmetterten Glasscheiben entfernt werden. Autos, die nicht in einer Garage standen, hatten später eine interessante Hammerschlagstruktur, gelegentlich war auch mal eine Windschutzscheibe zu Bruch gegangen. Menschen kamen glücklicherweise kaum zu schaden. Hier und da gab es Schnittwunden von Glassplittern oder Prellungen von Hagelkörnern. Das war's dann aber auch schon. Dafür gab es aber recht ernste materielle Schäden. 13-mal war der Blitz eingeschlagen und hatte teilweise Brände ausgelöst. Für 5 Stunden bestand der Ausnahmezustand. Den größten wirtschaftlichen Schaden hatte ein Umspannwerk erlitten. Nachdem ein extrem starker Blitz in einen Verteilerstrang eingeschlagen war, das Blitz- und Überspannungsableitesystem ausgefallen war und weder den Blitz noch die Überspannung abgeleitete hatte, hatte die nicht abgeleitete elektrische Energie nicht besseres zu tun, als das an den Verteilstrang angeschlossene primäre Trafosystem zu Altmetall zu verdampfen. Eigentlich hätte in solch einem Fall das Sekundär- und das Notsystem anspringen sollen. Sie taten es aber nicht. Der Grund war so einfach wie banal. Beides war vorübergehend nicht vorhanden. Vor der kommende Winterzeit wollten die zuständigen Stadtwerke das Umspannwerk generalüberholen, dazu gehörte auch der Austausch beider Trafosysteme. Man fing mit dem Sekundärsystem an, wobei unbeabsichtigt auch das Notsystem stillgelegt wurde. Niemand hatte damit gerechnet, dass man den Trafo im Spätsommer brauchen würde. Falsch gerechnet. Die Wartungsmannschaft brauchte bis in den frühen Morgen. Ralf, meine Mutter und ich hatten somit einen sehr gemütlichen Abend bei Kerzenlicht.

Sizilianischer Wein

Worin vergorener Traubensaft zu erstaunlichen Einsichten über Bettwäsche und Matratzenmengen führt

Das Setting hatte etwas Archaisches. Wir blieben eine Weile bei meiner Mutter und saßen am Küchentisch. Draußen wütete das Gewitter und machte nicht den Eindruck, als wenn es in nächster Zeit die Absicht besaß, weniger zu wüten. Meine Mutter hatte ein paar Kerzen im Raum verteilt, die die Küche in ein warmes, anheimelndes Licht tauchten. In ihrem Lichtschein schienen die Augen von Ralf und von meiner Mutter zu glänzen, dabei spiegelten sich nur die kleinen Flammen auf der Hornhaut. Vielleicht lag es gerade daran, dass es draußen vor der Tür unwetterte, dass mir unsere kleine Kerzenküche so gemütlich und anheimelnd vorkam.

»Ich kann mich nicht erinnern, jemals ein solches Gewitter erlebt zu haben.«, begann meine Mutter.

Sie ging zum Küchenfenster schob die kleine Gardine zur Seite und schaute skeptisch raus: »Da kommt vielleicht etwas runter. Erst diese endlose Hitze und jetzt dieses Unwetter ...«

Sie kehrte zu uns zurück und wollte sich gerade hinsetzen, als sie plötzlich zögerte: »Jungs in eurem Alter trinken ja eher Bier. Leider ist keines da. Wollt ihr stattdessen einen Rotwein mit mir trinken?«

Jungs in meinem Alter mögen möglicherweise Bier bevorzugen, aber ich bevorzugte eher Wein. In dieser Beziehung rannte meine Mutter offene Türen bei mir ein. Ein Wort zum Alkoholkonsum in unserer Familie: Bei uns wurde normal viel bis wenig Alkohol getrunken, wenn man einmal davon absah, dass mein Vater hin- und wieder zum Abendbrot eine Flasche Bier trank. Meine Mutter trank ausschließlich Wein, aber das eigentlich nur in Gesellschaft oder zu besonderen Anlässen, wie Familienfesten oder wenn Besuch von Freunden anstand. Gelegentlich wurde auch zum Samstagabend eine Flasche geöffnet. Ich wurde weder zum Trinken ermuntert, noch hatte man es mir verboten. Meine Eltern meinten, ich solle selbst lernen mit Alkohol verantwortungsvoll umzugehen. Gleiches galt für Zigaretten.

Ich empfand diese Erziehungsmethode immer als etwas zwiespältig. Auf der einen Seite reizten mich weder Alkohol noch Zigaretten. Möglicherweise lag das daran, dass ihnen der Hauch des Verbotenen fehlte. Was mir auf jeden Fall nicht fehlte, war der Gruppenzwang. Die meisten Leute in meiner Schule rauchten, weil alle anderen auch rauchten. Das eigentliche Problem an unserer Schule hieß Alk. Von ein paar Typen wusste ich, dass sie sich fast jedes Wochenende die Kante gaben. Zwischen Leber und Milz passt immer noch ein Pils.

Da mir diese Komasauftreffen eher zu wieder waren (und ich eh nie zu sowas eingeladen wurde), blieb Alkohol für mich daher immer ein Genussmittel im besten Sinne.

»Ich trinke gerne ein Glas Wein mit«, war somit meine Antwort.

»Und Ralf, was trinken Sie?«

»Du! Wir waren beim ,Du`. Ich trinke gerne einen Wein mit. Schließlich habe ich griechische Wurzeln.«

»Fein!«, stellte meine Mutter zufrieden fest, während ich mich fragte, was griechische Wurzeln mit Alkoholkonsum zu tun hatten.

Sie schnappte sich eine Taschenlampe, die immer griffbreit in der obersten Küchenschublade lag. Damit bewaffnet machte sie sich auf den Weg in unseren Keller, wo meine Eltern ihren Weinvorrat wohltemperiert lagerten. Wenige Minuten später war meine Mutter samt Taschenlampe und zwei Flaschen Rotwein zurück. Wir, das heißt ich, hatte in der Zwischenzeit drei Gläser und einen Korkenzieher besorgt und auf den Tisch gestellt.

»Würdest du bitte die Flasche aufmachen?«

Meine Mutter reichte mir die erste der beiden Flaschen, einem einfachen, sizilianischen Wein. Ich entkorkte die Flasche und schenkte uns ein. Wir tranken einen ersten Schluck.

»Der Wein ist gut!«, hörte ich Ralf kurze Zeit später sagen.

Zwei Augenpaare richteten sich fragend auf ihn. Selbst bei dem schummerigen Kerzenlicht konnte ich sehen, wie er vor lauter Verlegenheit schrumpfte. Er schrumpfte nicht wirklich, sondern ging auf seinem Stuhl in Deckung. Ich sah, dass er seinen Kopf hin- und herwiegte.

»Ok, vielleicht hätte ich erzählen sollen, dass wir, also meine Familie, einen kleinen Weinberg haben. Meine Großeltern sind wieder nach Griechenland gezogen und bauen da, mehr als Hobby und für den Eigenverbrauch, Wein an.«

»Ach, da haben wir hier ja einen Profi.«

»Nein, nicht wirklich. Ich habe ein paar Sommer bei meinen Großeltern verbracht und im Rebstock geholfen. Wenn es mit den Schulferien hinkam, habe ich auch mal bei der Ernte und beim Keltern mitgeholfen. Aber ich bin kein Weinprofi.«

»Na, da bin ich mir nicht so sicher«, lächelte meine Mutter und genoss einen Schluck des roten Saftes.

Das draußen immer noch tobende Unwetter, das Kerzenlicht und nicht zuletzt der Wein, sorgten immer mehr für eine lockere Stimmung. Wir waren zwar nicht total alkoholisiert, nicht mal beschwipst, aber unsere Zungen lösten sich. In einem meiner hinteren Ecken meines Hirns wedelte eine kleine Synapse mit einem roten Tuch und schrie etwas von »Vorsicht« und »Achtung«, doch ignorierte ich diese Warnmeldungen. Es war einfach zu gemütlich. Außerdem hörte ich Ralf gerne zu. Er konnte gut erzählen und wurde auch nicht müde immer neue Geschichten zum besten zu geben. Im Moment verliefen seine Erzählungen in harmlosen Bahnen. Meine Mutter wollte alles über Griechenland wissen. Mit ganz Griechenland konnte Ralf natürlich nicht dienen. Was er kannte, war das Dorf, in dem sein Großvater lebte, bzw. in dessen Nähe sein Häuschen stand. Neben Wein baute er noch Oliven an, was meine Mutter ins Schwärmen versetzte. Sie liebte einfach den mediterranen Lebensstil, obwohl sie eher nach Italien tendierte.

»Und warum lebst du in Deutschland?«

»Ich bin Schwabe, wie meine Mutter. Mein Vater wurde auch in der Ecke geboren. Aufgewachsen bin ich allerdings im Allgäu. Vor kurzem mussten wir umziehen, weil die Firma, für die mein Vater arbeitet, ihre Entwicklung an einem Standort bündelt. Sie haben den alten Laden einfach dichtgemacht und die Mitarbeiter vor die Wahl gestellt: Abfindung oder Umzug. Meinen Vater wollten sie wohl unbedingt halten, denn sie haben ihn mit einem deutlich höheren Gehalt bestochen und den kompletten Umzug bezahlt. Sogar die Kosten für den doppelten Haushalt haben sie übernommen.«

»Die scheinen ihn tatsächlich zu brauchen«, bestätigte meine Mutter, die sich im Wirtschaftsleben gut auskannte.

»Und wie fühlst du dich hier?«, fragte meine Mutter und setzte noch nach. »Du musst dich doch sehr einsam in dieser neuen Stadt fühlen.«

»Das schon. Wir hatten zu Hause richtig Streit. Ich wollte nicht umziehen. Die ersten zwei Tage fühlte ich mich richtig verloren, aber dann habe ich ja Tobi gefunden.«

Ralfs Augen strahlten gold-silbern und machten den Kerzen fast Konkurrenz.

»Du musst mir mal verraten, wie du das angestellt hast«, fragte meine Mutter. Die kleine Synapse mit dem roten Fähnchen wedelte hektischer, wurde aber von meiner Weinseligkeit weggedrückt.

»Was angestellt?«

»Unser Tobi hat ja leider sehr wenig Freunde. Eigentlich hat er nur Michael als Freund. Da frag ich mich als Mutter, was du angestellt hast ...«

»Nichts ...«, entgegnete Ralf und lächelte verliebt. »Wir sind uns einfach so über den Weg gelaufen. Er war der einzige Typ, der ebenfalls eine Freistunde hatte und den ich aus meinen ersten Unterrichtsstunden vom Gesicht her kannte. Wir haben uns einfach ein wenig unterhalten.«

»Tobias und unterhalten? Mit einem wildfremden Mitschüler?«

Ich musste mich doch arg über meine Mutter wundern. Was hatte die gute Frau für ein Bild von mir?

»Mumi, so schlimm bin ich doch auch wieder nicht. Du tust ja so, als wenn ich die Verschlossenheit in Person bin.«

»Bist du nicht? Das haben deine Klassenlehrer immer über dich gesagt: ,Tobias ist ein sehr aufgeweckter, aber auch extrem introvertierter Schüler. Er hat Schwierigkeiten soziale Kontakte zu knüpfen.` Ich habe etliche Gespräche mit deinen Lehrern führen dürfen.«

»Bitte, Mumi! Das ist peinlich!«, warum taten Mütter sowas? Warum mussten sie einem immer vor Freunden oder Verwandten bloßstellen? Etwa beim Geburtstag von Tante Trude jede Peinlichkeit haarklein erörtern. Ich hasse es!

»Entschuldige ... Ich wollte nicht ...«, meine Mutter seufzte. »Ich freue mich nur, dass du offenbar einen neuen Freund gefunden hast. Vielleicht tut dir die Oberstufe gut. Oder du wirst einfach erwachsen.«

Ob sich meine liebe Mutter auch noch über Ralf freuen würde, wenn sie wüsste, dass er nicht nur mein Freund, sondern auch mein Liebhaber war?

»Ich kann nicht sagen, dass Tobi sonderlich kontaktscheu war. Wir hatten am Anfang ein paar kleine Kommunikationsprobleme, aber die sind inzwischen Geschichte.«

Meine Mutter musterte mich und musterte anschließend Ralf. Dann nahm sie einen weiteren Schluck Wein zu sich. Mein Blick fiel auf die batteriebetriebene Küchenuhr. Es war kurz vor zehn und das Bett für Ralf noch nicht gemacht.

»Mumi, du musst mir noch Bettwäsche und eine Matratze für Ralf geben.«

Wenn bei mir mal ein Freund übernachtete, also Michi, lief das immer so ab, dass wir eine Matratze neben mein Bett auf den Teppichboden legten. Michi ins Gästezimmer zu packen wäre mehr als blöd gewesen, dann hätte er auch gleich wieder nach Hause gehen können. Der übliche Grund für wechselweise Fremdübernachtungen waren Abwesenheiten der jeweiligen Eltern. Wenn Michis Eltern für ein paar Tage alleine Urlaub machten oder aus familiären oder geschäftlichen Gründen nicht da waren, war Michi bei mir. Oder im Fall einer Abwesenheit meiner Eltern wurde ich bei Michi einquartiert. In den letzten zwei Jahren hatte sich ein Detail bei dieser Regelung geändert. Wir, Michi und ich, quartierten uns immer in das Haus ein, dass über keine Eltern verfügte. Die anfänglichen Kontrollbesuche besorgter Erziehungsberechtigter ließen mit der Zeit nach, so dass wir eigentlich immer eine sturmfreie Bude hatten. Was Michi hin und wieder für ein Tet-a-Tet mit seinen Freundinnen ausnutzte.

Meine Mutter nahm noch einen Schluck Wein und meinte plötzlich: »Bettwäsche geb' ich dir gleich raus. Aber ich glaube kaum, dass ihr zwei die Matratze braucht.«

Hätte ich mein Weinglas in jenem Moment in meiner Hand gehalten, hätte ich es fraglos fallen gelassen. Da ich aber kein Glas in der Hand hielt, blieb mir nichts anderes übrig, als meinen Unterkiefer fallen zu lassen. Ralf tat Selbiges und ruckelte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

»Jetzt tut nicht so überrascht«, meine Mutter schien sich über ihren gelungenen Coup diebisch zu freuen. »Tobias, glaubst du ernsthaft ich hätte nicht schon seit langen bemerkt, für was dein Herz schlägt? Du vergisst, wo ich arbeite und dass du mein Sohn bist!«

Es mag ein totales Klischee sein, und wahrscheinlich gibt es mehr schwule Bäcker, Kfz-Mechaniker und Klempner, als Art-Direktoren, Werbefotografen oder -Texter, trotzdem lag im Laden meiner Mutter die Konzentration der Schwesternschaft bei deutlich über 50%.

»Nun schau nicht so entsetzt!«, meine Mutter kostete diesen Moment weidlich aus. »Ich seh' doch wie ihr zwei euch anhimmelt. Michi siehst du nie so an.«

»Ähm ...«, war alles, was wir über unsere Lippen brachten.

»Nu' entspann dich Schatz!«, meine Mutter konnte es einfach nicht lassen, mich auch noch mit 17 mit Kosenamen zu bedenken. »Für was hältst du mich? Für ein reaktionäres, bigottes Monster mit den Moralvorstellungen von vor 50 Jahren? Dass du schwul bist, weiß ich seid einer ganzen Weile.«

»Woher?«

»Dein totales Desinteresse an Mädchen, die Art, wie du Jungs in deinem Alter nachschaust, was du anziehst, Kleinigkeiten halt.«

»Bin ich ...«

»Nein, du bist keine Elfe, wenn du das meinst. Du bist, so wie ich das sehe, ein ganz normaler Junge. Etwas schüchtern vielleicht, aber das treibt dir Ralf hoffentlich aus.«

Ralf -- Er saß neben uns und kam sich in dieser Unterhaltung etwas deplatziert vor. Ich warf ihm einen scheuen Blick zu, den er mit einem leicht gequälten Lächeln beantwortete. Mir war diese Unterhaltung ebenfalls unangenehm. Auf der einen Seite fand ich es gut, dass meine Mutter mit der ganzen Sache offensichtlich recht locker umging, auf der anderen Seite fühlte ich mich überrumpelt. Außerdem gehören sexuelle Dinge nicht unbedingt zu den Themen, die ich mit meinen Eltern erörtern wollte. Mein Gott, meine Eltern waren für mich immer asexuelle Wesen.

»Ich sehe schon, euch ist das alles sehr peinlich. Das versteh und respektiere ich. Nichts ist lächerlicher als Eltern, die meinen, sie wären die besten Freunde ihrer Kinder. Gehen wir die Angelegenheit also sachlich an«, jetzt legte meine Mutter ihr professionelles Ego an. Ich habe sie mehrfach in der Agentur besucht, um zu wissen, dass sie eine sehr ernst zu nehmende Managerin war. Wenn sie zu ihren Leuten sagte, »Springt!«, dann lautete die Antwort »Wie hoch?«. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, meine Mutter war kein mitarbeiterfressender Drache. Ganz im Gegenteil, ihre Mitarbeiter reagierten so, wie sie reagierten, weil sie meine Mutter respektierten. Kein Wunder, dass ihre Unit regelmäßig im firmeninternen Rating Spitzenplätze belegte.

»Tobias!«, jetzt wurde es ernst. »Ich glaube, das erste muss ich nicht extra sagen. Mir ist egal, ob du nun schwul oder hetero bist. Das ändert absolut nichts an meiner Liebe zu dir. Hauptsache du bist glücklich, Ok?«

Ich nickte schnell, war aber kurz davor, »Yes, Ma'm« zu brüllen.

»Nächstes Thema. Dass ihr zwei euch gefunden habt, ist für mich auch Ok. Ich freue mich sogar für euch! Ralf, du bist in diesem Hause jederzeit herzlich willkommen. Solltest du aber jemals meinen Tobi verletzen, körperlich oder seelisch, wirst du dir wünschen, mich niemals kennen gelernt zu haben!«

Ralf schluckt, sagte aber nichts.

»Und noch eine Sache, die euch zwei wahrscheinlich unheimlich unangenehm sein dürfte. Da ich weiß, wie hormongesteuert man in euren Alter ist, macht es vermutlich wenig Sinn, euch mit irgendwelchen Regeln zu kommen. Ihr werdet Dinge miteinander tun, von denen ich lieber nichts wissen will. Eine Sache verlange ich aber von euch. Ihr lasst euch testen! Solange ihr kein negatives Ergebnis habt, verwendet ihr gefälligst Kondome. Ist das klar? Mir wär's zwar am liebsten ihr würdet die Dinger immer benutzen, aber das ist bei eurem Alter wohl ein frommer Wunsch.«

Locker um zwanzig Zentimeter geschrumpft, nickten wir wie ein dämlicher Autodackel auf seiner Hutablage. Unsere hochroten Köpfe konnte man dank des Kerzenlichtes nicht so deutlich sehen.

Irgendwie fühlte ich mich verpflichtet, irgendetwas zu sagen. Ich suchte krampfhaft nach Worten, kam dann aber nur mit einem lächerlichen, »Danke, Mumi!«, rüber.

Meine Mutter lächelte und wechselte vom Manager- wieder in den Muttermodus: »Tobi, es gibt nichts, wofür du dich bei mir bedanken musst. Du bist, wer du bist. Du und Ralf scheinen ganz gut zusammenzupassen, soweit das deine alte Mutter beurteilen kann. Also macht was draus. Genießt das, was ihr zusammenhabt. Und jetzt schwirrt ab!«

Mit sich und der Welt hoch zufrieden, lehnte sich meine Mutter auf ihrem Stuhl zurück und trank noch einen guten Schluck Wein.


Da ich wusste, wo eine zweite Decke, ein Kopfkissen und frische Bettwäsche lag, brauchte ich meine Mutter nicht weiter stören. Die Decke war innerhalb weniger Sekunden bezogen und lag neben meiner auf dem Bett. Was meine Eltern auch immer dabei gedacht haben mögen, als sie mein Zimmer vor eineinhalb Jahren neu einrichtet hatten, ich war ihnen dankbar, mir ein wirklich breites Bett spendiert zu haben. Ralf und ich hätten bequem jeder für sich alleine nebeneinander liegen können, was wir natürlich nicht taten.

Wie man sich denken konnte, blieb dieser zusätzlichen Platz ungenutzt. Zusammen beanspruchten wir nur sehr wenig Bettfläche. Wir hatten uns unter den zwei Decken verkrochen, lauschten dem Gewitter und lagen eng aneinander gekuschelt. Natürlich lagen wir uns in den Armen und genossen den engen, intensiven Körperkontakt. Ich konnte einfach nicht widerstehen, mit Ralfs Nippeln zu spielen. Während Ralf wiederum von meinen Haaren und Wangen angetan war. Er liebte es, meinen Kopf in seine Hände zu nehmen oder seine Wange gegen meine zu streichen. Es gab einfach unendlich viel aneinander zu entdecken.

»Was meinst du?«, fragte ich. »Sollen wir uns nicht unserer Unterhosen entledigen?«

Das war so eine Grenze, die wir nach meinem Outing durch meine Mutter nicht überschritten hatten. Am Nachmittag waren wir schon ein Stück weiter gewesen, doch jetzt hatten wir beide plötzlich Hemmungen. So verlief der Weg ins Bett erstaunlich harmlos. Waschen, Zähneputzen (Mutter brachte eine Reservezahnbürste für Ralf). Ich suchte mir einen frischen Slip und gab auch Ralf einen, die wir schamvoll verdeckt voreinander wechselten. Als wir aber nun so eng aneinandergepresst im Bett lagen, blieben unsere wachsenden Erektionen natürlich nicht unbemerkt.

»Ich weiß nicht ...«, Ralf schaute mir in die Augen, wir lagen beide mit unseren Wagen auf einem Kopfkissen und schauten uns verliebt in die Augen.

»Was weißt du nicht?«

»Na ja ...«, druckste er herum. »Wer weiß, was dann noch passiert ...«

»Nichts was meine Mutter aufregen würde. Für ernsthaftere Aktionen habe ich zu viel Wein getrunken. Ich möchte mit dir Sex haben -- weiß Gott, wie sehr -- aber nicht eben mal schnell so nebenbei, nur weil ich Druck auf der Lanze habe. Ich glaube, ich würde es nicht genießen. Außerdem wäre es mein erstes Mal und dass soll schon etwas Besonderes sein.«

»Unser erstes Mal!«, korrigierte mich Ralf und gab mir einen Kuss. »Wieso denkst du eigentlich das gleiche wie ich?«

»Tu' ich das? Es ist einfach das, was ich im Moment fühle.«

Ralf zog mich zu sich heran, strich mir durch meine Haare und nahm mein Gesicht in seine Hände: »Tobias vanBrüggen, ich liebe dich!«

»Aber ein wenig Schweinkram könnten wir trotzdem machen ...«, fügte Ralf mit einem lüsternen Grinsen hinzu, während er sich seines Slips entledigte.

»Du bist eine alte Sau! Das könnte ziemlich klebrig werden!«, meine Unterhose lag wenig später ebenfalls neben meinem Bett.

»Hmmmm ...«, stöhnte Ralf, als wir uns komplett textilfrei aneinander schmiegten. »Das ist viel besser.«

Damit hatte er absolut recht. Unsere pulsierenden und heißen Schwänze lagen zwischen uns. So an-, um- oder miteinander verschlungen, hätte ich ewig mit Ralf liegen und schlafen können. Es fühlte sich einfach vollständig an. Wir konnten uns ganz spüren und dieses Gefühl war überwältigend. Es war dermaßen überwältigend, dass es zum erwähnten Schweinkram gar nicht mehr kam. Wir hatten eigentlich etwas anderes vor, doch bevor wir auch nur eine Hand an uns legen konnten, waren wir selig eingeschlafen.


Der nächste Morgen brachte eine Überraschung. Eine angenehme, um es genau zu nehmen. Noch in der Phase zwischen schlafend und wach, hörte ich es an meiner Zimmertür klopfen. Ohne eine Antwort abzuwarten, sprang die Tür auf und Michael Müller erstürmte mein Zimmer. Ich wurde sofort zu 80% wach. Der Mann neben mir ebenfalls.

»Hallo, Tobi, weißt du das ...Oh!«, Michis Gesicht tat etwas, dass es selten tat. Es wurde rot.

»Guten Morgen Herr Müller!«, begrüßte ich Michi und empfand ein bischen Schadenfreude, dass ihm der Anblick zweier Jungs in einem Bett aus dem Konzept gebracht hatte. Um ihn noch ein klein wenig mehr aufzuziehen, langte ich zu Ralf hinüber, umarmte ihn und gab ihm einen mehr als willkommen tiefen Kuss: »Morgen Schatz!«

Bei dieser Aktion rutschte natürlich auch unser Oberbett ein wenig hinab. Michi hatte somit einen perfekten Blick auf zwei eng umschlungene und offensichtlich unbekleidete Jungs. Zur Ehrenrettung meines und Ralfs Schamgefühl muss angemerkt werden, dass die Bettdecke nur bis zu unteren Bauchnabeln rutschte.

»Du wolltest etwas sagen?«

»Ähm ... Tja, ich glaube es passt gerade nicht ... Ich kann später wieder kommen ...«, stammelte Michi.

»Er ist schüchtern!«, bemerkte Ralf.

»In der Tat, ein völlig neuer Charakterzug den ich da entdecken muss.«

Als Michi merkte, dass wir ihn verarschten, verschwand sofort seine Verlegenheit und er ging zum Gegenangriff über: »Ihr seid die dreistesten Typen die ich je gesehen habe! Pennen zusammen in einem Bett, betreiben Körperakrobatik und Muttern steht unten und macht Frühstück. Habt ihr gar keine Angst, dass sie hier rein platzt?«

»Erstens würde sie sowas, im Gegensatz zu dir, niemals tun. Zweitens weiß meine Mutter über uns Bescheid. Und drittens, nicht, dass dich das etwas angehen würde, haben wir keine Körperakrobatik betrieben. Wir haben nur zusammen eng miteinander und ausgesprochen angenehm in diesem Bett geschlafen.«

»Deine Mutter weiß Bescheid? Nun, dass erklärt, warum sie meinte, ich könne euch ruhig wecken gehen. Aber erzähl mal ...«, diese Nachricht schien Michi deutlich mehr zu interessieren, als detaillierte Beschreibungen unserer sexuellen Interaktion.

»Eine lange Gesichte!«, begann ich meine Schilderung der Ereignisse des letzten Abends.

»Ich hab' es ja immer gesagt: Deine Mutter ist einfach cool!«, brachte Michi die Geschichte auf den Punkt. »Und ihr zwei habt wirklich nicht ...«

»Ey, dass ist jetzt aber wirklich privat.«

»Komm, ich habe dir auch immer alles erzählt.«

»Ja, ob ich es hören wollte oder nicht.«

»Touche'!«, gab Michi klein bei.

Ralf hörte unserem Zwiegespräch amüsiert zu, grinste und meinte schließlich, nachdem alles gesagt war: »Weswegen bist du eigentlich ursprünglicherweise so früh rüber gekommen?«

»Ach ja!«, Michi klatschte sich mit der flachen Hand auf die Stirn. »Schule fällt aus. Etliche Straßen sind nicht befahrbar. Teilweise ist wohl noch der Strom ausgefallen. Wir haben also Wochenende.«

Eine ausgesprochen nette Botschaft für uns, wahrscheinlich für diejenigen, die mit den Unwetterschäden zu kämpfen hatten, nicht. Während Michi noch die frohe Botschaft verkündete, hatte er sein Portemonnaie aus seiner Hosentasche gezogen und begonnen den Inhalt umzugraben. Er war mit einer intensiven Suche beschäftigt. Seine Stirn kräuselte sich und er murmelte etwas von »Hier müssten doch noch ...« Mit einem mal hellte sich sein Gesicht auf, begleitet von einem triumphalen: »Yes!«

Michi zog etwas aus einem Seitenfach und warf es auf unser Bett: »Von mir zu eurer Verlobung!«

Die Worte blieben solange unverständlich, bis Ralf und ich den Gegenstand auf unserem Bett erkannt hatten. Vor uns lag ein Plastikstreifen mit vier eingeschweißten Kondomen. Eigentlich wollte ich protestieren, doch bevor ich etwas sagen konnte, hatte eine Hand nach den Verhüterlis gegriffen und mit einem »Danke!« geantwortet. Etwas überrascht sah ich zu Ralf hinüber und erntete dort ein lüsternes Grinsen. Ich wurde rot.

Michi fing an zu lachen: »Tobi, sag einfach nichts!«

Joe

Worin man auf ein Häuflein Elend trifft und ganz nebenbei etwas über strahlende Sehorgane erfährt

Die nächsten Aktionen entsprachen fast meinem täglichen Standard: Rasieren (nass), Duschen, Fönen, Anziehen. Der Unterschied bestand in der Tatsache, dass ich nicht allein war. Wir rasierten uns nebeneinander, wir duschten miteinander und wir zogen uns mehr oder weniger gleichzeitig an. Damit Ralf nicht in seinen alten Klamotten rumlaufen musste, durchstöberte ich meinen Kleiderschrank und fand ein paar nette Sachen. Sie waren recht körperbetonend geschnitten.

Eine gute halbe Stunde später saßen wir zu viert am Frühstückstisch: Ralf, Michi, meine Mutter und ich. Ich hatte ein wenig den Eindruck, als wenn meine Mutter ein leicht schlechtes Gewissen hatte, mich am Vorabend mit einem Outing zu überfallen. Anders konnte ich mir nicht erklären, warum sie ein derart opulentes Frühstück aufgefahren hatte. Es gab Spiegeleier, frisch gepressten Orangensaft, Toast und Brötchen, Schinken, Käse und Marmelade.

»Ich hoffe, du hast mir meine Offenheit gestern Abend nicht übel genommen«, meinte meine Mutter plötzlich, um ihr Verhalten gleich wieder zu relativieren,.»Aber du hättest es in zwanzig Jahren nicht hinbekommen.«

»Nein, ich hab' es dir nicht übel genommen. Ich bin dir sogar dankbar.«

Meine Mutter atmete hörbar auf: »Ich habe allerdings noch eine schlechte Nachricht für dich. Ich muss heute noch nach Mailand und komme erst Dienstag wieder.«

»So plötzlich?«, sonst standen die Geschäftsreisen meiner Mutter immer mindestens eine Woche vorher fest.

»Es tut mir leid. Aber die Dreharbeiten zu einem Spot drohen zur absoluten Katastrophe zu werden. Erna weiß Bescheid. Ich lasse dir etwas Geld da, aber kauf dir nicht nur Pizza, ok?«

»Ok!«

»Keine wilden Partys!«

»Ja, Mama!«

»Und noch was. Ihr habt ja heute Zeit. Hier ist die Karte von unserem Hausarzt. Du weißt, worüber wir gestern gesprochen haben. Er wird euch gefallen, er ist der Lebensgefährte von meinem ersten Art Director mit dem ich nach Mailand fliege.«

»Ja, Mama!«

»Ich vertraue euch, dir und Ralf. Michi, du hast ein Auge auf die beiden, ja?«

»Also Mama!«


»Warum denken alle Leute immer gleich, wir würden von morgens bis abends Sex miteinander haben, wenn wir mal allein sind?«

Das Frühstück war vorbei. Ralf, Michi und ich waren wieder in meinem Zimmer. Ich schob Frust. Als Ralf und ich noch unser kleines Geheimnis hatten, war es irgendwie einfacher. Jetzt, wo jeder über uns Bescheid zu wissen meinte, wurde jedes unserer Worte und jede Regung, registriert, analysiert, interpretiert und kommentiert. Ich konnte nicht anders, als mich darüber vor meinen Freunden auszulassen.

»Gewöhn dich dran«, antwortete Michi. »Mir ging es mit jeder Freundin genauso. Meine Eltern wollten sie erstmal kennen lernen und ermahnten mich permanent daran ,verantwortungsvoll` zu handeln. Und die Idioten in der Schule sparten auch nicht an Kommentaren, von einfach noch blöd bis unerträglich vulgär.«

»Das wusste ich nicht.«

»Ich weiß. Du warst immer der, der sein Verhalten niemals änderte, der immer er selbst blieb, keinen blöden Kommentar abgab und nur dann etwas sagte, wenn ich ihn um Rat fragte. Ich hätte dir dafür schon lange mal danken sollen.«

»Vergiss es. Für Selbstverständlichkeiten braucht man sich nicht zu bedanken!«

»Ok, dann will ich mich wenigstens bei euch entschuldigen. Für jede blöde Bemerkung, die ich über euch gemacht habe oder noch machen werde.«

Ralf konnte nicht mehr und lachte los: »Ist er immer so ritterlich edel?«

»Nein, meistens ist er viel schlimmer.«

Für diese Antwort wurde ich von Michi knufft. Aber mein Nachbar hatte noch eine Frage auf seinem Herzen: »Was hat das mit dem Arzt auf sich? Bist du krank?«

Ich seufzte: »Ich hoffe nicht. Nein, meine Mutter besteht darauf, dass Ralf und ich einen HIV-Test machen, bevor wir miteinander ohne Gummi schlafen. Von daher war dein Verlobungsgeschenk sehr passend.«

Michi wurde schwach rot und räusperte sich.

Wir planten die nächsten Tage. Es stand mehr oder weniger fest, dass wir sie zusammen verbringen würden. Obwohl Ralf und mir die Sache nicht sonderlich gefiel, riefen wir den Arzt an und machten einen Termin für den Vormittag aus. Danach war geplant, sich mit Michi zum Mittagessen in der Stadt zu treffen. Ralf fragte mich, ob er das Wochenende bei mir bleiben könne. Was für eine Frage? Ich wäre vor Freude fast über ihn hergefallen. Allerdings musste noch ein kleines Hindernis ausgeräumt werden. Ralfs Eltern, präziser seine Mutter, wollte erst noch überzeugt werden. Hierbei war nochmals die Mithilfe meiner Mutter gefordert, die Ralfs Mutter überzeugte, dass Ralf keine Last sei und dass sie, meine Mutter, ganz glücklich sein, wenn ich, ihr Sohn, übers Wochenende nicht völlig allein sei.

Mit dem Ok von Ralfs Mutter landete noch ein weiterer Punkt auf unserer ToDo-Liste. Ralf wollte kurz nach Hause, um ein paar Sachen zum Wechseln zu holen.


Der Arztbesuch war schneller erledigt, als wir befürchtet hatten. Nach ein paar generellen Informationen und Tipps nahm man uns das Blut ab und meinte, die Ergebnisse würden nächsten Montag vorliegen. Vor unserem Treffen mit Michi hatten wir noch etwas Zeit. Einem Tipp von unserem Arzt folgend besuchten wir eine nahe gelegene Schwulenberatungsstelle und versorgten uns dort mit einem gewisse Hilfsmittel ein. Ich gebe zu, dass ich eine gewisse Schwellenangst überwinden musste, bevor ich das Zentrum betrat. Ich weiß zwar nicht, was ich erwartet hatte, aber ich fand ausschließlich nette Leute vor.

»Und, alles erledigt?«, fragte Michi, als wir uns bei unserem lärmenden Italiener zum Essen trafen.

»Yep!«, entgegnete Ralf. »Wir wurden angestochen und mit Infos versorgt. Nichts, was wir nicht schon vorher wussten.«

Heute war nicht nur mir nach Pizza. Ralf und Michi wählten unabhängig von mir ebenfalls eine Mafiatorte.

»Hoffentlich stattet uns Carsten nicht wieder einen Besuch ab«, grummelte Michi.

»Geh' mir ab mit Carsten. Ich wollte dieses Teigteilchen genießen und nicht an unseren Lieblingsschläger denken.«

Carsten unterließ es, unser Mittagessen zu stören, in dem er erst gar nicht auftauchte. Nach erfolgter Stärkung klapperten wir ein paar Läden ab, die schon seit längerem auf unserem Plan standen. Ein Computer-, Comic-, CD- und Sportschuhladen wurden gescannt und mangels Lust, Geld und wirklich interessanten Angebots erfolglos wieder verlassen. Alles in allem wurde es zu einem geldbeutelschonenden Stadtausflug. Kurz bevor wir dem Heimweg antraten, legten wir noch einen Pfad durch einen Supermarkt ein, um für Ralf und mich die notwendigen Nahrungsmittel zu erstehen.

»Shit! Jetzt hab' ich ganz vergessen, mir von zu Hause Klamotten mitzunehmen!«

Es war 17:30 Uhr, wir saßen in der S-Bahn, die Tiefkühlware in unseren Einkaufstüten lechzte nach Kühlung. Es war der denkbar schlechteste Moment, um sich daran zu erinnern, dass man eigentlich noch in die komplett entgegengesetzte Richtung wollte.

»Vergiss es! Das machen wir morgen. Meine Klamotten scheinen dir ja durchaus zu passen.«, entgegnete ich.

»Und Nachts braucht ihr ja eh keine«, setzte Michi nach und erntete von zwei Personen einen gespielt bösen Blick, den Michi wiederum mit einem strahlenden Zahnpastagrinsen quittierte.


»Hey!«

Wir saßen nach wie vor in der S-Bahn. Michi schaute von mir zu Ralf, ich von Ralf zu Michi und Ralf von Michi zu mir. Nachdem wir unsere Blickaktionen vollständig durchpermutiert hatten, waren wir uns recht sicher, dass keiner von uns den Anruf »Hey!« getätigt hatte, den offensichtlich jeder von uns gehört hatten.

»Hey, ihr zwei?«, rief es erneut.

Wir erweiterten unseren Suchbereich und entdeckten den Rehpinscher. Joe Schilling, seit kurzem Halbwaise, sah uns, d.h. konkret Michi und mich, schüchtern bis ängstlich, an. Er hatte sich in einer Ecke des Wagens verkrochen und sah zugegebenermaßen »Scheiße« aus. Nicht, dass er schlampig oder verdreckt gekleidet war, es war mehr das, was in der Kleidung steckt, was diesen Eindruck erweckte. Man sah überdeutlich, dass Joes Nervenkostüm besseren Zeiten erlebt hatte. Der Selbstmord seines Vaters hatte ihn sichtlich mitgenommen, obwohl ich meinte, auch einen Anflug von Erleichterung in seinen Augen zu erkennen.

Joe stand auf und kam zu uns rübergeschlichen. Anders konnte man seinen müden und erschöpften Gang nicht nennen. Ich fühlte, dass Michi etwas Aggressives auf der Zunge lag, und legte ihm deswegen eine Hand auf seine Schulter. Michi hielt seinen Mund. Wenn Michi auch zu den Leuten gehörte, die erbgutbedingt wie ein Wasserfall reden konnten, wusste oder ahnte er instinktiv, wann man die Klappe zu halten hatte.

»Hi, du sieht schlecht aus.«, wie spricht man mit jemanden, dem sich sein Vater vor weniger als 48 Stunden den Kopf weggeblasen hatte?

»Ich wollte mich bei euch entschuldigen. Ich ...«, und dann brach Rehpinscher Joe in Tränen aus. Vor ihm eigentlich wildfremden Leuten, nämlich uns, heulte er hemmungslos los. Etwas rat- und insbesondere hilflos, schauten Ralf, Michi und ich uns an. Mir kam eine mittelmäßig gute Idee und fragte Ralf mit einem passenden fragenden Blick. Ralf nickte zustimmend. Ich zog Joe zu uns auf die Bank und nahm ihn in den Arm.

Ich hielt ihn. Hielt ich ihn? Ich war mir nicht mehr sicher, denn meine Perspektive hatte sich geändert. Mir kam es plötzlich so vor, als wenn ich mit zwei Augenpaaren gleichzeitig sah. Ich sah Joe mit meinen Augen, aber auch gleichzeitig mich mit Joes. Ein Teil meines Bewusstseins hatte sich erneut mit Joes verbunden. Joe beruhigte sich daraufhin sehr schnell. Kein Wunder, ich hielt ihn nicht nur mit meinen Armen. Ich massierte quasi auch seine Seele, in dem ich positive, aufbauende und stabilisierende Gefühle in ihn hineinlaufen ließ. Langsam verebbten Joes Tränen und gingen in ein leises Schniefen über.

»Es tut mir Leid, ich wollte nicht ...«, stammelte Joe Schilling.

»Es ist schon gut. Wir wissen, was passiert ist.«

Joe nickte, seufzte und meinte schließlich gefasst: »Ja, allen tut der Sohn des Selbstmörders leid!«

Das klang bitter und ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Ralf kam mir zuvor: »Ich weiß nichts von einem Selbstmord. Aber ich sehe, dass du leidest. Das ist es, was mich bewegt.«

»Ähm, wer bist du?«, Joe kannte Ralf nicht.

»Ich bin sein Freund!«, meinte Ralf und zeigte auf mich. »Und ich vermute, du bist der Typ, der Michi und Tobi angemacht hat, weil er sie für schwul hielt.«

Joe Schilling sah beschämt zu Boden und meinte ganz leise: »Ja ...«

»Warum?«, Ralf ließ seine Stimme neutral klingen.

»Ich ...«, begann Joe und verstummte. Ich sah ihn an, aber sein Blick schien in weiter Ferne zu ruhen. Joe war weg. Selbst mit den Händen vor seinen Augen wedeln, brachten ihn nicht zurück. Wir vermuteten einen seelischen Schockzustand, waren natürlich aber keine Ärzte.

»Was machen wir mit ihm?«, fragte Michi. »Er macht auf mich nicht den Eindruck, als dass man ihn alleine rumlaufen lassen könnte.«

Ich zuckte mit den Schultern und schaute hilfesuchend zu Ralf, der meinen Gedanken aussprach: »Wir nehmen ihn erstmal mit und rufen seine El... seine Mutter an.«

»Ok!«

Joe brauchten wir nicht zu fragen, der war mit seinen Gedanken sonst wo und hatte abgeschaltet. Ich hatte zwar eine Idee, was ihm durch den Kopf ging, hielt aber einen S-Bahn-Waggon nicht für den geeigneten Ort, um jemanden aus einem geistigen Absturz heraus zu helfen. Joe war dermaßen apathisch, dass er sich ohne Probleme lenken ließ. Er lief einfach mit, sagte nichts und starrte nur mit ausdrucklosen Augen in eine Ferne, die nur er sehen konnte. Er wirkte fast schon autistisch. Michi, Ralf und ich manövrierten Joe abwechselnd vom S-Bahnhof zum Haus meiner Eltern. Dort angekommen, bugsierten wir ihn in mein Zimmer und platzierten ihn auf meinem Bett. Er legte sich ohne Widerstand hin, begab sich in die klassische Embryonallage und fing leise zu weinen an. Ich wertete das als ein positives Zeichen. Ralf ließ die Jalousien herunter und dämpfte das Licht auf ein Minimum. Er selbst setzte sich auf meinen Schreibtischstuhl und bewachte Joe. Michi und ich verließen das Zimmer.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte ich einigermaßen besorgt und deutlich ratlos.

»Du scheinst einen Draht zu ihm zu haben, in deiner Nähe wird er deutlich ruhiger. Ich denke, wir machen folgendes: Ich gehe nach Hause und versuche mit seiner Familie Kontakt aufzunehmen. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube meine Mutter kennt Frau Schilling. Zwar nicht gut, aber wohl ausreichend, um das mit Joe zu erklären. Du gehst inzwischen wieder zu ihm und schaust, was passiert. Kann ich deinen Schlüssel habe? Dann brauch ich nicht zu klingeln, wenn ich zurückkomme.«

Ich drückte Michi meinen Schlüssel in die Hand und er sprang sofort in Richtung eigenes Heim los. Ich schlich wieder nach oben und schlüpfte leise in mein Zimmer hinein. Ralf schaute sofort auf.

»Irgendeine Veränderung?«, flüsterte ich ihm ins Ohr.

Er schüttelte nur verneinend seinen Kopf. Joe Schilling lag nach wie vor in Embryonalhaltung auf meinem Bett und weinte leise. Ich ging auf ihn zu. Vorsichtig näherte ich mich ihm, um nicht in irgendeiner Weise bedrohlich zu wirken. Ich hockte mich neben mein Bett und betrachtete ihn still. Nach einer ganzen Weile blickte er auf und sah mir ausdruckslos in die Augen.

»Ich weine nicht, weil mein Vater tot ist«, waren die ersten Worte, nachdem sein Tränenfluss etwas weniger wurde. »Ich schäme mich, weil ich froh bin, das er tot ist. Ich kann keine Trauer empfinden, nur Erleichterung!«

Joes Stimme wurde mit jedem Wort fester, härter und kälter: »Ich habe ihn gehasst. Er war ein Monster, ein perverses Monster! Ich hasse ihn immer noch! Und dafür schäme ich mich. Das kann doch nicht richtig sein, oder?«

Ich sagte nichts, sondern schaute ihn nur an. Er sollte fühlen, dass ich zuhören und dabei kein Urteil über ihn fällen würde. Durch meinen unheimlichen Kontakt zu und mit ihm, der Erfahrung in seinem Hirn gewesen zu sein, war eine Verbindung zwischen uns geschaffen worden. Zumindest zwischen mir und ihm, doch hatte ich den Eindruck, dass es umgekehrt ähnlich war.

Joe überraschte mich mit einer direkten Frage: »Du bist schwul?«

»Ja.«

»Würdest du jemanden zum Sex zwingen?«

»Was ist das für eine Frage? Nein, niemals! Aber das hat nichts damit zu tun, dass ich schwul bin.«

»Nein, wohl nicht ...«

»Es wäre eine Vergewaltigung.«

Joe schwieg eine Weile. Man konnte deutlich sehen, dass er mit sich kämpfte. Für einen Moment sah es so aus, als wenn der verschwiegende und verdrängende Teil seines Egos gewinnen würde, doch dann setzte sich der Kämpfer in ihm durch.

»Mein Vater hat mich vergewaltigt. Seid ich 14 bin, ist er alle paar Wochen in mein Zimmer gekommen und hat es getan.«

Die Tränen kamen zurück, aber sie hatten sich geändert. Joe weinte nicht mehr vor Verbitterung, er weinte, um die Erinnerung aus sich heraus zu treiben. Joe sah überraschend erleichtert aus. Er entspannte sich und meinte schlicht: »Danke!«

Kurze Zeit später schlief er friedlich ein. Er atmete ruhig und gleichmäßig und wirkte entspannt. Eine große Last war von ihm gefallen. Ich wartete noch einen Moment neben seinem Bett, stand dann allerdings doch auf und schaute zu Ralf, um ihm mit meinem Zeigefinger ein Zeichen zu geben. Ich deutete auf die Tür und er verstand sofort. Mucksmäuschenstill verließen wir mein Zimmer und gingen leise die Treppe hinunter. Wir setzten uns in die Küche.

»Wow!«, fing Ralf an. »An dir ist ein Seelenklempner verloren gegangen. Wie hast du das gemacht?«

Ich zuckte mit den Schultern: »Wenn ich dir das erzähle, hältst du mich für verrückt.«

»Nein, natürlich nicht! Niemals!«

»Auch wenn es, sagen wir mal, etwas metaphysisch ist?«

»Metaphysisch? Wow! Ich bin bereit dir alles zu glauben, solange du selbst davon überzeugt und zu dir ehrlich bist.«

»Wart's ab! Du weißt ja nicht, was kommt!«, lachte ich, zögerte kurz und legte dann los. »Ok, du willst es wissen: Ich war in seinem Gehirn! Glaub es oder lass es bleiben, aber so habe ich es erlebt. Als wir das erste Mal aufeinandertrafen, kam es zu einem Nothalt der S-Bahn. Dabei stürzte Joe auf mich. Ich wollte ihn schon wütend wegstoßen, schließlich hatte er mich vorher übel angemacht, als ich plötzlich in ihm war. Es war, als wenn ich Teil seines Geistes war. Ich wusste alles, was er wusste. Und damit wusste ich auch, wie sich die unzähligen Vergewaltigungen durch seinen Vater angefühlt haben. Ich konnte das Schwein wirklich fühlen! Es ist schlimmer als schlimm. Niemand sollte sowas jemals erleben müssen! Wirklich niemand!«

Ralf antwortete nicht sofort. Ganz im Gegenteil, er sah mich erstaunt an, seine Augen leuchteten hellrot auf. Ich musste lachen: »Weißt du, was ich an dir absolut faszinierend finde: Man kann an deinen Augen immer ablesen, was du gerade denkst.«

»Wie meinst du das?«, Ralfs Stimme klang erregt und erstaunt.

»Hat man dir das noch nie gesagt? Das versteh ich nicht. Deine Augen strahlen! Sie sprühen richtig Funken, wie Wunderkerzen, allerdings wesentlich strahlender, lebendiger und realer. Je nach Stimmung leuchten sie mal tiefrot, goldsilbern aber auch mal grün.«

» Du kannst es sehen? «, Ralf klang fast entsetzt.

»Sicher! Wieso, es ist doch deutlich zu sehen! Im Moment strahlst du mich mit einem hellen, intensiven Rot an ... Wow!«

» Du kannst es tatsächlich sehen? «, Ralf wurde richtig aufgeregt, fast kurzatmig.

»Ja, doch! Ich bin ja nicht blind!«

»Und du warst in den Gedanken von Joe?«, Ralf war todernst.

»So verrückt es klingt, ja, war ich! Aber was hat das mit deinen Augen zu tun?«

»Wow!«, meinte Ralf, piff durch seine Lippen und ließ sich tiefer in den Küchenstuhl sinken. »Das ändert alles.«

»Was ändert was?«

»Alles! Absolut alles!«

Ralf nahm meinen Kopf in seine Hände, strich mir durch die Haare und strahlte mich glücklich, aber auch hoch erregt an. Seine Augen funkelten goldsilbern: »Tobi, dass ist jetzt ganz, ganz wichtig. Möglicherweise wirst du mir nicht glauben. Aber es sind die wohl wichtigsten und bedeutendsten Worte, die du bisher und wahrscheinlich jemals hören wirst.«

»Das klingt ziemlich ernst.«

»Ist es auch! Todernst! Aber habe keine Angst. Es ist auch etwas absolut Besonderes. Du bist etwas absolut Besonderes. Das hat nichts mit unserer Liebe zu tun, sondern damit, was du bist. Durch das, was du mir eben erzählt hast, bin ich tausendprozentig sicher, das es kein Zufall war, dass wir zusammen oder zueinander gefunden haben!«

»Was?«, Ralf sprach in Rätseln. »Wie jetzt?«

»Lach bitte nicht und halte mich nicht für verrückt. Ich bin überzeugt, dass es vorbestimmt war, dass wir uns ineinander verlieben. Tobi, du bist ein Telepath! Du besitzt übersinnliche Fähigkeiten! Nur ein Telepath kann das Leuchten meiner Augen sehen. Niemand anderes und selbst für einen Telepathen ist es nicht selbstverständlich. Tobi, ich bin auch ein Telepath, genau wie du. Das kann kein Zufall sein.«

»Telepath?«, ich ließ das Wort auf meiner Zunge zergehen. Für mich selbst überraschend, fand ich den Gedanken ein Telepath zu sein nicht abwegig. Immerhin wäre es eine Erklärung für ein paar sehr merkwürdige Erlebnisse, die mir in letzter Zeit widerfahren waren.

»Telepath, Psioniker, zweites Gesicht. Nenn es, wie du willst. Du besitzt übernatürlichen Fähigkeiten, soviel steht fest. Du scheinst ein Empath zu sein, auch scheinst du deinen Geist in andere projizieren zu können. Aber die Tatsache, dass du meine Augenfarbe sehen kannst, scheint darauf hinzuweisen, dass du noch viel mehr Fähigkeiten besitzt.«

»Übernatürliche Fähigkeiten ... Warum erschreckt mich der Gedanke nicht? Sollte ich nicht entsetzt sein? Sollte ich dich nicht für total bekloppt und durchgeknallt halten, mir solchen Scheiß erzählen zu wollen? Aber ich fühle, dass du Recht hast. Shit, ich kann es nicht erklären. Es ist unheimlich, aber ich weiß, dass da etwas in mir ist, das über normale Sinne hinausgeht.«

»Du kennst deine Fähigkeiten nicht?«

»Nein, woher denn? Ich habe keine Ahnung, was mit mir los ist.«

»Daran müssen wir arbeiten, aber nicht jetzt. Michi kommt zurück.«

»Woher willst du das ... Ok, ich sage nichts mehr!«

Auch eine Methode, mir zu zeigen, dass Ralf ebenfalls über übernatürliche Fähigkeiten verfügte, denn 30 Sekunden später hörten wir Michi, wie er die Haustür aufschloss.

Brüche in der Seele

Worin ein Geist der Vergangenheit bekämpft wird

»Ihr seid hier unten?«, fragte Michi überrascht, als er sah, dass wir in der Küche saßen.

»Er schläft«, erklärte ich kurz.

»Gut!«, Michi seufzte. »Meine Mutter hat Frau Schilling erreicht. Die gute Frau war schon in heller Aufregung, denn Joe war heute Morgen ohne ein Wort zu sagen einfach gegangen. Ihr könnt euch vorstellen, dass Familie Schilling momentan in keiner guten Verfassung ist. Meine Mutter konnte gerade noch verhindern, dass Joes Mutter Hals über Kopf ins Auto sprang. Aber du kennst ja meine Mutter, sie kann sehr überzeugend sein. Die beiden Mütter sind übereingekommen, dass Joe selbst entscheiden soll, wann er sich wieder fit fühlt, um nach Hause zu kommen. Frau Schilling war sehr erleichtert, als sie hörte, dass Joe von ein paar Freunden aufgesammelt wurde. Wir haben ihr natürlich nicht gesagt, dass wir nicht direkt seine Freunde sind. Hat er selbst noch was erzählt?«

»Ja, wir wissen jetzt, was los ist«, seufzte Ralf. »Und ich denke, du sollst es auch erfahren. Aber setz dich, es ist eine harte und nicht wirklich nette Geschichte.«

Michi setzte sich und Ralf begann zu erzählen. Ich kannte Michi als toughen Kerl, aber Joes Geschichte ließ ihn mehrfach blass werden. Michi musste oft schlucken. Als er am Ende etwas sagte, hörte man einen dicken Klos in seinem Hals sitzen: »Ich verstehe ihn. Mein Gott, sein eigener Vater. Wenn meiner das versuchen wür... Nein, ich kann mir das nicht Mal ansatzweise vorstellen.«

Meine Nackenhaare kribbelten: »Ich schau mal nach ihm ...«

Leise ging ich die Treppe hinauf, öffnete lautlos meine Zimmertür und schlüpfte hinein. Joe lag auf meinem Bett. Noch hatte er die Augen geschlossen, aber man konnte sehen, dass er kurz davor war aufzuwachen.

»Wo bin ich?«, Joe war erwacht.

»In meinem Zimmer«, antwortete ich.

»Wie komme ich hier her? Und wie heißt du eigentlich?«

»Du warst in der S-Bahn und hast meine Freunde und mich angesprochen. Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst, aber du hattest sowas wie einen emotionalen Zusammenbruch. Wir konnten dich unmöglich einfach dich dir selbst überlassen und haben dich daher mitgenommen.«

»Ich erinnere mich. Ich ...«, Joe sah mich entsetzt an. »Ich habe euch alles erzählt, oder?«

»Ja.«

»Scheiße!«

»Hey, keine Angst. Es ist Ok. Von uns wird niemand etwas erfahren.«

Joe nickte müde: »Ich muss mich wohl bei euch bedanken.«

»Nein, musst du nicht. Ich glaube, ich kann dich verstehen.«

Joe zögerte einen Moment mit seiner Antwort: »Ich ... Eigentlich sollte ich dir widersprechen. Denn niemand kann mich verstehen, der nicht selbst ... du weißt schon. Aber bei dir habe ich das Gefühl, das du ganz genau weißt, was ich durchgemacht habe.«

Ich lächelte leicht: »Es ist völlig unwichtig, ob ich dich verstehe oder nicht. Wichtig ist nur eins: Du warst das Opfer! Geb dir nicht die Schuld, für das, was passier ist. Das muss dir immer klar sein! Du bist nicht schuld!«

Joe reckte sich. Ein paar Gelenke knackten. Ein schwaches Lächeln schlich sich auf seine Lippen: »Warum tust du das?«

»Was?«

»Mich wieder aufbauen? Du kennst mich nicht. Und wenn ich mich nicht falsch erinnere, habe ich dich vor ein paar Tagen ziemlich fies angemacht.«

»Ich kann es dir nicht sagen. Wir, also meine Freunde und ich, konnten dich vorhin nicht einfach alleine in der S-Bahn zurücklassen. Wir haben nicht sonderlich nachgedacht, als wir dich mitnahmen. Und, falls es dich beruhigt, es waren keine sexuellen Motive dabei.«

Zum ersten Mal lachte Joe: »Daran hab' ich gar nicht gedacht. Bist du wirklich schwul?«

»Ja, bin ich.«

»Hm, hättest du es mir vor ein paar Tagen gesagt, wäre ich wohl auf dich losgegangen und versucht dich zusammenzuschlagen«,

»Vermutlich! Aber ich denke, wir wissen warum.«, fing ich an. Joe schloss seine Augen und versuchte dunkle Gedanken zu verscheuchen, doch ein Punkt lag mir auf dem Herzen, weswegen ich am Thema fest hielt: »Das, was dein Vater mit dir gemacht hat, war Gewalt und hat nichts, rein gar nichts mit Sex geschweige denn mit Liebe zu tun. Ich würde niemals jemanden zum Sex zwingen. Ich will, dass der andere mich ebenfalls will. Das ist so eine Sache von gegenseitigem Geben und Nehmen.«

Joe sagte lange Zeit nichts. Seine Augen waren nach wie vor geschlossen. Aber Joe schlief nicht, er dachte nach und meinte schließlich: »Ich weiß, was du meinst, aber ...«

Plötzlich waren sie wieder da, die Tränen. Joe Schilling fing wieder zu schniefen an. Ich ahnte, dass da noch mehr war. Leise, fast flüsternd, fragte ich: »Was?«

»Es hat mir gefallen«, wimmerte Joe. »Mein Vater war extrem brutal, er rammte sein ... Er nahm keine Rücksicht. Ich hasse ihn dafür. Ich hätte ihn umbringen können. Aber, da hat sich noch etwas anderes entwickelt. Ich begann davon zu träumen, es mit anderen Jungen zu machen. Ohne Brutalität, ohne es zu erzwingen und ohne die Schmerzen. Weißt du, wie ich seine Übergriffe überstanden habe? In dem ich mich in Träume von süßen Jungs geflüchtet habe. Meistens ließ der Schmerz danach etwas nach und ... Na ja, es wurde erträglich. Es gab sogar Momente, in denen es mir gefiel. Wenn er mal nicht so brutal war und es mir gelang für ein paar Augenblicke vollkommen zu verdrängen, wer mich da nahm. Dafür habe ich mich gehasst! Und ich habe alle Schwulen gehasst! Ich wollte nicht schwul sein! Ich wollte nicht wie mein Vater sein!«

»Das bist du nicht. Du bist nicht dein Vater. Du entscheidest, was du sein willst. Du entscheidest, ob du schwul bist, ob du hetero bist oder ob du dich überhaupt nicht festlegen willst. Es ist deine Entscheidung. Lass dir von niemandem dabei reinreden, erst recht nicht von einem schlechten Gewissen, das die Tatsachen verdreht.«

Joe öffnete seine Augen und sah mich dankbar an: »Dein Freund muss ein glücklicher Mensch sein.«

Ich musste schmunzeln: »Ich hoffe es. Aber ich denke, du solltest jetzt schlafen ...«

Ich wollte schon aufstehen und das Zimmer verlassen, als mich Joe zurückhielt: »Warte, geh' noch nicht. Ich denke, ich fahre nach Hause, ich will niemanden zur Last fallen. Außerdem, was werden deine Eltern sagen. Außerdem ist es dein Bett.«

»Erstmal sind meine Eltern auf Geschäftsreise. Die werden also nichts sagen. Zweitens fällst du weder mir, noch meinen Freunden zur Last. Drittens, du kannst gerne hierbleiben. Ich kann auch im Gästezimmer schlafen.«

Joe senkte seinen Blick. Er traute sich mir nicht in die Augen zu schauen: »Ich würde gerne hier bleiben, wenn ich darf. Aber, würdest du in meiner Nähe bleiben?«

»Natürlich darfst du hier bleiben. Und für das andere Problem habe ich eine Idee. Wir packen eine Matratze vors Bett, dann kannst du dich dort hinlegen. Ok?«

Joe nickte dankbar: »Ok und danke!«


Auf diesem Wege kam die Matratze doch noch zu Ehren. Ich ging wieder in die Küche, wo Ralf und Michi sich unterhielten. Nachdem ich die beiden gebrieft hatte, war alles geklärt. Ralf und Michi holten die Matratze, ich besorgte Bettzeug. Innerhalb kürzester Zeit lag ein bezogenes Nachtlager quer vor meinem Bett. Joe sah staunend zu, wie alles ohne große Worte erledigt wurde.

»Hallo, ich bin Joe, Josef-August Schilling, und ich möchte mich bei euch bedanken. Ihr habt mir wirklich geholfen.«

Joe hatte einen Moment abgepasst, bei dem Ralf, Michi und ich, im Zimmer waren, aber nichts mehr zu erledigen hatten. Es klang ein wenig wie eine Bahnhofsansage, wurde aber richtig verstanden und aufgenommen.

»Hallo Joe. Ich freu mich, dass es die wieder besser geht. Ich bin Michi, Michael Müller, und bin Tobis Nachbar und ältester Freund.«

»Hi Joe, ich bin Ralf und bin Tobis Freund.«

Joe lächelte: »Ich weiß, das ist etwas unverschämt, aber wer von euch beiden ist denn Tobis Freund

Ralf grinste: »Ich denke, dass bin dann wohl ich.«

Dann schnappte er sich sein Oberbett und wollte ins Gästezimmer gehen.

Joe schrie auf: »Was machst du?«

»Ich nehme mein Bett und geh' ins Gästezimmer.«

Joe fing an zu stottern: »Aber ... aber ... Oh, Scheiße, Scheiße, Scheiße! Jetzt versteh ich erst. Tobis Eltern sind nicht da und ihr zwei ... Verdammt es tut mir leid. Ich geh' ins Gästezimmer!«

Ich musste lachen und einfach den Kopf schütteln: »Beruhig dich! Du bleibst hier. Für Ralf und mich wird es noch genügend Nächte geben ...«

»Aber ...«, stotterte Joe. »Ich will aber nicht, dass Ralf ins Gästezimmer geht. Er soll bei dir bleiben. Wirklich!«

Ralf warf mir einen fragenden Blick zu. Ich zuckte mal wieder mit meinen Schultern und meinte: »Ok, wenn du damit kein Problem hast.«

Es hatte weder Ralf noch Joe ein Problem damit. Damit stand das Setting für die Nacht fest. Allerdings war es fürs Schlafengehen noch reichlich früh. Michi war es dann auch, der ein anderes wichtiges Thema in die Diskussion einbrachte: »Leute, ich habe tierisch Hunger!«

Alle, auch Joe, stimmten zu. Und so marschierten wir in die Küche, kochten uns ein paar Nudeln, machten ein paar Fertigsoßen warm und begannen zu essen. Joe schlug richtig zu: »Entschuldigt, aber ich habe seid gestern nichts mehr gegessen.«

»Kein Problem. Hau rein!«

Nachtschatten

Worin der nächtliche Schlaf unter anderem von Störungen im Magen-Darm-Trakt unterbrochen wird

Das Abendbrot war Spaß. Es war lustig und fern der ernsten Geschichten, die noch vor ein paar Minuten auf uns gelastet hatten. Wir lernten Joe von einer ganz anderen Seite kennen. Der Typ konnte richtig lustig sein. Das Essen war lange bis auf die letzte Nudel aufgegessen, aber wir saßen immer noch in der Küche und unterhielten uns über alles mögliche. Michi, Joe und ich tauschten unsere Abneigungen und Sympathien über die diversen Lehrer unserer ach so geliebten Schule aus. Ralf als Neuling wurde mit mehr Ratschlägen, Warnungen und Informationen überschüttet, als er verarbeiten konnte.

Völlig sprachlos war Joe, als er erfuhr, dass Ralf und ich erst seit rund 24 Stunden zusammen waren. Er wollte es kaum glauben und fragte tausend Fragen, von denen wir die meisten überhaupt nicht beantworten konnten. Im Gegensatz zu Michi, war Joe primär nicht an den körperlichen und handfesten Details interessiert. Ihn interessierten die Gefühle, wie es ist, sich an einen anderen Menschen zu verlieben. Was sollte wir ihm erzählen? Für uns war das selbst völlig neu.

Es war fast ein Uhr nachts, als Michi sich verabschiedete und wir beschlossen schlafen zu gehen.

»Und es ist wirklich kein Problem für dich, wenn Tobi und ich in einem Bett schlafen?«, Ralf wollte sicher gehen, dass Joe sich gut fühlte und wir ihn nicht überforderten.

»Nein, überhaupt nicht«, Joe seufzte zum 22.736igten mal an diesem Ta., »Ich bin froh, dass jemand da ist. Ich habe Angst, dass die Albträume zurückkommen.«

»Albträume?«

»Früher hatte ich sie nur selten. Aber in der letzten Zeit hatte ich regelmäßig Angst einzuschlafen.«

»Es geht uns zwar nichts an, aber was sind das für Albträume? Albträume von deinem Vater?«

Es war nur so ein Gefühl, aber mir erschien die Art der Albträume wichtig zu sein. Bisher war ich nie der Typ, der etwas auf seine Intuition gab, aber das hatte sich in letzter Zeit geändert.

»Zuerst waren es tatsächlich Träume von meinem Vater. Es ging nicht um das, was er mit mir tat. Ich weiß nicht, wie ich es besser ausdrücken soll. Zuerst war es nur ein Gefühl von Kälte. Aber dabei blieb es nicht. Das ist ganz merkwürdig, denn ich kann mich nicht daran erinnern, worin es in meinen Träumen ging. Ich weiß nur, dass sie immer bedrohlicher wurden. Wenn ich aufwachte, waren da immer nur einzelne Erinnerungsfetzen: Schmerz, Leid, Panik, Verderben, Blut, grausige Monsterfratzen, aufgebrochene Erde mit Erdbeben, Überflutungen, Vulkanausbrüchen, Unwetter, Massenpanik und schließlich das schlimmste überhaupt: der Tod. Es mag lächerlich klingen, aber ich hatte immer das Gefühl, als wenn ich vom Ende der Welt träumte. Und es kommt näher, immer näher. Ich hatte gehofft, dass mit dem Selbstmord meines Vaters alles vorbei sei, aber gestern Nacht hatte ich wieder einen Albtraum. Es war intensiver und grauenvoller als alles, was ich vorher erlebt hatte. Ich bin aufgewacht und habe bestimmt eine halbe Stunde zitternd in meinem Bett gelegen.«

Ralf und ich mussten erst einmal tief durchatmen. Ich hatte keine Zweifel an dem, was Joe sagte. Und nach Ralfs Mine zu schließen, hatte er ebenfalls keine. Joe hatte Angst vor dem Schlaf, genaugenommen, vor seinen Träumen. Ich war kein Psychologe, aber ich war bereit mein bestes zu tun, dass er in meinem Haus keine Albträume erlebte.

»Wir, sowohl Ralf als auch ich, werden die ganze Nacht hier in deine Nähe sein. Wenn du träumst, sind wir für dich da. Ok?«

Joe nickte dankbar, sagte aber nichts. Er verkroch sich unter seiner Bettdecke und starrte meine Zimmerdecke an. Ralf und mir stand noch die Reinigung unserer Zähne bevor. Gemeinsam gingen wir ins Bad.

»Tobi?«, Ralf drückte gerade einen Zahnpastawurm aus der Tube und platzierte ihn auf seiner Zahnbürste. »Was denkst du über Joe?«

»Er hat Angst, richtige Angst. Ich kann es fühlen. Bei dem, was sein Vater mit ihm getan hat, wundert mich nicht, dass er Albträume hat.«

Ralf betrachtete seine Zahnbürste. Seine orange leuchteten Augen verrieten mir, dass er angestrengt nachdachte.

»Was denkst du?«, hakte ich nach. »Meinst du es handelt sich um zwei verschiedene Sachen, dass die Albträume nichts mit seinem Vater zu tun haben?«

»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Ralf. »Ich habe Joes Angst ebenfalls gefühlt. Ist es dir nicht aufgefallen? Seine Angst ist teilweise übernatürlich. Ich habe bei der Sache ein ganz, ganz ungutes Gefühl.«

Ralf legte seine Zahnbürste beiseite und drehte sich mir zu: »Bist du dir sicher, dass du nur in Joes Geist warst?«

»Ja ... Vermute ich jedenfalls. In wessen denn noch?«

Ralf musterte mich. Seine Augen leuchteten grün. Ich hatte das Gefühl von ihnen aufgesaugt zu werden. Ich verlor mein Zeitgefühl. Ralf hielt mich in seinem Bann. Auf Ralfs Stirn bildeten sich Schweißperlen, seine Schläfen traten deutlich hervor, er begann tief und heftig zu atmen. Ich begann unter seinem Ansturm zu zittern, spürte aber ansonsten nichts. Mit einem heftigen Atemstoß, wie bei jemanden, der kurz vor dem Ertrinken an die Wasseroberfläche kam, ließ Ralf mich los: »Du blockst mich ab! Ich komm nicht an deine Erinnerungen. Da ist eine Sperre von ungeheurer Stärke. Tobi, ich habe so eine Blockade bisher erst einmal erlebt ... Aber ... Das kann nicht sein.«

Ralf machte mich nervös, sehr nervös: »Was kann nicht sein?«

»Ich weiß es nicht, verflucht!«, Ralf wirkte regelrecht verzweifelt. »Alles ist sehr mysteriös. Erst verlieben ausgerechnet wir beiden uns ineinander. Dann taucht Joe auf, ein massiv traumatisierter Junge, latent schwul und mit einer übersinnlichen Aura versehen. Er scheint Dinge sehen zu können ... Und dann ist da diese Sperre in deinem Hirn. Wir haben über dieses übersinnliche Zeugs noch nicht gesprochen, deswegen ganz kurz: Ich bin eigentlich einer der stärksten Telepathen auf dieser Erde. Wenn ich will, kann ich jeden Gedanken lesen. Nur nicht bei dir. Ich musste den Versuch abbrechen, sonst hätte ich bleibende Gehirnschäden davon bekommen können. In den letzten Tagen hat sich etwas massiv verändert. Seit dem Moment, in dem wir uns im CD-Laden getroffen haben, ist die Welt eine andere. Ich kann es fühlen, ich kann es riechen, ich kann es schmecken. Irgendetwas passiert.«

»Junge, du klingst wie ein sauschlechter Science Fiction Schinken! Putz dir lieber deine Zähne.«

Ralf musste lachen: »Sorry, manchmal bin ich etwas kopflastig.«

»Manchmal?«, kicherte ich. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, worum es bei dieser ganzen PSI-Kiste eigentlich geht. Vielleicht bin ich etwas naiv. Ich fühle, dass es wichtig ist. Aber ich bin auch ein 17 jähriger Junge mit massiv wallenden Hormonen. Ich denke, wir machen Folgendes: Wir gehen jetzt ganz brav ins Bett und werden leider nicht aneinander und miteinander Fummeln, weil wir klein Joe nicht noch mehr verschrecken wollen. Sollte er einen Albtraum haben, werden wir ihn beruhigen. Alles andere kann bis Morgen warten. Ok?«

»Ich liebe dich!«, meinte Ralf und nahm mich in den Arm. Wir schmusten eine Weile und gingen dann wieder in mein Zimmer.

»Hi!«, begrüßte uns Joe.

»Alles klar?«, fragte Ralf.

»Ja!«

»Gut!«, meinte ich. »Ich mach jetzt das Licht aus, Ok? Also Jungs, gute Nacht!«

»Gute Nacht!«, kam es zweimal als Antwort und ich löschte das Licht. Ralf kuschelte sich an mich. Ich lauschte. Joes Atemrhythmus ging ziemlich schnell in einen ruhigen Takt über. Er schien eingeschlafen zu sein. Ich angelte nach Ralf. Er angelt zurück und wir schliefen Arm in Arm ebenfalls friedlich ein.


»Nein! Nein! Hilfe!«

In drei Mikrosekunden war ich wach. Der Blick zum Radiowecker teile mir mit, dass es Viertel nach drei Uhr nachts war. Joe schrie. Ralf war im gleichen Moment aufgewacht wie ich.

»Er träumt nicht!«, flüsterte Ralf. »Er empfängt etwas! Ich fühle eine starke Präsenz. Fühlst du sie auch? Denke einfach nicht nach!«

Ich leerte meine Gedanken und entspannte mich. Ralf hatte recht. Es fühlte sich wie ein Luftzug an. Nur, dass dieser Luftzug in meinem Schädel wehte.

Ich sprang aus dem Bett und ging zu Joe. Im Licht der ins Zimmer leuchteten Straßenlaterne konnte ich sehen, wie er am ganzen Körper zitterte. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.

»Was sollen wir tun?«

»Ich hätte da eine Idee, aber sie könnte gefährlich sein.«

»Sag's!«

»Fass ihn an. Schalte dich auf seine Gedanken!«

»Nur, wenn du auf mich aufpasst. Aber wird er nicht aufwachen, wenn ich ihn anfasse?«

»Nein, das wird er nicht. Keine Angst, ich bin bei dir.«

Ich holte tief Luft, dann legte ich meine beiden Hände an Joes Wangen und ... Die Reise begann.

Mein Sichtfeld wurde perspektivisch in die Länge gezogen. Der Fluchtpunkt wurde zu einem optischen schwarzen Loch. Ich stürzte hinein. Es wurde dunkel, schwarz, schwärzer als schwarz. Oben, unten, vorne, hinten, rechts und links verloren ihre Bedeutung. Mir wurde schlecht. Obwohl ich wusste, dass ich mich nicht körperlich in diesem was auch immer befand, drehte sich mir der Magen um. Ich hätte Joes Wangen fast losgelassen, als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte. Ein kräftigender Schub Wärme und Energie durchströmte meinen Körper. Danke Ralf! Seine Unterstützung schaffte mir die Kraft mich zu entspannen. Ich öffnete meinen Geist und siehe da, die Dunkelheit hellte sich auf.

Ich stand in einer Stadt -- Aber in was für einer Stadt? Diese Stadt sah aus, als wenn Hieronymus Bosch und Alienschöpfer Gieger ihr Architekt gewesen war. Biomechanik trifft Höllendesign. So würde sich ein gläubiger Mensch das Jüngste Gericht vorstellen. Wesen, sie als Menschen zu bezeichnen wäre unpassend, bevölkerten die Straßen. Ausdrucklose Zombiegesichter ohne Ziel und Richtung. Wenn dies der Traum von Joe war, wunderte ich mich nicht, dass er zitterte und Hektoliter Schweiß verlor. Dieser Traum war die Mutter aller Albträume. Nur, was sollte das alles?

Ich bewegte mich, gehen war ohne physischen Körper unmöglich, durch die Szenerie. Die Zombiewesen beachteten mich kein bisschen. Je mehr ich mich umsah, desto lächerlicher kam mir alles vor. Der blutrote Himmel, die schmutzig grauen, verfallenen Häuser, die Semi- oder Pseudozombies, alles wirkte ein bisschen zu dick aufgetragen. Es war nicht das Jüngste Gericht, sondern dessen Hollywood Version.

»Stimmt! Aber es erfüllte seinen Zweck!«

Eine Stimme zeriss die absurde und unrealistische Stille. Ihre Tonlage war unbestimmbar und somit weder Männlein noch Weiblein zuordenbar. Dafür zerriss sie nicht nur die Stille, sondern auch die Szene und zwar sprichwörtlich. Durch mein Blickfeld ging von oben nach unten ein Riss, wie durch Papier. Die beiden Hälften knüllten sich zusammen und verschwanden. Ich fand mich auf einer grauen, diffus beleuchteten Ebene ohne Begrenzung wieder.

Die Stimme kicherte, »Habe ich also deine Aufmerksamkeit erregt.«

»Wer Sie auch immer sind, Finger weg von Joe!«

»Sonst? Du überrascht mich, seid wann bist du so emotional?«

Ich wurde wütend: »Hören Sie mit diesem Scheiß auf. Ich kenne Sie nicht. Ich sage nur: Finger weg von Joe!«

»Du kennst mich nicht? Hm, du solltest mich aber kennen. Lass dich mal ansehen? Tatsächlich, du bist es nicht. Schickt er mir tatsächlich eines seiner Helferlinge. Hör zu Kleiner!«, die geschlechtslose Stimme wurde kalt. »Du bist hier nicht in der Position Forderungen zu stellen. Ist das klar?

Ich wurde richtig wütend: »Und ob ich Forderungen stelle! Sie quälen den Jungen. Hören Sie damit auf oder ich ...«

»Oder was?«, antwortete die Stimme in einem überheblich, amüsierten Tonfall, der gemeinhin da verwendet wird, wenn man von einer haushohen Überlegenheit ausgeht.

Aber genau hierin irrte sich die Stimme. Ich wusste zwar nicht wie, aber ähnlich, wie ich einfach wusste, wie ich mit Carsten zu kämpfen hatte, wusste ich, was ich in dieser PSI-Umgebung zu tun hatte. Ich führte einen geistigen PSI-Schlag gegen die Stimme aus. Keine Ahnung, was das eigentlich war, aber ich tat es. Die Stimme erlitt einen hör- und sichtbaren Treffer. Kurzzeitig meinte ich ein »Umpf!« vernommen zu haben. Was ich aber deutlich sehen konnte, war eine optische Instabilität der Pseudowirklichkeit. Erst, als sich die Stimme wieder unter Kontrolle hatte, beruhigte sich die Umgebung. Und die Stimme brauchte lange, um sich zu berappeln.

»Wahhhh...«, schrie die Stimme. »Das wirst du mir büßen!«, fauchte es offen feindselig. »Ich soll den Jungen also zu frieden lassen? Ich wäre mit solchen Forderungen etwas vorsichtiger und vor allen nicht so selbstgefällig! Du hast ihn doch auch benutzt. Oder warum hat sich sein Vater den Schädel weggeknallt?«

»Wa...«, weiter kam ich nicht, denn im gleichen Moment traf mich der Gegen-PSI-Schlag. Er war nicht schmerzhaft, wie es wohl meiner gewesen war, seine Wirkung war anders -- subtiler. Er entsperrte eine Erinnerung in mir. Mir wurde etwas bewusst gemacht, dass ich in den hintersten Winkel meines Schädels weggeschlossen hatte. Etwas, dass ich so gut weggeschlossen hatte, dass ich nicht einmal wusste, dass es diese Erinnerung überhaupt gab. Aber das war soeben geändert worden.

Ich konnte mich wieder erinnern! Ich sah es vor mir. In meinem Kopf lief meine eigene Erinnerung wie ein Film ab. Ich erlebte, wie ich in den Geist von Herr Dr.jur. Schilling gegangen war und ihm seine Tat bewusst gemacht hatte. Das Wissen war wie ein Schlag in Magengrube, Schritt und Nieren gleichzeitig.

»Ah, meldet sich da etwa ein schlechte Gewissen? Zu dumm, wenn man nicht gegen Skrupel geimpft ist und sich den Luxus eines Gewissens leistet! Ok, es war nett mit dir zu spielen, Kleiner, aber ich habe wichtigere Sachen zu erledigen als mich mit Kofferträgern zu beschäftigen! Sag' deinen Wächtern, dass der Tag der Abrechnung näher rückt. Das wirst du dir doch wohl merken können, oder?«

Mit dieser Frage wurde die Leitung gekappt. Ich blinzelte und fand mich in meinem Schlafzimmer wieder. Allerdings hielt es mich nicht lange an diesem Ort. Ein akuter, massiver Brechreiz ließ mich in Rekordgeschwindigkeit das Bad erstürmen. Dort angekommen entledigte ich mich meines Mageninhaltes entgegen der üblichen Richtung.

Scheiße! Ich war für den Tod von Joes Vater verantwortlich! Wie konnte ich so etwas tun? Was war ich? Ankläger und Richter in einem? Welches moralische Recht hatte ich, ihm seine Taten auf diese Art vorzuhalten? Damit war ich nicht viel besser als er, oder?

»Nein!«, hörte ich Ralf sagen, der sich neben mir niedergekniet hatte und meine Schultern massierte. »Du hast instinktiv gehandelt. Es war eine Ausnahmesituation und du warst alles andere als vorbereitet. Du bist in den Geist eines anderen Menschen eingedrungen, ohne auf die damit verbundenen Konsequenzen und Gefühle geschult worden zu sein. Soll ich dir etwas erzählen? Normalerweise braucht ein unausgebildeter Telepath zwei Jahre Training und intensive Schulung, um den emotionalen Stress einer solchen Geistverschmelzung beherrschen zu kommen. Andernfalls drohen Gehirnschäden sowohl bei ihm selbst als auch bei der Person, in die er eindringt. Doch sie dich an! Weder du noch Joe haben Schaden genommen. Das mit seinem Vater war ... ein Unfall. Ein bedauerlicher Unfall. Es wird dir nie wieder passieren.«

»Das tröstet mich nicht wirklich!«, murmelte ich und spuckte die letzten Brocken Rotz aus. »Wie soll ich Joe jemals wieder in die Augen sehen?«

»Das ist ein anderes Thema. Niemand, auch Joe nicht, sollte etwas über unsere Fähigkeiten erfahren. Eine der wichtigsten Lektionen, die du lernen musst, ist Verschwiegenheit, Heimlichkeit, Diskretion. Wir sind ganz normale 17jährige Schüler. Wir haben unsere Probleme mit Lehrern, Mitschülern, Pickeln, Sex, Eltern und Taschengeld. Wir beide sind obendrein noch schwul, was die Sache möglicherweise etwas kniffeliger machen könnte. Was wir aber öffentlich nie sind, sind Telepathen. Es gibt keine übernatürlichen Kräfte! Niemand, der ernst genommen werden will, glaubt an solch einen Scheiß. Verstehst du, was ich meine?«

Zögernd nickte ich mit meinem Kopf.

»Morgen werde ich die mehr erklären. Viel, viel mehr. Im Moment ist nur wichtig, dass unsere Fähigkeiten auf jeden Fall absolut geheim bleiben. Ok?«

»Ok!«

»Gut, dann lass uns zurückgehen. Sollte Joe fragen, dann hast du dir schlicht den Magen verdorben.«

Joe fragte, denn er war erwacht. Da ich immer noch etwas grün im Gesicht war, war die Geschichte vom verdorbenen Magen absolut glaubwürdig. Joe meinte, er wäre von meinem Gepolter aufgewacht, als ich ins Badezimmer stürmte. Ansonsten hatte er gut geschlafen. Ich vermutete, dass sich die PSI-Weltuntergangsübertragung noch nicht in seinem Hirn manifestiert hatte, um bei ihm ein Albtraumereignis auszulösen.

»Geht es dir denn jetzt wieder besser?«, fragte Joe besorgt.

»Noch etwas Völlegefühl, aber keine Übelkeit mehr. Ich glaube, ich versuch wieder zu schlafen.«

Das war zwar nicht wahr, denn ich war innerlich total aufgewühlt, um einschlafen zu können. Joe schien hingegen meine Erklärung zu reichen. Ich löschte meine Bettleuchte, hörte, wie sich Joe auf seinem Lager in seine Decke kuschelte, merkte, wie sich Ralf an mich kuschelte, spürte einen Kuss in meinem Nacken und wurde plötzlich und sehr überraschend müde und schlief ein.

First protected Love

Worin man sich bis auf Latexwandstärke nahe kommt

Der Rest der Nacht verging ohne weitere Zwischenfälle. Joe schlief tief und friedlich bis zum Morgen durch. Selbst Ralf und ich schlummerten, ohne nochmals wach zu werden. Erholt und erfrischt wachten wir auf. Während der Nacht war ich dicht an Ralf herangerobbt und lag jetzt Bauch an Rücken mit ihm. Die Haare in seinem Nacken kitzelten zwar in meinem Gesicht, doch die Wärme und Behaglichkeit seines Körpers kompensierten diese kleine Unannehmlichkeit. Ich räkelte mich vorsichtig.

»Bist du wach?«, flüsterte Ralf.

»Ja.«, flüsterte ich zurück.

»Joe schläft noch.«

»Dann lassen wir ihn am besten schlafen. Es ist halb neun. Wir könnten uns anziehen und frühstücken.«

Fast geräuschlos standen wir auf, schnappten uns ein paar frische Sachen, die wir vorausschauend am Vorabend herausgelegt hatten, schlichen ins Badezimmer, duschten (nacheinander), zogen uns an und gingen schließlich ein Stockwerk tiefer in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten. Es war zwar nicht ganz so opulent, wie bei meiner Mutter, doch Kaffee, Spiegeleier, Marmelade, Schinken und tiefgekühlte Aufbackbrötchen gab es schon. Kurz bevor das Frühstück fertig zubereitet war, ging ich wieder nach oben. Joe war wach und schaute glücklich aus der Wäsche.

»Keine Albträume!«, jubelte er.

Ich lächelte, musste aber kurz an die Ereignisse der letzten Nacht denken: »Vielleicht sind sie vorbei oder kommen nur noch sehr selten. Sehen wir es als ein gutes Zeichen.«

»Auf jeden Fall! Ich habe mich seid Monaten nicht mehr so gut gefühlt wie heute morgen.«

»Und es wird noch besser! Frühstück ist fertig!«

Das ließ sich Joe nicht zweimal sagen. In Überlichtgeschwindigkeit war er aufgestanden und begann seine Sachen vom Vortag anzuziehen.

»Stop! Stop! Stop!«, hielt ich ihn auf. »Die Sachen müffeln doch schon. Du hast selbst erzählt, dass du seit gestern Morgen damit unterwegs warst. Du bist zwar etwas kleiner als ich, aber ...«

Erneut hatte ich meinen Kleiderschrank geöffnet, der sich mit der Versorgung von inzwischen drei Jungs bedrohlich leerte, und suchte ein paar ältere Sachen, die meine Mutter eigentlich in die Altkleidersammlung geben wollte. Nicht das die Sachen total verschlissen waren, sie waren mir einfach zu klein geworden. Joe, der etwas kleiner war, passten sie hingegen perfekt. Bevor er sich komplett anzog, schickte ich ihn unter die Dusche. Ich selbst ging wieder nach unten.

»Er duscht!«

»Ganz allein?«, säuselte Ralf anzüglich.

»Lustmolch!«

Ein paar Minuten später tauchte Joe an unserer Frühstückstafel auf: »Wow! Habt ihr das alles aufgetischt?«

»Sicher, wir sind doch noch im Wachstum!«, zog Ralf Joe auf und langte beim Rührei zu.

Unbeschwert, gerade zu beschwingt, fingen wir an zu frühstücken. Ralf und Joe kabbelten sich um ein Stück Schinken, während ich mich eher an Käse schadlos hielt. Für seine Größe konnte Joe erstaunlich viel Kaffee trinken. Und reden konnte er wie ein Wasserfall. Wenn man ihn besser kennen lernte, tauchte ein aufgewecktes, keckes Kerlchen mit einem hinterhältigen Mutterwitz auf. Hier, bei uns am Frühstückstisch, präsentierte es sich völlig anders als vor ein paar Tagen in der S-Bahn.

»Ist euch eigentlich aufgefallen, dass ihr euch permanent anhimmelt?«, bemerkte Joe zwischen zwei Bissen Schinken.

Ralf und ich sahen uns gegenseitig an und wurden rot.

»Macht euch nichts draus. Es wirkt richtig niedlich«, Joe hatte sein Kinn auf seine Hände gestützt, die er vor sich zusammengesteckt hatte. Grinsend fügte er hinzu: »Umarmt und knutscht ihr euch eigentlich nie?«

»Ähm ...«, stammelte Ralf.

Ich war nicht ganz so sprachlos: »Ich erinnere mich da an einen kleinen, aber um so aggressiveren Typen, der mir vor Tagen in der S-Bahn begegnet ist ...«

»Ok! Ok! Ok!«, fuchtelte Joe mit seinen Händen abwehrend. »Ich sag ja schon gar nichts mehr.«

Ralf ließ ihn nicht so schnell vom Haken: »Dir liegt etwas auf dem Herzen?«

Joe druckste herum: »Ja, schon ...«

»Schieß los. Niemand wird dir den Kopf abreißen.«

»Na ja, wie ich gestern schon meinte. Ich bin mir nicht sicher, auf was ich stehe. Bisher dachte ich immer, ich wäre hetero, aber in letzter Zeit ...«

Joe legte eine Pause ein, bevor er weitersprach: »Ich bin ein wenig verwirrt. Gestern habt ihr euch mal umarmt. Eigentlich war es mehr, ihr habt euch richtig aneinandergeschmiegt und ihr saht dabei sowas von glücklich aus. Das hat bei mir ...«

Das Joe auf seinen Schritt schaute, machte absolut klar, was er mit »bei mir ...« meinte.

»Wie gesagt. Seid einiger Zeit hab' ich diese Fantasien mit den Typen aus meinem Jahrgang. Mit den Jungs, nicht mit den Mädchen.«

»Und?«

»Was wenn ich schwul bin?«, Joe war total besorgt.

»Ja, was dann?«

»Aber, das geht doch nicht. Ich kann doch nicht schwul sein! Denkt doch mal daran, was die Typen miteinander treiben.«

»Ähm!«, räusperte ich mich. »Ich versteh dich nicht. Erst sagst du, dass dich deine Fantasien anmachen. Dass es dich sogar erregt, mich und Ralf zusammen zu sehen. Und dann sagst du plötzlich, dass es dich abtörnt? Eins geht doch nur, oder?«

»Ja, schon aber ... Ach, ich weiß auch nicht ... Ich bin total hin- und hergerissen. Wenn ich allein bin ... Ihr wisst schon, was Jungs dann halt so machen, um sich Erleichterung zu verschaffen. Die Bilder, an die ich dann denke, werde, nein sind, ziemlich schwul.«

»Dich erschrecken deine Wichsfantasien, weil du in ihnen mit Jungs rummachst?«

Das war zwar sehr deutlich, erzielte aber seine Wirkung: »Ja! Erst macht es mich an, doch wenn ich gekommen bin ...«

»Hast du ein schlechtes Gewissen und schämst dich!«, ergänzte Ralf seinen Satz. »Willkommen im Club! Das ging uns allen so. Wundert dich das? Glaubst du, man legt eben mal lebenslange Normen- und Verhaltensmuster ab. Bisher hat man dir die Welt von Männlein und Weiblein als die ultimative Beziehung präsentiert. Männlein mit Männlein ist da schon ein revolutionäres neues Konzept. Vielleicht sollte ich dir mal von Tobis und meinem Eiertanz erzählen. Jeder von uns beiden war in den anderen verschossen. Aber glaubst du, einer von uns beiden hatte den Mut, das auch zu sagen? Tobi konnte oder wollte sich partout nicht vorstellen, dass ich schwul sein könnte. Du siehst, dir geht es nicht anders, als uns auch. Mann muss erstmal verdauen und für sich selbst begreifen, dass man anders ist. Ein Tipp: Bleib dir treu. Mach, was dir gefällt und lass dich zu nichts drängen, was du nicht willst.«

»Danke!«

»Und bei Fragen kommst du einfach zu uns«, fügte ich hinzu.

»Danke! Nochmals! Ihr zwei seid einfach toll.«

»Und was ist mit mir?«, platzte Michi dazwischen, der sich lautlos in die Küche geschlichen hatte. »Meine Mutter meinte, ich soll euch drei wecken gehen. Nicht, dass ihr den ganzen Tag verpennt. Und, was muss ich hier erleben? Ihr frühstückt ohne mich? Ihr seid mir ja Spezialisten.«

»Guten Morgen Michi. Nimm dir Teller, Brötchen, Butter, Kaffee und halt den Mund«, begrüßte ich meinen Nachbar.

Natürlich hatte Michael bereits bei seiner Mutter gefrühstückt. Aber das hielt ihn natürlich nicht davon ab, ein weiteres Mal zu zuschlagen. Was ich mich in diesen Fällen immer fragte, war, wo er die zusätzlichen Kilojoule eigentlich ließ. Michi war bewundernswert schlank.

»Und was für Anweisungen hat dir deine Mutter sonst noch so mitgegeben?«

Michi antwortete nicht sofort, sondern langte erst einmal nach Butter und Haselnussfettpaste, bestrich ein Brötchen in der der klassischen Schichtung butterweiß/braun, biss ein Stück ab, kaute und spülte mit Kaffee nach.

»Nach dem Frühstück soll Joe zu uns rüber kommen. Meine Mutter fährt ihn dann nach Hause. Das haben meine und seine Mutter so miteinander abgesprochen.«

Zwei Augenpaare, Ralf und meins, richteten sich auf Joe. Der kaute nachdenklich an seiner Brötchenhälfte und meinte dann: »Es ist Ok. Ich denke, ich bin über'n Berg.«

»Wenn du noch nicht willst ...«

»Nein, es ist wirklich in Ordnung. Außerdem kann ich meine Mutter nicht die ganze Zeit alleine lassen.« Joe knabberte ein wenig an seinem Brötchen. »Darf ich euch bei Gelegenheit wieder besuchen kommen?«

»Die Frage meinst du jetzt nicht erst, oder? Natürlich darfst du wieder kommen!«, antworte Ralf und drückte es genau so aus, wie ich es ausgedrückt hätte.


Nach dem Frühstück, mit dem wir es nicht sonderlich eilig hatten, verabschiedeten wir Joe. Vor drei Tagen wollte er mir noch an die Gurgel gehen, jetzt überraschte er Ralf und mich mit einer plötzlichen und ebenso unerwarteten Umarmungsattacke: »Danke! Für alles!«

Joe schien Abschiede ebenso zu hassen, wie ich. Er riss sich los und meinte kurzentschlossen: »Ok, Michi, gehen wir!«

Und schon stiefelte er los Richtung Straße. Michi, vom spontanen Aufbruch überrascht, sprang hinterher, packte Joe an dessen Schulter und meinte: »Nee, hier entlang.«

Er führte Joe über den bemoosten Waschbetonplattenweg, der zwischen unserem und Müllers Haus angelegt war. Joe verstand sofort und ließ sich abführen.

»Ach ja ...«, rief mir Michi im Gehen noch zu, »ich bin bis heute Abend weg. Ich treff mich mit ein paar Skatern auf der Bahn. Die Verabredung steht schon seit Wochen, und ich habe versprochen zu kommen. Ihr zwei müsst heute also ohne mich klarkommen, aber da wird euch sicherlich etwas einfallen.«

Wir ließen seine Anspielung unkommentiert, wenn man von zwei scheinheilig, völlig unschuldig dreinschauenden Gesichtern absah.


»Und was machen wir jetzt?«, fragte Ralf und überraschte mich mit dieser Frage. Wir waren in mein Zimmer zurückgekehrt und hatten das Bett von Joe abgezogen und weggeräumt. Im Moment der Frage hockte Ralf auf meinem Bett und ich saß auf meinem Schreibtischstuhl mit der Lehne nach vorne gedreht.

»Wie jetzt?«, drückte ich meine Verblüffung aus. »Das fragst du mich?«

»Ja!«, entgegnete Ralf völlig sachlich.

»Moment! Moment! Moment! Eigentlich müsste die Frage von mir kommen. Du würdest dann auf meine unterschwellige aber nicht ausgesprochene Anspielung auf eine Runde Körperakrobatik total vernünftig entgegnen, dass es wichtigere Dinge geben würde, wie zum Beispiel diesen übersinnlichen Kram, und dass wir für Sex nun überhaupt keine Zeit hätten.«

Ralf prustete los: »Das denkst du von mir? Hältst du mich für so kopflastig?«

Na ja ...»

»Tobi ...«, lächelte mich Ralf mit seinem unerträglich süßen Grinsen an, »komm her ... bitte.«

Da lag er vor mir. Ralf, in seiner ganzen Schönheit. Meine Klamotten sahen an ihm einfach besser aus als an mir selbst. Sein Körperbau zeichnete sich deutlich unter dem Stoff der Kleidung ab. Seine kräftigen Brustmuskeln, die Brustwarzen, der flache, definierte Bauch zeichneten Linien im Baumwollstoff des T-Shirts. Ich hatte ihm eine meiner älteren Jeans geliehen. Sie hatten schon eine Menge erlebt. Der Stoff war vom häufigen Waschen ein wenig blass geworden. Genaugenommen war die Hose stark verwaschen und an manchen Stellen auch schon etwas dünn. Ich hätte ihm die Hose eigentlich niemals gegeben dürfen. Aber als ich verschiedene Teile aus meinem Schrank herausnahm, um ihm eine gute, meine Lieblingscargohose, rauszusuchen, hatte er sich dieses fadenscheinige Exemplar, dass obendrein auch eng im Schritt war, mit einem hinterhältigen Grinsen gegriffen. Jetzt, wie er so vor mir lag, verstand ich sein Grinsen. Er hatte etwas latent sexuelles an sich. Die Enge der Hose betonte auf vulgärste Weise ein nettes Päckchen zwischen seinen Beinen. Dass Ralf einen Knopf der Knopfleiste am Hosenstall offengelassen hat, war sicherlich auch kein Zufall. Der Typ spielte mit mir. Das war schon schlimm genug. Schlimmer war, sein Spiel funktionierte. Mit dieser Hose hatte er etwas mega prolliges an sich und sah gleichzeitig rattenscharf aus. Vielleicht darf man sexuelle Schlüsselreize einfach nicht rationalisieren.

Ralf war rollig und damit in bester Gesellschaft.

»Du weißt, was du da tust?«, versuchte ich einen letzten hoffnungslosen Versuch, das Unvermeidliche zu vermeiden.

»Nein! Du etwa?«, fragte er mit einem final entwaffnenden Lächeln.

Dann stand er auf und stellte sich vor mich hin: »Es ist mir egal, was wichtig ist und was nicht! Verdammt, ich will dich! Ich will dich, seit dem Tag als ich dich in dem blöden Plattenladen gesehen habe. Mich interessiert nicht, ob es Absicht, Vorsehung oder purer Zufall war. Ich habe mich in dich verliebt und das schließt deinen Körper mit ein. Ich will mit dir eins werden. Ich bin absolut ehrlich zu dir. Ich will Sex. Ich will dich küssen, kraulen, kitzeln, umarmen, streicheln, riechen, blasen, lecken, fingern und ficken. Ich will alles mit dir machen, was zwei ineinander verliebte Jungs miteinander machen. Allerdings nur unter einer Bedingung: Nur, wenn du es auch willst!«

Seine Beschreibung ließ keine Wünsche an Deutlichkeit offen. Was soll ich sagen, mit jedem Wort, und in den Worten lag eine gewisse Steigerung in der sexuellen Handlung, wurde ich geiler. Beim Wort »blasen« tat mir der Schwanz weh, weil meine Erektion mehr Platz benötigte, als gerade zur Verfügung stand. Beim Wort lecken, auch wenn ich nicht wusste, was er damit meinte, musste ich massenweise Speichel runterschlucken, um nicht wie ein Idiot zu sabbern. Beim Wort »ficken« hätte ich schließlich fast in meine Unterhose abgeschossen.

Ich antwortete nicht verbal. Ralf stand auf Deutlichkeit? Die konnte er haben. Ich packte die Beule in seiner Hose und drückte gerade so fest zu, dass es nicht schmerzhaft war, aber meine Intentionen deutlich machte. Dann zog ich ihn zu mir heran und polierte seine Mandeln mit meiner Zunge. Das mag vulgär klingen, aber es war auch ein vulgärer Akt, mein Körper hatte auf Autopilot geschaltet. Nachdem ich mit meinen Politurarbeiten fertig war, konnte man Ralfs Rachenraum als Spiegel benutzen.

»War das ein ,Ja` ?«, fragte Ralf und hob skeptisch seine linke Augenbraue.

Ich hätte ihn am liebsten umgebracht, da ich mir damit aber einen tollen Liebhaber versaut hätte, antworte ich stattdessen: »Glaubst du, dass ich auf die Gelegenheit mit dir, dem geilsten und süßesten Kerl der Welt, Sex haben zu können, verzichte? Ich bin doch kein Mönch! Natürlich will! Und zwar jetzt!«

Und dann küssten wir uns. Ganz schamvoll und harmlos und ohne Zungentransfer einfach nur auf die Lippen. Diese Küsse waren unser gegenseitiges Einverständnis für die lustvollen Dinge, die da noch kommen sollten.

Ralf schob seine Hand unter mein T-Shirt und zog mich langsam aber nachdrücklich zu sich heran. Ganz im Gegensatz zu seiner handfesten verbalen Ankündigung war er überaus zärtlich, fast zurückhaltend. Seine Hände waren so warm und sanft, wie sie über meinen Oberkörper und Bauch strichen, dass ich eine Gänsehaut bekam. Ich konnte nicht widerstehen. Ich packte Ralfs T-Shirt und zog es ihm über den Kopf.

Ich weiß, dass ich ein visueller Mensch bin und auf Ralfs halbnackten Anblick hätte gefasst sein müssen, aber es haute mich trotzdem um. Ralf mit entblößtem Oberkörper in meiner alten, engen, zerschlissenen und verwaschenen Jeans war Softporno pur. Jedes schwule Hochglanzkalenderfoto wäre vor Neid schwarz geworden. Ich wurde nicht schwarz, sondern rot, bekam weiche Knie und ließ mich nach hinten auf mein Bett fallen.

»Was?«, grinste Ralf.

»Junge, für dich braucht man einen Waffenschein!«

Ralf schüttelte amüsiert den Kopf, sprang neben mich aufs Bett und zog mir nun seinerseits mein T-Shirt aus. Ich lag auf dem Rücken, Ralf neben mir auf der Seite und setzte seiner Streichelattacke fort. Erstaunlich, welche genialen Gefühle man nur mit zwei Händen hervorrufen kann. Noch erstaunlicher war, wie sensible meine Brustwarzen waren.

»Du willst wirklich?«

Mein süßer Ralf. Erst nahm er den Mund sehr voll und erzählte von so netten Dingen, wie Blasen und Ficken, und kaum lagen wir nebeneinander, sogar noch teilbekleidet, bekam er Angst vor der eigenen Courage.

»Du nicht?«, stellte ich meine Gegenfrage und legte eine Wange auf seine Brust. Sein Herz schlug stark und schnell in seinem Brustkorb.

»Ich ... Ich will nicht, dass du schlecht von mir denkst. Ich bin kein ...«, ich brachte ihn mit einem Kuss zum schweigen.

»Ich weiß was du meinst. Keine Angst, ich halte dich weder für ein Sexmonster noch für eine Schlampe. Ich möchte mit dir Sex haben. Nicht morgen, nicht übermorgen, sondern jetzt.«

Damit war eigentlich alles gesagt. Ralf strahlte mich an. Ich strahlte zurück und begann mich, an seinem prallen Päckchen zu schaffen zu machte.


Vier Kondome später lagen Ralf und ich erschöpft, genaugenommen total verausgabt und nach Luft japsend, nebeneinander. Den debil verklärten Gesichtsausdrücken zu urteilen, mussten wir in den letzten zwei Stunden wirklich intensiv miteinander interagiert gehabt haben. Wir hatten schon eine erstaunliche Kondition. Aber auch der Metabolismus eines 17 jährigen männlichen Wesen der Gattung homo sapiens sapiens bedarf Phasen der Ruhe und Erholung. Mit anderen Worten: Nach der letzten Runde waren wir glücklich und ineinandergeschlungen eingeschlafen.

Nach rund eineinhalb Stunden hatten sich unsere Körper das an Erholung geholt, was sie brauchten. Wir wachten einigermaßen frisch auf und schauten uns blöde grinsend in die Augen.

»Möchtest du etwas sagen?«, fragte mich Ralf, als er mir in die Augen schaute.

»Du meinst zu dem, was wir vorhin gemacht haben?«

»Zum Beispiel ...«

»Eigentlich nicht. Es gibt keine Worte, die das auch nur ansatzweise beschreiben könnten«, noch während ich sprach, suchte ich in der Tat nach einer Formulierung, einer Metapher oder einem Bild, dass ungefähr das Erlebnis »Sex mit Ralf« in Worte fassen konnte. Es gab keine. Sicherlich bestand die Möglichkeit, es auf den technischen Aspekt des puren Geschlechtsaktes herunter zu brechen. Aber eine derartige Beschreibung würde dem eigentlichen Erlebnis nicht gerecht werden und es nur auf reine Körperlichkeit reduzieren. Zu beschreiben, wie ich in Ralf oder Ralf in mich eingedrungen, oder besser, hineingeglitten war, würde das Erlebnis sogar entwerten.

Erstaunt musste ich feststellen, dass entgegen meiner langjährigen Wichserfahrung, Sex nicht zwangsläufig etwas mit der Länge meines Schwanzes zu tun hatte. Aber manchmal lernt man gerne etwas dazu.

»Wie ist's?«, blinzelte mich Ralf neckisch an. »Hast du Lust auf eine weitere Runde?«

Ich schaute betrübt zurück: »Im Prinzip ja ...«

»Aber?«, fragte er enttäuscht nach.

»Wir haben keine Kondome mehr«, kam die niederschmetternde Antwort. »Michi hatte uns nur vier Stück geschenkt. Scheiße, dass die in der Beratungsstelle nur das Gleitgel hatten und die Kondome ausverkauft waren.«

Ralf war mindestens so enttäuscht wie ich. Allerdings war er weit vernünftiger als ich. Während meine Schwanz beim Gedanken an eine weitere Runde Stöpseln erneut wuchs und meine Geilheit wieder auf Touren kam, sank im gleichen Moment meine Vernunft auf null. Ich war kurz davor Kondom Kondom sein zu lassen und es ohne tun zu wollen. Doch Ralf, der ähnlich erregt war wie ich, wenn ich den Druck seines harten Schwanzes gegen meinen Bauch richtig interpretierte, verhinderte unüberlegte Handlungen.

»Keine Kondome? Shit! Wir haben deiner Mutter versprochen, die Tests abzuwarten. Dann eben keine weitere Runde. Lass uns so ein wenig Kuscheln.«

Und so kuschelten wir, was sich aber auch zu einer überaus klebrigen Angelegenheit entwickelte. Nach eine Weile Intensivstkuscheln wurden wir von massiven Erschöpfungszuständen übermannt und pennten komplett ausgepowert nebeneinander ein.

Ein Brief aus der Ferne

Worin man eine sehr merkwürdige elektronische Post erhält

Etwas weckte mich. Es war ein Geräusch, das ich im ersten Moment nicht einordnen konnte. Mein verschlafener Blick fiel erst auf Ralf, der sich neben mir im Bett räkelte und dann auf meinen Radiowecker. Es war halb sechs Uhr abends.

Das Geräusch ertönte erneut. Immer noch versuchte mein verschlafenes Gehirn das Klangmuster einer Geräuschquelle zuzuordnen. Ich wusste, ich war der Lösung nahe.

»Willst du nicht an die Tür gehen?«, hörte ich ein anderes Geräusch, nämlich Ralfs dumpfe Stimme, wie sie durch ein Kopfkissen gesprochen klang.

Die Türklingel! Natürlich! Ich sprang aus dem Bett, stellte erstaunt fest, dass ich splitterfasernackt und mit getrockneten Proteinresten überkrustet war. Ich schnappte mir meinen Bademantel, wickelte mich so gut es ging in ihn ein und zog die Kordel fest zu. So meiner Blöße halbwegs bedeckt, hoppelte ich die Treppe zur Haustür hinunter und spähte durch den Türspion. Es war Michi.

»VanBrüggen mach auf! Ich weiß, dass du da bist!«, hörte ich meinen Nachbar hinter der Tür rufen.

Ich öffnete die Tür. Michi trat herein, stutzte, zögerte, betrachtete mich von oben bis unten, zog seine Augenbrauen mit einem Anflug von Respekt hoch und brach dann in schallendes Gelächter aus.

»Sag' nicht, ihr habt den ganzen Tag mit Ficken verbracht?«, Michi blieb Michi, wie man an seiner prägnanten Wortwahl bemerken konnte.

»Nein, nicht den ganzen Tag. Du warst ja leider so knauserig, uns nur vier Gummis zu geben!«

Diesen letzten Satz sagte nicht ich, sondern Ralf. Nackt und ebenfalls alles andere als frei von den Spuren unserer bisherigen Tagesbeschäftigung, stand er auf halber Treppe.

»Ich geh erstmal duschen!«, fügte er hinzu. Michi klappte der Unterkiefer herunter. Er musste sich erst einmal setzen, was rein baulich bedingt dazu führte, dass er Ralf den Rücken zuwenden musste. So konnte er nicht sehen, wie Ralf voller Schadenfreude von Ohr zu Ohr grinste.

»Mach das und komm dann runter. Du kannst dann mit Michi Abendbrot machen, während ich dann dusche. Mein Gott, wie ich klebe!«

Ralf hätte fast laut losgeprustet, hielt sich aber mit beiden Händen seinen Mund zu, als ich seine Steilvorlage aufnahm und noch einen draufsetzte. Michi hingegen war fertig mit den Nerven. Bisher kannte er mich als den schüchternen Außenseiter mit Kontaktschwierigkeiten und drastisch kleinem Freundeskreis. Dieser Bruch in meinem Auftreten und Gesamterscheinungsbild brachte meinen alten Freund ein wenig ins Straucheln.

»Ihr habt heute wirklich ...«, ließ Michi seine Frage dann auch unvollendet.

»Was denkst du? Das wir die Gelegenheit ungenutzt lassen und brav händchenhaltend uns Rilkegedichte vorlesen?«

»Ihr zwei habt ... Ich meine, so richtig ...«, Michi kam einfach nicht mehr mit.

»Ja, wir haben! So richtig! Mit allem Drum und Dran!«, ich konnte nicht anders, als ihn mit einem mitleidigen Lächeln bedenken. »Du überrascht mich aber. Hast du plötzlich dem Geschlechtsverkehr abgeschworen? Wer von uns beiden ist denn der Profi für Körperakrobatik? Du oder ich ...«

»Ach, was ...«, stammelte Michi verlegen. »So schlimm, wie du mich immer machst, bin ich nun wirklich nicht.«

»Meinst du? Lass mich mal überlegen. Das war die Sache mit Nina auf dem Schulklo. Der Hausmeister hat dich übrigens immer noch im Verdacht. Ich weiß ja nicht, ob du mir damals einen Bären aufgebunden hast, aber wie war das mit Yessica im Kino? Wo soll sie noch gleich ihren Mund gehabt haben? Und wenn wir schon dabei sind. Mir fällt da noch die Sache vor unserer Europarundreise ein, als du es mit Corinna in eurem Garten getrieben und mir auch noch dabei zugewunken hast.«

»Ähm, nun ja ... Tobi, lassen wir das. Das sind doch ganz alte Geschichten ... Ähm ... Außerdem, reden wir hier von dir ...«, Michi stammelte weiterhin. »Es ist bei dir ... nun ... überraschend! Genau! Es ist überraschend. Ich konnte mir bei dir nie vorstellen, dass du irgendwann mal ... Du weißt schon ...«

»Bekommst du nicht mal mehr das Wort ,Sex` über die Lippen? Aber, ehrlich, das war ein wirklich tolles Kompliment von dir! Für was hast du mich denn gehalten: für ein sexuelles Neutrum? Einem Typen, der seinen Schwanz nur zum Pissen benutzt. Oh, entschuldige, er würde natürlich nicht ,pissen` sagen. Ich formuliere es anders. Hältst du mich für einen Typen, der sein Geschlechtsorgan nur zum urinieren verwendet und sich selbstverständlich dabei auch hinsetzt?«, auch wenn es so geklungen haben mag, ich war nicht verärgert, eher verblüfft und entsetzt über das Bild, dass Michi von mir hatte.

»Ja ... Nein ... Ach, Mensch Tobi, mach es mir doch nicht so schwer! Junge, ich weiß es doch auch nicht! Du hättest dich mal selbst sehen sollen, wir du vor mir im Bademantel gestanden hast. Wow! Tobi! Du hast dich wirklich verändert. Zum absolut Positiven. Schau dich mal an! Du bist in letzter Zeit deutlich kräftiger, muskulöser, ja männlicher geworden. Nicht mehr dieser Spargeltarzan von früher. Und dann dein Freund ...«, Michis Gesichtsadern nahmen kurzzeitig etwas mehr Blut auf. »Er sieht schon umwerfend aus. Und das sag' ich! Mr. Hetero und Frauenliebhaber!«

Jetzt musste ich einfach grinsen. Wenn selbst Michi von Ralfs Aussehen verunsichert wurde.

»Übrigens, scheinst du dich in eine ähnlich Richtung wie er zu entwickeln. Den Trick musst du mir mal bei Gelegenheit verraten. Seid Ralf auf unserer Schule ist, haben wir Normalausseher echt schlechte Karten bei der holden Weiblichkeit. Sprich mit einem der Mädels und du hörst nur ,Ralf hier und Ralf dort`. Ich hoffe, ihr nehmt nicht irgendwelche Anabolika? Lasst die Finger von dem Scheiß. Mein Onkel hat sich damit die Gesundheit gründlichst ruiniert.«

»Niemand spritzt Steroide!«, stellte Ralf klar, der in diesem Moment die Küche betrat. »Das Badezimmer ist frei, Knackarsch!«

Sprach's, kniff mir in den Selbigen und gab mir einen intensiven Kuss. Da mir diese Art der Liebesbekundung vor Michi etwas peinlich war, knuffte ich Ralf und hechtete schnell ins Badezimmer, um mich von den Resten unseres Beischlafs zu befreien. Frisch geduscht, gefönt, rasiert und bekleidet, kehrte ich rund eine halbe Stunde später in die Küche zurück.

Ralf und Michi unterhielten sich derweil angeregt und waren bestens gelaunt. Ralf stand am Herd und kochte etwas, das ziemlich gut und sehr aromatisch roch. Der Hauch einer mediterranen Landschaft lag in der Luft. Es duftete nach Oliven und Kräutern. Einen Moment traute ich meinen Augen nicht. Nicht nur, dass Ralf kochte und nicht etwa eine Tiefkühlpizza auftaute, nein Michi -- der Michi, welcher mein Nachbar war -- saß am Küchentisch und schälte Kartoffeln! War ich im falschen Film?

»Hallo Schatz! Du könntest dich gleich mal nützlich machen und den Salat waschen.«

Für den »Schatz« hätte ich Ralf umarmen können. Die Aufforderung Salat zu waschen hielt mich auf Distanz. Aber ich wäre nicht ich, wenn ich nicht doch, widerwillig, gehorchen würde.

»Und wenn du damit fertig bist, könntest du eine Gurke hobeln und die Paprika kleinschneiden.«

Ralfs Anweisungen waren eben so klar, wie eindeutig. Ich wusch den Salat, holte Gemüsehobel, Messer, Schüsseln, Gurke und Paprika, und begann mit meiner Arbeit. Ich setzte mich zu Michi an den Tisch und flüsterte ihm zu: »Wie hat er dich dazu gebracht Kartoffeln zu schälen?«

Michi zuckte mit den Schultern: »Keine Ahnung?«

»Das habe ich gehört!«, kam es vom Herd. »Ich habe niemanden gezwungen. Als du vorhin duschen gegangen bist, hat Michi gefragt, was wir uns zum Abendbrot machen sollten. Da dachte ich mir nur, dass wir nicht täglich diesen Fertigfraß in uns reinstopfen sollten. Michi fand die Idee auch nicht verkehrt, meinte aber, dass er noch nie etwas gekocht hätte. Was soll ich sagen? Bei meinem Großvater in Griechenland wird immer gekocht und in den letzten zwei Jahren kochte ich immer öfter. Mein Opa ist ein guter Lehrer.«

»Und was gibt es?«

»Schweinefilet in einer schwarzen Olivensauce mit geschmorten Zucchinigemüse und Salbeikartoffeln.«

Erstaunt riss ich meine Augen weit auf: »Hatten wir denn die Zutaten dafür?«

»Sicher, wir haben doch gestern eingekauft. Ich dachte mir schon, dass ich mal kochen würde. So habe ich gleich die passenden Sachen mitgenommen.«

»Aha!«, eins stand fest. Über Ralf gab es noch eine Menge zu lernen.


Das Essen war fantastisch. Es gab sogar sahneweichen Schafskäse zum Salat. Ein Duft von Salbei und Oliven hing in der Küche. Ralf konnte wirklich kochen. Hut ab!

»Subber!«, brachte Michi es mit vollem Mund auf den Punkt.

»Danke.«

Ralf lächelte stolz und glücklich: »Das ist ein Rezept von meiner Großmutter. Sie lebt schon lange nicht mehr. Eigentlich gehört da noch ein netter Wein dazu.«

»Bier!«, grunzte Michi. Mit Wein hatte er es nicht unbedingt.

»Oder auch Bier«, meinte Ralf versöhnlich.

Ralf schien sowieso ausgezeichnet gelaunt zu sein. Er strahlte fröhlich vor sich hin und wirkte zufrieden mit sich und der Welt. Von seinem Menü hatte er eine ordentliche Portion gegessen, den Nachschlag überließ er Michi und mir.

»Wir müssen unbedingt zusammen mal zu meinem Großvater reisen. Es würde euch wirklich gefallen.«

»Apropos gefallen ...«, Ralf griff zu seinem Colaglas uns spülte den letzten Bissen Salbeikartoffeln hinunter: »Im Selbstmordfall Schilling ist eine Information durchgesickert.«

»Scheiße!«, entschlüpfte meinem Mund.

Ralf, der sich bisher entspannt auf seinem Stuhl zurückgelehnt hatte, richtete sich gerade auf.

»Scheiße? Ihr habt eine nette Art der Untertreibung!«, fuhr Michi fort. »Ihr wisst vielleicht nicht, wer Schilling war. Ich wusste es bis vorhin auch nicht, aber wofür gibt es meine Mutter. Schilling hat eine Promikanzlei in der Innenstadt, ist Mitglied des Gemeinderats, im Vorstand des Sportvereins von den Deppen aus unserem geliebten Nachbardorf und im Aufsichtsrat der Kreissparkasse. Die Journalisten der hiesigen Lokalzeitungen und ein, zwei Typen von überregionalen Blätter kreisen wie die Schmeißfliegen um Schillings Haus. Heute Nachmittag kam dann das Gerücht auf, dass Schilling selig einen Abschiedsbrief hinterlassen haben soll. Und jetzt haltet euch fest. Hinter vorgehaltener Hand wird von sexuellen Übergriffen gesprochen.«

»Verdammt, warum hast du uns das nicht früher gesagt? Was ist mit Joe? Weiß er davon?«

»Entspannt euch. Joes ältere Schwester, sie ist 28 und verheiratet, hält Stallwache. Der Rest der Familie ist zur Schwester von Joes Mutter geflüchtet. Diese Information habe ich von direkt Joe. Die Journalie weiß nichts davon und so soll es vorerst auch bleiben. Ich glaube, die Pressefuzzis wissen gar nichts und vermuten nur. Abschiedsbrief? Wir wissen doch, dass es ein Video war.«

»Wieso ruft Joe dich und nicht uns an?«

Auf Michis Gesicht breitete sich ein hinterhältiges Grinsen aus: »Joe meinte, er wolle euch nicht stören. Ihr hättet heute bestimmt etwas nachzuholen. Das waren seine Worte. Nicht meine!«

»Ich hoffe, der Kleine steht das durch. Wenn rauskommt, dass sein Vater ihn regelmäßig missbraucht hat ... Nein, daran will ich gar nicht denken.«, meinte Ralf verbittert.

»Momentan spielt die allgemeine Heterosexualität für Joe. Er ist überhaupt nicht in der Schusslinie. Allgemein wird vermutet, dass seine kleine Schwester das Opfer ist«, ergänzte Michi.

»Als wenn das besser wäre! Statt Joe wird jetzt seine Schwester von allen angegafft. Da muss man doch irgend etwas machen können, oder nicht?«

»Im Moment versucht die Polizei das Informationsleck zu finden. Das Beste wäre, wenn sich das Gerücht vom Abschiedsbrief mangels Beleg totläuft, was ja auch wahrscheinlich ist, da ein Brief schließlich überhaupt nicht existiert.«

»Deinen Optimismus möchte ich haben, Michi! Leider hast du Recht. Na ja, hoffen wir das Beste.«

Die Stimmung war für's Erste auf null abgesunken. Schweigend räumten wir die Teller ab, stellten das schmutzige Geschirr in den Geschirrspüler und gingen rauf in mein Zimmer. Ich hockte mich auf den Boden und lehnte mich mit den Rücken an mein Bett, Michi lag auf dem Bett und Ralf hatte meinen Bürostuhl okkupiert.

»Mein Gott, gleich zwei Freunde in meinen vier Wänden. Ich glaube, ich muss mir Gedanken über neue Sitzgelegenheiten machen.«

»Witzbold!«

»Sagt mal ...«, begann Michi ein neues Thema anzuschneiden. »Gibt es eigentlich neue Erkenntnisse zu deinen angeblichen Vitaminkapseln?«

»Oops!«, kam es von Ralf. »Eine ausgezeichnete Frage!«

Ich musste mit den Schultern zucken: »Keine Neuigkeiten von meiner Seite. Von meinem Vater habe weder ich noch meine Mum einen Anruf, eine E-Mail oder sonst eine Nachricht erhalten.«

»Hast du deine E-Mails überhaupt abgerufen?«, fragte Michi und traf damit den Nagel auf den Kopf. Ich hatte seit zwei Tagen meinen Computer nicht mal angesehen. Höchste Zeit die Spams zu löschen. Ralf und ich tauschten die Plätze, ich schaltete meine Kiste ein und wurde mit 38 E-Mails begrüßt. Von diesen 38 E-Mails waren 12 Empfehlungen für erektionssteigernde Mittel, weitere 7 Mails versprachen mir einen längeren Penis, 6 wollten meine Brüste vergrößern, dann waren da noch 8 Viren respektive Würmer bzw. Trojaner, 3 hundertprozentige Methoden schnell und risikolos reich zu werden, eine Mail von Michi und eine Mail ... Ich war so verblüfft, dass ich mich auf meinem Stuhl aufrichten musste.

»Hier ist wirklich eine Mail von meinem Vater!«

»Und?«, fragte Michi hörbar gespannt.

»Sie wurde heute um 6:33 Uhr EST abgeschickt. Die Mail ist über das Intranet der Firma gelaufen und erst hier ins Internet gewandert. Betreffzeile ist ,Omas Geburtstag`. Moment mal, Omas Geburtstag? Das ist merkwürdig, sehr merkwürdig. Oma ist seit 11 Jahren tot. Aber er schreibt hier, dass ich unbedingt an ihren Geburtstag denken soll. Der ist erst im März, wir haben September! Ich glaub mein Alter hat den Verstand verloren.«

»Lies weiter!«, forderte Ralf mich mit ernster Stimme auf.

»Ok«, ich las die nächsten Absätze. »Also, dass wird immer verrückter! Michi, du weißt doch, was für einen Stress ich in letzter Zeit mit meinem Alten hatte, oder? Hört euch das an: ,Lieber Tobi, es tut mir leid, aber ich werde wohl noch eine Weile in New York bleiben müssen. Gib Mama einen Kuss von mir!` Mein Gott, der Typ hat noch nie so geschwollenes Zeug abgesondert. Ich hätte eher erwartet, dass er mich selbst in der E-Mail anmacht, dass ich den Rasen nicht gemäht habe. Aber die Sache wird noch absurder: ,Ich wollte dir eigentlich in der nächsten Woche einen neuen Computer kaufen, du hast ja auch bald Geburtstag, aber da sich mein Aufenthalt hier noch ein wenig hinziehen wird, schenke ich dir vorerst meinen PC. Der hat zwar keine so gute Graphikkarte, aber die können wir ja später tauschen. Vielleicht könnte dir Michael helfen, und die Zusatzhardware ausbauen, die ich für meine Programme benötige. Du wirst sie sicherlich nicht benötigen. Lass sie einfach auf meinem Schreibtisch liegen. Die Bedienungsanleitungen findest du im Unterlagenfach an der Wand.` Das ist alles völliger Quatsch! Mein Geburtstag war vor zwei Monaten. Ich glaube es hackt.«

Die ganze E-Mail machte nicht den geringsten Sinn. Es fing damit an, dass mein Vater niemals einen derart freundlichen, fast schon herzlichen, Ton anschlug. Dass er das Datum meines Geburtstags vertrottelte, konnte ich mir noch gerade eben vorstellen, aber den Geburtstag seiner eigenen Mutter nicht mehr zu wissen, war schlicht unmöglich. Allen im Raum wurde mit jedem weiteren Satz, den ich vorlas, klarer, dass mein Vater etwas ganz anderes meinte, als er schrieb.

»Bin ich der einzige, der hier unter Paranoia leidet, oder denkt ihr auch, dass das eine verschlüsselte Nachricht an dich ist?«

Michi brachte die Sache wie immer auf den Punkt. Dass niemand auf seine Frage antwortete und wir nur stille Blicke untereinander austauschten, sprach Bände. Mit belegter Stimme fuhr ich fort.

»Es gibt noch zwei Absätze. ,Tobi, ich habe noch eine wichtige Bitte an dich. Du würdest mir damit einen wirklichen Gefallen tun. Könntest du am 2. Oktober einen großen Blumenstrauß kaufen und deiner Mutter geben und ihr sagen, dass er von mir ist? Am Zweiten haben wir nämlich unseren Hochzeitstag und ich glaube nicht, dass ich bis dahin zurück bin.` Und dann noch der letzte Absatz: ,Lieber Tobi, es tut mir leid, wenn wir in letzter Zeit nicht mehr das beste Verhältnis zueinander hatten. Es tut mir wirklich sehr leid und ich hoffe, dass ich das in Zukunft ändern kann und wir uns mal richtig aussprechen. Grüß bitte deine Mutter von mir und pass gut auf dich auf.` Und dann steht nur noch sein Name dort. Was meint ihr?«

»Haben deine Eltern am 2. Oktober ihren Hochzeitstag?«

»Nein, die haben im Mai geheiratet.«

Ralf kratzte sich am Kinn: »Du sagst, die ganzen Daten stimmen hinten und vorne nicht. Geburtstage, Hochzeitstage, Daten ... Zahlen? Fangen wir mit dem ersten Datum an. Was verbindest du mit dem Geburtsdatum deiner Großmutter?«

Ich dachte laut nach: »Nichts! Mein Gott, die alte Dame ist seid elf Jahren tot, da war ich sechs Jahre alt. Ich kann mich kaum noch an sie erinnern. Sie war sehr krank und lag lange im Krankenhaus. Ein schwaches Herz. Ich kann mich nur an ihr Geburtsdatum erinnern, weil mein Vater an ihrem Geburtstag immer mit uns essen gegangen ist. Außerdem sind die Ziffern des Datums ... Scheiße! Das Unterlagenfach an der Wand! Das ist es! Natürlich! Das muss es sein!«

»Hast du einer Ahnung, wovon der er gerade redet?«, fragte Ralf Michi.

»Ich habe nicht die geringste Idee!«, antwortete Michi.

»Könntest du uns bitte einweihen?«, fragte Ralf mich.

»Natürlich nur, wenn es dir keine Mühe macht!«, fügte Michi spitz hinzu.

»Es ist ... Ach, kommt einfach mit!«, war meine Antwort, während ich schon auf dem Weg ins Erdgeschoss war.

Am Fuß der Treppe angekommen, steuerte ich in Richtung Esszimmer, das sich zwischen Flur und dem Arbeitszimmer meines Vaters befand. Ich wartete nicht das Eintreffen meiner Freunde ab, sondern steuerte direkt ein bestimmtes Bild an der Wand an. Hinter diesem Bild befand sich ein kleiner Tresor, in dem mein Vater wichtige Unterlagen lagerte. Er hatte mir den Tresor schon vor ewigen Zeiten gezeigt, den Öffnungskode hingegen nicht. Er hatte mich sogar gewarnt, nicht zu versuchen den Tresor zu öffnen, da mehrfache Fehlversuche einen stillen Alarm beim Wachschutz auslösen würden. Was mein Vater nicht wusste, war, dass ich die Kombination kannte. Immerhin hielt mein Vater mich nicht für dumm. Der Fingerzeig mit dem »Unterlagenfach an der Wand« und »Omas Geburtstag« war eindeutig.

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Die grüne LED des Verschlussmechanismus leuchtete auf. Ein leises Klacken hinter der schweren Metalltür deutete daraufhin, dass die Tür entriegelt wurde. Ich drehte den Verschlussknopf und der Tresor war offen. Im Inneren gab es zwei Fächer. Das obere Fach beherbergte ein paar Dokumente, die mich, nach kurzen überfliegen, nicht weiter interessierten. Das untere Fach enthielt, zwei CD-Rs. Eine war rot die andere blau.

Beide CD-Rs waren mitGEN/CHEM-I-XPbeschriftet -- Volltreffer!

Der McGuyver-Faktor

Worin man sich in der Dekodierung einer lieben Mail von Papa beschäftigt

»Was hast du gefunden?«

Michi und Ralf hatten mich im Arbeitszimmer meines Vaters entdeckt.

»Zwei CD-Rs! Schaut euch mal deren Beschriftung an.«

Ich hielt meinen Freunden die CDs entgegen.

»Aber ...«, stammelte Michi.

»Genau!«, griff ich Michis Sprachlosigkeit auf. »Es ist genau der Name, nach dem ich meinen Vater gefragt habe, bevor er Hals über Kopf das Haus verlassen hat. Es ist genau der Begriff, der zur Beschriftung meiner ominösen, leuchtenden Vitaminkapseln passt. Und es ist genau der Begriff, den meine Mutter bei einem Telefongespräch mit meinem Vater mit angehört hat.«

»Wow! Was meinst du, was drauf ist?«

»Michi, ist das nicht absolut klar?«, schaltete Ralf sich ein. »Ihr zwei habt doch schon vorher vermutet, dass Tobis Vater Versuche mit Tobi angestellt hat. Diese CDs dürften die Versuchsprotokolle enthalten. Dann wissen wir endlich, worum es sich bei den Kapseln handelt.«

»Ja, worauf wartet ihr denn? Legt sie ein! Dein Vater hat dich doch quasi aufgefordert, dir die CDs anzusehen.«

Ich umrundete den Schreibtisch meines Vaters und ließ mich in den bequemen Lederbürostuhl fallen und schaltete nebenbei seinen PC ein. Der Rechner piepste einmal, der Monitor ging an und die Kiste bootete. Ich öffnete die Polystyrolhülle, auch Jewel-Case genannt, der roten CD-R, öffnete die Lade des CD-ROM-Laufwerks und legte die CD-R ein. Die Lade schloss sich und der Mauszeiger wechselte auf das Uhrensymbol. Plötzlich wurde der Bildschirm dunkel.

»Was?«

Ich starrte verwirrt auf den Bildschirm. Plötzlich sah ich, dass Michi seinen Finger auf dem Resetknopf hatte.

»Warum hast du das getan?«

Michi sah mich ernst an, als er zögerlich antwortete: »Ich weiß nicht, aber ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache.«

Wenn ich etwas gelernt habe in der Zeit, die ich Michi kannte, dann ihm zu glauben, wenn er ein ungutes Gefühl hatte. Insbesondere, wenn es um Computer ging. Nachfragen musste ich allerdings schon.

»Warum hast du ein ungutes Gefühl?«

»Die Mail von deinem Vater!«, meinte Michi verbfrei. »Zwei Dinge gehen mir nicht aus dem Kopf. Warum schenkt er dir seinen Rechner? Dein Rechner ist viel moderner als diese Kiste. Und warum erwähnt er die Graphikkarte? Ich habe eben die Bootmessage dieses Rechners gesehen. Hier steckt eine Spezialgraphikkarte für CAD-Anwendungen drin, die locker das Dreifache deiner Graphikkarte gekostet haben dürfte. Mit dem Teil kann man im Verhältnis zum Preis zwar schlecht Spiele spielen, aber langsam ist die Karte auf keinem Fall. Warum erwähnt er sie extra. Und was hat das Geschwafel mit der Zusatzhardware auf sich? Das ist doch für den Betrieb bei dir völlig unwichtig.«

»Und das soll bedeuten?«, fragte Ralf.

»Ich weiß es nicht.«, entgegnete Michi. »Aber es gefällt mir nicht. Wenn Tobi nichts dagegen hat, würde ich mir dir Kiste erst einmal ansehen, bevor wir die CDs einlegen.«

»Ok!«, meinte ich. »Schleppen wir die Kiste nach oben.«

Wir stöpselten die Kiste von seinen Kabeln ab. Ralf schnappte sich Tastatur und Maus und brachte sie nach oben. Michi untersuchte die restlichen Anschlüsse und fand tatsächlich ein paar Merkwürdigkeiten. Auf einem der USB-Ports steckte ein Lizenzstecker. Nach dem Moto »doppelt hält besser« hing der PC meines Vaters sowohl am Netz unseres DSL-Routers als auch noch an einem eigenen ISDN-Anschluss. Wir klemmten beide Leitungen ab. Mein DSL-Anschluss sollte reichen.

»Vielleicht nutzt er das ISDN-Zeugs für Fax«, kommentiert Michi die Doppelversorgung, »Lass uns die Kiste hochtragen. Dann schauen wir mal rein.«

Gesagt getan. Rund fünf Minuten später standen Michi, Ralf und ich über den offenen PC gebeugt. Michi hatte den Minitower auf die Seite gelegt und meine Schreibtischlampe so positioniert, dass wir die Innereien gut sehen konnten.

Auf den ersten Blick nannte mein Vater einen absoluten Standard-PC sein Eigen: eine knapp ein halbes Jahr alte Durchschnitts-CPU, ein ähnlich altes Markenmainboard mit USB, einer seriellen und parallelen Schnittstelle, Sound on board (ausreichend für eine Schreibmaschine), mittelmäßig großer und schneller IDE-Festplatte, Netzwerk on board, eine langweilige ISDN-Karte. Bis hierhin riss uns die Kiste nicht vom Hocker. Dann kamen wir zum Hauptspeicher. Die Kiste hatte Speicher satt, sprich mehrere Gigabyte. Der nächste Hammer war die Graphikkarte. Wo eine normale High-End-Spielekarte einen Graphikprozessor besaß, hatte diese Karte vier Stück. Und jeder dieser Prozessoren hatte seinen eigenen Hauptspeicher. Die Karte war riesig und besaß vier Lüfter.

»So so, die Graphikkarte ist also nicht so doll?«, kommentierte Michi meinen Vater.

Michi schaute weiter in den Schlund des Rechners. Plötzlich zog er seine Augenbrauen hoch und ließ einen Pfiff seinen Lippen entweichen.

»Was?«, fragte ich nervös.

Michi antwortete nicht sofort, sondern griff zum Schraubenzieher und baute eine Karte aus. Vorsichtig zog er das Teil aus dem Inneren des Rechners und lagerte sie, einer kostbaren Ikone gleich, auf seiner Handfläche.

»Das hier, meine Herren, ist wirklich etwas besonderes. Diese Karte ist quasi ein Geist, weil sie offiziell überhaupt nicht existiert. Es handelt sich um eine militärische Hochleistungsverschlüsselungskarte des DoD. Ich möchte mal wissen, wie die in den PC deines Vaters gekommen ist, denn das DoD führt über jedes Exemplar Buch, ähnlich wie bei den militärischen GPS-Empfängern. Jede Karte verfügt über mehrere eigene mehrfach geschützte fälschungssichere Schlüssel, die nicht verändert werden können, ohne die Karte zu zerstören.«

»Woher weißt du das alles.«

»Kryptographie ist ein Hobby von mir. Von dieser Karte wird auf diversen Webseiten wie vom Heiligen Gral gesprochen. Bisher ist nur ein unscharfes Bild an die Öffentlichkeit gelangt, aber nach allem, was über diese Karte geschrieben wurde, muss dieses Ding eine von den Teilen sein.«

Ich ließ Michis Worte ausreichend Zeit, um in meinen Verstand einzusickern. Nach dem, was den anderen wie eine Ewigkeit vorgekommen sein muss, stellte ich meine nächste, wenn auch eher rhetorische, Frage: »Und was hat diese Karte in einem PC meines Vaters zu suchen? Der Mann ist Chemiker, kein Konteradmiral!«

Ralf stand da und schaute ebenso fragend in der Landschaft wie ich. Michi zuckte mit den Schultern und meinte: »Ich bin nur der PC-Schrauberknecht. Wenn ich eine Vermutung äußern soll: Massenweise Hauptspeicher, eine Monster-CAD-Graphikkarte und eine Verschlüsselungshardware in military grade? Dein Vater entwickelt etwas extrem Geheimes für das Militär. CAD-Programme gibt es auch für die Chemie.«

»Mein Vater mag in letzter Zeit zum Arschloch geworden sein, aber eins wird er immer bleiben: Pazifist.«

»Dann arbeitet er für eine andere Regierungsbehörde, vielleicht für einen Geheimdienst, was weiß denn ich? Wir werden es wahrscheinlich erst erfahren, wenn wir die Kiste wieder zusammenbauen. Ich vermute, dass wir die Antwort auf deinen CDs finden werden. Warum sollten die sonst in einem Tresor liegen?«

Michis Argumente klangen sehr überzeugend, also bauten wir die Kiste wieder zusammen, schlossen Tastatur, Maus, Monitor, DSL, Drucker und Strom an und betätigten den Power-Button. Der Rechner bootete und nach einiger Zeit tauchte die übliche Oberfläche des Betriebssystems auf.

»Soll ich?«, ich hielt CD-R der roten Hülle in meiner Hand.

»Warte noch ...«, meinte Michi schnell, rannte ins Gästezimmer, wo meine Familie die Althardware lagerte und holte meinen alten Monitor, da wir den Monitor meines PCs zum Betrieb des PCs meines Vaters benötigten. Michi bootete meinen Rechner und startete zwei Programme.

»Ich bin wirklich etwas paranoid, aber ich trau der Kiste deines Vaters überhaupt nicht. Nicht, nachdem ich gesehen habe, was in der Kiste steckt. Ich habe auf deinem PC einen Paketsniffer gestartet. Sollte der PC deines Vaters sich mit irgendjemandem außerhalb dieser vier Wände unterhalten wollen, werden wir das sofort sehen. Sollte er das tatsächlich versuchen, wird er scheitern, denn ich habe euren DSL-Router in einen Trace- und Debugging-Modus geschaltet. Wenn wir die Datenpakete nicht explizit freigeben, passiert gar nichts.«

»Du bist wirklich paranoid. Aber das ist Ok«, meinte ich grinsend und war für Michis Vorsicht sehr dankbar. Mir war der PC meines Vaters von Sekunde zu Sekunde ebenfalls unheimlich geworden und traute ihm inzwischen alles zu. Was für ein Glück, dass es Michi war, der das Netzwerk in unserem Haus aufgebaut hat. Er kannte sich mit diesen Sachen einfach am besten aus. Auch unseren DSL-Router hatte er ausgesucht und eingerichtet.

Nachdem nun alle Vorbereitungen abgeschlossen waren und Michi sein endgültiges Ok gab, legte ich die CD ein. Ralf und Michi rückten näher an mich ran. Zu dritt saßen wir vor dem Monitor und starrten auf die dort erscheinenden Fenster. Wir waren gespannt und atmeten schwer.

Das CD-ROM-Laufwerk lief an. Als die AutoPlay-Funktion startete, wechselte der Mauszeiger auf das Uhrensymbol, während ein Programm von der Festplatte nachgeladen und gestartet wurde. Es handelte sich tatsächlich um ein chemisches CAD-Programm. Leider kamen wir nicht weiter, denn eine Passwortabfrage versperrte den Weg.

»Und nu?«, fragte Michi.

»Lesen wir nochmals Tobis E-Mail durch. Mir scheint, als wenn sein Vater genau das erreichen wollte, was wir gerade tun. Diese CDs lesen. Seine Mail muss einen Hinweis auf das Kennwort enthalten. Tobi, such nach allem, was irgendwie nach Zahlen oder Kennworten klingt.«

Noch während Ralf sprach, hatte ich die Mail aufgerufen. »Zahlen meinst du? Da finde ich drei Stück: den Geburtstag meiner Oma, den Hochzeitstag meiner Eltern und meinen Geburtstag.«

»Wann haben deine Eltern ihren Hochzeitstag?«

Ich überlegte kurz und tippte dann das Datum ein. Der Rechner knurrte, schüttelte seinen Kopf und lehnte ab. Also versuchten wir es mit meinem Geburtsdatum und kamen weiter! Aber nicht wesentlich.

»Scheiße! Was ist denn das? Noch eine Kennwortabfrage?«, schrie Ralf.

»Ja und nein!«, meinte Michi hörbar beeindruckt. »Es ist ein S/Key-System! Seht ihr die 6 stellige Ziffer? Das ist eine sogenannte Herausforderung, eine challenge. Auf diese 6 Ziffern gibt es genau eine richtige Antwort. Jedes Mal, wenn ihr das Programm startet, wird es eine andere Ziffernfolge ausspucken und ihr müsst eine andere Antwort geben. Das scheint eine der Sicherungsfunktionen der Cyrptokarte zu sein.«

»Und woher bekommen wir die Antwort?«

Michi überlegte: »Normalerweise gibt es dafür Geräte, wie Taschenrechner oder Scheckkarten. Ein Display, eine Zifferntastatur und eine Taste zur Eingabebestätigung, mehr ist das nicht.«

»Und wo soll ich so ein Gerät her bekommen?«

»Nicht irgend so ein Gerät! Eins, dass exakt auf dieses System eingestellt ist. Ähm ... Tobi, wo willst du hin?«

Ich war mal wieder schneller als Michi. Er ist ein genialer Hacker, aber manchmal etwas langsam, was praktische Dinge betraf. Wenn mein Vater solch ein Gerät hatte, dann in seinem Büro. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er es mitgenommen hatte, denn dann wäre seine E-Mail überflüssig gewesen. Diese Erkenntnis rief ich den beiden noch auf meinem Weg abwärts zu. Im Büro meines Vaters angekommen durchsuchte, ich als Erstes den Tresor. Fehlanzeige. Außer Dokumenten befand sich nichts, was für uns interessant war. Als Nächstes war der Schreibtisch dran. Ich pflätzte mich erneut in seinen Sessel und sondierte die Oberfläche der Schreibunterlage.

Mein Paps war ein Pedant. Ganz im Gegensatz zu mir war sein Schreibtisch perfekt aufgeräumt. Selbst Kugelschreiber und Füllfederhalter (so nannte er das Teil) lagen millimetergenau parallel zur Schreibfläche. Immerhin erleichterte es mir den Überblick. Von links nach rechts standen und lag auf dem Schreibtisch ein LCD-Monitor (die Funkmaus und -Tastatur standen ein Stockwerk höher in meinem Zimmer), ein Bild von mir und meiner Mum, eine Schreibunterlage, zwei Druckbleistifte in den Härtegraden B und HB (Faber-Castell), Radiergummi (Stadler), Füllfederhalter und Kugelschreiber (beides Montblanc), quer über der Schreibunterlage lag noch ein Edelstahlbrieföffner und eine Schreibtischlampe mit Halogenlicht. Das war's. Nicht sehr ergiebig.

Michi und Ralf trudelten ein.

»Mit dir Schritt zu halten ist aufreibend!«, knurrte Michi.

»Schon was gefunden?«, fragte Ralf.

»Nein, aber ich fang auch erst an. Mal sehen, was er in seinen Schreibtischschubladen liegen hat.«

Ich zog die oberste Schublade auf und packte den Inhalt auf die Schreibunterlage: Büroklammern, Hefter, Enthefter, Taschenrechner, Prittstift, Tesa, noch ein Taschenrechner, eine Papierschere und ähnliches Werkzeug. Michi sah sich die beiden Taschenrechner an.

»Das ist es!«, meinte er schließlich und hielt einen Minitaschenrechner in der Hand, der offensichtlich gar kein Taschenrechner war.

»Sicher?«

»Absolut sicher!«

Wir trabten also wieder nach oben und hockten uns erneut vor den Rechner. Michi gab mir das kleine Schlüsselteil und ich fragte: »Und was nu?«

»Du schaltest das Teil ein. Gibst die Ziffern ein und drückst die Berechnungstaste.«

»Ähm ...«, soweit hatte ich das auch verstanden, aber offensichtlich hatte sich Michi das Teil nicht genau angesehen. »Michi, hier gibt es drei Berechnungstasten!«

»Was?«, schrie er und riss mir das Teil aus der Hand. Er starrte drauf, aber an der Tatsache änderte sich nichts. Der Rechner besaß Tasten für die Ziffern 0 bis 9, eine »On«- und eine »Off«-Taste, aber eben auch drei Tasten mit der Beschriftung »K1«, »K2« und »K3«. Jeder dieser Tasten lieferte ein anderes Ergebnis.

»Was ist das Problem?«, fragte Ralf. Ich nahm Michi das Teil aus der Hand und gab es Ralf.

»Ah, ich verstehe!«, meinte Ralf und glotzte das Gerät nun seinerseits eine ganz Weile an. Genaugenommen schaute er es sogar mehrere Minuten an. Während dieser Zeit kräuselte sich seine Stirn. Ralf tat sonst nichts. Er gab keine Ziffer ein, drückte auch sonst keine Taste, sonder saß nur grübelnd und brütend da.

»K2!«, meinte er schließlich.

»K2?«

»Ich denke ... Was hat dein Vater in seiner E-Mail geschrieben? ,Könntest du am 2. Oktober einen Blumenstrauß ...` Kommt euch das bekannt vor? Ich sage K2!«

»Wie du meinst!«, ich vertraute Ralf. Außerdem hatte ich auch keine bessere Idee auf Lager. Sein Lösungsansatz klang wenigsten plausibel. »Versuchen wir es.«

Ich tippte die Ziffern vom Bildschirm in den kleinen Rechner ein und drückten schließlich K2. Das Ding ließ kurz ein Lauflicht von kleinen Nullen aufleuchten, während es die Antwort berechnete, und kam schließlich mit einer neuen Ziffernfolge zurück. Ich gab die Ziffern ein. Der Bildschirm wurde dunkel, der Monitor klackte, als in eine andere Auflösung geschaltet wurde und dann wurde der Schirm plötzlich hell.

Es schien sich bei dem Programm um eine integrierte Projektmanagementsoftware für pharmazeutische, chemische oder gentechnische Entwicklungen zu handeln. Der Startbildschirm zeigte Ordner für ein Projekttagebuch, für die Dokumentation, für Simulationen und für Versuche, aber am spannendsten war der Projekttitel.

GEN/CHEM-I-XP

GENetical/CHEMical Induced eXtra Perception

Entwicklung eines genetisch/chemischen Produktsystems zur Erzeugung von extrasensorischen Fähigkeiten.

Nachwort

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Berlin, den 11. Januar 2004

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