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Drachenblut
1. Buch - Kreuzungen
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Informationen
- Story: Drachenblut
- Autor: Nero
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Fantasy und Mystery
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Drachen
Sie sind Geschöpfe der Magie. Netterweise aber auch ausgesprochen bodenständig und durch und durch mit der Erde, dem Leben an sich, verbunden, wie kein anderes Lebewesen in unserer Welt. Es sind beeindruckende Wesen, voller Kraft, Anmut und höchster Intelligenz. Ich bekomme jedes Mal weiche Knie, wenn ich einen Drachen sehe. Dabei habe ich bisher nur zwei kleine grüne Grasdrachen gesehen, die bestenfalls die Größe eines Lagerschuppens besaßen. Die Viecher soll es aber auch in ganz anderen, gigantischen Größen geben.
Warum muss ich in letzter Zeit ständig an sie denken? Drachen? Merkwürdig, ich habe Jahre lang keinen Gedanken an sie verschwendet. Warum gerade jetzt?
Es sind faszinierende Geschöpfe, denn obwohl sie eine fast unerschöpflich erscheinenden Kraft und magische Macht besitzen, sind sie sensible und verletzliche Wesen.
So sagt man jedenfalls. Ich denke, ich muss mehr über sie erfahren und das möglichst schnell und bald.
Denn die Drachen sind selten geworden. Unser Zeitalter hat die Welt verändert. Auf der einen Seite stehen die Technopriester mit ihrer totalen Verneinung alles Magischen. Obwohl sie es dementieren, gibt es Gerüchte. Es heißt, sie würden die Drachen jagen und abschlachten. Nur, warum sollten sie es tun?
Und auf der anderen Seite? Die Elben, das schöne magische Volk? Sie sind zum Witz der Geschichte geworden. Ein Schatten ihrer selbst. Eine Touristenattraktion. Verramschen ihre Traditionen und Bräuche, lassen die Touristenherden sogar durch ihre Wälder stampfen und schwatzen selbsternannten Rittern angeblich magisch veredelte Schwerter auf.
Wie sollen sich in solch einer Welt Drachen wohl fühlen? Wie sollen sie das Gefühl bekommen, gebraucht und geliebt zu werden?
Und nochmal: Warum gehen mir die Viecher einfach nicht aus dem Kopf?
Natürlich habe ich mein Möglichstes versucht. Aber wer bin ich schon? Segato G’Narn, ein Akolyt der 1. Stufe. Meine Möglichkeiten sind begrenzt, und ich wage es nicht, meinen Meister zu behelligen. Die Archive der Gilde sind besser geschützt als die Unschuld der Päpstin. Wenn die alte Zippe wüsste, was wir wissen. Wenn sie wüsste, über welche Möglichkeiten wir verfügen könnten … Nein, ich kann meinen Meister nicht involvieren. Vermutlich würde er meine Bedenken teilen und sogar meine Ideen angemessen halten, aber sie trotzdem missbilligen — missbilligen müssen.
Das Konkordat wurde nie gebrochen, jedenfalls nicht offiziell. Die Balance zu halten ist ein kniffeliges Unterfangen. Gehen wir auch nur ein Jota fehl, könnten wir alles verlieren, und das Verschwinden der Drachen wird für uns alle das geringste Problem sein.
Was würde ich dafür geben auch nur einen kurzen Moment die Pläne der Päpstin durchschauen zu können. Sie führt etwas im Schilde. Die Eliminierung des Magischen scheint mir nur eine Zwischenstufe zu sein. Dabei ist Technik an sich gar nicht schlecht. Was würde ich ohne mein PDA-Implantat machen? Wer spricht heute noch reines Hochelbisch?
Und die Drachen? Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie der Schlüssel sind.
Drachen – Wieso muss ich in letzter Zeit ständig an sie denken?
Es bedeutet etwas.
Drachen?
Drachen!
Teil 1 – Gilfea
Tod und Geburt
Anfang und Ende sind pure Illusion – So wie die Illusion selbst.
Targon D’Soto, 1. Graumeister der Gilde
Gilfea rannte.
Das feuchte, hohe Gras behinderte die Orientierung, schützte aber auch vor den Blicken der Verfolger. Gilfea rannte. Der kleine Junge rannte um sein Leben. Zu wissen, wo man war und wohin man rannte war in diesem Moment zweitranging, Hauptsache die ungefähre Richtung stimmte. Gilfeas primärer Gedanke war, möglichst viel Abstand zwischen denen und sich zu gewinnen. Die, das waren Orks, massenweise schwarze, stinkende, blutrünstige Orks.
Genaugenommen waren es vermutlich Orks, soweit Gilfea sie richtig erkannt hatte. Da er noch nie Orks gesehen, nur Geschichten über sie gehört und Bilder von ihnen gesehen hatte, war er sich nicht ganz sicher. Auf jeden Fall waren sie so tödlich wie Orks, vielleicht sogar noch tödlicher.
Sie waren mitten in der Nacht gekommen. Das Dorf, jenes Dorf in dem Gilfea aufgewachsen war, wusste sich kaum zu verteidigen. Die meisten Bewohner waren Bauern, außer ihnen gab es noch einen Schmied, einen Müller, einen Schankwirt und einen etwas absonderlichen Schriftgelehrten, bei dem Gilfea aufwuchs. Der einzige, der ein Schwert besaß, war der Schmied. Der Schmied, Meister Schwarzstein, wusste sogar mit einem Schwert umzugehen. Er allein erlegte 12 Orks. Doch was sind 12 Orks bei einer Herde von hunderten? Es waren einfach zu viele. Ein Pfeil traf den tapferen Schmied ins Bein und riss ihn zu Boden, der nächste Pfeil traf seinen Waffenarm und entriss ihm damit das Schwert, der letzte Pfeil durchbohrte sein Herz. Orks machen keine Gefangene.
Gilfea rannte. Die Feuchtigkeit hing tief im Gras, lag als dichter Nebel über der Landschaft. Gilfeas Herz hämmerte wie wahnsinnig. Er war erschöpft, müde und durstig. Nur die Angst, von den Orks abgeschlachtet zu werden, trieb ihn weiter.
Er hatte Glück gehabt. Gilfea hatte sich, wie fast jede Nacht, aus dem Dorf geschlichen. Er liebte die Bäume, die Wiesen und den Bach, aber insbesondere liebte er das silbrige Mondlicht. Es gab da einen besonderen Ort. Einen Baum, genaugenommen war es ein Ort auf einem Baum. Eine dreiteilige, fast sternförmige Gabelung des Stamms, die ein kleines geschütztes Plateau bildete. Gilfea kletterte immer wieder hinauf, um von dort die Sterne und den Mond zu betrachten. Auch diesen Abend hatte er in seiner geheimen Baumgabel gelegen und war, wie so häufig, eingeschlafen. Es war spät in der Nacht, als er von harten, grausamen Geräuschen geweckt wurde.
Es mussten mehr als zweihundert Orks gewesen sein. Sie trugen grobschlächtige Fackeln. Im Schein der Feuer konnte Gilfea ihre gezückten Dolche, Säbel und klobigen Schwerter sehen. Noch bevor er richtig wach war, brach die Hölle über das kleine Dorf herein. Feuerpfeile prasselten wie Platzregen auf die Häuser nieder und steckten sie in Brand. Als die ersten Menschen panisch herausliefen, fielen die Orks über sie her und metzelten alles nieder, was sich bewegte. Dabei gingen sie mit absolut tödlicher Präzision vor, was für Orks eigentlich untypisch war. Fast hatte man den Eindruck, sie würden von jemandem Befehle erhalten. Jemand, der wollte, dass niemand aus dem Dorf überlebte.
Gilfea hockte auf seinen Baum und sah alles. Eine eisige Kälte griff nach seinem Herz. Das Bild brannte sich in seinen Kopf ein. Es war so schrecklich, so grausam, dass Gilfea nicht einmal in Tränen ausbrechen konnte. Die Orks tobten wahnsinnig, brachen jedes Haus auf, und schleiften sie bis auf die Grundmauern. Sie kannten kein Erbarmen.
Panik ergriff Gilfea. Ein Gedanke bildete sich in seinem Verstand: »Du musst rennen! Du musst hier weg!«
Der Baum war weit genug vom Dorf entfernt. Gilfea kletterte leise von seinem Baum herab. Dabei machte er so wenig Geräusche, dass selbst ein Elb ihn nur dann gehört hätte, wenn er wusste, worauf er hätte achten sollte.
Kaum hatte er den Boden erreicht, rannte Gilfea. Erst den Bruch entlang, dann dem Fluß folgend. Als er die Fennwiese erreichte, bog er ins Gras hinein und lief in Richtung der Eisengebirge.
Das Gras war hoch, reichte Gilfea weit über den Kopf. Seine Kleidung hatte so viel Tau von den Halmen abgestreift, dass sie klamm und schwer wurde, doch Gilfea rannte weiter. Immer weiter.
Er rannte, als der Morgen anbrach, er rannte als die Sonne hoch am Himmel stand, und er rannte immer noch, als die Sonne sich wieder hinter dem Horizont zurückzog. Erst als es wieder ganz dunkel wurde, brach Gilfea erschöpft zusammen und fiel an Ort und Stelle in einen langen tiefen Schlaf.
Gilfea erwachte. Es war wieder Nacht. Der Himmel war wolkenlos und klar. Die Sterne funkelten und eine Mondscheibe, die fast voll war, erhellte die Gegend mit ihrem silbrig, fahlen Licht, dass Gilfea so liebte. In der Stille der Nacht meinte Gilfea mit einem Mal ein leises Plätschern zu hören, was gut war, denn er war mehr als durstig. Er folgte dem Geräusch, es wurde lauter und bald entdeckte er das glitzernde Band eines munter dahin springenden Gebirgsbaches. Das Wasser war kalt, sehr kalt und Gilfea nahm nur ganz vorsichtig Schluck um Schluck zu sich.
Mit jedem Schluck fühlte er sich frischer und lebendiger, aber auch müder. Er schaute sich um, fand eine kleine Gruppe von zusammenstehenden knorrigen, alten Bäumen, ging zu ihnen hin und kletterte auf einen passend erscheinenden hinauf. Dort oben sicherte er sich und schlief friedlich ein. Die Schrecken der Orks schienen weit, weit entfernt zu sein.
Gilfea war ein Junge. Niemand wusste, woher er gekommen war und wer wohl seine Eltern sein könnten. Niemand konnte daher sagen, wie alt Gilfea war. Die Menschen des Dorfes schlossen daher, dass Gilfea wohl nach Größe und Statur etwa eineinhalb Jahre alt sein musste. Als Geburtstag wurde ganz pragmatisch der Tag gewählt, an dem man ihn morgens vor der Tür des Dorfkrugs gefunden hatte. Da es gute und ehrliche Leute waren, gab es keine Frage, was mit dem kleinen Kerl passieren sollte, und so wurde Gilfea quasi als Kind des ganzen Dorfes betrachtet. Für sein leibliches Wohl sorgte die Frau des Wirts, für Kleidung der Müller und wohnen tat er beim Schmied. Schriftmeister Arbogast, der merkwürdige und kauzige Schriftgelehrte des Dorfes, wurde seinerseits Lehrer und Ausbilder von Gilfea.
Gilfea – Sein Name war die einzige Verbindung zu seiner Herkunft. Gilfea stand eingraviert auf einem für den Knirps viel zu großen Steinmedaillon, dass an einem Lederbändchen um seinen Hals baumelte. Gilfea war ein elbischer Name und lautete in der gemeinsamen Sprache »Sternengeist«.
Jahre gingen ins Land in denen Gilfea zu einem stattlichen Jungen heranwuchs. Er war kräftig gebaut, geschickt mit seinen Händen und sehr intelligent. Neben den Studien bei Meister Arbogast erlernte Gilfea das Schmiedehandwerk und war so geschickt, dass die Leute ihn ebenso oft baten etwas zu richten wie seinen Meister. Obwohl er immer freundlich, zuvorkommend und niemals böse war, mieden ihn die anderen Kinder des Dorfes. Es war nicht so, dass sie ihn beschimpften oder nicht mit ihm sprachen. Von Zeit zu Zeit spielte man sogar miteinander, aber Gilfea schien immer ein wenig fremd oder anders zu sein.
Es war die Nacht seines 14. Geburtstags, als die Orks über das Dorf hereinbrachen.
Gilfea schreckte auf. Ein markerschütternder Schrei zerriss die Luft. Es war ein Ton, der so traurig und leidvoll war, dass Gilfea sofort in Tränen ausbrach. Es war das traurigste Geräusch, das er jemals gehört hatte. Es war, als ob alle Schönheit und Anmut aus der Welt verschwinden würde. Als das Geräusch abebbte und schließlich verschwand, wirkte die Welt für Gilfea stumpf, blasser, als wenn man die Farbe aus ihr mit zu viel Bleiche herausgewaschen hätte.
Gilfea kletterte von seinen Baum und lauschte.
»…«
Da war etwas. Es war keine Stimme, mehr das Gefühl einer Stimme. Gilfea lauschte erneut, wobei er seine Augen schloss, um sich besser konzentrieren zu können.
»…«
Es war eindeutig eine Stimme, aber diese Stimme schien in seinem Kopf zu sein. Die Stimme formulierte auch keine Worte. Es war vielmehr so, als ob er gerufen wurde. Gilfea öffnete seine Augen und sah sich um. Er hielt seinen Kopf mal in die eine, dann in die andere Richtung. Die wortlose Stimme schien tatsächlich aus einer bestimmten Richtung zu kommen. Gilfea rannte los. Nicht so schnell wie bei seiner Flucht, denn er wollte die Stimme nicht verlieren.
Gilfea stellte fest, dass er viel näher am Eisengebirge war, als er vermutet hatte. So entsprang der Gebirgsbach, aus dem er getrunken hatte, dem Gebirge. Das Gras wich weichen Moosflächen und dürren Sträuchern. Die letzten Bäume waren die in der kleinen Gruppe, bei denen er geschlafen hatte. Die ganze Umgebung wurde karg und garstig. Gilfeas Weg wurde von ersten Geröllflächen gekreuzt.
Gilfea wusste, dass er auf dem richtigen Weg war. Je mehr er sich dem Gebirge näherte, desto lauter wurde die Stimme in seinem Kopf: »…«. Sie wurde aber auch beunruhigender. Zwar wurde die Stimme lauter, was untrüglich daran lag, dass Gilfea der Quelle näher kam, aber sie schien auch schwächer zu werden, als würde sie aus sich heraus schwinden.
Die Zeit verging. Der Weg wurde immer beschwerlicher. Der Boden bestand nur noch aus Geröll und Felsen. Stieg das Gelände zuerst seicht an, war es jetzt ein steiler Aufstieg. Gilfea sah zum Gebirge hinauf. Der Berg rauchte, und es roch nach Schwefel. Vor ihm, etwa 200 Meter entfernt, war eine breite Felswand mit einem scharfen Einschnitt. Der Einschnitt war gerade einmal breit genug, dass ein Mann auf einem Pferd hindurchpassen konnte. Gilfea rannte empor. Immer mehr hatte er das Gefühl, dass ihm die Zeit davon lief.
Endlich, die letzten Meter waren sehr schwer, der Boden locker und Gilfea war mehrmals kurz davor zu stolpern und den Abhang hinab zu rutschen. Außer Atem erreichte er schließlich den Einschnitt, der sich als Weg, fast als eine Schlucht, zwischen hochaufragenden Felswänden entpuppte.
Gilfea nahm seinen ganzen Mut zusammen und ging hindurch. Der Weg wandte sich hin und her. Nach über hundert Schritten war noch kein Ende zu erkennen. Immerhin war der Boden glatt, fest und ebenerdig.
Und plötzlich stand Gilfea im Freien. Er schaute in ein Plateau mit dampfenden Schloten. Das Plateau war eingerahmt von den gleichen hohen Felswänden wie die Schlucht und bildete einen Kessel, etwa 300 Meter im Durchmesser, der etwas tiefer lag.
Gilfea schaute hinab. Entsetzen packte ihn, und er hätte aufgeschrien, wenn er sich nicht beide Hände vor den Mund geschlagen hätte. Am gegenüberliegenden Ende des Kessels lag der gehäutete Kadaver eines riesigen, nein, eines gigantischen Drachens. Sofort wusste er, welch trauriger Schrei ihn geweckt hatte. Böse, sehr böse Wesen mussten sich an diesem edlen Geschöpf vergriffen haben. Es getötet haben, um an sein Blut und vor allen an seine Haut zu gelangen. Drachenhaut, das kostbarste Leder das es gab. Eine Rüstung aus diesem Material machte einen gegen normale Waffen fast unverwundbar. Magische Waffen hingegen …
Und dann das Drachenblut. Er wusste nicht viel darüber, aber was er wusste, ließ sein eigenes Blut in seinen Adern gefrieren. Da Drachen magische Wesen waren und ihr Blut durchwebt war von dieser magischen Energie, war es eines der kostbarsten Substanzen, die es in dieser Welt gab. Manch ein Magier hatte seine Seele dafür gegeben.
Gilfea weinte. Er hatte noch nie einen Drachen gesehen, aber er wusste aus den Büchern des Meisters Arbogast, wie selten und kostbar diese Geschöpfe waren. Vor Trauer ging Gilfea in die Knie. Wie grausam die Welt war!
»Gilfea!«
Die Stimme war klar und deutlich in seinem Kopf zu hören. Sie war zwar klar, aber sehr, sehr schwach. Gilfea sprang sofort auf und rannte den Kessel hinab. Ohne zu wissen warum er es wusste, wusste er wohin er rannte. Er rannte wie der Wind, wie der Sturm, direkt auf einen Haufen Steine zu, die von einem kümmerlichen, grünen, struppigen und dornigen Gestrüpp überwuchert waren.
Und dort fand er es. Ein Ei! Ein Drachenei.
Es war noch warm, wenn auch nicht mehr heiß, wie es Dracheneier sein sollten. Gilfea wusste sofort, was er tun musste. Die Bücher von Meister Arbogast hatten genau beschrieben, wie ein Drachenei ausgebrütet wird. Das Ei wird von seiner Mutter in einen Ring aus Steinen gelegt. Sodann werden die Steine regelmäßig mit Feuer bespien, damit das Ei niemals auskühlt. Hier gab es kein Drachenfeuer mehr, aber es gab das Feuer des Berges. Rings um gab es Schlote mit heißen Gasen. Gilfea packte das Ei, es war groß und schwer, und schleppte es so gut wie er konnte zum nächsten Schlot.
Schon etliche Schritte vor dem Schlot, war die Luft heiß und kaum atembar, aber Gilfea gab nicht auf. Er brachte das Ei so weit er konnte bis an den Rand des Kamins, legte es vorsichtig ab, verkeilte es mit Steinen und brachte sich schnell in Sicherheit.
»Danke, Gilfea!«
Wache
Selbstlosigkeit ist ein Zeichen wahrer Liebe oder größtmöglicher Dummheit. Wenn man nur vorher wüsste, was zutrifft.
Profitius Spax, Philosoph 2. Klasse
Das Drachenei lag sicher am Rand des Kamins. Die Hitze der Gase würde genug Wärme abgeben, um das Ei heiß zu halten. Gilfea fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis der Drache schlüpfen täte.
Ein Drache!
Gilfea war sehr aufgeregt. Drachen waren eine Seltenheit geworden. Nur sehr wenige Menschen hatten in den letzten Jahrhunderten jemals einen gesehen und wenn, dann fürchteten sie sich. Selbst die Elben, die die Drachen gleichermaßen fürchteten und verehrten, begegneten ihnen. Gerüchte besagten, dass sie sich in weit entfernte Regionen der Welt zurückgezogen hatten. Insbesondere schienen sie die Welt der Technopriester zu meiden. Nicht zuletzt galt Kardinal Ada als der erbarmungsloseste aller Drachenjäger, von der Päpstin einmal abgesehen.
Doch für Gilfea waren Drachen die schönsten Wesen auf der Welt. In den Büchern Meister Arbogasts waren farbenprächtige Bilder zu bewundern. Selbst die Datenscheiben der Bibliothek der Technopriester zeigten Filme von Drachen, natürlich um sie als todbringende, unkontrollierbare Bestien darzustellen. Für Gilfea zeigten die Bilder aber keine Bestien, sondern anmutige und elegante Geschöpfe.
Und nun hatte er ein Ei gefunden. Und der Drache in dem Ei hatte mit ihm gesprochen. Gilfea strahlte vor Freude.
Was es wohl für ein Drache war? Dem Äußeren des Eis konnte man keine Anhaltspunkte abgewinnen. Die Schale war weiß, oder eher schmutzig grau. War es ein roter Drache? Ein grüner Grasdrache oder gar ein Silberdrache, die waren sehr selten. Vermutlich war es ein grüner Bambusdrache, die sollen noch die häufigste Drachenart sein. Gilfea hatte das Gefühl, der Drache in seinem Ei würde über seine Überlegungen schmunzeln.
Was tun?
Gilfea schaute vom Ei zum Kadaver des toten Drachen und war erstaunt. Innerhalb weniger Stunden war das Fleisch vertrocknet und zu Staub zerfallen. Es waren nur noch das Skelett zu sehen. Es musste wirklich ein gigantisches Tier gewesen sein.
»Ich bleibe!«, Gilfea stand ein paar Meter vor dem Ei und schaute es an. Gilfea sprach mit lauter Stimme, obwohl niemand da war, der ihn hören konnte: »Ich werde bleiben. Ich habe eine Verantwortung für dieses unschuldige Leben übernommen. Ich werde bleiben und dieses Ei beschützen und wenn nötig mit meinem Leben verteidigen.«
Doch ein Junge, so mutig und entschlossen er auch sein mag, muss an seinen Körper denken. Er musste trinken und essen. Er schaute sich um. Auf dem Plateau gab es wenig, eigentlich nichts. Der Kessel schien, abgesehen von dem kümmerlichen Dornengestrüpp, in dem er das Ei gelegen hatte, tot zu sein. Es waren weder Vögel noch andere Tiere zu hören. Das Ei lag direkt an einem der Schlote, ein Raubtier würde sich, so vermutete Gilfea, nicht heran trauen, um nicht von den heißen Gasen verbrannt zu werden.
»Außerdem scheint es nur diesen einen Zugang zu geben, durch den ich gekommen bin«, sagte Gilfea laut zu sich selbst, »Wenn ich mir Wasser und ein paar Beeren und Wurzeln hole, werde ich den Eingang immer in Blick haben können.«
Umsicht zahlt sich aus. Erst jetzt bemerkte Gilfea, dass er die ganze Zeit seinen Lederbeutel mit Wasser und einen kleine Rucksack mit sich geführt hatte. Selten hatte er das Dorf ohne verlassen. Allerdings führte er in seinem Rucksack keine Lebensmittel, sondern Pergament und Zeichenstifte mit sich, um hoch auf seinem Baum seine Gedanken mal als Gedicht oder Lied, mal als Zeichnung festhalten zu können.
»Eine Weile wirst du ohne mich auskommen müssen, kleiner Freund!«
Gilfea warf dem Ei einen letzten Blick zu und eilte hinfort, durch die schmale Schlucht hinaus auf den Abhang mit seiner Schotterfläche. Die nächste Vegetation mochte wohl eine Meile entfernt sein. Gilfea eilte sich. Er wollte so schnell wie möglich zurück sein. Das Ei sollte keine Minute länger als nötig unbewacht bleiben. Doch bei aller Eile war der Abstieg über die Schotterfläche mühsam und beschwerlich. Das Geröll war lose und gab gelegentlich nach, so dass Gilfea fast abgerutscht wäre. Erst nach einer Stunde hatte er den Vegetationsstreifen erreicht. Mit einem ständig wachsamen Blick über die Geröllfläche und den Eingang des Kessels suchte Gilfea die Gegend nach Nahrung ab.
Er hatte Glück und fand wilde Erdbeeren, Himbeeren und Brombeeren. Sogar ein paar Wurzeln, von denen er wusste, dass sie genießbar und nahrhaft waren, konnte er ausfindig machen. Er aß sich satt. So konnte er eine Mahlzeit sparen. Seinen Schlauch füllte er an einem zwar dünnen, aber sauberen, frischen und kühlen Rinnsal auf, das aus einer Felsspalte im Boden entsprang.
»Ich brauche Platz!«, wehmütig öffnete Gilfea seinen Rucksack und entnahm alles, was ihm lieb und teuer war. Seinen Zeichenblock, die Stifte und ein Buch, das er aus Arbogasts Bibliothek entliehen hatte. All diese Sachen versteckte er so gut es ging unter einem Steinhaufen, in der Hoffnung, sie später wieder abholen zu können. Dann füllte er seinen Rucksack mit Moos, den Beeren und Wurzeln und machte sich auf den Weg zurück zum Berg und seinem Plateau.
Der Weg war erneut sehr anstrengend, anstrengender noch als der Abstieg, aber Gilfea kämpfte sich verbissen hinauf. Müde und erschöpft erreichte er den Kessel und ging sofort zum Drachenei.
»Ich bin zurück!«, doch das Ei antwortete nicht. Trotzdem meinte Gilfea, das Leben in ihm zu fühlen.
Der Kessel, oder das Plateau, je nachdem wie man es bezeichnen wollte, war kein angenehmer Ort für einen Menschen. Insbesondere nicht, um auf ihm zu nächtigen. Die Luft war heiß von den Schloten, an manchen Ecken roch es stark nach Schwefel. Gilfea sucht sich den kühlsten und frischesten Ort im Kessel aus und bereitete dort sein Lager. Er legte eine Kuhle frei, entfernte alle losen Steine und legte dies mit einem Bett aus dem Dornengestrüpp aus. Darauf legte er die im Tal gesammelten Moosmatten. Es war nicht komfortabel, eigentlich sogar weit davon entfernt, doch es sollte genügen, um im Schlaf etwas Erholung zu finden.
Kaum war Gilfea mit den Arbeiten zu seinem Nachtlager fertig, als auch schon die Nacht über den Kessel hereinbrach. Es wurde schnell dunkel, denn die aufragenden Felswände warfen tiefe Schatten. Mit einem letzten Blick auf das Drachenei legte sich Gilfea zu Nachtruhe.
Gilfeas Schlaf wurde unruhig. Albträume von Orks, wie sie sein Dorf überfielen, quälten ihn. Auch der unendlich qualvolle Schrei des sterbenden Drachens brannte immer noch in seinem Schädel. Gilfea war kurz davor aufzuwachen, als er eine sanfte, seidene Stimme hörte. Sie sang ein Lied in einer fremden Sprache, doch die Worte waren unwichtig. Allein ihr Klang vertrieb die dunklen Träume. Die Stimme war wie liebende Hände, die über seine Wangen strichen. Gilfea lauschte der Stimme, meinte fern seinen Namen zu hören, »Gilfea!« und driftete endlich in einen friedlichen Schlaf.
Als Gilfea am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich ausgeruht und gestärkt. Sein erster Blick galt dem Ei. Es lag unversehrt und friedlich neben dem Schlot.
»Dies muss ein Vulkan sein. Vermutlich befinde ich mich in seinem Krater«, überlegte Gilfea und sah sich um. Es stellte sich die Frage, was er während der Zeit bis zum Schlüpfen des Drachenbabys machen sollte. Viel gab es nicht zu tun, eigentlich gar nichts. Vom Kadaver war nur noch das Skelett übrig, selbst der Staub des Gewebes war verschwunden. Gilfea näherte sich vorsichtig und mit Ehrfurcht den sterblichen Überresten.
»Was für Wesen können so etwas nur anrichten?«, Wut, Zorn aber auch Trauer keimten in Gilfea auf und ihm liefen Tränen über seine Wangen, während er gleichzeitig seine Hände zu Fäusten ballte. Er schaute zu Boden und entdeckte im gleichem Moment etwas Glitzerndes vor seinen Füßen. Er wollte sich gerade hinknien und es aufheben, als ihn eine eisige Kälte beschlich. Das glitzernde Etwas war unheimlich. Gilfea traute sich nicht, es zu berühren, zumindest nicht mit seinen bloßen Fingern. Stattdessen besorgte er sich eine lange Rute von dem Dornenstrauch und legte das glitzernde Teil frei.
Es war eine Klinge, genauer eine Speerspitze. Sie schien aus einem besonderen Metall gefertigt worden zu sein, denn sie schimmerte in einem eisigen blau-grauen Glanz. Es schien fast so, als ob alle Reflektionen zu schneidend kalten Strahlen verändert wurden. So unerträglich der Anblick war, so wichtig fand Gilfea es, die Klinge zu untersuchen. Vorsichtig näherte er sich. Neben der Kälte verbreitete die Klinge auch ein Gefühl von Angst und Verzweiflung. Es schien fast so, als wenn jemand dem Bösen an sich eine physische Substanz gegeben und diese in Form dieser Klinge gebracht hätte.
Es war schwierig die Klinge richtig freizulegen, denn Gilfeas Strauch welkte und begann an denen Stellen zu Rauch und Staub zu zerfallen, an denen er die Klinge berührte. Mit Mühe gelang es Gilfea trotzdem, das kalte Material frei zu legen und zu betrachten. Eingraviert in die Oberfläche waren feine Linien, die Schriftzeichen einer fremden Sprache zu sein schienen. Obwohl Gilfea die Symbole nicht deuten konnte, wusste er instinktiv, dass sie kraftvoll, mächtig, aber auch extrem böse waren.
»Wie böse muss eine Waffe sein, dass sie einen Drachen töten kann?«
Gilfea wandte sich ab. Die Kälte der Klinge war mit der Zeit unerträglich geworden. Was war es nur für ein Glück, dass das Ei mit dem ungeborenen Drachen und Gilfeas Lagerplatz weit entfernt, am gegenüberliegenden Ende des Kessels lag.
Gilfea kehrte zum Ei zurück: »Ich werde nicht zulassen, dass dich eine solche Klinge trifft.«
Mit diesen Worten setzte er sich hin und dachte nach. Diese Klinge musste verschwinden. Weg von dem Ei. Weg aus seiner Nähe. Gilfea sah sich um, schließlich kam ihm eine Idee. Er suchte ein paar geeignete Steine zusammen, holte mehr von dem dornigem Gestrüpp und fing an zu bauen. Es dauerte Stunden, in denen Gilfea verschiedene Steine und Sträucher wechselte. Schließlich, es war früher Abend und die Dämmerung begann, war er fertig.
Aus einigen langen Ruten hatte Gilfea eine Art Zange gebaut, mit der er die Klinge hoffte packen zu können. Die Wangen der Zange waren aus Stein, so dass sich die Ruten nicht auflösen würden. Denn auf Stein, so dachte er, schien das Material keine Wirkung zu haben.
Gilfea nahm seinen ganzen Mut zusammen und ging zurück zu Drachentöterklinge. Es dauerte eine Weile, bis er seine Zange soweit handhaben konnte, dass es ihm gelang, die Klinge zu packen. Allerdings nicht lange. Nach ein paar Schritten, entglitt ihm das böse Gerät. Vorsichtig nahm er es wieder auf und schaffte erneut einige Meter. Das Spiel begann von neuen. Meter um Meter arbeitete Gilfea sich vor, bis er schließlich sein Ziel erreicht hatte. Einen Schlot.
Je näher er dem Schlot kam, der vermutlich direkt in eine Magmakammer führte, desto heißer wurde es. Inzwischen war die Dämmerung weit fortgeschritten und die Dunkelheit der hätte ein weitermachen fast verhindert, wenn nicht der Mond hell über dem Kessel geschienen hätte.
Gilfea packte die Klinge erneut und setzte seinen Weg Richtung Schlot fort. Da fiel ihm plötzlich auf, dass die Klinge begann zu schimmern, eisig blau und kalt. Das Schimmern wurde heller, je näher er dem Schlot und damit seiner Hitze kam. Es schien Gilfea fast, als wenn sich die Klinge wehrte, denn seine Zange begann zu beben. Doch Gilfea packte fester zu. Wenn sich die Klinge wehrte, dann musste er auf dem richtigen Weg sein. Entschlossen und mit aller Kraft legte er den letzten Meter zurück, manövrierte die Zange samt Klinge über den Schlot und öffnete die Zange.
Die Klinge blitze einmal hell auf. Ein eisiger blaugrauer Blitz blendete Gilfea und ließ ihn vor Kälte erschauern, dann bebte die Erde. Es gab ein Grollen und ein Beben, als plötzlich ein gleißend heller blauer Lichtstrahl aus dem Schlot herausschoss und von einem kreischenden Geräusch begleitet wurde. Danach war Ruhe. Gilfea fühlte, dass die Klinge zerstört war.
»Oh Gott, das Ei!«, schrie er plötzlich auf, als ihm das Beben einfiel. So schnell das Mondlicht es zuließ, rannte Gilfea zum Lagerplatz des Eis. Aber er hatte Glück. Es war zwar ein Stück gerollt, war aber nicht beschädigt worden, noch war es in den Schlot gefallen. Vorsichtig sicherte Gilfea das Ei mit einigen Felsbrocken und begab sich zur Nachtruhe zu seinem Lagerplatz. Dort eingetroffen legte er sich hin und schlief sofort ein. Kaum eingeschlafen, begann Gilfea zu träumen. Die Stimme war wieder in seinem Kopf und sang ihr Lied. »Gilfea!«
Am nächsten Tag musste Gilfea wieder den Kessel verlassen, um sich frisches Wasser und Nahrung zu holen. So ging es über Tage. Jeden zweiten Tag kletterte Gilfea hinab ins Tal, sammelte Wurzeln und Beeren, holte Wasser und Moos und ging zurück zum Plateau. Von Zeit zu Zeit überprüfte er das Ei. Es war heiß und schien zu pulsieren. Jedes Mal, wenn er seine Hand auf das Ei legte konnte er spüren, wie sich das Leben darin entwickelte. Nicht mehr lange und der Drache würde schlüpfen.
Agonie
Ich hasse Magie!
Paula-Sylvestra II., Päpstin der unifizierten Technokratie
Das mit dem Schlüpfen schien dann doch nicht so schnell zu gehen, wie sich Gilfea das dachte. Wie viele Tage wachte er jetzt bereits über das Ei? Wochen? Einen Monat? Gilfea hatte sein Zeitgefühl verloren. Die zwar regelmäßige, aber eben auch karge Ernährung, zeigte Spuren. Gilfea merkte, dass er schwächer wurde und fragte sich, wie lange er noch aushalten könnte. Eine Woche vielleicht? Höchstens zwei. Beim letzten Abstieg ins Tal war er gestolpert und hatte sich die Rippen geprellt. Zuerst hatte er es gar nicht bemerkt, als er aber am nächsten Tag von seinem Mooslager aufstehen wollte, hatte sich ein starker Schmerz in seiner ganzen Brust breit gemacht. Der Schmerz schnürte ihn ein, verschiedene Bewegungen waren dermaßen schmerzhaft, dass ihm die Luft weg blieb. Mit Grauen dachte er daran, dass er am nächsten Tag wieder ins Tal herabsteigen musste, andernfalls würde er verdursten.
Gilfea zauderte mit sich selbst. War dies die richtige Entscheidung gewesen? Einfach einem Drachen den Start ins Leben ermöglichen? Gilfea schwankte, doch als er zum Ei herüber sah wichen alle Zweifel.
»Ich werde es durchstehen!«
Den Tag über blieb er die meiste Zeit auf seinem Moosbett liegen. Bloß nicht die Rippen belasten.
Der Abend kam und Gilfea fiel in einen traumlosen Schlaf. Am nächsten Morgen waren die Schmerzen noch stärker geworden. Die Prellung hatte sich voll entfaltet. Gilfea quälte sich auf. Mit eisernem Willen schleppte er sich ins Tal, sammelte seine Wurzeln, seine Beeren, trank Wasser und kroch schließlich, teilweise auf allen Vieren wieder den Berg empor.
Und dann passierte es. Am inneren Kesselrand stolperte er über einen Felsbrocken. Er fiel auf die Seite, der Schmerz ließ ihn aufbrüllen. Mit letzter Kraft robbte er auf allen Vieren zu seinem Lager und brach erschöpft zusammen.
Der nächste Tag verging in Agonie. Es schien nichts gebrochen, aber was hatte Meister Arbogast gelehrt: Prellungen sind meistens wesentlich schmerzhafter als Brüche. Er hatte Recht. Gilfea würde ihm in diesem Punkt niemals widersprechen.
Der nächste Tag war nicht besser. Die Schmerzen in seinen Knochen waren immer noch unerträglich, jeder Versuch aufzustehen, endete darin, dass Gilfea vor Schmerz nach Luft japste.
»So, das war’s dann wohl. Wie lange kann ich ohne Wasser auskommen? In dieser Hitze? Zwei Tage? Mit Glück drei?«, dachte Gilfea und trank den letzten Tropfen.
Die nächste Nacht kam und Gilfea fiel in einen tiefen Schlaf. Er träumte von dem Ei und wie ein kleiner schwarzer Drache aus der Hülle schlüpfte. »Wenn ich es doch erleben dürfte, ihn einmal zu sehen … Wenn es alles ist, was mir vergönnt ist, soll es reichen.«
Der nächste Tag kam. Gilfea stellte fest, dass er keine Chance hatte. Die Schmerzen ließen es nicht zu. Durst quälte ihn. Die Luft im Kessel trocknete alles schnell und erbarmungslos aus. Müde, erschöpft und mit seinen Kräften am Ende, blickte Gilfea ein letztes Mal zum Ei.
»Es sollte wohl nicht sein«, dachte er und schloss seine Augen.
Gilfea fiel in eine tiefe Dunkelheit. Sie hüllte ihn ein, zog ihn herab. Es wurde kalt. Er spürte, dass er starb. Nur noch ein kurzer Moment und ein kleiner Schritt und es wäre vorbei. Die Schmerzen wären fort. Nur ein kleiner Moment noch …
Doch plötzlich waren da zwei glutrot glühende Punkte in der Dunkelheit. Sie verströmten Wärme, Leben und Liebe. Die Dunkelheit wich zurück. Das rot wurde intensiver, wärmer, fast heiß. Wie vorher die Dunkelheit hüllte jetzt das rote Glühen Gilfea ein, durchdrang ihn, wurde eins und ein Teil von ihm. Dieses Glühen, Gilfea wusste es instinktiv, würde ihn nie wieder verlassen.
»Schlafe, Gilfea! Ich werde über dich wachen!«
Gilfea erwachte mitten in der Nacht. Im ersten Moment war er desorientiert. Irgendetwas war anders. Er fühlte sich frisch, sogar kräftig, die Erschöpfung war verschwunden, selbst die Schmerzen waren nicht mehr zu spüren. Trotzdem, etwas war anders. Gilfea wollte aufstehen, als er begriff, was anders war. Er konnte sich nicht bewegen. Eigentlich konnte er es schon, nur war er behindert. Halb auf ihn, halb an ihn hatte sich ein kleiner Drache geschmiegt. Der Drache hatte einen seiner Flügel wie eine Decke über Gilfea ausgebreitet, und mit der Klaue hielt er Gilfea fest.
Gilfea erschrak. Er hatte auf der Seite gelegen und schaute direkt in das Gesicht des Drachens. Der schien friedlich zu schlafen und grinste. Der Drache grinste. Seine Schnauze zeigte das frechste, ironischste Grinsen, dass Gilfea je gesehen hatte.
»Und, geht es dir besser?«, hörte Gilfea eine Stimme in seinem Kopf. Sie klang kräftig, irden, aber auch fruchtig und ziemlich amüsiert.
»Wer hat das gesagt?«, rief Gilfea ängstlich.
»Ich!«, meinte die Stimme und schien fast schon zu kichern.
Langsam öffnete sich eines der Drachenaugen. Es leuchtete glutrot in der Dunkelheit.
»Ich kann dich se-hen!«, kicherte die Stimme.
»Du … «, stammelte Gilfea, »du … du …«
»Ich bin geschlüpft«, vervollständigte der Drache Gilfeas Gestammel. Dann öffnete er auch sein anderes Auge, nahm den Flügel von Gilfea und stellte sich vor ihn hin. »Und wenn ich hinzufügen darf: In letzter Sekunde. Du warst gerade mit Sterben beschäftigt.«
»Du hast mich gerettet?«, fragte Gilfea und sah den Drachen ehrfürchtig an. Dafür, dass er gerade geschlüpft war, war er für einen Drachen zwar klein, insgesamt aber schon recht groß, nämlich genau so groß wie Gilfea.
»Ich habe dich geheilt. Ob ich dich gerettet habe, ist eine andere, sehr interessante Frage«, die Stimme des Drachen klang immer noch amüsiert, allerdings hatte sie einen ernsten Unterton angenommen, »Du kennst dich nicht sonderlich gut mit Drachen aus, oder?«
»Wieso? Du willst mich doch nicht fressen, oder so?«
Der Drache gab ein gackerndes Geräusch von sich, fast wie das Meckern einer Ziege. Der Drache lachte.
»Meinst du, du wärst ein guter Appetithappen?« Der Drache grinste breit und zeigte eine Reihe furchteinflößender Reiß- und Fangzähne. »Nein, keine Angst. Erst einmal bin ich primär Vegetarier, fresse grundsätzlich keine vernunftbegabten Wesen und dich … Nun, ich könnte dir nichts antun, ohne mich selbst zu verletzten.«
Der Drache entfaltete seine Flügel, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und meinte plötzlich mit völlig ernster und feierlicher Stimme: »Ich bin Mithval und ich gehöre dir! Du bist Gilfea und du gehörst mir! Wir sind eins!«
»Was?«, kreischte Gilfea.
Mithval faltete seine Flügel wieder ein, hockte sich neben Gilfea auf den felsigen Boden und meinte freundlich: »Du wusstest es nicht, oder? Wir Drachen leben in Symbiose mit unseren Partnern, den Drachenreitern. Wir erwählen unseren Partner wenn wir schlüpfen. Meine Mutter war auf dem Weg zur Drachenreiterschule. Wollte mich dort als Ei ablegen und ausbrüten. Sobald ich geschlüpft wäre, hätte ich einen Schüler als meinen Partner ausgewählt. So ist der Weg der Dinge. Aber es sollte nicht sein. Meine Mutter wurde von einer vergifteten Drachenjagdharpune getroffen. Sie konnte noch schnell mein Ei legen und es verstecken, denn das Gift begann bereits zu wirken. Es hätte sie nicht umgebracht, aber gelähmt. Den gemeinen Mord haben dann … Nein, ich will nicht darüber sprechen.«
Mithval schwieg einen Moment bevor er fort fuhr: »Dann passierte etwas unerwartetes. Etwas mit dem niemand rechnen konnte. Du hörtest meinen Hilferuf. Weißt du, was das bedeutet? Kein normaler Mensch kann einen Drachen in seinem Ei hören. Das können nur Menschen mit reiner und ehrlicher Seele, die obendrein eine Vorbestimmung in sich tragen. Du hast mich gerettet. Ich verdanke dir mein Leben. Hättest du mein Ei nicht neben dem Schlot gelegt, wäre ich gestorben.«
»Ich habe dich gehört!«, sagte Gilfea leise, »Du hast in meinen Träumen gesungen.«
Mithval drehte seinen Drachenkopf Gilfea entgegen und strahlte ihn freudig an: »Du hast mich wirklich gehört? Das ist fantastisch! Ja, ich habe gesungen, um dich zu beruhigen und dir Kraft zu geben. Du warst so unendlich selbstlos. Wärst du ein Drachenreiterschüler, ich hätte dich sofort erwählt.«
»Was, du klingst zögerlich, unsicher?«
Mithvals Stimme hatte einen leicht schuldig klingenden Klang: »Als ich schlüpfte, lagst du im Sterben. Du bist kein Drachenreiterschüler. Du hast dieses Leben nicht freiwillig gewählt. Ich habe für uns entschieden. Ich habe unsere Vereinigung vollzogen und unser beider Leben damit gerettet. Aber zu welchem Preis … «
»Wie meinst du das?«, fragte Gilfea unsicher.
»Gilfea, wir sind eins! Mit der Vereinigung bist du meine Seele geworden! Von jetzt an sind wir aneinander gebunden. Für immer und ewig. Wenn du stirbst, sterbe auch ich. Wenn ich sterbe, stirbst auch du. Wir sind ein Geist, eine Einheit, ein Wesen«, und mit feierlicher Stimme, »Du bist mein Reiter!«
Gilfea stand auf und drehte sich Mithval zu, verbeugte sich sogar vor dem Drachen. Mit Tränen in den Augen sprach er: »Du hast nichts Falsches getan. Du hast einen Traum für mich wahr gemacht! Mithval, du hast mir ein Genschenk gemacht, das ich mit Freuden annehme und hoffe, es auch verdient zu haben.« Plötzlich fühlte Gilfea die tiefe, innere Bindung zu Mithval, und ohne die Worte laut auszusprechen sprach er zum Drachen: »Mithval, lass mich deine Seele sein! Auf immer und ewig!«
Mithval strahlte vor Freude, sprang in die Luft, flatterte eine Weile umher und brüllte mit lauter Stimme: »Juhu, ich habe einen Reiter!«
»Ähm …«, meldete sich Gilfea zu Wort, »Bist du zum Reiten nicht etwas, ähm, klein?«
Mithval landete elegant direkt vor Gilfea, senkte seinen Kopf und presste seine Stirn an Gilfeas Stirn. Seine Augen glühten rot und füllten Gilfeas gesamtes Blickfeld aus. Der Junge bekam Angst und traute sich nicht mehr zu bewegen. Hatte er den Drachen verärgert?
»Buh!«, dachte der Drache und grinste breit, »Natürlich bin ich noch zu klein. Ich bin vor nicht mal 5 Stunden aus meinem Ei geschlüpft. Alles braucht seine Zeit. Wir werden noch heute zur Drachenschule fliegen. Dort wirst du zu einem richtigen Reiter ausgebildet. Deine Ausbildung wird gut 4 Jahre dauern. Es sind genau die 4 Jahre, die ich brauche, um selbst zu voller Kraft und Größe heranzuwachsen.«
»Mithval, was für eine Art Drache bist du eigentlich? Deine Haut ist ganz schwarz, aber ich kenne keine schwarzen Drachen.«
»Ich weiß es nicht. Das ist etwas, was mir meine Mutter nicht verraten hat. Wir werden sehen, vielleicht weiß man in der Schule, was ich bin.«
Drachenreiter
»Toldin, könntest du einmal erst bleiben?«
»Ich glaube nicht, dass du das möchtest!«Toldin (Drache) und Turondur (Seele)
»Zur Drachenreiterschule fliegen?«, Gilfea sah seinen Drachen skeptisch an.
»Sicher!«, die Stimme Mithvals klang amüsiert.
»Und wie?«, Gilfea hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass er auch ohne Worte mit Mithval sprechen konnte.
»Später. Es ist noch tiefe Nacht und du musst dich erholen. Ich muss mich erholen.«
Gilfea spürte, wie erschöpft und müde er war. Die Aufregung hatte ihn seinen Zustand für einen Moment vergessen lassen. Er schaute seinen Drachen noch einmal an, der nickte ihm auffordernd zu und Gilfea legte sich auf sein Moosbett. Mithval kam heran, legte sich daneben und breite einen seine Arme mit ihrer Flughaut über Gilfea aus.
»Schlafe, Gilfea! Ich werde wachen.«
Das nächste Mal erwachte Gilfea, als die Sonne bereits über die Felsenzinnen des Kessels gestiegen war. Es mochte gut neun Uhr verstrichen sein. Etwas verschlafen richtete er sich auf. Die Schmerzen, die ihn noch vor einem Tag gepeinigt hatten, waren vollkommen verschwunden.
»Guten Morgen, Schlafmütze!«
Gilfea sah sich nach seinem Drachen um und entdeckte ihn, als der gerade dabei war seine Flügel über den Schloten und Kaminen auszubreiten, um sich die heißen Gase über die Haut streichen zu lassen.
»Guten Morgen, mein Drache!«
»Heute wird ein aufregender Tag. Unsere Freunde werden in einer halben Stunde hier sein.«
»Unsere Freunde?«
»Genau!«, meinte Mithval belustigt, wollte aber nicht mehr sagen. Stattdessen genoss er es, in den heißen Gasen zu duschen.
Gilfea schüttelte seinen Kopf. Er hatte schon gehört, dass Drachen einen eigenen Humor besaßen. Aber dass er derart eigen war, damit hatte er nicht gerechnet. Überhaupt war dieser Drache anders, als er erwartet hatte. Er war gleichzeitig quirlig aber auch sehr vernünftig. Dass Drachen mit einem voll ausgebildeten Bewusstsein und dem gesamten Wissen ihrer Eltern das Licht der Welt erblickten, das war Gilfea bekannt. Ob dieser ständige leicht amüsierte Unterton bei allen Drachen vorhanden war? Gilfea war sich nicht sicher, aber er vermutete, dass hinter der ganzen Fröhlichkeit wesentlich mehr steckte. Eins war auf jeden Fall klar. Wenn Mithval nichts erzählen wollte, dann würde er auch nichts erzählen. Gilfea musste abwarten, bis die Freunde eintreffen würden.
Die Wartezeit vertrieb sich Gilfea damit, seinen Partner genauer zu betrachten. Mithval war schwarz, wirklich schwarz. Seine Schuppen glänzten dunkel in der Sonne. Mithval war dazu übergegangen, ein paar Flugübungen zu machen. Die hatte er auch nötig. Der kleine Drache war keinen Tag alt und Fliegen konnte man sein Geflatter wahrhaftig nicht nennen. Immerhin hatte er Spaß an der Sache. Gilfea fühlte es. Überhaupt schien die mentale Verbindung zwischen ihm und Mithval stärker zu werden. Mithval versuchte, die Thermik der Schlote zu nutzen. Zuerst sah es wirklich linkisch aus, was der kleine Drache sich zurechtzappelte, aber mit der Zeit wurde er ruhiger, die Flugbewegungen gleichmäßiger und seine Bahnen eleganter. Gilfea konnte fast fühlen, wie die Luft über Mithvals Drachenhaut wehte und wie glücklich er dabei war.
»Sie sind da!«, hörte er Mithval in seinem Kopf.
Gilfea sah sich um und tatsächlich, fern am Horizont konnte er eine Handvoll schwarzer Punkte erkennen. Die Punkte kamen schnell näher und wurden größer. Schließlich konnten auch Gilfeas Augen erkennen, was es war. 7 Drachen flogen in Formation auf sie zu. Sie bildeten ein V, wobei die jeweils äußeren Drachen grüne Grasdrachen waren. Die Innenflanken nahmen je ein roter Drache ein und in der Mitte flog, deutlich größer als die anderen, ein schimmernder Silberdrache.
Gilfea war von diesen Wesen fasziniert. Mit offenem Mund stand er da und folgte staunend ihren Bahnen, bewunderte ihre Flugkünste und die Leichtigkeit, mit der sie durch die Luft zogen, jede Thermik ausnutzend.
»Sind sie nicht schön?«, fragte er Mithval, »Eines Tages werden wir beide ebenso durch die Luft gleiten. Mit dem Wind spielen und durch die Wolken ziehen.«
»Und nur der Himmel und die Sterne werden über uns sein«, träumte Gilfea.
Dann setzten die 7 Drachen zur Landung an. Gilfea wich zurück, als er sie Angesicht zu Angesicht gewahr wurde. Sie waren riesig, selbst die kleinen, grünen Grasdrachen waren furchteinflößend, wenn sie ihre Schwingen ausbreiteten. Aber die beiden roten und der Silberdrache waren eine Kategorie für sich. Turmhoch ragten sie auf. Mit ihren weit abgespreizten Flügeln waren sie breit wie Burgtore. Doch bei all ihrer Größe bewegten sie sich mit einer Eleganz und Geschmeidigkeit durch die Luft wie kein anderes Wesen.
Alle sieben Drachen legten eine perfekte Punktlandung hin. Gilfea musste aufpassen, dass er nicht stolperte. Die letzten Flügelschläge der Drachen erzeugten so viel Wind im Felsenkessel, dass es Gilfea fast von den Füßen gefegt hätte. Als sich der aufgewirbelte Staub legte standen die Drachen unmittelbar vor ihm und schauten auf ihn herab, neugierig, aber auch typisch für Drachen leicht amüsiert. Gilfea wusste nicht, was er sagen, denken und wohin er als erstes schauen sollte. Sein Blick war nach oben gerichtet und schaute staunend von Drachen zu Drachen.
»Hihihihi … «, kicherte Mithval in seinem Kopf.
»Hallo?«, hörte er eine Stimme vor sich und schaute zum Fuß des Drachen vor ihm. Dort stand ein junger Mann, vielleicht 24 Jahre alt.
»Ich bin Turondur«, stellte er sich vor, »Und dieses silbern funkelnde Monster von einem Drachen ist Toldin.«
Gilfea hätte wetten können, dass der Silberdrache breit grinste.
»Die beiden Grünen links von dir sind die zweieiigen Zwillinge Kifirin und Kifilan mit Egmont D’Gal und Johannes. Dann kommt die rote Dame namens Seregsil mit Akira Yamato. Der rote Typ auf der anderen Seite ist Caransil mit Roderick und zum Schluss die beiden Grünen auf der rechten Seite, Lindor und Lindal, ebenfalls Zwillinge mit ihren beiden Seelen Thonfilas und Benedict.«
Alle Reiter waren abgestiegen und standen vor ihren Drachen. Bei jedem Namen, den Turondur aufrief, nickte oder verneigte sich der entsprechende Drache oder Reiter. Gilfea war gleich mehrfach überrascht. Zum einen schien keiner der Reiter älter als Ende 20 zu sein. Alle waren sehr sportlich und schlank. Alleine, wie sie von ihren Partnern klettern oder vielmehr herabglitten, zeugte von beindruckender Agilität und Körperbeherrschung. Drachenreiten war vermutlich eine anstrengende Tätigkeit.
Eine andere Überraschung war die Verschiedenheit der Reiter. Am meisten überraschte ihn der Name Egmont D’Gal. Ein Gildename. Sicherlich war Egmont kein Graumeister. Nicht, dass er jemals einen Graumeister wissentlich gesehen hätte, kein Mensch außerhalb der Gilde hatte jemals einen gesehen. Trotzdem muss Egmont der Gilde angehören, andernfalls hätte er seinen Gildenachnamen aufgeben müssen, was aber nur als Novize möglich gewesen wäre.
Benedict und Johannes mussten im Einflussbereich der Technopriesterschaft aufgewachsen sein. Beide trugen schwarze sutanenähnliche Mäntel. Ihre Körperhaltung war aufrecht fast herrschaftlich.
Akira Yamato kam unverkennbar aus dem Herrschaftsgebiet der U.T.U, der Unabhängigen techonologischen Union, was die Frage aufwarf, wie sich Akira mit den beiden technoklerikal geprägten Reitern vertrug.
Die Herkunft Rodericks war einfach zu eraten. Sein feuerroter Schopf, die helle Haut und sein eher bullig-massiver Körperbau waren typisch für einen Neovikinger.
Und zum Schluß Turondur und Thonfilas. Zwei Elben, wie sie im Buche stehen. Thonfilas war ein klassischer Grauelb, hochgewachsen und langgliedrig. Turondur schien von hochelbischem Geblüt zu sein. Trotz seiner Freundlichkeit und scherzhaften Art, umgab ihn eine aristrokratische Aura. Gilfea hatte sogar den Eindruck, dass Turondur bewußt dagegen ankämpfte, nicht in den für seine Art typische Arroganz und Herablassung zu fallen.
»Ähm … «, stammelte Gilfea, »der kleine Schwarze neben mir ist Mithval und ich bin Gilfea.«
Turondur war zweifelsfrei der Anführer der Gruppe.
»Ja, du bist Gilfea«, antwortete Turondur. »Mithval hat Toldin schon alles von euch beiden erzählt. «
»So weit können Drachen miteinander reden?«, rief Gilfea ganz erstaunt.
»Yup, und noch ein Stück weiter«, erklang Mithval in Gilfeas Kopf.
Der kleine schwarze Drach flatterte auf Toldin zu. Neben diesem Giganten sah er klein wie eine Fliege aus. Der große Silberdrache verfolgte die Flugbewegungen aufmerksam. Es sah ganz danach aus, als wenn sie die beiden Drachen miteinander unterhalten würden.
»Turondur, wir sollten schnell aufbrechen. Wir sind in unsicherem Gelände. Ich habe ein ungutes Gefühl.« Roderick war an Turondur herangetreten. Sowohl er, als auch sein roter Drache, sahen sich permanent um und überwachten die Gegend.
»Ich kann keine Klerikeraktivität messen – bisher. Aber eine Gruppe wie wir wird ihrem Messnetz kaum entgangen sein«, fügte Benedict Rodericks Bemerkung hinzu und schaute auf einen kleinen Apparat in seiner Hand.
»Maximal 5 Minuten von jetzt. Wir tragen eine Magiewelle der Stufe 7 vor uns her«, kam es von Johannes.
Gilfea verstand nichts. Kratzte sich nur am Kopf.
»Ok, Gilfea, du fliegst bei Akira mit. Mithval ist noch zu jung zum fliegen. Er wird noch viel lernen müssen, bevor er eine Strecke wie die bevorstehende hinter sich bringen zu können. Toldin wird ihn tragen.«
Noch während Turondur sprach, war Akira Yamato zu Gilfea gegangen und hatte sein Handgelenk ergriffen. Mit höflicher und angenehmer Stimme sagte er: »Komm, meine Seri wird uns beide mit Leichtigkeit tragen. Ich helfe dir auf ihren Rücken.«
Die rote Drachendame hatte bereits ihren linken Flügelarm so ausgebreitet, dass Gilfea und Akira den Rücken des Drachens erklimmen konnten. Auf dem Rücken befand sich ein zweisitizger Aufbau. Akira zeigte auf den vorderen Platz und Gilfea setzte sich. Ihm war etwas mulmig, schließlich war er noch nie geflogen, schon gar nicht mit einem Drachen.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Gilfea seinen Drachen. Turondur war bereits wieder auf Toldin geklettert und der Silberdrachen war sofort gestartet. Mit einer fast nicht vorstellbaren Präzision hatte er Mithval mit seinen riesigen Klauen gegriffen und trug nun den Jungdrachen sanft in die Höhe.
»Toldin meint, ich wäre ein lächerliches Fliegengewicht.«
Akira beugte sich zu Gilfea vor, legte ihm eine Hand auf die Schulter und fragte: »Ängstlich?«
Gilfea nickte.
»Ich versteh das. Du bist noch nie mit einem Drachen geflogen, also erschrick dich nicht, wenn Seregil gleich abhebt. Es ist schon etwas gewöhnungsbedürftig. Aber habe keine Angst, sie wird niemals zulassen, dass jemand, den sie tragen will, herunterfällt. Nicht wahr, Baby?«
Bei den letzten beiden Worten streichelte Akira über die Schuppen seines roten Drachens. Seregil drehte ihren Hals und sah Akira an. Gilfea war beeindruckt. Er konnte die enge Bindung zwischem Drachen und Reiter regelrecht spüren. Es war eine Art Intimität zwischen den Beiden, die weit über so etwas wie Liebe hinaus ging.
»Natürlich geht es über Liebe hinaus«, meldete sich Mithval in seinem Kopf. »Die Beiden sind ein Wesen. So wie wir beide. Ich bin ein Teil von dir und du bist ein Teil von mir. Ich will dir keine Angst machen oder dich mit Informationen überfordern. Es wird sicherlich noch ein paar Jahre dauern, sowohl bei dir als auch bei mir, aber eines Tages, werde ich mich in eine nette Drachenlady verlieben oder du dich in ein nettes Mädchen oder in … egal … auch du wirst dich verlieben. Wenn das passiert wird der andere es fühlen, den ganzen emotionalen Sturm miterleben. Wir sind aneinander gebunden. Aber ich bin glücklich, so wie es ist. Und das nicht nur, weil es der Weg der Drachen ist. Ich bin glücklich, dass du es bist, der meine Seele ist. Ich weiß einfach, dass ich dir immer vollkommen und uneingeschränkt vertrauen kann und ich weiß auch, dass du es umgekehrt ebenfalls tust. Und keine Angst, du und ich werden jeder soviel private Zeit für uns selber haben, wie wir brauchen. Schließlich werden wir ein paar Jahre zusammen bleiben, so um die 1000.«
»Wie viel?«
»Viele … «, kicherte es in seinem Kopf. Gilfea konnte sich nicht helfen, er liebte diesen Drachen. So absurd diese Art des Zusammenlebens auch sein mochte, er konnte sich nichts Schöneres vorstellen. Mithval war wie ein großes emotionales Kissen, auf dass er sich fallen lassen konnte. Ja, er liebte Mithval.
»Ich liebe dich auch, Gilfea!«
»Aahh … «, hörte Gilfea Akiras Stimme hinter sich, »Es ist einach immer wieder süß, zwei frisch verbundene zu erleben. Du glühst regelrecht. Achtung, es geht los.«
»Wow!«, kreischte Gilfea auf, als sich die rote Drachendame unter ihm in die Lüfte erhob. Zuerst entfaltete sie nur ihre Flügel, aber bereits das wirbelte massenweise Staub auf. Als sie dann aber mit dem ersten Schlag abhob, sackte Gilfea das Herz in die Hose. Vier Flügelschläge weiter, befanden sie sich bereits hoch über dem Kessel. Höher und höher stiegen sie, die anderen Drachen dicht daneben. Gilfea krallte sich an seinem Sattel fest und hielt den Atem an. Plötzlich hörte die Aufwärtsbewegung auf und ging in einen Gleitflug über. Gilfea schaute sich vorsichtig um. Die Drachen hatten die gleiche Formation eingenommen, wie bei ihrer Ankunft. Links und rechts außen waren die grünen Drachenzwillinge gefolgt von den roten Drachen und in der Mitte war Toldin, der Silberdrache.
Gilfea sah, wie sich Turondur nach links und rechts umschaute, dann beugte er sich vor und streichelte den Hals seines Drachens. Toldin begann sich zu strecken, die anderen Drachen folgten dem Vorbild.
Und dann ging es los. Das ganze Drachengeschwader setzte sich in Vorwärtsbewegung. Von einer Sekunde zur anderen schossen sie vorwärtes und jagten los. Der Wind pfiff Gilfea um die Ohren. Mit unglaublicher Geschwindigkeit flogen sie über die Lande. Das heißt, eigentlich flogen sie nicht, sie glitten durch durch die Luft. Je länger der Flug dauerte, desto ruhiger wurde Gilfea. Er begann sich sicher zu fühlen. Jeder Kurve die Seregil flog, jede Lageänderung war sanft und sicher, dass Gilfea sich immer wohler fühlte. Außerdem war der Ausblick einfach atemberaubend. Wälder, Flüsse, Wiesen, Seen und Hügel rauschten unter ihnen vorbei. Es war einfach fantastisch. Der Gedanke später selbst, zusammen mit Mithval, über die Welt zu fliegen, ließ Gilfeas Herz höher schlagen.
»Es macht dir Spaß, zu fliegen?«
»Ja, es ist der totale Wahsinn!«
»Eines Tages werden du und ich, wir beide, zusammen fliegen!«, Mithvals Stimme klang glücklich.
Die Zeit verging. Seit ihrem Abflug waren gut zwei Stunden vergangen. Bei ihrer momentanen Fluggeschwindigkeit mussten sie hunderte Kilometer zurückgelegt haben. Sie flogen gerade durch ein Tal, dass von zwei sehr hohen Gebirgsketten gesäumt war, als Gilfea ein ungutes Gefühl beschlich. Er sah sich um und entdeckte weit voraus auf 10 Uhr einen dunklen Streifen, der sich entlang eines Flußes zu ziehen schien.
»Mithval, was ist das da vorne. Auf 10 Uhr?«
Es vergingen drei Sekunden, dann kam eine Reaktion. Die gesamte Staffel legte sich in eine scharfe Kurve und flog in Richtung 4 Uhr, direkt entgegengesetzt zu dem von Gilfea entdecktem dunklen Steifen.
»Orks!«, brüllte Mithval in Gilfeas Schädel, »Es ist ein ganzes Orcheer. Und wenn Benedict und Lindal recht haben, sind Drachenjäger unter ihnen.«
»Es sind Drachenjäger, oder besser Drachenmörder, im Heer. Caransil und Roderick übernehmen die Führung. Wir müssen jede Konfrontation vermeiden. Gilfea und Mithval sind um jeden Preis zu schützen! Freunde, die Situation ist ernst. Ihr wisst, was auf dem Spiel steht!«
Es war eine mächtige Stimme. Kräftig, voluminös und sehr majestetisch. Gilfea wusste sofort, dass es Toldin, der Silberdrache war, der zu ihnen sprach. Und noch während er sprach, schoss Carasil, Rodericks roter Drache voraus und übernahm die Führung. Gilfea wunderte sich, warum Toldin so aufgeregt war, bis die ersten Jagdlanzen an ihnen vorbeiflogen und sie nur um haaresbreite verfehlten.
»Vergiftete Mark IV Jagdlanzen mit heisenbergkompensierten Multiphasenmagiesuchköpfen. Schneller! Flieht! Freunde, rettet euch! Flieht!«
Transformation
Tote Krieger trinken keinen Met
Leitsatz 17 des Ordens der Neovikinger
Die Drachen zeigten, was Fliegen heißt. Mit einem Ruck fetzten sie los. Was Gilfea vorher als schnell empfand, war gegen die Geschwindigkeit mit der sie jetzt flogen, fast Stillstand. Gilfea krallte sich am Sattel fest. Die Drachen wurden so schnell, dass er keine Zeit hatte, Angst zu bekommen.
»Warum fliehen wir?«
»Toldin meint, das Risiko wäre zu groß. Sie könnten nicht gleichzeitig uns schützen und kämpfen.«
Die Reichweite der Jagdlanzen entsprach den Möglichkeiten der Drachen. Mit anderen Worten, die Lanzen konnten einen Drachen einige hundert Kilometer verfolgen. Die einzige Chance nicht getroffen zu werden, bestand in drei Möglichkeiten. Entweder schneller zu sein als die Lanzen, ein unerwartetes magisches Manöver, beispielsweise eine Transformation durch Drachenfeuer, oder der Flug zwischen den Welten.
Zwischen den Welten zu Fliegen, die Technopriester nannten es unromantisch und wenig korrekt »durch den Hyperraum fliegen«, schloss sich aus, da weder Gilfea noch Mithval die Erfahrung ohne vorheriges Training mental und physisch verkraftet hätten.
Aber auch die anderen beiden Optionen hatte ihre Einschränkungen. Mit »konventioneller« Maximalgeschwindigkeit zu fliegen ist ermüdend, auch für einen Drachen, und lässt sich damit nicht unbegrenzt durchhalten. Magie wiederum bedarf der mentalen Vorbereitung.
Die Situation war ernst. Die Drachengruppe wurden von drei Jagdlanzen verfolgt und der Abstand nahm, wenn auch langsam, ab.
»Ausweichmuster Rumpelstielzchen!«, schallte es plötzlich in Gilfeas Kopf.
Die Drachen brachen ihre Formation auf. Bis auf Toldin und Seregsil, die weiter geradeaus aber hintereinander flogen, bogen die restlichen fünf Drachen sternförmig ab und zogen ein weite Kurven, bei der sie die drei Lanzen ins Visir nahmen. Die Lanzen schienen diesen Angriff von der Seite nicht zu bemerken, denn sie folgten stur Toldin. Plötzlich flamte ein grelles Licht auf, dass selbst die Sonne überstrahlte. Fünf Drachen hatten ihr Feuer zu einer Feuerkugel vereinigt, die dir drei Lanzen einhüllten. Eine perfekte Attacke, aber nicht perfekt genug.
Zwei der Lanzen konnten der geballten magischen Energie nicht wiederstehen und verwandelten sich in eine 10 Meter große Zahnbürste und in einen Regen aus Rosenblättern. Die dritte Lanze entkam und hielt nach wie vor auf Toldin zu. Gilfea sah mit panischem Blick, dass die Lanze immer näher kam. Er stutzte, die Lanze hielt nicht auf Toldin zu, sie zielte ein Stückchen tiefer – direkt auf Mithval.
Ängstlich sah Gilfea zu Toldin. Wie lange würde er wohl noch dieses mörderische Tempo durchalten können? Wurde er nicht bereits langsamer? Toldin flog verschiedene Ausweichmanöver, aber die Lanze kroch weiter auf ihn zu. Der Abstand wurde immer geringer. Ein blau-graues Glänzen an der Spitze ließ Gilfea ahnen, welchem Geist diese Waffe entsprungen war.
Noch wenige Sekunden. Gilfea wollte schon seine Augen schließen, als plötzlich ein grüner Drache von unten angeschossen kam und die Lanze rammte. Der Kampfkopf explodierte. Teile der Explosionswolk hüllten den grünen Drachen ein. Gilfea hörte einen Schrei, der ihm Tränen in die Augen trieb. Er konnten den Schmerz des Drachens fast fühlen. Der grüne Drache ging runter.
»Green dragon down!«
Die übrigen Drachen folgten. Sekunden später waren sie neben dem getroffenen Wesen gelandet. Es war Lindor. Thonfilas, seine Seele und Partner, kniete nebem ihm.
»Er wird doch nicht …?«, dachte Gilfea den schrecklichen Gedanken nicht zu ende.
»Nein, die Lanzen sind nicht tödlich, jedenfalls nicht für einen ausgewachsenen Drachen. Aber sie sind lähmend. Glücklicherweise wurde Lindor nur von einem Teil des Giftes getroffen. Und außerdem ist Thonfilas ein besonderer Elb. Er ist ein Heiler.«
Gilfea konnte nicht anders, er musste zu Lindor und Thonfilas. Seregil spürte sofort, dass Gilfea von ihm herabklettern wollte und streckte seinen Flügen aus. Kaum war Gilfea unten, war er auch schon bei Lindor. Thonfilas hatte seine Augen geschlossen und beide Hände auf die Haut seines Drachens gelegt. Seine Hände glühten golden auf, pulsierten und schickten Wellen des selben Glühens über den gesamten Drachen.
»Ihr habt euch für uns opfern wollen!«, Gilfea war von soviel Selbstlosigkeit überwältigt und den Tränen nahe. Dass sich jemand freiwillig für ihn oder Mithval opferte und dafür Schmerzen erlitt, sprengte sein Vorstellungsvermögen.
»Du kannst ihn berühren.«
Gilfea folgte Mithvals Rat und legte ebenfalls beide Hände auf Lindor. Kaum hatte er den Hautkontakt hergestellt, lief ein Schauer durch ihn. Gilfea Tränen schwollen zu Sturzbächen an. Dieser arme Drache und sein Reiter waren ohne zu zögern vor eine Lanze geflogen, die für ihn oder besser für Mithval bestimmt war, und dafür litt Lindor unter wahren Höllenqualen. Die Lanze lähmte nicht nur, sie war Schmerz pur.
»Wenn ich nur einen Teil der Schmerzen mit Lindor teilen könnte«, wünschte sich Gilfea und, als wenn dieser Wunsch eine Tür in seinem Geist aufgeschlossen hätte, wusste er, dass er genau das konnte. Gilfea öffnete sich. Ganz langsam und vorsichtig ließ er Lindors Schmerz auf sich hinübergleiten.
Es begann in seinen Händen. Er war ein Gefühl als würden sie in Flammen stehen. Der Schmerz war jenseits allem, was sich Gilfea vorstellen konnte. Die Erträglichkeitsgrenze war weit überschritten, trotzdem öffnete sich Gilfea weiter.
»Ahhhhhhhhhhhh!«, brüllte er auf, als ihn die volle Kraft der Giftwirkung traf. Er war in Agonie. Jede Nervenfaser in seinem Körper schien, in hellen Flammen zu stehen. Es war zu viel. Gilfea sackte zu Boden. Sein Blick vernebelte sich. Gilfea verlor sein Bewustsein. Dunkeltheit hüllte ihn ein.
»Mithval!«
»Ich bin hier!«, hörte er die warme, irdene Stimme seines Drachens und Freunds. Und als er sie hörte, war er, trotz der Schmerzen, glücklich. Die Schmerzen würden vergehen, Mithval würde bleiben.
»Er kommt zu sich!«, waren die ersten Worte, die Gilfea vernahm, als er wieder zu sich kam.
Es brauchte eine Weile, bis er es schaffte, seine Augen zu öffnen. Seine Lider fühlten sich schwer wie Blei an. Vorsichtig schaute er aus schmalen Schlitzen hervor und betrachtete seine Umwelt. Bloß keine übereilten Aktion, die du später bereust! Das Umgebungslicht war gedämpft. Gilfea wagte seine Augen ganz zu öffnen. Bis auf ein leichtes Ziehen in seiner Stirn verlief das Augenöffnen doch recht erfolgreich. Trotz seiner Kopfschmerzen schaute sich Gilfea um. Das erste, was er sah, war, dass er in einem richtigen Bett lag. Weich, weiß und mit flauschiger Decke. Das Bett befand sich in einer Art Nische. Obwohl »Nische« vielleicht nicht das richtige Wort war, da diese Nische die Dimension eines großzügigen Zimmers hatte. Doch statt vier Wänden, wie dies bei normalen Räumen üblich ist, fehlte diesem Zimmer eine Wand. Stattdessen eröffnete sich der Blick in eine hohe, weite Halle. Immerhin, zwischen der Halle und dem Raum mit den drei Wänden gab es einen Vorhang, den man bei Bedarf zuziehen konnte.
Neben dem Bett standen die beiden Elben Thonfilas und Turondur und sahen Gilfea an. Weiter hinten in der Halle hockten die Drachen Toldin, Lindor und Mithval und schauten ebenfalls zu Gilfea.
»Hallo!«, krächzte Gilfea.
»Danke Freund! Ich stehe tief in deiner Schuld. Wir alle stehen tief in deiner Schuld. Diese Schmerzen auf sich zu nehmen war wirklich selbstlos. Noch nie hat ein Mensch, nicht mal eine Seele, solch eine Tat vollbracht.«
»Halb so wild. Ich bräuchte nur eine Kopfschmerztablette. Du und deine Seele, ihr steht nicht in meiner Schuld. Ich sehe das eher umgekehrt: ich stehe in eurer Schuld. Ihr habt euch für Mithval und mich geopfert und die Lanze abgefangen. Nein, ich stehe in eurer Schuld. Deine Qualen zu lindern, war das Mindeste, was ich tun konnte und ich wüde es jederzeit wieder tun.«
Lindor schaute mit seinem Drachenkopf zu Mithval und Toldin. Alle drei Drachen wackelte mehr oder minder stark und abwechselnt mit ihren Köpfen. Es war klar, dass die drei sich unterhielten. Plötzlich grinsten sie, sagten aber nichts.
Dafür sprach Turondur: »Du weißt es nicht, aber vermutlich hast du uns alle gerettet. Thonfilas hätte zwar Lindors Lähmung heilen können, aber die Schmerzen hätten ihn trotzdem für Stunden flugunfähig gemacht. Das ist eine der Wirkungsweisen dieser teuflischen Lanzen. Sie sollen den Drachen so lange lähmen und am Boden halten, bis die Jäger eintreffen und ihn abschlachten können. Und die Jäger wären gekommen! Es war Kardinal Adas Heer, das uns verfolgte. Ein Name, der einem Todesurteil gleich kommt. Um nicht selbst in Gefahr zu kommen und um Mithval und dich zu schützen, hätten wir Lindor und Thonfilas zurück lassen müssen. Doch das hätte uns gebrochen. Wir sieben stehen uns sehr nah, wir sind miteinander verbunden. Diese Bindung ist zwar beiweiten nicht so stark und eng, wie zwischen Drache und Seele, aber sie uns ähnlich wichtig. Wenn du dich also fragst, warum sich Lindor und Thonfilas geopfert hätten, um Mithval und dich zu retten, dann desswegen, weil ihr zwei sehr wichtig seid.«
»Du meinst Mithval, wenn er ausgewachsen ist?«
»Nein … «, Turondur war entsetzt, »Glaubst du, uns ist ein Drache wichtiger als ein Mensch oder Elb? Selbst wenn du nicht die Seele deines Drachen wärst, wärst du uns lieb und teuer. Du solltest nicht alles auf Mithval reduzieren. Du bist genau so wichtig wie er. Ihr zwei seid eins! Und unabhängig von dem, was möglicherweise noch aus euch werden wird, hat dein Verhalten uns alle davon überzeugt, dass ihr zwei jedes Opfer wert seid.«
Gilfea fühlte sich müde. Die indirekte Wirkung der Lanze steckte ihm immer noch in den Kochen. Er gähnte und gab dem Zimmer einen zweiten Blick. Es schien nicht nur einfach ein Raum mit einem Bett zu sein, sondern eine Wohnung. Neben dem Bett gab es auch eine Sitzgruppe, einen Schreibtisch mit Datenplatte und ein kleines Bücherregal. Was Gilfea nicht sah, aber von der großen Halle aus erreichbar war, waren eine Küche und ein Bad. Ansonsten war die ganze Einrichtung in Grün- und braunen Holztönen gehalten. Alle Einrichtungstände hatten ein organisches, sehr natürliches Design und verströmte eine warme Gemütlichkeit.
»Wo bin ich?«
»In Lindors und meiner Wohnung«, antwortete Thonfilias.
»Eure Wohnung?«, fragte Gilfea nach.
»Ja. Lindor und ich teilen uns diese Drachenhöle. Du bist in Daelbar, unserer Stadt«, Thonfilas nahm einen Stuhl und setzte sich neben Gilfea ans Bett, »vielleicht solltest du noch ein wenig schlafen. Du bist immer noch geschwächt.«
Gilfea sah sich unsicher um. Trotz der behaglichen und freundlichen Umgebug, fühlte er sich einsam.
»Hey, Kleiner, ich bin ganz in deiner Nähe. Du bist nicht allein. Wir sind nicht allein! Wir sind bei Freunden!«
»Ich denke auch, du solltest dich noch ein wenig erholen und ausruhen«, meinte Turondur zu Gilfea und wandte sich zu Thonfilas, »Kann er eine Weile bei dir bleiben?«
»Natürlich! So lange wie er will und wie er muss.«
»Gut!«, Turondur nickte zufrieden und wandte sich wieder an Gilfea, »Ich werde euch jetzt eine Weile verlassen. Ich muss den Vorfall mit den anderen im Rat besprechen. Thonfilas wird sich um dich kümmern und dir, wenn du dich erholt hast, alles erklären, was du wissen willst. Bis bald.«
Mit diesen Worten verließ Turondur das Zimmer, ging zu Toldin, seinem Drachen, streichelte ihm versonnen über die Flanke und kletterte hinauf. Mit einem Satz war der Drache verschwunden.
»Beeindruckend!«, meinte Gilfea.
»Ja, Toldin ist wirklich ein beeindruckender Drache. Ich bin wirklich stolz und glücklich mit ihm und Turondur befreundet zu sein«, Thonfilas Augen leuchteten vor Respekt und Verehrung, aber dann ging sein Blick zu Lindor.
»Aber selbst wenn ich eine Wahl zwischen Lindor oder Toldin gehabt hätte, ich hätte mir immer nur Toldin gewünscht, meinen grünen Drachen und Freund«, bei diesen Worten war der respektvolle Ausdruck aus Thonfilas Augen verschwunden, denn er wurde von einem viel tieferen Ausdruck der Liebe abgelöst.
»Hier, trink das. Es wird deinem Körper helfen, sich zu erholen.«
Thonfilas hielt Gilfea einen Becher mit einer kühlen, erfrischend riechenden Flüssigkeit hin. Etwas skeptisch nahm er den Becher entgegen, zögerte einen Moment, um dann doch die gesamte Flüssigkeit auszutrinken. Sie schmeckte mindestens so erfrischend, wie sie roch. Sie prinkelte ein wenig und kitzelte in der Nase, dass Gilfea niesen musste. Zu seiner Überraschung, waren sein Kopfschmerzen dafür fast vollständig verschwunden.
Gilfea sah in die große Höhle. Mithval spielte mit Toldin. Manchmal vergaß man einfach, dass der kleine Drache erst einen Tag alt war. Fröhlich umflatterte er den großen Grasdrachen und beide schienen sich prächtig zu amüsieren. Mit diesem Eindruck gab Gilfea seiner Müdigkeit nach und fiel in einen tiefen erholsamen Schlaf.
Daelbar
Das Feuerspeien ist nur in den speziell gekennzeichneten Drachenfeuerschutzbereichen gestattet.
Hinweisschild am Einflugtor von Daelbar
Als Gilfea das zweite Mal erwachte, waren seine Kopfschmerzen vollkommen verschwunden. Auch seine Augen schmerzten nicht mehr. Er richtete sich in seinem Bett auf und sah sich um. Der Vorhang zur Halle war zugezogen. Thonfilas saß an seinem Schreibtisch und betrachtete eine holographische Projektion, deren Inhalt Gilfea aus der Entfernung aber nicht erkennen konnte.
»Ich dachte Elben mögen keine Technik.«
Thonfilas drehte sich zu Gilfea um und musterte ihn aufmerksam. Nach ein paar Sekunden erhellte sich sein Blick und er schaute zufrieden aus, als er auf Gilfeas Bemerkung antwortete.
»Die Technik an sich ist nicht das Problem. Es ist eine bestimmte Art der Verwendung, die uns missfällt.«
Thonfilas stand auf und setzt sich auf einen Hocker neben dem Bett.
»Es freut mich, dass es dir besser geht. Willst du etwas essen?«
Wie aufs Stichwort knurrte Gilfeas Magen.
»Damit erübrigt sich wohl eine Antwort«, meinte Gilfea, »Wie lange habe ich eigentlich geschlafen?«
»Vom Zeitpunkt an dem du die Besinnung verloren hattest bis zu deinem ersten Erwachen, sind zwei Tage vergangen. Das war gestern Nachmittag. Jetzt ist es 8 Uhr Morgens«
Gilfea rechnete nach, »Dann habe ich seit fünf Tagen nichts mehr gegessen und bis auf den Becher gestern nachmittag auch nichts getrunken. Warum lebe ich noch?«
Thonfilas lächelte nachsichtig, »Man merkt, dass du nicht in einer Drachenreiterschule warst. Mithval hat dich versorgt. Es hat ihn zwar einiges an Kraft gekostet, aber seit ihr hier seid, hat er für euch zwei gefuttert. Denk immer dran, ihr seid jetzt ein Wesen. Und obwohl ihr nicht körperlich wirklich eins seid, ist eure Bindung fast so.«
»Mithval!«, durchzuckte es Gilfea, »Wo ist er?«
»Ich bin hier, Kleiner!«, tönte es sofort in seinem Kopf, »Ich bin bei Lindor, der mir die Stadt zeigt. Er ist ein toller Drache!«
Beruhigt lehnte sich Gilfea zurück. »Ich glaube, ich sollte mich waschen, und ich bräuchte auch etwas zum anziehen.«
»Du findest alles was du brauchst im Badezimmer. Die zweite Tür rechts«, antwortete Thonfilas und zeigte auf die Halle, »Mach dich frisch, und wenn du zurück bist, gibt es ein gutes Frühstück. Vorausgesetzt, du magst elbische Speisen.«
Da Gilfea keinerlei Erfahrung mit der elbischen Küche besaß, zuckte er nur mit den Schultern. Dann sprang er aus dem Bett und ging ins Bad. Da er weniger müffelte, als er erwartet hatte, vermutete er, dass man ihn während seines langes Schlafs gewaschen haben musste. Trotzdem war eine warme Dusche genau was er brauchte. Er stellte sich unter die Dusche und ließ das Wasser über sich laufen. Während das warme Nass seine Haut und Haare benetzte, entdeckte Gilfea auf einer kleinen Ablagefläche eine Flasche, die neben allerlei elbischen Schriftzeichen auch mit »Shampoo« beschriftet war. Gilfea griff zu.
»Jau!«, schrie Gilfea auf. Man hätte ihn warnen sollen. Das elbische Shampoo war wie ein Energy-Power-Drink von außen. Es fühlte sich nicht nur so an, als ob der gesamte Schmutz der letzten Jahre von Gilfea abgewaschen würde, sondern auch gleichzeitig so, als ob seine Haut und Haare mit hypervitalisierender Energie aufgeladen werden würden. Das Zeug hatte es in sich.
Hellwach und energiegeladen kam Gilfea zurück in Thonfilas Wohnzimmer.
»Ah, du hast mein Shampoo entdeckt«, ein hinterhältiges Grinsen umspielte die Lippen des Elbs.
»In der Tat, du Schuft!«, grinste Gilfea zurück.
»Ohhh, war es so schlimm?«, Thonfilas zog einen Stuhl vom Eßtisch zurück und zeigte auf den freien Platz, »Komm, das Frühstück ist fertig.«
Das Frühstück war … anders. Eindeutig elbisch. Was Gilfea für Milch hielt schmeckte zwar auch nach Milch, aber auch nach mehr, ein Hauch Honig, aber auch eine Spur fruchtiger Säure, etwa wie aus Orange. Das Brot war gleichzeitig luftig, würzig, leicht und gehaltvoll. Der Brotbelag, der eindeutig vegetarisch, wenn auch nicht veganisch war, duftete so, dass einem das Wasser im Mund zusammen lief. Und obwohl alles mehr als fantastisch schmeckte und man denken könnte, dass man von dieser elbischen Nahrung nie genug bekommen würde, war Gilfea plötzlich satt.
»Wo bin ich?«, fragte Gilfea, nachdem er den letzten Bissen zu sich genommen hatte.
»In Daelbar«, antwortete Thonfilas, »Aber das ist wohl nicht, was du wissen wolltest, oder?«
»Ja und Nein. Daelbar? Der Name ist gestern schon gefallen.«
»Daelbar, das ist unser Zuhause. Meins, Turondurs, auch aller Reiter, die du kennen gelernt hast, und noch vielen mehr. Es ist auch dein und Mithvals Zuhause.«
Daelbar, so erklärte Tholfilas, war die Heimstadt der Drachenreiter. Ihre Trutzburg, Versammlungsstätte, Schule und Ort der Erholung. Es war eine Stadt und weit mehr als eine Stadt, eine kleine Welt des Friedens in einer magiefeindlichen Welt. Nur hier waren die Drachen und ihre Seelen absolut sicher. Niemand durfte das kleine Drachenreich betreten. Die absolute Unverletzlichkeit und Autonomie Daelbars war durch den 7. Multilateralvertrag gesichert. Selbst die Päpstin der unifizierten Technokratie, Paula-Sylvestra II., respektierte das Vertragswerk und erkannte es als gültig und verbindlich an. Im allgemeinen scherten sich die Päpstin und die Kurie wenig um Verträge, allerdings war der 7. Multilateralvertrag, wie alle Multilateralverträge, auf Druck der Gilde entstanden. Und selbst die Päpstin wagte es nicht, zumindest nicht offen, gegen die Graumeister der Gilde vorzugehen.
»Komm, ich zeige es dir!«, meinte Thonfilas und packte Gilfea mit seinen langen Elbenfingern am Handgelenk. Mit sanfter aber nachdrücklicher Kraft zog der Elb Gilfea mit sich. Halb laufend, halb stolpernd folgte Gilfea. Nachdem sie das Wohnzimmer verlassen hatten durcheilten sie die Halle, in der Toldin lebte. Die Halle war hoch, breit genug, dass der Drache seine Flügel ausbreiten konnte. Mindestens so beeindruckend wie die Halle selbst war ihr Tor. Ein riesiges Hangartor, das, sich in der Mitte teilend, zu beiden Seiten weggleiten konnte und eine riesige Öffnung frei gab. Gilfea und Thonfilas gingen hinaus. Vor dem Tor gab es eine Startrampe, die über einen Abhang hinaus ging. Gilfea ging vorsichtig an den Rand.
Und dann sah er die Stadt. Daelbar – Das Drachenheim.
Die Stadt bestand aus einer Reihe von Hängen und Bergen, an deren Flanken sich Drachenhöhle um Drachenhöhle schmiegte. Jede Drachenhöhle war in erster Linie eine große Kuppel mit einem Tor und einer Startrampe, die jeweils über eine Klippe herausragte. Die Klippe selbst waren, abgesehen von den Rampen, mit einer Mauer begrenzt, vermutlich, damit niemand aus Versehen herunterstürzen konnte. Von den Kuppeln gingen kleine Gebäude ab, die vermutlich die Wohnungen der Drachenseelen waren. Zwischen den Höhlen war das Gelände von Gassen und Wegen durchzogen. Die Hauptwege wurden von ringförmige Straßen geschaffen, die sich wie Terrassen an die Berge schmiegten. Der Anblick war atemberaubend. Gilfea schaute sich weiter um. Im Talkessel befand sich ein großer See, in dem sowohl Drachen als auch Menschen am Baden waren. Auf dem höchstem Berg meinte Gilfea hingegen eine riesige Halle mit goldenem Dach erkennen zu können. Aber am meisten beeindruckte das Leben. Daelbar wimmelte von Leben. In den Gassen herrschte ein munteres Treiben. Kleine und große Wagen, vom Eselkarren bis zum Antigravtransporter, fuhren hin und her. Aber nicht nur am Boden war Leben, auch der Luftraum war erfüllt von reichlich Verkehr. Gilfea sah, wie vor einer großen Lagerhalle ein Lastshuttle landete. Zwischen zwei weiter entfernten Bergen konnte man eine Staffel Drachen Formationsflug üben sehen. Und auch zwischen den Bergen und Hügel war massenweise Flugbetrieb. Trotz der ganzen Geschäftigkeit wirkte alles wohl geordnet und geplant. Die ganze Stadt summte wir ein perfekt eingestelltes und gewartetes Uhrwerk.
Tholfilas zeigte mit seiner Hand auf die goldene Kuppel: »Das ist die Ratshalle von Daelbar. Dort wollen wir hin.«
»Zu Fuß?«
Die Halle war nicht weit entfernt, höchstens 1 oder 2 Kilometer. Allerdings müsste man zu Fuß erst einmal den Berg, auf dem sich Gilfea befand Richtung Tal verlassen, einen kleinen Hügel überwinden, um anschließend den Berg mit der goldenen Kuppel zu erklimmen. Jener Weg wäre deutlich weiter als 2 Kilometer, und wenn man die ganzen Höhenmeter betrachtete auch wesentlich anstrengender. Doch bevor sich Gilfea noch Sorgen machen konnte, schoss ein grüner Drache von unterhalb der Klippe empor und landete elegant auf der Startrampe. Neben ihm flatterte Mithval heran.
»Zu Fuß? Willst du Lindor beleidigen?«, Mithval klang wie immer amüsiert.
»Wow!«, entfuhr es Gilfea, als er seinen Drachen sah, »Bist du das wirklich?«
»Yap«, tönte es in Gilfeas Kopf. Der Stolz in Mithvals Stimme war nicht zu überhören.
Mithval war gewachsen. War er bei der ersten Begegnung mit Gilfea ungefähr gleich groß, hatte sich die Größe des Drachen während Gilfeas Genesung kurzerhand verdoppelt. Natürlich sah Mithval neben Lindor immer noch niedlich klein aus, aber bei seinem Wachstum war es nur noch eine Zeit, bis er mit dem Grasdrachen gleichziehen würde.
»Komm!«, tönte Lindor und breitete seinen rechten Flügel aus, um Thonfilas und Gilfea aufzunehmen, »Wir werden bereits erwartet.«
Kaum hatten sich Gilfea und Tholfilas auf dem Rücken des Drachen niedergelassen, hob dieser auch schon ab. Das heißt, nicht ganz. Er breitete seine Schwingen aus und stürzte sich von der Startrampe. Gilfea zog sich der Magen zusammen. Der Drache sauste immer schneller und tiefer, und als Gilfea schon dachte, sie würden unweigerlich den Boden rammen, beschrieb die Flugbahn eine scharfe Kurve und jagte in Höhe.
»Jau!«, kreischte Gilfea und hörte ein Schmunzeln in seinem Kopf.
Lindor stabilisierte seine Fluglage. In langezogenen Kreisen und mit minimalen Korrekturschlägen seiner Flügel schraubte er sich immer höher in die Luft. Dabei nutzte er, wie alle Drachen, sehr geschickt die Thermik aus, die in Daelbar mit seinen vielen Hügeln und Bergen reichlich vorhanden war. Als Lindor ausreichend Höhe gewonnen hatte flog er eine elegante Kurve und hielt direkt auf die goldene Halle zu.
Je näher sie kamen, desto mehr staunte Gilfea über die Größe der Ratshalle. Von Thonfilas und Lindors Höhle aus gesehen, war die Kuppel groß. Aus der Nähe war sie gigantisch. Allein ihr Tor sprengte alles, was Gilfea bisher gesehen hatte. Die Ratshalle nahm die gesamte Spitze des Berges ein. Hier schien man ein Plateau geschaffen und die Halle direkt darauf errichtet zu haben. Soweit Gilfea das sehen konnte gab es keinen direkten Fußweg in die Halle, denn rings herum fiel der Berg fast senkrecht zu allen Seiten ab. Erst etwa zweihundert Meter tiefer gab es weitere Bauten.
Lindor landete auf der Startrampe der Halle, die weit über den Abgrund hinaus ragte. Wenige Meter weiter und etwas weniger elegant, kam Mithval angeflattert. Gilfea stieg von Lindor herab und lief zu seinem Drachen. Aus einem Impuls heraus, den sich Gilfea selbst nicht erklären konnte, umarmte er seinen Drachen. Eine Welle starker Emotionen überwältigte ihn.
»Hey, Kleiner, alles in Ordnung?«, beschützend bedeckte Mithval Gilfea mit seinem Flügel.
»Ja, jetzt ist alles in Ordnung.«, Gilfea schaute zu Mithval hoch, »Ich weiß auch nicht, aber plötzlich überwältigten mich meine Gefühle.«
Thonfilas war ebenfalls von Lindor herabgeklettert, gab seinen Drachen einen Klaps an die Flanke und ging auf Gilfea zu: »Alles Ok?«
Gilfea nickte: »Ja, es war … «
»Ein Gefühlsturm … Ich weiß … «, Thonfilas nickte wissend, »Es ist dieser Ort. Es sind die Drachen. Du weißt, dass die Drachen magische Wesen sind. Hier, an diesem Ort, kann diese Magie auf empfängliche Personen überwältigend wirken. Du bist emphatisch begabt. Das hast du beweisen, als du Lindors Schmerzen auf dich übertragen hast.«
Bei sich selbst dachte Thonfilas: »So langsam beginne ich Turondurs Vermutung zu glauben.«
»Und jetzt?«, fragte Gilfea.
»Gehen wir hinein«, antwortete Thonfilas.
Der Rat von Daelbar war eine Sache für sich. In vielerlei Hinsicht. Gilfea und Thonfilas durchschritten das Tor, Lindor durchflog es und Mithval flatterte fröhlich hinterher. Schon das Tor war beeindruckend, war es doch breit und hoch genug, dass selbst der größte Drache hindurchfliegen konnte. Hinter dem Tor befand sich ein ähnlich breiter und hoher Gang, der in den eigentlichen Ratssaal führte.
Der Ratssaal war ein Anblick für sich. Als Gilfea, Mithval, Lindor und Thonfilas den Gang verließen, standen sie mitten im Zentrum eines überdimensionalen Plenarsaals. Der Gang führte von der Seite ins Plenum, welches Halbkreisförmig mit steil ansteigenden Rängen aufgebaut war. Die Struktur schien für Aussprachen und Diskussionen entworfen zu sein. In der Mitte des Raums befand sich ein Rednerpult. Eigentlich waren es zwei, nämlich eines für Drachen und eines für Zweibeiner. Die Längsseite säumte drei Reihen von Sitzrängen, ebenfalls für Drachen und Zweibeiner ausgelegt. Wie Gilfea bald erfuhr, waren dies die Ränge der Schriftführer, Sekretäre und der Ratsvorsitzenden. Gegenüber der Längsseite befanden sich die halbkreisförmigen Reihen der Ratsmitglieder.
Der Rat von Daelbar war eine auf Konsens fixierte legislative Versammlung. Mit anderen Worten sie legten die Gesetze von Daelbar fest. Parteien, wie in anderen Ländern oder Reichen, gab es nicht, weil nur Entscheidungen mit einstimmiger Mehrheit gültig waren. Diese Art der Gesetzesfindung war etwas, worin sich Daelbar deutlich von anderen Demokratien unterschied, von den Monarchien und Diktaturen gar nicht erst zu reden. Natürlich war dieser Zwang zur Einigung zuweilen nicht wirklich einfach, von Zeit zu Zeit war er sogar ausgesprochen quälend und nervenaufreibend. Dafür wurden die Daelbaner aber mit einem erstaunlichen inneren Frieden gesegnet. Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen gab es eigentlich nie.
Zuerst war Gilfea überrascht, dass nicht nur Drachenreiter und ihre Drachen Ratsmitglieder waren. Später fragte er sich, wie er überhaupt auf diesen Gedanken gekommen war. Schließlich waren mehr als die Hälfte der Bevölkerung weder Drachen noch Drachenreiter, sondern ganz normale Leute wie Magier, unabhängige Technokraten, Bäcker, Zierfischzüchter, Klempner, Schriftgelehrte, Taxidermisten und vieles anderes mehr. Da jeder der volljährig war das aktive und passive Wahlrecht besaß, konnte sich jeder in den Rat wählen lassen. Erstaunlicherweise waren totzdem drei viertel der Ratsmitglieder Drachen und ihre Drachenreiter.
Von allen Ratsmitgliedern wurde ein Vorsitzender gewählt. Dies war die einzige Wahl, die nur einer einfachen Mehrheit bedurfte. Der Vorsitzende suchte sich dann 12 Beisitzer. Sie zusammen bildeten das, was meine die Regierung von Daelbar nennen könnte.
Gilfea kam sich fürchterlich klein vor, als er nun in dieser großen Halle stand und alle zu ihm herunterschauten.
»Hallo Gilfea. Hallo Mithval. Willkommen im Rat von Daelbar«, begrüßte ihn ein Silberdrache, wobei er richtig und nicht nur ihn Gedanken sprach. Es war kein anderer als Toldin, der Drache von Turondur, der zu ihm sprach. Dem Platz nach zu urteilen, waren Toldin und Turondur die Vorsitzenden des Rates.
»Freunde«, erhob Toldin seine warme, samtene Stimme, »begrüßt einen neuen Drachen und seine Seele in unseren Reihen!«
Plötzlich brauste ein Applaus auf. Gilfea wurde von einer Welle positiver Emotionen überflutet, so dass der Boden unter seinen Füßen schwankte.
»Gestern habe ich den Mitgliedern des Rates von euch und eurem Flug hierher unterrichtet«, setzte Toldin seine Rede fort, »Der ganze Rat dankt euch, aber insbesondere dir, Gilfea, dass du Lindors Agonie geteilt hast. Wie du selbst während unserer Flucht gemerkt hast, waren die Lanzen auf dich und Mithval gerichtet. Wir hegen den Verdacht, dass das Orkheer nicht zufällig unseren Weg gekreuzt hatte. Doch eins nach dem anderen. Von Mithval wissen wir, wie es zu eurer unerwarteten Vereinigung gekommen ist. Doch wissen wir nichts von dir. Wenn du magst, würdest du uns etwas von dir erzählen? Wir sind alle sehr begierig, mehr von dir zu erfahren. Doch ist es deine Entscheidung. Niemand zwingt dich dazu. Wenn du es nicht möchtest, wird dich niemand nötigen. Es ist dein freier Wille, den jeder respektieren wird.«
»Aber was, wenn ich ein böser Mensch bin?«, fragte Gilfea überrascht, »Wie könntet ihr mir vertrauen, wenn ich nichts sage?«
»Es ist ganz einfach. Wir vertrauen dir, weil Mithval dir vertraut. Kein Drache hat sich jemals in der Seele eines Reiters getäuscht.«
Gilfea verstand. Er sah sich um. Drehte sich um 360 Grad und betrachtete die Ratsmitglieder. Er sah Menschen, Elben, sogar ein paar Zwerge und er sah Drachen. Grüne Grasdrachen, wie Lindor, aber auch rote Drachen wie Seregsil. Daneben gab es braune Drachen, Bronzedrachen, den Grasdrachen nicht unähnliche Smaragddrachen, blaue Seedrachen und, wie Toldin, einige wenige Silberdrachen, da diese an und für sich schon sehr selten waren. Der beeindruckenste Drache war ein steinalter goldener Drache. Erstaunlicherweise gab es keinen einzigen Drachen, der Mithval auch nur ansatzweise ähnlich sah.
»Ich will euch von mir erzählen – von mir und wie ich Mithval fand«, antwortete Gilfea und legte seine rechte Hand dabei liebevoll auf Mithvals Flanke. Von den Rängen tönte wohlwollendes Gemurmel herunter. Offensichtlich war man mit Gilfeas Geste mehr als einverstanden. Und so kam es, dass er alles von sich erzählte. Wie er eines Tages in seinem Dorf auftauchte, wie er heranwuchs, von Schriftmeister Arbogast, aber eben auch von dem Tag, als das Dorf vernichtet wurde. Gilfea ließ nichts aus. Er berichtete von seiner Flucht in die Berge, vom Todesschrei den Mithvals Mutter ausgestossen hatte und dem Fund von Mithval. Als er schilderte, dass Mithval bereits in seinem Ei spüren und hören konnte, ging ein erstauntes Raunen durch die Ränge, während bei der Schilderung des Todesschreis die Trauer im Ratssaal fast greifbar war. Auf größtes Interesse stieß Gilfeas Beschreibung der Drachentöterklinge, und wie er sie im Schlot des Vulkans vernichtete.
»Junge, du weißt gar nicht, wieviel Glück du gehabt hast!«, Gilfea musste sich umdrehen, um den Sprecher zu sehen. Es war Roderick mit seinem roten Drachen Caransil, »Diese Klinge hätte dich bei der leichtesten Berührung getötet. Du hättest nicht einmal mehr Zeit gehabt zu spüren, wie ihr unheiliges Metall deine Haut verbrannt hätte.«
»Erstaunlich, wie unser junger Freund überhaupt in der Lage war, die Klinge zu sehen, geschweige denn sie zu spüren«, der steinalte Golddrache hatte das Wort ergriffen.
»Ich bin Fingolf, aber jeder ruft mich nur Fin. «, wandte sich der Drache Gilfea zu, »Du musst nämlich wissen, dass diese Waffen für normale Menschen unsichtbar sind. Aber wie ich hörte, bist du emphatisch begabt. Ich frage mich, ob die Orks die dein Dorf überfielen dies nur zufällig taten.«
»Fin, du triffst wie immer den Nagel auf den Kopf!«, schaltete sich Roderick ein, »Ich glaube, Gilfea hat es selbst noch nicht begriffen, obwohl er es in seiner eigenen Schilderung bereits ausgesprochen hat. Du sagtest, dass du den Eindruck hattest, dass die Orks den Auftrag hatten, jeden im Dorf abzuschlachten. Ich frage mich: jeden oder jemanden?«
Gilfea wurde schwindelig und wenn ihn Mithval nicht aufgefangen hätte, wäre er gestürzt. Natürlich! Die Orks waren auf der Suche gewesen, auf der Suche nach ihm!
Roderick fuhr fort: »Ich glaube auch nicht, dass die Orks vor denen wir geflüchtet sind nur zufällig unseren Weg kreuzten. Je mehr ich darüber nachdenke, desto sicher bin ich mir. Jemand hat sich alle Mühe gegeben, die Vereinigung von Mithval und Gilfea zu verhindern. Erst versuchte man Gilfea zu ermordern, doch wie durch ein Wunder entkam er. Dann wurde Mithvals Mutter ermordet. Und erneut gab es ein Wunder. Die Mörder übersahen Mithvals Ei. Wenn ich dann denke, wie unsere neuen Freunde zueinander fanden, bin ich fast geneigt an Vorsehung zu glauben. Allerdings bin ich Neovikinger und glaube nicht an solches Zeug.«
Drache und Seele schauten sich an. Waren sie wirklich durch höhere Kräfte füreinander bestimmt?
»Ihr habt die Orks auf unserer Flucht vergessen«, schaltete sich Thonfilas ein, »Gilfea hat sie als Erster entdeckt. Noch vor den Drachen!«
Fin erhob seine Stimme: »Turondur, ich glaube die Vermutung, die du gestern geäußert hast, trifft zu. Gilfea und Mithval sind auserwählt. Etwas geschieht. Ich kann es in meinen alten Knochen spüren. Der langerwartete Sturm steht vor unserer Tür. Wir haben nur noch wenig Zeit und müssen uns vorbereiten.«
Gilfea sah sich ängstlich um: »Und das heißt?«
Der alte Drache lachte: »Es wird dir gefallen. Du wirst zu Schule gehen!«
Schulstunden
Prämisse 1: Marmeladenbrote fallen immer auf die Marmeladenseite.
Prämisse 2: Katzen laden immer auf ihren 4 Pfoten
Versuchsanordnung: Ein Marmeladenbrot wird mit der Marmeladenseite nach oben auf den Rücken einer Katze gebunden.
Aufgabe A: Stellen Sie eine Subquantennichtdeterminismusgleichung unter Berücksichtigung lokaler Magiefelder auf. Die Magiefelder dürfen zur Vereinfachung rotations- und divergenzfrei sein.
Aufgabe B: Ermitteln Sie den Wahrscheinlichkeitswert für eine spontane Bildung eins Mikrouniversum aus der Versuchsanordnung. Warum ist dieser Wert für Blaubeermarmelade größer als für Erdbeerkonfitüre? Diskutieren Sie Ihre Ergebnisse mit ihrem Seelenpartner.
Aufgabe C: Lassen Sie sich das Marmeladenbrot schmecken.Aufgabe aus dem Katalog der Examensfragen im Fach Quantenmagie für Drachenreiter
Schule? Was für eine Untertreibung. Was Fingolf leichthin als Schule bezeichnete, war mehr eine Universität. Gilfea wurde mit Wissen vollgestopft, und das Vollstopfen begann fast sofort. Nach der Ratsbesprechung zeigten Lindor und Thonfilas Gilfea und Mithval die wichtigsten Teile von Daelbar. Am Abend traf sich die vier mit dem Rest des Rettungstrupps zum Essen.
Egal ob Mensch, Elb oder Drache, alle begrüßten Gilfea und Mithval wie alte Freunde. Gilfea fühlte sich erneut überwältigt. Diesmal aber nicht magisch, sondern seelisch. Langsam dämmerte es ihm, welch massive Veränderung sein Leben erfahren hatte. Vor wenigen Wochen noch lebte er ein beschauliches und unbeschwertes Dorfleben. Er ging zur Schule oder spielte mit den anderen Kindern, die in gewisser Weise sogar seine Freunde ware. Und selbst wenn es keine Freunde im eigentlichen Sinne waren, so kannte er sie, so wie er jeden im Dorf gekannt hatte. Der plötzliche Gedanke an ihren Tod ließ Gilfea zusammen sacken. Er saß am großen Tisch mit all den Drachenreitern und brach einfach in Tränen aus. Es war das erste mal, dass er um seine alten Freunde weinte.
Und dann passierte etwas erstaunliches. Nicht eine Hand, sondern sieben Hände legte sich tröstend auf Gilfea. Alle Drachenreiter, Akira, Roderick, Thonfilas, Egmont, Johannes, Benedict und nicht zuletzt Turondur hielten ihn.
»Es ist gut!«, hörte er Benedict reden, «Laß es raus … «
»Sie sind alle tot. Und wenn es stimmt, was im Rat gesagt wurde, mussten sie meinetwegen sterben … «
Jeder wusste, was Gilfea meinte.
»Es ist nicht deine Schuld! Betrauere deine Freunde, aber verurteile dich nicht für etwas, dessen du nicht schuldig bist«, meinte Johannes mit ernster Stimme, »Trauere und sorge dafür, dass es nie wieder passiert.«
»Ich fühle mich so einsam … Ich bin so allein … «
Egmont D’Gal begann zu sprechen. Er sprach sehr leise, und Gilfea musste sich konzentrieren, um ihn verstehen zu können: »Du bist nicht allein! Gilfea! Du bist nicht allein! Wir sieben Seelen und sieben Drachen sind deine Freunde.«
»Das ist nett, aber ihr müsst es nicht tun. Ihr habt schon so viel für mich und Mithval getan. Ihr habt euer Leben riskiert, um uns hierher zu holen. Und wer bin ich schon? Ein 14 jähriges Kind. Und ihr? Ihr seid erwachsene Männer. Und auch wenn ihr alle recht jung ausseht, so seid ihr Drachenreiter und wahrscheinlich uralt.«
»Hört! Hört!«, lachte Roderick, »Ganz schon altklug unser Kleiner. Also, dass schreib dir mal hinter deine Ohren. Wir haben unser Leben riskiert, weil wir es so wollten und weil es unser Job ist. Und es für dich zu riskieren war eine Ehre. Wenn du es nicht glaubst, frag Lindor. Die Drachen lieben dich. Es stimmt, wir sind alles alte Säcke. Ben, Schwarzrock Benedict, ist mit 150 Jahren unser Küken. Aber das ist egal. Du brauchst eine Familie. Und wir alle wären stolz, wenn du uns als deine Familie akzeptieren würdest. Betrachte uns einfach, als deine großen Brüder.«
»Meine großen Brüder!«, Gilfea strahlte ein wenig. Die Tränen hingen immer noch an seinen Augen, »Ich habe mir immer einen großen Bruder gewünscht, und jetzt habe ich gleich sieben.«
Gilfea schaute von Drachenreiter zu Drachenreiter. Jeder nickte ihm freundlich zu oder gab ihm einen aufmunternden Blick. Gilfea merkte, dass sie es ernst meinten. Sie waren seine Familie, die Familie, die er nie gehabt hatte. Und als wenn dies nicht reichen würde, begannen plötzlich Stimmen in seinem Kopf zu singen. Er leise, dann aber immer lauter und deutlicher. Es waren die Drachen, die Drachen sangen! Sie sangen nicht mit Worten, sondern summten. Ein Wasserfall voller Wärme durchflutete Gilfea. Sieben fröhlich summende Drachen. Er wusste nicht wieso, aber es gab keinen Zweifel, die Drachen liebten ihn.
Nach der Feier anlässlich seiner Aufnahme in die Familie flog Lindor Gilfea und Thonfilas zurück zu Thonfilas und Lindors Höhle.
»Heute wirst du noch einmal bei mir schlafen«, meinte Thonfilas, »Morgen bekommen du und Mithval eine eigene Höhle.«
»Das wollte ich dich schon die ganzen Tage fragen. Wo hast du geschlafen? Schließlich habe ich Tage lang deine Wohnung besetzt.«
Thonfilas hielt seinen Kopf schief und sah ein wenig so aus, als hätte man ein Kind beim Naschen ertappt: »Eigentlich schlafen wir Elben nicht so wie ihr Menschen. Aber um deine Frage zu beantworte:. Die ersten zwei Tage habe ich auf einem Stuhl neben deinem Bett über dich gewacht.«
Gilfea klappte der Unterkiefer herunter. Wie sollte er all die Opfer, die man für ihn erbracht hatte, jemals wieder gut machen?
»Ich sehe, du hast wieder ein schlechtes Gewissen!«, Thonfilas schüttelte amüsiert und resigniert seinen Kopf, »Laß es! Ich habe es gern getan. Nach allem, was du für Lindor und damit auch für mich getan hast, war es eine lächerliche Kleinigkeit.«
Thonfilas machte eine Pause und schaute, für Gilfea überraschend, verlegen zu Boden: »Als es dir besser ging, habe ich die Nacht an einem anderem Ort verbracht … Ähm … Du wirst es ja sowieso erfahren. Ich war mit meinem Lebensgefährten zusammen.«
Lebensgefährten? Das war etwas, was es so in seinem Dorf nicht gegeben hatte. Jedenfalls nicht öffentlich. Meister Arbogast hatte Gilfea alles über die Fortpflanzung oder Sexualität erklärt, und auch, dass es dabei Personen gab, die das eigene Geschlecht bevorzugten. Doch das Dorf war in manchen Dingen sehr konservativ. Wenn die Dorfbewohner auch nichts mit den Lehren der unfizierten Technokratie am Hut hatten, so hatten manche ihrer Lehren und Behauptungen trotzdem einen Weg in die Köpfe der Leute gefunden. Magie wäre unnatürlich. Elben wären ein arogantes, snobistisches Pack, dass von einem längst verlorenen Glanz träumte. Zwerge geizig, raffgierig und im Prinzip alles Betrüger. Und, und, und. Eine dieser Lehren besagte unter anderem, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen minderwertig und, da sie nicht der Fortpflanzung dienten, für die Gesellschaft schädlich seien.
Meister Arbogast schnaubte immer, wenn er diese Behauptung hörte: »Pah, als wenn Sex immer der Fortpflanzung dienen würde!«
Damals verstand Gilfea nicht, was Arbogast damit meinte. Sex war für ihn ein Wort gewesen, dessen Bedeutung er nicht wirklich verstand. Dies hatte sich erst in der letzten Zeit geändert, als das Teil zwischen seinen Beinen begann, des öfteren hart und steif zu werden. Gilfea entdeckte ziemlich schnell, dass man diesen Zustand mit geeigneten Handgriffen forcieren konnte, und das sich das verdammt gut anfühlte.
»Du hast einen Gefährten? Was sagt dein Drache dazu?«, mit diesen Fragen fand Gilfea seine Sprache wieder.
Thonfilas grinste: »Lindor? Och, der … Glaub mir, er hat nicht die geringsten Einwände dagegen. Ganz im Gegenteil. Aber du kennst meinen Gefährten. Ich bin mit Roderick zusammen.«
Ein Elb und ein Neovikinger?
»Ich möchte, dass du weißt, dass wir keine Geheimnisse vor dir haben. Du gehörst zur Familie. In den nächsten Tagen wirst du auch noch die anderen Gefährten kennen lernen. Johannes Partnerin, Jannina, ist eine tolle Frau. Ebenso die Ehefrau von Akira. Ach … das hat Zeit. Du wirst es sehen. Und nun, ab ins Bett. Morgen beginnt die Schule!«
»Ja, großer Bruder!«
»Schlaf schön, kleiner Bruder!«
Und Gilfea schlief – Glücklich und zufrieden.
Der nächste Tag begann mit Verwaltungsarbeiten. Nach dem Frühstück, das Thonfilas zubereitet hatte und sie gemeinsam mit Roderick einnahmen, flogen sie zum Schulgebäude. Der Direktor begrüßte Gilfea freundlich, bedauerte aber gleich, dass die Schule für Gilfea vermutlich sehr, sehr hart werden würde. Potentieller Drachenreiter begannen viele Jahre früher mit ihrer Ausbildung. Diese verlorene Zeit galt es nun aufzuholen. Erschwerend kam hinzu, dass Gilfea und Mithval bereits miteinander vereint waren. Wie dem auch sei, man würde Gilfea jede erdenkliche Hilfe gewähren.
Diese Schule war anders als normale Schulen. Es gab keine Zensuren, was aber zu Daelbar passte. In anderen Ländern gab es Noten. Je beser die Zensur, desto besser der Job. In Daelbars Schule ging es nicht darum besser zu sein. Es ging darum zu sein! Ein Konzept, dass Gilfea nicht sofort verstand.
Diese Schule wollte Wissen vermitteln und nicht andressieren und dann abfragen. Alles, was gelehrt wurde, war wichtig und notwendig, zuweilen sogar lebensnotwendig. Konkurrenzdenken war daher eher kontraproduktiv.
Manche Schüler begingen den Fehler zu glauben, dass, weil es keine Zensuren gab, die Schule leicht sei. Doch sie irrten. Der Unterricht war schwer, sehr schwer. Waren Fächer wie Drachengeschichte, Flugkunde, politische Weltbildung, Geographie, etc. noch überschaubar, wurde es spätetens bei theoretischer und angewandter Quantenmagie sehr abstrakt und … seltsam. Klassische Physik, Chemie, Mathematik und Informatik waren gegen Quantenmagie die reinsten Spaziergänge.
Nach drei Wochen Schule fühlte sich Gilfea fix und fertig. Er und Mithval hatten eine eigene Höhle, zwei Höhlen neben Lindor und Thonfilas, bezogen. Als Gilfea in seine Höhle einzog, war er erstaunt, dass man ihm einfach eine Höhle gab. Er musste nichts bezahlen, was er, mangels Geld, auch nicht konnte. Gleiches galt für seine Kleidung, seine Möbel und seine Nahrung. Sie wurde gestellt. Einfach so. Erst ein paar Wochen später lernte er in politischer Weltkunde II, dass Drachenreiter und Drachenreiterschüler in Daelbar dieses Privileg genossen. Für sie wurde gesorgt, denn sie sorgten für Daelbar. Die Drachen und ihre Seelen waren Daelbar. Sie sorgten für Sicherheit, und, durch die Drachenmagie, für ihre Existenz. In Daelbar zu leben, bedeutete, priviligiert zu sein. Es gab wenige Demokratien in der Welt. Die meisten Staaten und Reiche wurden entweder absolutistisch, oligarisch, diktatorisch oder, wie in der unifizierten Technokratie, religös fundamentalistisch regiert. Eigentlich gab es keine Regierungsform, die nicht irgendwo ausprobiert worden war, angefangen bei der ausgestorbenen Gerontokratie von Six bis hin zur real exisitierende Anarchie der »insula septimus major«, obwohl man diese nicht wirklich als Regierungsform bezeichnen konnte.
Die sieben Seelen (oder großen Brüder) freuten sich, dass sich Gilfea langsam in seine neue Umgebung einlebte. Bereits nach weniger als zwei Wochen begann er seine anfängliche Schüchternheit abzulegen. Gilfea fand Freunde, wirklich Freunde, die sogar in seinem Alter waren. In seinem Dorf war er immer ein Eigenbrödler gewesen. Irgendwie hatte er ständig das Gefühl gehabt, ein Fremder zu sein. Und genau dieses Gefühl fehlte in Daelbar. Erstaunlicher noch, Gilfea hatte erstmals in seinem Leben den Eindruck, wirklich zu Hause zu sein.
Unter seinen neuen Freunden gab es vier, die sich zu seinen engsten und besten Freunden entwickleten. Der eine war Tom, ein junger Zwerg, der zwar nicht Drachenreiter werden wollte, aber wegen der Magiekurse, insbesondere Magie in der Metallurgie, die Schule als Gaststudent besuchte. Xurina, Franciscus und Mithrandor waren Drachenreiteranwärter. Xurina war die Tochter einer Amazone, die aus der Volksrepublik Vokando geflohen war. Francisus war, wie der Name vermuten ließ, ein Kind der unifizierten Technokratie. Er konnte sich, so wie fast alle Klosterschüler, nicht an seine frühste Kindheit erinnern. Das einzige, was er wusste war, dass er aus dem Kloster fliehen musste. Die Priesterschaft rekrutierte sich ausschließlich aus Waisenkindern und Priester der unifizierten Technokratie wollte Francicus niemals werden. Natürlich waren die Priester hinter ihm her, und sie hätten ihn auch wieder eingefangen, wären Johannes und Kifilan nicht gewesen und hätten ihn gerettet. Mithrandor war der einzige, der nicht geflohen war. Er war ein Elb aus den Bergwäldern von Anon’Car. Jahrelang lebte er dort mit seiner Sippe friedlich und unbeschwert, als ihn von einer Sekunde auf die andere nur noch ein Gedanke bewegte: »Du musst Drachenreiter werden.« Es war eine Art Vision, denn Mithrandor sah Bilder von Daelbar, ohne die Stadt jemals vorher gesehen zu haben. Die Ältesten seiner Sippe meinten daraufhin, dass man derartige Visionen nicht ignorieren dürfe. Mithrandor wanderte nach Daelbar und wurde sofort aufgenommen.
Keiner der drei war bereits eine Drachenseele, weswegen sie Gilfea ein wenig beneideten. Doch bald merkten sie, dass Neid völlig unangebracht war. Gilfea hatte weit schwerer als sie zu arbeiten, und das ausgerechnet aus dem Grund, weswegen sie ihn beneideten. Mithval war lieb und nett, ein toller Drache und der beste Partner, den sich Gilfea wünschen konnte, aber er war eben auch ein Drache – ein sehr junger Drache. Drachen als solches sind für ihre notorisch spöttische Art berüchtigt. Sie schienen nichts wirklich ernst zu nehmen und man hatte ständig den Eindruck, sie würden ein heimlich auslachen. Zumindest schienen sie immer zu schmunzeln.
Doch Mithval war kein Drache, er war ein Jungdrache. Und Jungdrachen sind nicht einfach permanent über die Welt als solches amüsiert, sie sind auch fürchterlich albern. Und Mithval war der albernste von allen. Da Gilfea und sein Drachen eins waren, konnte Mithval eine ziemliche Ablenkung im Unterricht sein. Wie soll man Diffenrenzialgleichungen verstehen lernen, wenn einem ein Drache im Kopf Schüttelreime erzählt?
So kam es öfters vor, dass Gilfea mitten im Unterricht loskiechern musste, wenn Mithval mal wieder etwas sehr albernes getan hatte. Gilfea erntete dann meistens von seinen Mitschülern einen befremdeten und von seinen Lehreren einen entnervten Blick.
»Es tut mir Leid! Es ist Mithval, mal wieder!«, konnte er dann nur sagen. Seine Lehrer schüttelten dann meistens nur mit dem Kopf und sahen Gilfea mitleidig an. Sie wussten, dass er nichts dafür konnte.
Es war gut ein Jahr her, dass Gilfea nach Daelbar kam, als er mit seinen Freunden abends nach der Schule noch zusammen saß und sie sich unterhielten.
»Was für ein Drach ist Mithval eigentlich?«, fragte Xurina, die alle nur Xu nannten, eines Tages, »Ich habe noch nie von einem schwarzen Drachen gehört. Aber Mithval ist richtig schwarz.«
»Ich weiß es nicht und er verrät es mir nicht«, antwortete Gilfea, »Er weiß es, aber er weicht mir bei dieser Frage aus. Er findet das witzig, wenn alle gespannt darauf warten, dass er endlich seine endgültige Erscheinung enthüllt. Ich glaube, wir werden alle noch sehr überrascht sein.«
»Ich hoffe, dass mich ein grüner Drache erwählt«, meinte Mit, alias Mithrandor, »Sie sind von allen Drachen diejenigen, die am stärksten mit der Flora verbunden sind. Es gibt eine Sage in meinem Volk, wonach unser Bergwald von einem riesigen Grasdrachen erschaffen wurde.«
»Mein Drache sollte ein blauer Seedrache sein«, brachte sich Xu ein, »Meine Mutter kommt von der See. Obwohl ich das Meer nie gesehen habe, fühle ich mich zu ihm hingezogen. Und was für einen Drachen wünscht du dir?«
Die Frage ging an Franciscus, der nur zögernd antwortete, »Ich weiß es nicht … Ich denke ein roter oder ein Bronzedrache würde zu mir passen. Sie wählen uns nach unser Persönlichkeit aus. Die Drachen kennen uns besser, als wir uns selbst. Wenn mich einer erwählt, wird er der richtige für mich sein.«
»Ein schlaues Kerlchen! Der wird es noch weit bringen, aber einen roten Drachen oder einen Bronzedrachen, wird er nicht fliegen. Wer will schon Resourcen verschwenden?«, Mithval konnte es sich nicht verkneifen, die Wünsche von Gilfeas Freund zu kommentieren. Wenn er, wie es so seine Art war, mal wieder mit vielen Worten nichts sagte.
»Du weißt es! Du weißt, was für ein Drache Franciscus erwählt?«
»Natürlich«, antwortete Mithval mit einem fröhlich-amüsierten Unterton in der Stimme.
Natürlich erzählte Gilfea seinen Freunden, was ihm sein Drache erzählt hatte.
»Meint er, ich wäre nicht würdig genug für einen roten oder bronzenen Drachen«, fragte Franciscus ein wenig gekränkt.
»Das hat er so nicht gesagt«, beruhigte Gilfea, »Du wirst es ja bald sehen. Wenn ich mich nicht irre, seid ihr in einem Monat für die Auswahl vorgemerkt.«
»Was?«, schrien vier Freunde im Chor.
»Thonfilas hat es mir erzählt. Es wird bald Eier geben. Seregsil und Lindor sind am turteln. Zwischen den beiden Drachen hat es mächtig gefunkt. Seregsil wird in den nächsten Wochen mindestens drei Eier legen.«
»Seregsil ist ein roter Drache und Lindor ein Grasdrache, was kommt dabei raus?«, fragte Tom, der Zwerg.
»Das ist bei Drachen anders«, erklärte Xu, »Was für ein Drache aus einem Ei schlüpft hängt nicht von seinen Eltern ab. Nur ein Teil eines Drachens ist genetischer Natur, der Rest ist magisch.«
»Ja, Xu hat recht. Es ist noch alles offen.«
»Und wie verkraftet Thonfilas Lindors Zustand?«, Franciscus Lippen umspielte ein fieses Grinsen. War ein Drache in Paarungslaune oder schlicht weg scharf wie Nachbars Lumpi, blieb das nicht ohne Auswirkung auf seine Seele.
»Ähm … Er ist … «, Gilfea war das Thema unangenehm.
»Seine Frau wird momentan nichts zu lachen haben«, knurrte Tom.
»Er hat keine Frau … «, das Thema ging genau die Richtung, die Gilfea gerne vermeiden wollte. Auf der einen Seite wollte er Thonfilas nicht outen, auf der anderen Seite, wollte er auf keinem Fall lügen. Gilfea wusste nicht, wie seine Freunde reagieren würden, wenn sie erfuhren, das Thonfilas schwul war.
»Er muss doch … «, fing Xu an, um plötzlich zu stoppen, »Oh, ich verstehe … Er ist er einen von jenen Drachenreiten, die mit dem eigenen Geschlecht … «
»Das musst du ihn selbst fragen … Ich … «, stammelte Gilfea und schämte sich. Er hatte das Gefühl die Sache verbockt zu haben.
»Sag’s ihnen!«, die Stimme war klar und deutlich in Gilfeas Kopf zu hören. Er wusste zwar nicht, wieso Lindor seine Gedanken mitgehört hatte, aber er wusste jetzt, dass es Ok war, über Thonfilas sexuelle Orientierung zu sprechen.
»Ich habs ihm erzählt.«, murmelte Mithval in Gilfeas Kopf.
»Spanner!«, konterte Gilfea scherzhaft.
»Klemmschwester!«, konterte Mithval kiechernd und verunsicherte Gilfea. Was wollt dieser Drache damit sagen?
»Also Ok. Lindor hat mir eben sein Ok gegeben. Thonfilas ist mit einem anderem Reiter zusammen. Und ja, Lindors Zustand hat deutliche Auswirkungen auf Thonfilas eigenes Sexleben. Überdeutliche Auswirkungen!«
»Oh!«, meinte Xu.
»Lindor? Hättest du nicht Thonfilas selbst fragen sollen, bevor du ihn outest?«, wandte Franciscus ein.
»Das habe ich doch. Du vergißt, das Lindor und Thonfilas nur zwei Ausprägungen eines Geistes sind. So wie Mithval und ich. Du wirst es verstehen, wenn du selbst eine Seele geworden bist.«
»Mithval ist groß geworden«, wechselte Mithrandor das Thema, »Er ist fast so groß, wie Lindor.«
»Ja, Mithval wächst schnell. Es ist beängstigend, wenn man bedenkt, dass er noch drei Jahr vor sich hat, bevor er ausgewachsen ist.«
Wachstum
Onanie ist Liebe an und für sich
Klotürspruch, Urheber unbekannt
Sag’ das mal meinem Drachen!
Kommentar unter dem Klotürspruch, Urheber ebenfalls unbekannt
Und dann kam das Thema Sexualität. Gilfea erwischte es im denkbar ungünstigsten Moment. In seinem bisherigem Leben war Gilfea quasi asexuell gewesen. Während die anderen Jungs in seinem Dorf, die in seinem Alter waren, langsam begannen, sich für Mädchen zu interessieren, war dies für Gilfea etwas, was völlig an ihm vorbei ging. Es interessierte ihn nicht, weder die Mädchen noch die Jungs. Es war nicht so, dass Gilfea nicht über die biologischen Abläufe informiert war. Meister Arbogast sparte in seinem Unterricht kein Thema aus. Es war viel mehr so, dass Gilfea vermutlich einfach noch nicht so weit war. Er war gewissermaßen ein Spätentwickler.
Aber dies sollte sich deutlich ändern. Gilfea durchlebte eine Reihe körperlicher Veränderungen. Veränderungen in seinem Alter, oder auch etwas früher, waren an sich biologisch normal, wenn da nicht Mithval gewesen wäre. Dass Gilfeas verspätete Pubertät ausgerechnet mit der Verbindung mit Mithval zusammen fiel, entwickelte sich zu einem nervenaufreibenden Abenteuer.
Weil die Lehrer der Drachenreiterschule wußten, dass die Pubertät allein schon stressig genug sein konnte, hatte man zusammen mit den Drachen entschieden, dass eine Vereinigung von Reiter und Drache erst nach ihr stattfinden sollte. Also erst dann, wenn der Reiter aus dem Gröbsten raus war. Man wollte den Reiter schonen.
Gilfea konnte nicht geschont werden und somit erwischte es ihn eiskalt. Juvenile Drachen entwickeln sich schubweise. Obwohl sie mit dem gesamten Wissen ihrer Eltern schlüpfen, hieß dies noch lange nicht, dass damit ihre Persönlichkeit vollständig ausgebildet war. Ganz im Gegenteil. Drachenreiter werden von ihren Drachen nicht aus Spaß als »Seele« bezeichnet. Bei der Vereinigung geht ein Teil der Persönlichkeit des Reiters auf den Drachen über. Umgekehrt geht auch etwas von dem Drachen auf dessen Seele über. Während der Übergang vom Reiter zum Drachen eher psychischer Natur ist, wechselt in der Gegenrichtung eher eine physische Komponente, wenn auch nicht ausschließlich. Beide Übergänge gelten als steinig.
Was wenig außerhalb der Drachenreiter wissen: das Zusammenwachsen von Drache und Seele ist mit der initialen Vereinigung nicht abgeschlossen. Eigentlich beginnt der Prozeß erst damit. Drachen benötigen rund vier Jahre, um vollständig auszuwachsen. Nur vollzieht sich das Auswachsen nicht langsam und gleichmäßig, sondern in spontanen Schüben. Diese Wachstumsschübe können sehr anstrengend sein, körperlich wie seelisch, insbesondere für den Reiter. Denn gerade in dieser Zeit, ist der Drache auf seine Seele angewiesen. Die Wachstumsschübe können die Drachen in heftige Kontraktionsschmerzen und chaotische Gefühlsstürme stürzen. Wie Drachen so sind, nehmen sie es von der humorigen Seite, wissen aber ganz genau, wieviel sie ihren Seelen dabei verdanken. Denn die Seelen sind es, die die Drachen davor bewahren durchzudrehen und verrückt zu werden. Sie sind der ruhende Pol, an dem sich der Drache emotional festhält, einem Anker auf hoher See nicht unähnlich.
Gilfeas Lehrer hatten ihn vorbereitet – theoretisch. Soweit es irgend ging, hatte man ihm versucht zu erklären, was bei Mithvals Wachstumsschüben passieren könnte, und wie er sie durch Meditation und autogenes Trainig bewältigen könne.
Mithvals Kommentar dazu war drachentypisch: »Schwachsinn! Egal was du trainierst, wir beide werden leiden. Richtig leiden. Laß es einfach passieren und kämpf nicht dagegen an. Es macht es nur noch schlimmer. Bisher haben es alle Seelen noch überstanden.«
Gilfeas Begeisterung hielt sich in Grenzen. Was ihn etwas nervös machte, war, dass seine Lehrer nicht so recht wussten, mit welcher Art Drache sie es bei Mithval eigentlich zu tun hatten. Wenn auch die eigentlichen Wachstumsschübe nie vorhersehbar sind, gibt es von Drachenart zu Drachenart gewisse sich wiederholende Muster. Bronzedrachen neigen dazu in fast regelmäßigen Intervallen von 6 Wochen zu wachsen und ihre Seelen noch am wenigsten zu belasteten. Silberdrachen verhalten sich vollkommen gegenteilig dazu. Ihre Wachstumsimpulse sind absolut chaotisch, und genau so chaotisch ergeht es ihren Seelen. Manche Reiter musste man sogar ans Bett binden, damit sich sich nicht selbst verletzten.
Bei Mithval war alles anders. Seine Schübe waren planmäßig chaotisch, was soviel hieß, dass es zwar keine Regelmäßikeit gab, er aber immer ein bis zwei Tage vorher wusste, dass ein weiter Schub bevorstand. Gilfea hatte somit immer genügend Zeit, sich entsprechend vorzubereiten.
Soweit hatte Gilfea mit seinem Drachen noch halbwegs Glück. Währe da nicht die Sache mit der Pubertät gewesen.
Es begann wenige Tage nachdem Gilfea und Mithval in Daelbar angekommen waren, dass Gilfea begann von Zeit zu Zeit Erektionen zu bekommen. Eigentlich hätte er darüber glücklich sein sollen, schließlich war er entwicklungsmäßig weit hinter seiner Zeit. Wären da nicht die mit den Erektionen einhergehenden Phantasien gewesen. Diese Phantasien waren eindeutiger Natur. Meister Arbogasts Unterrich sei Dank begriff Gilfea ziemlich schnell, dass er schwul war.
Nur, wie damit umgehen?
Nicht jede Kultur ging gleich damit um. In seinem Dorf war es ein echtes Nichtthema, etwas, über das man einfach nicht sprach. Die Meinung der Päpstin der unifizierten Technokratie war ebenso eindeutig wie ablehnend. Sexuell abnormes Verhalten, wozu die Technokratie auch die Homosexualität zählte, verlangte nach psychodynamischer Neuorientierung. Eine nette Umschreibung für eine qualvolle Gehirnwäsche. Was die Zwerge davon hielten, wusste man nicht, da Zwege ihre Sexualität grundsätzlich nicht thematisierten. Auch nicht mit ihren Partnern. Zwergenkinder scheinen einfach »zu passieren«. Und die Elben? Die Elben haben seit einigen Generationen ein eher ambivalentes Verhältnis zu Homosexualität, da weniger gebildete Kulturkreise generell alle männliche Elben mit Tucke oder Schwuchtel titulierten. Angefangen mit diese Schmähung hatten wohl die Orks. Was wenig verwunderlich ist, da Orks mit einem Elbenphobiegen gezüchtet wurden. Sie sind somit von Geburt an darauf programmiert, alle Elben abgrundtief zu hassen. Die Orks übernahmen einfach das Klischee des soften, kultivierten, manirierten Schwulen. Natürlich ist dieses Klischee, wie die meisten Klischees, so falsch wie nur irgendwas, aber es passt eben auch perfekt auf die Elben, jedenfalls mehr als auf Schwule. Elben sind nun einmal edle und übernatürlich schöne Geschöpfe und neigen, leider, teilweise unter aristrokratischen oder arroganten Gehabe.
All diese Überlegungen ging Gilfea durch den Kopf, als er sich eingestand, dass er sich eher zu seinen Mitschülern als seinen Mitschülerinnen hingezogen fühlte. Immerhin, so vermutete er, sollte es in Daelbar kein Problem sein. Thonfilas und Roderick waren ein Paar, und niemand würde jemals auf die Idee kommen, die beiden deswegen weniger zu ächten. Ganz im Gegenteil. Je mehr sich Gilfea in Daelbar einlebte und über diese Stadt erfuhr, desto mehr begann er zu ahnen, dass seine neue »Familie«, die sieben Drachenreiter mit ihren Drachen und Familien, zu den angesehensten Persönlichkeiten der Stadt gehörten. Gilfea konnte sich nicht vorstellen, dass einer von ihnen sich daran stören würde, wenn er mit einem netten Jungen als Freund aufkreuzen würde, soweit es nicht gerade ein Ork wäre. Jede Toleranz hatte irgendwo ein Ende.
Mithval war, erwartungsgemäß, das kleinste Problem. Er wusste es. Natürlich! Mithval wusste es, bevor Gilfea es von sich selbst wusste. Und wie bei einem Drachen nicht anders zu erwarten, fand er es cool.
»Hey, wie findest du den Assistenten von Professor Secundus G’Plas? Der ist doch richtig süß!«
Mithval ließ keinen Moment aus, in dem er nicht versuchte Gilfea den einen oder anderen Typen aufzuquatschen. Wenn Mithvals Vorschläge auch eher scherzhaft waren, besaß der Drache, soweit musste Gilfea es eingestehen, einen exellenten Geschmack. Er wusste genau, welche Typen Gilfea attraktiv fand. Vermutlich wusste er es sogar genauer, als Gilfea selbst.
»Alter, du bist nicht hilfreich!«, meinte Gilfea dann meistens halb ernst.
»Wieso, ich will doch nur, dass du was passendes findest.«, antwortete Mithval dann meistens mit einem ganz unschuldigen Tonfall.
Und genau in diesem Zustand starker Selbstzweifel und Orientierungsängste, trafen Gilfea auch noch Mithvals Wachstumsschübe.
Der erste kam gut ein viertel Jahr nach der Vereingung mit Gilfea, und war auch gleich einer der heftigsten. Insbesondere, weil Gilfea nicht wusste, was ihn erwarten würde. Mithvals Warnung, dass etwas im Busch war, kam einen Tag vorher. In der Nacht des nächsten Tages ging es dann los. Gilfea wachte plötzlich schweißgebadet auf und wusste im ersten Moment nicht, wo er war. Das erste, was er bemerkte, war, dass er sich nicht mehr in seinem Bett befand, sondern über selbigem schwebte. Eine Auswirkung des magischen Anteils seines Drachen. Gilfea versuchte sich zu drehen, um einen Blick in die Höhle zu Mithval zu werfen, was, wenn man schwebt, gar nicht so einfach ist.
Als Gilfea Mithval sah, erschrak er. Sein Drache krümmte und wand sich. Dabei leuchtete er aus sich heraus, sah teilweise sogar durchsichtig aus. Niemals vorher hatte Gilfea so intensiv die Magie in diesen Geschöpfen gefühlt. Eine Magie, die auch ihn zu durchfluten schien. Instinktiv konzentrierte sich Gilfea auf seinen Drachen, so wie er es schon mit Lindor getan hatte. Er öffnete sich, wollte seinem Freund und Partner einen Teil der offensichtlichen Schmerzen abnehmen, und wurde überrascht. Mithval quälte sich nicht. Er litt auch nicht unter Schmerzen. Seine Wachstumsschub schien gefühlsmäßiger Natur zu sein. Kaum hatte sich Gilfea geöffnet, wurde er von einem Gefühlsorkan überrannt. Emotionen nie gekannter Stärke fluteten sein Bewußtsein. Gilfea empfand gleichzeitig Wut, Leidenschaft, Zorn, Lust, Trauer, Freude, Liebe, Glück, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit. Jede jemals empfundene Emotion jedes jemals gelebten Wesens dieser Welt schien durch Mithval und Gilfea hindurchwandern zu wollen. Es war, als wenn in einem Orchester jeder Musiker ein anderes Stück spielen würde. Das einzeige, was dabei heraus kam, war eine krachende, kreischende Kakophonie.
Gilfea schloß seine Augen. Er brauchte einen Fixpunkt, einen Anker in diesem Sturm. Er konzentrierte sich. Sammelte seine Gedanken und ging zurück an den Ort, an dem er und Mithval miteinander verschmolzen. Er erinnerte sich an das Lied, dass Mithval in Gilfeas Träumen gesungen hatte. Er erinnerte sich. Zwischen all den anderen Gefühlen und Empfingen meinte er genau diese Melodie heraushören zu können. Er stimmte mit ein, summte sie erst leise und, als er merkte, dass die anderen Empfindungen ruhiger wurden, summte er die Melodie immer lauter. Gilfea hatte das Gefühl, als wenn er einen Orkan zähmen würde. Die Melodie in seinem Kopf nahm die anderen Emotionen, Gefühle und Empfindungen auf, modulierte sie und beruhigte sie damit.
Als Gilfea seine Augen öffnete, sah er, dass er genau das Richtige getan hatte. Mithvals Kontraktionen und Windungen waren verschwunden, der Drache lag erschöpft am Boden, sein Leuchten war in eine warmes, pulsierendes Glühen übergegangen, dass eine unendliche Friedlichkeit verströmte. Gilfea atmete auf und dachte, er hätte es überstanden.
Wie er bald merkte, irrte er. Er hatte zwar seinen Drachen beruhigt und ihn beim Wachstumsschub unterstützt, doch nun begann die gleiche Energie in Gilfea zu wirken. Und diese magische Energie packte Gilfea dort, wo er momentan am Wachsen war. Bei seiner Sexualität. Kaum hatte Gilfea sein Summen beendet, bemerkte er, dass er eine Erektion hatte. Eine schmerzhafte Erektion, denn sein Schwanz war härter als hart. Es blieb auch nicht bei der Erektion. Seine körperliche Erregung erweiterte sich um eine emotionale Errgung. Unbekannte Geilheit breitete sich in Gilfea aus. Er konnte nicht anders, und packte das Problem an der Wurzel. Kaum hatte er seinen Schwanz umfasst, flammten intensive Bildfetzen von sehr erotischen Szenen vor Gilfeas innerem Auge auf. Gilfea schloß seine Augen und ließ sich treiben. Diesmal öffnete er sich gegenüber sich selbst.
Die Welt explodierte. Gilfea wurde ohnmächtig.
Am nächsten Morgen wachte Gilfea gerädert und sehr klebrig auf.
»Gut geschlafen?«, fragte Mithval scheinheilig.
Gilfea sah an sich herunten: »Witzbold, du weißt ganz genau, was passiert ist!«
»Sexmaniac!«, zog Mithval ihn auf.
Gilfea schüttelte seinen Kopf und entschied sich zu duschen. Der magieverstärkte Orgasmus, Gilfeas erster Orgasmus überhaupt, hatte deutlich Spuren hinterlassen, die entsorgt werden wollten.
Genau in jenem Moment tauchte Thonfilas auf: »Hallo, ich hoffe ich störe nicht.«
Gilfea wurde rot. Sein Zustand waren kaum zu übersehen und -riechen.
»Ähm … «, stammelte Gilfea.
»Hey!«, beruhigte Thonfilas und grinste wissend, »Es gibt nichts, was dir peinlich sein muss. Ich weiß, wie Wachstumschübe auf Drachenreiter wirken können. Ich bin gekommen, um zu sehen, wie es euch beiden heute geht.«
Gilfea sah verlegen zu Boden: »Ist es immer so … ähm, sexuell?«
»Ja und nein. Es hängt vom Drachen ab. Mithval scheint wirklich ein ganz besonderer Drache zu sein … «, der Elb setzte eine sehr ernste Mine auf, »Übrigens, hast du heute schon mal in einen Spiegel geschaut?«
Gilfea zuckte vor Schreck zusammen: »Seh’ ich so fertig?«
»Wie man’s nimmt … «, meinte Thonfilas und hatte dabei einen für einen Elben merkwürdigen Gesichtsausdruck, »Geh’ duschen, ich mach dir Frühstück!«
Gilfea schnappte sich frische Wäsche sowie ein Handtuch und lief ins Badezimmer. Vorsichtig riskierte er einen Blick in den Spiegel. Gilfea hatte mit allem gerechnet, etwa mit schwarzen Ringen unter seinen Augen oder einem völlig zerknitterten Gesicht. Nach dem, was er mit Mithvals Wachstumsschub am eigenem Leibe erlebt hatte, war so ziemlich alles möglich.
Gilfea irrte. Statt eines ausgelaugten Typen schaute ihm ein schlanker, muskulöser Jugendlicher entgegen. Mithvals Wachstumsschub hatte auch Gilfea verändert.
»Nett, oder?«, tönte der Drache in Gilfeas Kopf scheinheilig.
»Fantastisch!«, gab Gilfea unumwunden zu.
Frisch geduscht, rasiert und bekleidet besuchte Gilfea noch vor dem Frühstück seinen Drachen. Mithval döste, was verständlich war, denn seine Veränderungen waren drastisch. Mithvals Wachstumsschub hatte den Drachen gut um die Hälfte wachsen lassen. Damit war er jetzt bereits größer als jeder grüne Grasdrache Daelbars. Man konnte nur ahnen, wohin die Reise gehen konnte. In den restlichen drei dreiviertel Jahren konnten noch eineige Schübe folgen.
Während der Drache leise vor sich hindöste, hatte er sich zusammengekringelt. Seine Augen waren geschlossen und aus seinen Nüstern war ein regelmäßiges ruhiges Pfeifen zu hören. Gilfea berührte seinen Drachen und strich freundschaftlich über dessen Schuppen. Der Drache fühlte sich gut an. Die Berührung verströhmte eine Gefühl von Wärme, Frieden und Lebendigkeit, die sich sofort auf Gilfea übertrug.
»Danke!«, meinte der Drache ohne aufzuwachen oder die Augen zu öffnen.
»Wofür?«
»Dass du meine Seele bist!«
Selten ist die Stimme eines Drachens von Ernsthaftigkeit geprägt. Dies war einer jener Momente.
Flugbetrieb
Gedichte über Drachen? Sie scherzen?
Glauben Sie ich will von den Viechern gefressen werden?Willibald Semper (Staalicher Dichter 2. Klasse) in einem Interview zum Thema Drachen
»Heute, meine Schüler, wird für einige von euch ein der wichtigsten, schönsten und beeindruckensten Tage werden, die ihr als Drachenreiter erleben dürft«, verkündete der Direktor der Drachenreiterschule vom Podium.
Mann hatte die Schüler in die Aula gerufen. Niemand wusste warum. Niemand bis auf einen, denn Mithval hatte gepätzt. Kaum hatte Gilfea gehört, was ihm Mithval in seinem Kopf zuflüsterte, strahlte er vor Freunde. Er freute sich nicht für sich, sonder für seine Freund, die ihn verunsichert anschauten.
»Mithrandor, Xurina, Franciscus«, rief der Direktor feierlich, »Heute ist euer Tag! Ihr wurdet in den letzten Wochen und Monaten auf diesen Moment vorbereitet. Nun frage ich euch ein letztes mal. Wollt ihr für den Rest eures ganzen Lebens eure Kraft, eure Energie, euren Verstand und eure Seele in den Dienst eines Drachen stellen? Denkt gut nach. Habt ihr die Entscheidung getroffen, gibt es kein zurück mehr.«
Natürlich hatte diese Frage einen eher zermimoniellen Charakter. Was die Verschmelzung mit einem Drachen wirklich bedeutete, wurde auf der Drachenreiterschule intensiv in psychologischen Gruppen- und Einzelgesprächen erörtert. Kein Schüler war unvorbereitet und kein Schüler wurde zugelassen, dessen Psyche nicht stark und ausgeglichen genug war. Nur Gilfea war eine Ausnahme.
Der Direktor wandte sich nun direkt an jeden einzelen Schüler und fragte ihn, ob er oder sie bereit sein.
Alle antworteten mit »Ja«.
Gilfea lächelte. Er freute sich für seine Freunde. Alle drei schauten, nachdem sie gefragt wurden zu Gilfea und strahlten vor Stolz.
»Nun denn. Es ist soweit. In wenigen Minuten werden die ersten Drachen schlüpfen. Folgt mir.«
Eine Prozession begann, sich in Bewegung zu setzten. Die Schule besaß einen speziellen Hof, in dem die Eier aufbewahrt und heiß gehalten wurden. Kein Drache musste seine Eier selbst bebrüten, obwohl sie es gerne getan hätten. Aber es gab Wichtigeres zu tun. Außerdem waren die Eier in den Händen der Brutstation weit besser aufgehoben. Sie wurden Tag und Nacht überwacht und umsorgt. Luftfeuchtigkeit, Licht, Hitze, alles wurde perfekt gesteuert. Der Hof mit den Eier war in mehrere Bereich geteilt. Die Eier waren entlang einer hohen Mauer aufgereiht. Auf der Mauer gab es Podeste für Drachen, vorzugsweise für die Elterndrachen, um ihre Kleinen besuchen zu können. Aber auch Gäste waren herzlich willkommen. Mithval hockte auf einem der Podeste. Schließlich sollten drei Freunde von Gilfea heute Seelen werden. Und da sich Gilfea freute, freute er sich ebenfalls. Selbstverständlich waren auch Lindor und Seregsil zusammen mit den anderen Elterndrachen anwesend. Alle Drachen übertrohnten die Mauer und obwohl sie ihre Flügel angelegt hatten, war es ein beeindruckender Anblick so viele Drachen zu sehen.
Auf der anderen Seite des Hofes, der Mauer mit den Eier gegenüber gelegen, war eine Tribüne für die Zuschauer aufebaut. Gilfea saß zusammen mit Tom, dem Zerg, bei den Zuschauern. Heut war nicht ihr Tag, sondern der ihrer Freunde. Xu, Franciscus und Mithrandor standen am Fuß der Tribüne zusammen mit ihrem Lehrer, der ihnen die letzten Anweisungen gab.
»Seid ganz natürlich. Der Drache kennt euch besser als ihr euch selbst. Habt keine Angst, dass ihr euren Drachen nicht mögt. Ihr werdet ihn mögen, denn nur wenn ihr ihn wirklich mögt, wird er euch erwählen«, gab der Lehrer als wirklich letzte Information, »Und noch etwas. Es ist keine Schande, wenn ihr jetzt noch sagt, dass ihr nicht könnt. Macht es nur, wenn ihr euch absolut sicher seid.«
Was der Direktor gesagt hatte, war Zeremonie, dies war ernst. Der Lehrer schaute nochmals jedem einzelnen in die Augen. Jeder Schüler nickte. Alle waren sich sicher. Alle wollten Drachenreiter werden.
»Es geht los!«, meinte der Lehrer genau in dem Moment, als er den letzten Schüler gefragt hatte. Das erste Ei hatte einen Riß bekommen. Mit einem deutlich hörbaren »Plick«, war ein Stück der Schale abgesprungen. Ein kleiner Schnautzenansatz lugte hervor. Die Schüler begaben sich in den Innenbereich des Hofes und warteten ab. Obwohl gut vorbereitet, konnte man sehen, wie aufgeregt und ängstlich viele der Schüler waren. Das erste Ei schien eine Kettenreaktion ausgelöst zu haben. Wie auf Kommando begannen die anderen Eier ebenfalls Risse zu bekommen und platzten auf. Diejenigen, die noch nie an diesem Ereignis teilgenommen hatte, waren überrascht wie schnell plötzlich alles ging. Wenige Momente nachdem das erste Ei einen Riß bekommen hatte, wuselten mit einem Mal eine ganze Armade Babydrachen zwischen den Reiteranwärtern umher.
Gilfea beobachtete, wie Xu, Mithrandor und Franciscus drei Schritte von einander entfernt in der Mitte des Hofs standen und die um sie herumwandernden Drachen aufmerksam musterten. Alle Drachenbabys sahen gleich aus. Sie waren graubraun. Nichts deutete darauf hin welcher Gattung sie angehörten, dies zeigte sich erst nachdem sie ihre Seele gefunden und sich mit ihr geistig vereinigt hatten.
Xu erwischte es als erste. Nicht nur vor ihren Freunden, sondern sogar vor allen anderen Schüler wurde sie als erstes erwählt. Ein Drachenbaby, knapp halb so groß wie Xu, blieb vor ihr stehen. Drache und Reiterschülerin sahen sich einander an. Der Drache lächelte und Xu liefen plötzlich Freudentränen die Wangen herunter. Etwas, dass man bei dem harten Mädchem, der Tochter einer Meeresamazone, niemals vermutet hätte. Der Drache begann eine Wolke roten Lichtes zu immitieren. Das Leuchten dehnte sich aus, umschloß Xu und hüllte schließlich beide Partner ein.
Gilfea schaute glücklich zu seinem Drachen und schenkte ihm einen dankbaren, versonnen Blick. Bei ihnen beiden war es anders gewesen. Gilfea war nicht bei Bewustsein, schlimmer noch, er lag im Sterben als Mithval die Vereinigung vollzog.
»Mithval!«, dachte Gilfea glücklich.
»Gilfea!«, dachte sein Drache zurück und blickte von seiner Zinne zu Gilfea hinab.
In der Zwischenzeit war das rote Leuchten um Xu und den Drachen so hell geworden, dass es alles überstrahlte. Innerhalb des Leuchten vollzog sich die Vereinigung. Es dauerte nur wenige Momente, dann explodierte das Leuchten in einem Glitzern und zurück blieb eine überglückliche Xu, die einen leuchtend silberblauen Meeresdrachen in ihren Armen hielt. Es war genau so gekommen, wie Xu es sich gewünscht hatte.
Noch während Xu und ihr Drache das Feld verließen, um sich in einer seperaten Halle näher kennen lernen zu können, wurde Mithrandor von einem Drachen ausgewählt. Schlag auf Schlag fanden Drachen und Reiter zueinander. Mithrandor Partner war, eine grüne Grasdrachendame, was den Elben überraschte. Er hatte sich einen Grasdrachen gewünscht, aber als er Filonda sah, war er sprachlos. Sprachlos vor der Weisheit der Drachen, ihm ein derartiges Geschenk zu machen.
Von den achte Schülern hatten alle bis auf einen einen Partner gefunden. Alle, bis auf Franciscus. Der ehemalige Klosterschüler war verwundert, sogar ein wenig traurig. Sollte er etwa nicht würdig sein, die Seele eines Drachen zu werden? Aber es waren doch acht Eier und aus allen Eiern war ein Drachenbaby geschlüpft. Hilflos und verunsichert schaute sich Franciscus im inzwischen leeren Hof um. Da stand er. Es war ein Drachenbaby. Kleiner als die anderen hockte er neben seinem Ei und musterte Franciscus lange und ausgiebig.
»Und?«
Franciscus wirbelte herum. Wer hatte da gesprochen?
»Hier bin ich.«
Franciscus schaute nach links, nach rechts, niemand war da, außer den muksmäuschenstillen Zuschauern auf der Tribüne und dem kleinen Drachenbaby ein paar Meter vor ihm …
»Du?«, fragte Franciscus und eilte dem Drachen entgegen.
»Ja, ich.«, der Drache verzog keine Mine, ernst und nachdenklich schaute er Franciscus an, »Bist du dir sicher? Ganz sicher, dass du es tuen willst?«
»Du kennst die Antwort. Du bist ein Drache. Du wärst nicht geschlüpft, wenn du es nicht wissen würdest.«
»Ah, ich verstehe. Ist unsere PR wirklich so gut? Franciscus, auch wir Drachen können uns irren. Wenn du meinst, dass du es nicht kannst … «
»Aber du würdest sterben … «
»Und wenn schon … Es wird andere Eier geben.«
»Warum fragst du mich das alles? Bei den anderen Schülern … «, Franciscus bekam es mit der Angst zu tun. Hatte er versagt? Hatte er etwas falsches getan? Warum zögerte der Drache? War er, Franciscus nicht würdig?
»Oh, doch, du bist würdig ein Drachenreiter zu sein. Wenige, sehr wenige sind würdiger als du. Ich zögere, weil ich Angst habe. Angst, dich zu überfordern. Du hast nie gesagt, was du dir für einen Drachen wünscht. Deine Freunde, von Gilfea einmal abgesehen, hatten ganz klare Vorstellungen. Xu wollte einen Seedrachen und Mithrandor natürlich einen Grasdrachen. Aber du … Ich bin nicht sicher, dass ich dir das anbieten kann, was du dir wünscht.«
»Was kannst du mir anbieten?«
»Nicht viel, eigentlich nur zwei Dinge, meine Freundschaft und sehr, sehr viel Verantwortung. Wenn du zuläßt, dass ich dich erwähle, wirst du mehr Verantwortung übernehmen müssen, als du dir vorstellen kannst.«
»Und wenn ich die Verantwortung für jeden einzelenen Drachen, Menschen, Zwerg, Elb oder Mensch, für jedes einzelne Lebewesen in dieser Stadt übernehmen müsste, ich würde es tun, wenn ich dafür deine Freundschaft gewinnen würde!«, Franciscus wusste nicht, wieso er diese Worte wählte, warum er sich plötzlich so sicher war, so sicher, wie noch nie in seinem Leben, dass er die Seele dieses Dachens werden wollten, werden musste.
»Na dann!«, tönte es in Franciscus Kopf. Alles was er noch sehen konnte waren dir rot glühenden Augen des Drachen. Eine Wolke roter Wärme, Liebe und Energie schloß ihn ein, sickerte in ihn hinein. Eine Wärme, die ihn niemals verlassen würde.
»Überraschung!«, rief Mithval von seinem erhobenen Platz in Gilfeas Kopf genau in dem Moment, als die rote Wolke um Franciscus und seinem Drachen glitzernd explodierte. Ein Raunen ging durch die Gäste auf der Tribüne. Der Schuldirektor ließ vor Schreck seine Akten fallen. Neben Franciscus stand kein Bronzedrache, auch kein roter Drache, nicht mal einer der seltenen Silberdrachen. Franciscus Drache war golden. Als ein Sonnenstrahl auf seine Schuppen fiel, reflektierte sie das Licht und warfen glitzernde, gelb-goldene Lichtflecken auf Wände und Böden.
Franciscus war von einem Golddrachen erwählt worden. Diese Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Daelbar. Goldene Drachen waren sehr, sehr selten. Fingolf war seit vielen hundert Jahren der einzige Golddrache gewesen, von dem man wusste.
Niemand war verwundert, als plötzlich Fin aus heiterem Himmel auftauchte und zu Franciscus hinabflatterte. Gilfea hielt es nicht mehr auf der Bank, und er sprang auf, um zu Franciscus hinabzuklettern. Er erreichte Franciscus im gleichen Moment wie Mithval, der von seiner Mauerzinne herabgesegelt kam.
»Darf ich euch meinen Partner vorstellen«, begrüßte Franciscus seine Freunde stolz und hatte dabei Tränen der Rührung in seinen Augen, »Dieser Goldjunge ist Guldur.«
»Hallo kleiner Bruder«, tönte Fins sonore akustische Stimme durch den Hof, »Hast du endlich eine passende Seele gefunden?«
»Ja! Er wird eine gute, eine sehr gute Seele werden.«
»Hab ich doch gleich gesagt. Gilfea würde sich nie in seinen Freunden irren.«, mischte sich Mithval vorlaut ein. Alle Drachen grinsten den schwarzen Typen an.
»Und wann gedenkst du, Mithval, uns deine Art und Gattung zu enthüllen?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Mithval in normaler Sprache, »Ich habe selbst keine Ahnung, was für ein Drache ich bin. Ich wachse wie sonst was. Ich habe jetzt drei Schübe hinter mir und bin fast so groß wie Fin. Dabei werde ich erst in etwa drei Jahren ausgewachsen sein. Ich weiß es einfach nicht. Aber es ist unwichtig. Heute ist ein Tag zum Feiern. Acht neue Verbindungen, das heißt acht glückliche Drachen und acht glückliche Reiter.«
Wo er Recht hatte, hatte er Recht. Nach ein paar Stunden der Ruhe, in denen sich Reiter und Drachen miteinander bekannt machten, fand ein großes Festbankett im großen Zeremoniensaal der Schule statt.
Die Monate zogen sich hin. Wenige Tage nachdem Gilfeas Freunde zu den Seelen ihrer Drachen geworden waren, begann für ihn und seinen Drachen der gemeinsame Flugunterricht. Zusammen mit einem Fluglehrer der Schule und einigen anderen Schülern fand man sich auf einem rasenbedeckten Plateau eines der Berge von Daelbar ein.
»Als erstes prüft bitte alle, dass die Fluggurte richtig sitzen. Ihr wollt doch nicht, dass euer replitsches Freund Druckstellen bekommt, oder ihr in 1000 Meter Höhe vom Drachen fallt.«
Ohne Lehrer waren sie eine Gruppe von 6 Schülern und 6 Drachen. Mithval, der nun bereits seinen fünften Wachstumsschub hinter sich hatte, war zu einem wahren Monster herangewachsen. Ein gigantischer, pechschwarzer Drache war er geworden und stach in Höhe, Flügelspannweite und Masse alle anderen aus. Die einzigen Drachen die noch mithalten konnten, waren die Silberdrachen und fast gleich groß, der alte Golddrache Fingolf. Die Lehrer und Drachenexperten, selbst die Drachen unter den Drachenexperten, waren ratlos. Niemand wusste, was für eine Art Drache Mithval eigentlich darstellte. Manche meinten, vielleicht wäre er eine neue Gattung, eben ein schwarzer Drache. Doch Mithval verneinte. Er war sich sicher, dass seine schwarze Farbe nicht endgültig war. Wobei er sich absolut sicher war, dass er nicht mehr viel wachsen würde. Dies war entscheidend, denn Drachen im Wachstum sollten nicht versuchen mit ihren Seelen zu fliegen. In der Vergangenheit war es immer wieder mal zu schweren, wenn auch glücklicherweise nicht tödlichen Unfällen gekommen. Die größte Gefahr bestand darin, dass ein Drache als Nachwirkung eines Wachstumsschubs während des Flugs einen Krampf bekam. Dies war eine häufige Nebenwirkung und stellte ein echtes Risiko dar.
Da aber Mithval meinte, dass er vom Körperbau her ausgewachsen war, gaben die Flugleiter ihre Einwillgung, dass Gilfea und Mithval miteinander fliegen durften.
Gilfea hatte gerade alle Gurte auf einen festen, scheuerfreien Sitz geprüft, als sein Lehrer zu ihm kam.
»So, laßt mich mal sehen«, der Lehrer prüfte ebenfalls alle Gurte und meinte schließlich, »Das sieht alles sehr gut aus. Mithval, wie fühlt sich das an? Drückt es irgendwo?«
»Nöh, alles sehr gut.«
Der Lehrer wandte sich allen Drachen und Reitern zu: »Also, als erstes werden die Drachen ohne euch fliegen. Ihr habt alle sehr gut gearbeitet. Kein Drache scheint das Gurtzeug und euren Sitz wirklich zu spüren. So soll es sein. Ein Sitz soll den Drachen nicht ablenken. Er darf nicht drücken und nicht scheuern. Trotzdem verändert er natürlich die Gewichtsverteilung und daran sollen sich eure Freunde ersteinmal gewöhnen. Also, meine Monster, ab in die Luft!«
Ein Drache nach dem anderem hob ab. Mithval, so das größte der Monster, wirbelte Unmengen von Luft auf, dass sich alle Anwesenden wegdrehen mussten. Man konnte auf die Idee kommen, dass er das absichtlich tat.
Die nächsten Minuten umschwirrten die Reptilien die Bergspitze und testeten, ob sich durch die Sitzkonstruktion ihr Flugverhalten geändert hatte. Als den Drachen klar war, was sich verändert hatte, begannen sie einer nach dem anderen punktgenau neben ihrer Seele zu landen.
»So! Alle wieder heil gelandet?«, fragte der Fluglehrer und schaute sich um, »Gut, dann wird es jetzt ernst. Die Reiter sollten jetzt mal versuchen, auf ihre Sattel zu kommen. Und … meine geflügelten Freunde … Seid nachsichtig mit euren Seelen. Sie stellen sie immer tolpatschig an.«
Womit der Lehrer recht hatte. Außer Gilfea, der etwas Erfahrung hatte, da er bei Lindor und Toldin schon mitgeflogen war, stellten sich alle angehenden Drachenreiter eher hilflos und ungelenk an. Selbst Gilfea wusste nicht, wie er auf Mithval heraufklettern sollte. Das Reptil war einfach gigantisch groß.
»Hilfst du mir?«, fragte Gilfea.
»Sicher!«
»Könntest du das auch etwas präziser machen?«
»Also, mir wäre es am liebsten, wenn du über meinen linken Flügel (Das ist von dir aus rechts) hinaufkletterst.«
»Warum links?«
»Das ist meine Schokladenseite.«
Mithval winkelte seinen linken Flügel an, so dass eine Art Treppe entstand.
»Bist du sicher, dass ich dir nicht weh tue, wenn ich auf deinen Flügel treten?«
»Es wird mich umbringen!«, meinte Mithval mit todernster Stimme.
Gilfea zuckte einem mit seinen Schultern und kletterte los. Natürlich ließ Mithval Gilfea Bemühungen nicht unkommentiert.
»Au! … Uh! … Autsch! … Ahhhh! … Nein, du Trampel … «
Auf seinem Reitsattel angekommen, meinte Gilfea: »Du bist ein hoffnungsloser Quatschkopf!«
»Ja, aber so magst du mich doch am liebsten!«, kiecherte Mithval.
»Oh, mein Gott!«, tönte es vom Flugfeld. Der Leher hechtete von Drache zu Drache und hatte alle Hände damit zu tun, zu verhindern, dass die angehenden Reiter von ihren Drachen purzelten. Manche stellten sich wirklich sehr unbeholfen an.
»Ihr müsst euch untereinander abstimmen!«, der Lehrer holte tief Luft, »Oh Mann, dass wird ein langer Tag … «
Der wurde es dann auch. Es dauerte zwei Stunden, bis alle Paare soweit waren, dass der Reiter sicher und schnell auf seinen Drachen kam.
»Ihr müsst immer daran denken, dass ihr in eine Gefahrensituation kommt. Bei einem Orktrup mit Jagdlanzen ist eure wichtigste Strategie die Flucht. Dann könnt ihr es euch nicht leisten, erst noch zwei Stunden mit eurem Drachen zu diskutieren, wie ihr auf ihn rauf kommt. Die Drachen wissen, wie man fliegt. Sobald ihr in der Luft seid, wird er sich um alles kümmern. Aber dafür müsst ihr erst in die Luft kommen.«
Alle übten bis zum abwinken. Jeder Reiter verstand die Wichtigkeit, dieses und andere Manöver im Schlaf beherrschen zu müssen. Und obwohl die Drachen alle ziemlich alberne Quatschköpfe waren, halfen sie ihren Seelen geduldig bei den Übungen. Währenddessen ging der Fluglehrer von Paar zu Paar und gab Anweisungen. Mit der Zeit wurden die Anweisungen zu kleineren Erklärungen, schließlich gab er nur noch kurze Tipps und Kniffe. Etwa, wie der Drache mit einer Flügelbewegung dem Reiter Schwung geben konnte, damit dieser quasi in seinen Sattel springen konnte, oder, wie man das Gurtzeug als Kletterhilfe benutzen konnte. Jeder Tipp war anders, da sich die Drachen in ihrer Physignomie teilweise deutlich voneinander unterschieden. Grasdrachen waren eher schlank, länglich und sehr gelenkig. Mit ihrem Flügel konnten sie ihre Reiter wie mit einem Fahrstuhl hochfahren. Bronzedrachen waren dagegen eher stämmig und gedrungen gebaut. Die Reiter mussten wirklich klettern, was allerdings leichter als bei einem Grasdrachen ging, da die Schuppen der Bronzedrachen grob und hart, während die Schuppen der Grasdrachen fast wie eine glatte Haut waren. Mithval fiel in keine bekannte Kategorie. In erster Linie war er riesig. Trotzdem fiel sein Erscheinungsbild eher in die schlanke Richtung, wie bei den Grasdrachen. Nur eben sehr viel größer. Und trotzdem besaß Mithval eine beneidenswerte Agilität. Wenn er für sich alleine durch die Luft flog, war jeder verwundert, mit welcher Körperbeherrschung und Präzision er mit dem kleinsten Hauch Thermik spielen konnte.
»Nun, es ist zwar spät geworden«, rief der Fluglehrer, als er endlich zufrieden war, »Aber ich denke ihr habt alle eine Belohnung verdient. Auf Drachen, fliegt!«
Es war ein Scherz und es war kein Scherz. Der Scherz bestand darin, dass es sich um ein Ritual dieser ersten Flugstunde handelte. Die Drachen konnten fliegen. Ob ein Reiter auf ihnen saß oder nicht war bei ihrer Stärke wirklich egal. Es bestand auch keine Gefahr, dass ein Reiter abstürzen könnte. Ein Drache wusste dies instinktiv zu verhindern. Wie von einem Drachen nicht anders zu erwarten, freuten sie sich alle diebsich darauf, ihren Reitern einen gehörigen Schreck einzujagen.
Denn die Drachen hoben wirklick ab. Sie holten mit ihren Flügel aus und erhoben sich in die Luft.
Anderseits war es auch kein Scherz. Es war ein Test in Vertrauen. Wie reagiert der Reiter? Natürlich waren Drache und Reiter ein Wesen, natürlich liebten sie sich auf ihre besondere, nicht körperliche Art, und natürlich vertrauten sie sich einander. Nur … Drachenreiter sind keine Vögel. Die Lüfte sind nicht ihr Element. Man kann seinem Partner noch so sehr rational vertrauen, gegen seinen Bauch und sein Unterbewustsein, ist man machtlos.
Von den 6 Reitern fingen genau zwei an, panisch zu kreischen, zwei sahen immerhin nicht verängstigt aus und die übrigen zwei, schienen mächtig Spaß zu haben. Wie nicht anders zu erwarten, war Gilfea einer von ihnen.
»Wow! Das ist fantastisch!«, rief Gilfea Mithval zu.
Der Drache hatte sich mit gerade einmal drei kräftigen Flügelschlägen in die Luft erhoben und kreiste nun ruhig über dem Flugfeld. Die Monate der Vorbereitung und des Lernens zahlten sich aus. Während Gilfea, wie die anderen Drachenreiterschüler, die Schulbank gedrückt hatte und sich mit allerlei Wissen vollstopfen ließ, wurden die Jungdrachen von mehreren erfahrenen Altdrachen in den Künsten des Drachenflugs unterrichtet. Man lehrte sie, wie man leichtfüßig ohne Anlauf startete, wie man mit minimalen Flügelbewegungen ruhig in der Luft kreisen konnte. Man zeigte ihnen, wie man Thermik erkannte und ausnutzte, wie man blitzschnell herabstürzte, um dicht über den Boden ein Ziel jagen zu können. Die Drachen lernten alles, was es zum konventionellen Flug zu lernen gab, denn ihre Lehrer waren die besten. Drachen wie Lindor, Toldin und Fingolf, betrachteten es geradzu als ihre Pflicht, ihre Erfahrungen weiter zu geben. Insbesondere Fingolf, der als alter Golddrache Daelbar selten verließ, war als geduldiger und kompetenter Lehrer geschätzt. Obwohl Fingolf jeden Drachen, egal welcher Art, gleich gerne mochte, lag sein Hauptaugenmerk auf Mithval. Der alte Fin wusste, das Mithval durch seine enorme Größe stärker mit der Flugphysik zu kämpfen hatte als die grazilen Grasdrachen. Und so erhielt der schwarze Drache einige private Extrastunden durch Fin. Über die Zeit entwickelte sich zwischen Fin und Mithval eine Freundschaft wie zwischen einem großen und einem kleinen Bruder, obwohl ein paar hundert Jahre zwischen beiden lag.
»Das nennst du fantastisch? Dann warte mal ab!«
Mithval legte seine Flügel ein wenig an und schoß mit rasender Geschwindigkeit in einer Parabelbahn abwärts Richtung Tal. Wenige Meter über der Erde fing er sich ab und jagte wieder in die Höhe.
»Scheiße, das ist der helle Wahnsinn! Ich hoffe, du weißt, was du tust?«
»Nöh!«, meinte Mithval und flog einen Looping.
Obwohl der Drache die aberwitzigsten Flugmanöver absolvierte, hatte Gilfea keine Sekunde lang das Gefühl, sich nicht in absoluter Sicherheit zu befinden. Trotz seiner anderslautigen Behauptung wusste der Drache ganz genau, was er tat.
»Erinnerst du dich? Im Vulkankessel hatte ich es dir versprochen. Als unsere Freunde angeflogen kamen, sagte ich zu dir … «»‚Eines Tages werden du und ich, wir beide, zusammen fliegen!‘ Ich habe es nicht vergessen. Mithval, ich danke dir. Du bist ein ganz besonderer Drache und der beste Freund, den ich mir vorstellen kann. Komm laß und zurück fliegen.«
Noch während Gilfea sprach, hatte Mithval bereits den Rückflug angetreten. Wenig später landeten sie, als letztes Paar, auf dem Flugfeld, wo sie von den anderen und einem schmunzelnden Lehrer bereits erwartet wurden.
»Für heute machen wir Schluß. Morgen machen wir weiter … «, verkündete der Lehrer.
»Ich hätte da noch eine Frage«, meldete sich ein Schüler namens Zerovian, »Mir ist der Zweck dieses Kurses nicht klar. Wir haben nur gelernt, wie man auf einen Drachen rauf kommt. Das Fliegen übernimmt unser Drache. Wozu also der Kurs.«
Der Lehrer nickte, dies war eine häufig gestellte Frage.
»Es geht nicht darum zu lernen, wie euer Drache fliegt. Es geht darum zu lernen, mit dem Drachen zu fliegen. Wenn ihr zusammen unterwegs seid ist es die Aufgabe des Reiters, den Kurs zu bestimmen. Ihr übernehmt die Führung. Was wir euch beibringen werden ist, wie ihr mental eins werdet mit eurem Drachen. Im Moment könntet ihr eurem Drachen sagen: ‚Flieg mich dort hin!‘ Am Ende dieses Kurses wird diese Art der Kommunikation nicht mehr notwendig sein. Wenn ihr zu einem bestimmten Punkt hinfliegen wollt, dann tut ihr es einfach, ohne auch nur einen Gedanken darüber verschwenden zu müssen. «
»Ich verstehe«, meinte Zerovian.
»Nein, nicht ganz«, meinte der Lehrer, »Es geht um etwas anderes. Es geht darum, dass ihr zwischen den Welten fliegen wollt. Jenseits von Zeit und Raum müsst ihr wirklich ein Wesen sein. Euer Denken muss eins sein.«
Hyperspace
Ich mag es nicht zwischen den Welten zu fliegen. Es ist saukalt, dass einem der Arsch abfriert, während man gleichzeitig das Gefühl viel zu viel getrunken zu haben … .
Obwohl, die Lightshow ist geil!Kasimir N’Gardo, Seelse des Golddrachens Fingolf
Die Zeit verging wie im Flug. Gilfea, Tom, Xu, Franziscus und Mithrandor entwickelten sich zu einem perfekt eingespielten Team. Man unterstützte sich gegenseitig. Tom, der Zwerg, zeigte eine erstaunliche Begabung bei allem, was mit Sprachen zu tun hatte. Keine schien zu kompliziert zu sein, als dass er sie nicht innerhalb weniger Wochen beherrschte. Nicht nur war er in der Lage Bücher oder andere Formen der Schriftspeicherung fließend zu lesen, er konnte sich, soweit die Sprache gesprochen werden konnte, sogar in ihr fließend artikulieren. Gilfea war selbst Zeuge, als sich Tom wechselweise in Sindarin, Eisenbergorkisch und Xinuwendax unterhielt, obwohl letzteres nicht gesprochen wird, sondern aus komplexen farbigen Lichtmustern besteht.
Aber Tom beherrschte die Sprachen nicht nur, er konnte sein Wissen auch vermitteln. Bei Tom lernten die anderen der Gruppe das, was sie bei ihren Lehrern nicht lernten. In gewisser Weise galt dies auch für Xu, allerdings für ein völlig anderes Themengebiet. Xu stand voll in der Tradition ihrer Mutter. Xu war eine Amazone. Sport, ob normal oder als Kampfsport, war ihr einfach in die Wiege gegeben.
Franciscus war der Analytiker. Geschichte, Politik, Jura, eigentlich alle Geisteswissenschaften flogen ihm zu. Franciscus entwickelte sich zu einer politischen Person, ohne dabei zum abgeklärten, korrputen Politiker zu werden. Man musste ihn beknien, sich als Schülersprecher aufstellen zu lassen. Als er dann mit überragender Mehrheit gewält wurde, fragte er den unterlegenen Gegenkandidaten, ob er nicht sein Stellvertreter werden wollte. Franciscus Weg führte unweigerlich zu einem öffentlichem Amt. Nachdem er Schülersprecher wurde, dauerte es kaum ein Jahr und er wurde, zusammen mit Guldur, in den Rat von Daelbar gewählt. Obwohl er gerade einmal 17 Jahre alt war, hielt man hohe Stücke auf seine Meinung.
Blieben noch Mithrandor und Gilfea. Beide entwickelten sich zu Profis in Naturwissenschaften und Magie. Interessant dabei war, dass sie sich von unterschiedlichen Seiten näherten. Mithrandor, elbisch geprägt, sah die Magie der Naturwissenschaft, während Gilfea eher in den Naturwissenschaften Magie sah. Mithrandor rechnete im 13.3-dimensionalen Magiequantenraum, um ein pyhsikalisches Problem zu beschreiben. Gilfea wählte umgekehrt für ein magisches Phänomen das Quantenersatzrechensystem von Professor Dr. Kardinal Eusebius Kartenbichler.
Im Endeffekt kam bei beiden das selbe raus. Für Mithrandor und Gilfea war es keine Frage der Ideologie. Gilfea glaubte an Magie. Für einen Drachenreiter wäre alles andere auch ein ziemlich absurdes Verhalten. Mithrandor, als Elb und ähnlich wie die Drachen teilmagisches Wesen, stand das Thema Magie überhaupt nicht zur Diskussion, er lebte sie am eigenen Leibe.
Jeder der fünf war ein wertvolles Mitglied in ihrem Team. Jeder steuerte mit seiner Persönlichkeit und mit seinem Wissen etwas bei, dass der Gruppe andersfalls schmerzlich gefehlt hätte.
Und wer wollte die Drachen vergessen? Vier der fünf waren Drachenreiter. Neben Mithval und Guldur gab es noch Mithrandors Grasdrachendame Galdorin und Xus Seedrache Ythlingas, den Xu kurz Yth nannte. Wie die fünf schienen sich auch die vier gut zu ergänzen. Unter der persönlichen Anleitung von Fingolf vervollständigten sie ihre Flugkünste, wobei jeder eine spezielle Begabung besaß. Yth war der geborene Jagddrache. Mit einer Sehkraft, die eine Nadel in tausend Heuhaufen ausfindig machen konnte und eine Sturzgeschwindigkeit, die jenseits von gut und böse lag, war Yth der ultimative Offensivdrache.
Galdorin schien hingegen eher eine Spionagelaufbahn zu planen. Jedenfalls brachte er regelmäßig das Kunsstück fertig, vor den Augen der anderen Drachen zu verschwinden. Galdorin schaffte es, sich vollkommen der umgebenden Natur anzupassen. Als Grasdrache war dies in Wald- und Wiesengebieten noch einfach. Auf felsigem Grund zeigte der Drache aber eine erstaunliche Fähigkeit, er konnte die Farbe seiner Schuppen ändern. Zwar nicht sehr lange, da er sich dafür konzentrieren musste, aber lange genug um nicht endeckt zu werden.
Guldur, der Golddrache, war einfach majestetisch anzusehen. Er schien direkt in die Fußstapfen Fingolfs steigen zu wollen. Mit drei Jahren wurde er bereits in den Rat gewählt. Viele sahen in ihm bereits ein zukünftiges Regierungsmitglied. Guldur war einfach ein Drache, dem man Respekt zollen musste. Nicht etwa, weil er ihn einforderte, sondern weil er ihn auf eine natürliche Weise verdienen zu schien.
Und Mithval? Er war so einzigartig wie seine Hautfarbe. Mithval war einfach Mithval. Der unkonventionellste Drache, den die Welt je gesehen und erlebt hatte. Und der albernste.
»Lust auf einen Ausritt?«
Es war ein wunderschöner Sommerabend. Die letzten Strahlen der Sonne strichen goldrot über Daelbar und ließen die Stadt in einem überirdischen Licht aufglühen. Mithval flog geschmeidig an seiner und Gilfeas Höhle vorbei und ließ sich elegant auf der Startrampe nieder.
»Jetzt?«
Gilfea saß auf einem Gartenstuhl in seinem Garten und schaute dem Schauspiel des Sonnenunterganges zu. Bevor Mithval ihn mit seiner Frage überraschte, war Gilfea tief in Gedanken versunken gewesen. Was war bloß alles in den letzten vier Jahre passiert? Wie sehr hatte sich sein Leben doch geändert. Er lebte jetzt seit fast vier Jahren in Daelbar. In diesen Jahren war er von einem 15 jährigen Kind zu einem 19 jährigen gut gebauten jungen Mann herangewachsen. Er hatte tolle Freunde, er hatte sich den Respekt seiner Lehrer erarbeitet und er hatte sogar so etwas wie eine Famlie, wenn man 7 Drachen mit 7 Seelen samt Anhang als Familie bezeichnen wollte. Natürlich mochte er jeden aus seiner Großfamilie und alle mochten Gilfea, aber Thonfilas, Roderick und Turondur standem ihm am nächsten. Ihr Drachen natürlich auch. Lindor schien Gilfea und Mithval sogar ganz besonders in sein Herz geschlossen zu haben.
Gilfea war glücklich. In zwei Monaten würde seine Schulzeit mit der Abschlußfeier enden. Gilfea und Mithval wären dann ein richtiges Team. Sein Leben war fast perfekt. Wäre da nicht diese eine Sache. Gilfea vermisste einen Partner. Nicht Mithval, sein Drache war mehr als ein Partner oder Freund, er war ein Teil von Gilfea. Gilfea sehnte sich nach einem Liebhaber. Jemanden, den er lieben, begehren, in den Arm nehmen, küssen, mit ihm schlafen und verehren konnte. Jemanden mit dem er sein Glück teilen konnte. Sehnsüchtig sah er, wie sehr sich Roderick und Thonfilas liebten. Genau solch eine Liebe wünschte sich Gilfea ebenfalls.
»Und warum unternimmst du nichts?«
Mithval hatte Recht. Gilfea war solo und er war nicht wirklich unschuldig an seinem Zustand. Während es zwischen Xu und Franciscus gefunkt hatte und sich etwas sehr süßes zwischen den beiden entwickelte, hatte Gilfea in den Jahren nichts unternommen. Für letzte vier Jahre hatte er immerhin eine gute Ausrede: Schule. Aber in zwei Monten war Schluß. Er würde etwas unternehmen müssen. Es musste da draußen in der weiten Welt doch jemanden geben, den er lieben konnte.
»Komm! Ich möchte, dass du eine Runde mit mir fliegst«, forderte Mithval nachdrücklich.
Gilfea lächelte versonnen vor sich hin. Mithval wollte mit ihm in den Sonnenuntergang fliegen? Warum nicht? Er schnappte sich seine Flugjacke, zog die Flughose und -Stiefel an und kletterte auf den Sitz auf Mithvals Rücken.
»Und wohin soll es gehen?«
»Überraschung!«, meinte Mithval und hob ab. Der Drache schraubte sich in die Höhe, so hoch, dass Gilfea ganz Daelbar überschauen konnte.
»Was hast du vor?«
»Heute ist der Tag!«, meinte Mithval und stürzte los.
Der Drache nahm Fahrt auf, wurde richtig schnell. Als Gilfea der Wind nur so um die Ohren pfiff, breitete sein Drache plötzlich sein Flügen sehr weit aus. Während er dies tat, wurde es plötzlich ganz ruhig. Der Wind war verschwunden, obwohl die Geschwindigkeit nicht abgenommen hatte. Mithval begann zu summen. Im gleichem Moment fingen seine Flügel zu leuchten an. Goldenes Licht sickerte aus den Flughäuten und löste sich glitzernd vom Drachen ab. Gilfea traute seinen Augen nicht. Die Welt schien sich um Mithval zu einer Röhre zusammen zu falten. Es sah so aus, als hätte man die Innenseite der Röhre mit der Welt bemalt. Als Mithval hineinflog, zog sich das Bild der Welt immer weiter auseinander, so dass es nur noch farbige Linien in einem Tunnel war. Mithval hielt auf einen gleißend weißen Punkt im Zentrum zu. Je näher sie diesem Punkt kamen, desto heller wurde die Umgebung, um schließlich in einer gigantischen Lichtkaskade zu explodieren.
Gilflea und Mithval waren zwischen den Welten. Das Erlebnis war unbeschreiblich. Gilfea hatte mit Toms Hilfe etliche Sprachen gelernt, doch in keiner gab es Worte, um diesen Nichtort zu beschreiben. Zwischen den Welten gab es keine Wirklichkeit, da es weder Ort noch Zeit gab. Den einzigen formulierebaren Eindruck, den Gilfea in die Welt mitbrachte, war ein Gefühl. Es hatte das Gefühl, dass Mithval nach Hause gekommen war. Auf eine sehr magische Art waren sich Drachen und dieser Nichtort ähnlich. vielleicht war das auch der Grund dafür, dass die Drachen diese Welt zwischen den Welten als Reiseweg betreten konnten. Niemand anderem war dies bisher gelungen. Insbesondere scheiterten die Wissenschaftler der unifizierten Technokratie regelmäßig daran einen Hyperraumtransport zu schaffen. Hyperraum, das war der langweilige und technokratische Name, den sie diesem einmaligen Ort gegeben hatten.
Da Zeit nicht existierte konnte Gilfea nicht sagen, wie lange er und Mithal zwischen den Welten verbracht hatten. Jedenfalls materialisierten sie in der gleichen Sekunde, in der sie dematerialsiert hatten. Allerdings lagen Dematerialisierungspunkt und Materialisierungspunkt etliche tausend Kilometer voneinander entfernt. Drache und Reiter tauchten über einem Ozean auf. Weit und breit schien es nur Wasser zu geben, bis Gilfea eine kleine Insel entdeckte, auf die Mithval zuhielt.
Sie landeten. Mithval setzte Gilfea vor sich ab. Der Drache stand vor seiner Seele und sah ihn drachenuntypsich ernst an.
»Gilfea, Seele von Mithval, von heute an bist du ein wahrer Drachenreiter. Ich erneuere den Bund zwischen uns. Ich bin ein Teil von dir und du bist ein Teil von mir. Wir sind eins. Gilfea, sieh mich an! Schau her und erkenne, wer ich wirklich bin. Ich bin Mithval, der Einzigartige. Mithval der Mithrildrache und du bist meine Seele!«
Mithval breite seine Flügel aus, erhob sich zur vollen Größe. Seine schwarze Haut begann zu glänzen. Das Schwarz gewann an Tiefe, als könne man in die Haut hineinsehen, dabei veränderte sich die Farbe ins silberne, ohne die schwarze Färbung zu verlieren. An den Schuppenrändern schien sich das Licht zu brechen und in allen Farben des Regenbogens reflektiert zu werden. Mithval strahlte silberschwarzglänzend mit einem Hauch Gold, dass die kühle Strenge des Mithrils brach.
Dieser Drache war einzigartig. Es hatte niemals einen wie ihn gegeben und würde nach ihm auch niemals einen wie ihn geben. Mithval war der Drache der Drachen.
Gilfea fehlten die Worte.
»Aber das bleibt unter uns, Ok?«, kicherte Mithval und faltete sich wieder zusammen. Zurück blieb ein mattschwarzer Drache unbekannter Gattung.
»Wow! Bist du sicher, dass du wirklich die richtige Seele ausgesucht hast?«, überkam Gilfea ein Anflug von Selbstzweifeln. Er hatte gesehen, wieviel Verantwortung Franciscus mit einem Golddrachen übernommen hatte. Was würde da erst auf die Seele eines Mithrildrachens zukommen?
»Du bist absolut der Richtige! Außerdem, denk an den Aufreißfaktor. Wenn du da vor einem knackigem Typen stehst kannst du sagen: ‚Hey, willst du mal meinen Mithrildrachen sehen?‘ Wenn das nicht zieht?«
»Oh, Junge, du bist sowas von schräg drauf. Erst offenbarst du mir, dass du sowas wie eine limitierte Drachenspezialedition bist, um im gleichem Moment zu sagen, dass ich dich zum angeben und abschleppen verwenden soll?«
»Jep!«
»Ich wusste es, ich bin mit einem verrückten Drachen verbunden! Hilfe! Sanitäter! Mein Drache ist Größenwahnsinnig!«
»Endlich wird dein Humor besser!«
»Ich geb’s auf! Du hast gewonnen.«
»Natürlich, wer sonst?«
»Laß uns zurückfliegen«, meinte Mithval mit seiner akustischen Stimme, »Und bitte … «
»Ich weiß! Du brauchst es nicht zu erwähnen. Kein Wort über dein tatsächliches Wesen. Ich weiß, was du denkst. Die Welt ist noch nicht reif, für einen Mithrildrachen.«
»Natürlich, weißt du was ich denke. Wir sind eins!«
»Für immer und ewig!«
Der Rückflug war um kein Jota weniger spektakulär als der Hinflug. Die Ankunft in Daelbar hingegen war überraschend. Gilfea und Mithval wurden von einer ganzen Herde Drachen und ihren Reitern empfangen. Jedes Paar, dass abkömmlich war, kam zum Empfang der beiden, denn mit ihrem ersten Flug zwischen den Welten hatten Gilfea und Mithval eine Grenze überschritten. Von nun an waren sie wirkliche Drachenreiter und wurden mit tosenden Beifall empfangen. Gilfea und Mithval wussten, was nun kömmen würde, schließlich hatte Gilfea alles über diesen Tag in der Schule gelernt. Wenn ein Drache und seine Seele das erste Mal zwischen den Welten flogen war dies die entgültige Besiegelung ihrer Verbindung. Von nun an waren sie wirklich ein Wesen. Dieses Ereignis sah man daher als eine Grenze zwischen zwei Lebensabschnitten an. Gilfea und Mithval waren ab sofort keine Schüler mehr, auch wenn Gilfea seine letzten zwei Monate Untericht noch abschließen würde. Die beiden waren von nun an mündig und besaßen alle Rechte und Pflichten eines jeden Daelbaners.
Es war Turondur auf Toldin, der die beiden offiziell mit der entsprechen Grußformel empfing.
»Mithval und Gilfea! Der Rat von Daelbar grüßt Seele und Drache. Möge euer Wirken segensreich für die Welt sein. Daelbar heißt euch willkommen! Dies ist euere Stadt, dies ist eure Welt, dies sind eure Freunde. Mithval und Gilfea, die Drachen und Seelen verneigen sich vor euch, den neuen Bürgern Daelbars. Mitbürger, ehrt sie!«
Teil 2 – Jonas
Rituale
Elben sind ein Relikt einer längst vergessenen Epoche.
Man ist versucht ihren aristrokratischen Dünkel und ihre Überheblichkeit als tradierte Volklore abzutuen.
Ich halte diese Haltung hingegen für verharmlosend und gefählich.
Im Gegensatz empfinde ich das Gebaren der Elben unserer Art und Lebensweise gegenüber äußerst diskriminierend und ehrverletzend.Superintendent Grobak für den Orkstammes der Gorvans
Jonas hatte ein Problem. Eigentlich hatte einen ganzen Sack voller Probleme, aber eines seiner vielen Probleme stand unmittelbar vor ihm. Das Problem hörte – manchmal – auf dem Namen Krotos und war ein Mitschüler. Außer der Eigenschaft ein Mitschüler zu sein, war Krotos auch ein Ork, was in Anbetracht der Tatsache, dass Jonas ein Elb war, die ganze Problematik verständlicher machte. Krotos, wie alle Orks, war genetisch darauf programmiert Elben gegenüber, ablehnend zu reagieren. Mann kann es auch weniger diplomatisch ausdrücken: Orks hassten Elben und würden am liebsten jeden einzelnen abschlachten und, wenn möglich, anschließend fressen. Elben galten unter Orks als ausgesprochen delikat.
Nun kam es extrem selten vor, dass die Schulleitung eine derart drastische Eskalation der Dinge zuließ. Der letzte Vorfall, bei dem ein Elb auf dem Schulgelände von einem Ork erschlagen wurde, lag mehr als 25 Jahre zurück. Man achtete durchaus darauf, dass sich die Mitschüler untereinander nicht als Nahrungsquellen betrachteten. Trotzdem wäre es eine vollkommene Verkennung der Situation, wenn man leichtfertig den Schluß ziehen würde, dass Elben als potentielle Opfer orkscher Übergriffe, und seien es auch nur die täglichen Beleidigungen und Provokationen, einen besonderen Minderheitenschutz genossen hätten. Weit gefehlt. Jonas’ Schule befand sich im Königreich Goldor II oder kurz G2. Goldors Regenten waren schon seit langem der Meinung, dass magische oder teilmagische Wesen, wie Elben, eine potentielle Bedrohung ihrer Macht darstellen könnten. Niemand wird es darum wundern, dass das ehemals vorzügliche Verhältnis der Menschen und Elben zueinander über die Jahrhunderte merklich abgekühlt war. Inzwischen bildeten die Elben in der Bevölkerung G2s einen verschwindend geringen Anteil. Als Naturwesen führten sie eher ein nomadisierendes Leben und passten schlecht in die Metropolen wie Rauroscity. Unter dem Vorwand, den authentischen Lebensraum der Elben erhalten zu wollen und ihre kulturelle Identität zu bewahren, begann man Reservate zu schaffen, in die sich die Elbenpopulationen zurückzogen. Eigentlich hatten sie keine andere Wahl, da sich die Elben im Reichsvertrag von Osgilliath am Ende des vierten Zeitalters der Jurisdiktion des Königs von Goldor freiwillig unterworfen hatten. Niemand konnte damals, vor mehr als tausend Jahren, damit rechnen, wie sich das Verhältnis der damals gleichen Partner zueinander entwickeln würde.
In Wirklichkeit steckte natürlich die Kurie der unifizierten Technokratie hinter der Verschlechterung des Klimas. Als Virogorn IV entschied, dass sein Volk eine umfassende Allgemeinbildung erhalten sollte und die Schulpflicht einführte, tauchte plötzlich das Problem auf, dass man dafür natürlich auch Lehrer brauchte. Scheinbar völlig selbstlos erklärte sich der Order der Techniker, dem Vorgänger der unifizierten Technokratie, bereit, diese Aufgabe zu übernehmen. Niemand ahnte, dass hinter diesem Angebot der langfristig angelegte Plan steckte, Einfluß auf das Denken und die Werte der Bürger des Reiches zu nehmen. Erst viele hundert Jahre später begriffen einige wenige unabhängig denkende Bürger welch perfider Plan wirklich hinter dem Unterricht des Klerus stand. Aber es war zu spät, der Schaden war angerichtet, die Entfremdung der ehemals friedlich miteinander lebenden Völker hatte begonnen. Gleichzeitig wuchs die Macht des Klerus, der sich vom Order der Techniker zur Kirche der unifizierten Technologie gewandelt hatte. In diesem Prozeß wurden gleich Reihenweise andere Religionsgruppen, Sekten und Order kurzerhand absorbiert. Noch ehe man begriff was wirklich passierte, saßen an allen Schlüsselstellungen des Staates die Leute der Kirche. Kritik zu üben an Kirche oder Staat wurde zu einem gefährlichem Unterfangen. Obwohl der König, seine Kämmerer und Minister formal die Macht im Reich hatten, waren sie in Wirklichkeit Marionetten der Päpste oder, wie zu der Zeit in der Jonas die Schule besuchte, der Päpstin Paula-Sylvestra II.
Es war mal wieder einer dieser typischen Schultage. Krotos genoß es, seine genetische Abneigung gegen Elben zu kultivieren, in dem er Jonas herumschubste, schlug, ein Bein stellte, kräftig zutrat und sich über ihn vor allen Mitschülern als Elbenschwuchtel lustig machte.
Selbst der geduldigste Elb wird irgendwann sauer. Jonas war sauer, besaß aber noch soviel Selbstbeherrschung, sein Mißfallen nur durch ein abfälliges und wenig elbenhaftes Grunzen zu zeigen. Es war ein Grunzen zu viel. Vater Johannes, Lehrer und Priester der unifizierten Technokratie, sprang sofort drauf an.
»Jonas, ich mißbillige Ihr Verhalten aufs Schärfste. Ich denke, Sie sollten sich bei Krotos entschuldigen.«
»Ich … «, etwas war anders. Jonas kannte das Prozedere. Er hatte es bestimmt hundert mal durchgezogen. Er würde zu Krotos gehen, seinen Stolz runterschlucken, versuchen den unerträglichen Gestank des Orks zu ignorieren, ihm die Hand geben und sich entschuldigen. Krotos würde ihn hämisch und triumphierend angrinsen und gönnerhaft die Entschuldigung annehmen. Doch dieses mal war etwas anders. Jonas sagte: »Nein!«
»Was?«, Vater Johannes schaute ihn perplex an.
»Nein«, antwortete Jonas ruhig.
Die Blicke von Jonas und Vater Johannes kreuzten sich. Der Priester schaute tief in die Augen des Elben und wusste, dass er verloren hatte. Das Denken dieses Elben würde er nicht mehr beherrschen können. Dieser Elb hatte sein Rückrat wiedergefunden. Was nun folgte war ein anderes Ritual. Es war unausweichlich, aber nötig. Dieser Elb musste isoliert werden. Er war eine Gefahr. Nichts war für die Kirche gefährlicher, als ein freier, selbstständig denkender Geist. Wozu Freiheit führen konnte, konnte man an Daelbar sehen. Daelbar, diesem unerträglichem Staat, der sich die Frechheit genehmigte sich unabhängig von der Kurie und demokratisch zu entwickeln. Natürlich … Jonas war ein Elb, also teilweise magisch. Wie diese Viecher. Drachen. Magisches Dreckspack!
»Erklären Sie Ihr Verhalten, Jonas! Sie wissen doch, dass wir keine Agressivität zwischen den Schülern dulden!«, fauchte Vater Johannes Jonas an. Das Ritual begann. Jeder wusste, was folgen würde. Und jeder wusste, welches Ende die Sache nehmen würde.
«Agressivität? Ich? Krotos ist agressiv. Habe ich Krotos geschlagen oder er mich? Habe ich ihn getreten oder er mich?«, fragte Jonas, obwohl er wusste, wie sinnlos seine Argumentation war.
»Genug! Ihre Impertinenz ist unerträglich. Ich kann nicht dulden, dass Sie das Elbentum und seine mehrere tausend Jahre alte Kultur derart besuldeln. Ich schäme mich für Sie. Wie können Sie es nur wagen, Krotos seine genetische Präposition vorzuwerfen. Jonas, sie sind ein Rassist. «
»Ich bin ein Rassist? Das ist absurd! Dieser Ork versucht mich zu provozieren, wo und wann er nur kann, und ich soll das geduldig akzeptieren und mich dafür entschuldigen, dass er mich angreift?«
»Jonas, Sie geben es also zu, dass … «
»Ich gebe gar nichts zu. Es gibt nichts zu zugeben! Dieser Ork greift mich an und ich will mich verteidigen dürfen! Muß ich mir das gefallen lassen?«
»Jonas, Jonas, Jonas!«, seufzte Vater Johannes falsch. Jeder im Raum wusste, dass Jonas recht hat, selbst Krotos wusste, dass Jonas recht hatte, aber genau das, war der Punkt. Er durfte nicht Recht haben. Das Ergebnis war so absehbar, wie der morgendliche Sonnenaufgang. Vater Johannes griff zum elektronischen Klassenbuch, setzte eine amtliche Mine auf und verkündete: »Jonas, Sie lassen mir keine Wahl. Hiermit schließe ich Sie vom Unterricht wegen des Verdachts einer hassbedingten oder rassisitisch motivierten Persönlichkeitsverletzung vom Unterricht bis zur Klärung der Vorwürfe durch ein Schultribunal aus. Sie haben 15 Minuten das Schuldgelände zu verlassen. Nach dieser Zeit erfolgt eine sofortige Strafanzeige wegen Hausfriedensbruchs. Das gleiche gilt, sollten sie das Schulgelände betreten. Jonas, Sie haben mich maßlos enttäuscht.«
Das war’s! Man hatte ihn suspendiert.
Jonas packte seine Sachen, schaufelte sie in seinen Rucksack und verließ schweigend das Klassenzimmer. Seine Mitschüler? Sie wagten nicht ihm in die Augen zu sehen. Sie mieden jeglichem Blickkontakt. Er konnte es fühlen, sie schämten sich. Sie wussten, dass es ein schreiendes Unrecht war Jonas rauszuschmeißen. Auch wenn viele Mitschüler Elben nicht mochten, so mochten sie Jonas. Mit einem Seufzer zog er die Klassentür hinter sich zu.
Mondlicht
Es liegt in der Natur des Elben, sich überwiegend vegetarisch zu ernähren. Sein partiell geisthaftes Wesen, d.h. seine gleichzeitige Existenz in der realen und der spirituellen Welt, wird durch rituel ungereinigte fleischliche Kost drastisch gestört. Während meiner Forschungen zu diesem Thema bin ich auf Hinweise gestoßen, dass das Urzuchtmuster der Orks durch Zwangsernährung von gefangenen Elben mit rohem Fleisch erfolgt sein könnte.
Meine Empfehlung an die Gilde der Graumeister besteht darin, diesen Forschungsbereich auszubauen. Ein wesentlicher Teil der Macht der Kurie basiert auf der Züchtung von Orks. Möglicherweise stehen wir vor dem Weg zu einem Kontrollschlüssel, mit dem die zerstörrerische Aggressivität der Orks kontrolliert wenn nicht sogar beseitgt werden kann.Arestid Go’San, Forschungsdirektor der Abteilung IX der Gilde
Jonas schlenderte ziellos umher. Man hatte ihn aus der Schule geschmissen. Damit war sein Zugangspaß ebenfalls Makulatur. Die Berechtigung zum Verlassen des Elbenreservates dürfte vermutlich in den nächsten zwei Tagen wiederrufen werden. Dies war noch so eine nette Idee der Kurie. Formal war es das Reichsgesetz zum Schutz der elbischen Kultur und Tradition. In Wirklichkeit war es ein Gesetz, mit dem die Elben ausgesondert und ghettoisiert wurden. Zugegeben, das Reservat war eine riesiges, sogar schönes, grünes Land. Man konnte sich als Elb durchaus wohl fühlen, nur musste man dann akzeptieren, dass man ein Gefangener war. Immerhin war man im Reservat vor dem Übergriff der Orks geschüzt. Den genetoelektronischen Sperrzaun konnte kein Ork lebend überwinden.
Jonas setzte sich in einen Park. Er liebte das Grün der Pflanzen. »Ja«, dachte er, »ich bin ein Elb, aber ich lebe nicht wie einer. Wir sollten frei sein. Jeder Mensch, jeder Elb, wir alle sollten frei sein.« Jonas ließ seine Gedanken wandern, er träumte, was für einen jungen Elben, er war gerade einmal 19 Jahre alt, ungewöhnlich war. Heutzutage gab es wenige junge Elben. Die meisten in seiner Sippe waren weit über 300 Jahre alt. In seinem Alter gab es vielleicht zwei Hand voll im ganzen Reservat, weswegen auch niemand seine Ausbildung übernehmen konnte und wollte. Der Ältestenrat seines Stamms war deswegen der Meinung, er sollte in einer Schule des Königreichs unterrichtet werden. Dies würde ihn auch die Dinge »dort draußen in der Welt« lehren. Als Jonas hörte, dass er eine Schule außerhalb des Reservats besuchen würde, war er völlig aus dem Häuschen. Seine Begeisterung war kaum zu stoppen, denn Jonas war von den Menschen fasziniert. Er wählte sogar einen nichtelbischen Namen, Gildofal war sein elbischer Name, weil er den Menschen ähnlicher sein wollte. Die Grundschule war dann auch nicht so schlecht, eigentlich sogar sehr gut. Der Priester, der sie leitete, schien die Lehren der Kurie eher kritisch zu sehen. Der Bruch und lange frustrierende Weg, der nach Jahren im Rausschmiß endete, begann in der Sekundärschule A für begabte Schüler.
Es wurde Abend. Jonas, tief in Gedanken versunken, war planlos umhergewandert und wusste plötzlich nicht mehr, wo er war. Es war ein Park, soviel war in der anbrechenden Dämmerung erkennbar. Elben können auch bei Nacht noch sehr gut sehen, vorrausgesetzt es gab genug Sternenlicht. Aber der Himmel war bedeckt. Dunkle Gewitterwolken hingen am Himmel. Eins war sicher. Dies war nicht der Park, den Jonas nach der Schule aufgesucht hatte. Dieser Park war größer, mehr eine ausgedehnte Parklandschaft mit Wäldern und Seen.
»Wo bin ich?«, fragte sich Jonas und schaute sich um. Die nächsten Häuser waren weit, mehrere hunder Meter entfernt. Jonas versuchte sich die Karte der Region ins Gedächnis zu rufen. Wenn er sich nicht irrte, befand er sich im Sandgrundener Volkspark, was gar nicht so schlecht wäre. Jonas suchte sich zwei, drei Landmarken und brachte diese in seinem Kopf mit der Karte in Deckung. Ja, es stimmte, er war im Volkspark. Die Reservation lag dann genau auf der anderen Seite des Parks. Jonas musste ihn einfach nur durchqueren. Eine Wanderung von 27km, nichts was ihn als Waldelb schreckte. Ein Marsch mit leichtem Schritt von etwas mehr als einer Stunde. Wenn Elben etwas waren, dann schnelle Läufer.
Jonas hatte etwas mehr als die Hälfte des Weges zurück gelegt, als er plötzlich das unangenehme Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Er stoppte seinen Lauf und schaute sich um. Nichts! Der Himmel war mit schwarzen Wolken bedeckt und es war sehr dunkel, selbst für einen Elben. Jonas konzentrierte sich auf seine Umgebung, versuchte dabei auch, seinen noch nicht vollständig ausgebildeten Sinn für die alternative Geisterwelt zu öffnen, in der die Elben parallel existierten. Jedes Lebenwesen, so hatte er gelernt, hinterließ einen Abdurck in der Geisterwelt. Je nach Art des Wesen erschien dieser Abdruck anders. Drachen, als ultimativ magische Lebensformen, waren wie hell strahlende Sonnen. Elben erschienen genau so wie in der realen Welt, nur waren sie von einer schimmerenden Aura umgeben. Orks waren schwarze, kalte Flecken. Es gelang ihm, sich an die Worte seines elbischen Lehrers für die Kultur seiner Sippe zu erinnern. Um sich der Geisterwelt öffnen zu können, musste man ein bestimmtes Alter erreicht haben. Vor diesem Alter konnte man durch Anwendung spezieller Konzentrationsübungen zumindest einen leichten Blick in die andere Welt erhaschen. Jonas konzentrierte sich. Glücklicherweise war er nur noch wenig von jener Altersgrenze entfernt, ab der er sich nicht mehr konzentrieren müßte.
Jonas schloß seine Augen und öffnete seinen inneren Blick. Er war geblendet. Die Lebenskraft der Blumen, Sträucher, Bäume und Gräser flammten in kräftigen Grüntönen um ihm herum auf. Es war gleichzeitig verwirrend und beeindruckend, wie viel Energie in der Flora steckte.
Da war etwas. Ein rötliches Flackern am Rand seines Blickfeldes, im gleichem Moment von einem Rascheln in der realen Welt begleitet. Jonas riß seine Augen auf und wirbelte herum. Das einzige, was er sah, waren zwei rote Augen, dann fühlte er einen Schlag und einen stechenden Schmerz. Eine Sekunde später, war Jonas bewußtlos.
Als Jonas wieder erwachte, fühlte er sich benommen und verwirrt. Er schaute zum Himmel. Die dichten Wolken des Tages waren verschwunden. Über ihm schimmerte ein sternenklarer Himmel. Es war zwei Tage nach Neumond. Die dünne Sichel spendete nur wenig Licht, aber genug für die Augen eines Elben. Jonas tastete sich nach Verletzungen ab. Seine rechte Schulter tat ihm weh. Als er vorsichtig zu ihr hin griff, durchzuckte ihn ein stechender Schmerz.
»Ah, verdammt!«, stöhnte Jonas auf und fühlte etwas feuchtes an seinen Fingern kleben. Es war Blut. Jonas versuchte seinen Kopf und Hals so zu verdrehen, dass er seine Schulter sehen konnte. Auch diese Untersuchung entpuppte sich als schmerzhaft, was aber nicht verwunderlich war, denn das Blut stammte von einer Bißwunde. Mehr konnte selbst Jonas als Elb bei den spärlichen Sichtverhältnissen nicht erkennen.
»Da scheint wohl einer von Krotos Freunden Hunger gehabt zu haben«, kommentierte Jonas für sich seinen Zustand. »Auf der anderen Seite«, überlegte sich Jonas, »warum hätte ein Ork nur zubeißen sollen. Ein Ork hätte nichts von mir übrig gelassen.«
Jonas schaute auf seine Uhr. Es war kurz nach 3 Uhr Morgens. Danach musste, wenn man davon ausging, dass der Vorfall etwa gegen 8 Uhr Abends stattgefunden hatte, er gut acht Stunden bewustlos gewesen sein. Was war geschehen? Jonas verfluchte seine Benommenheit, die ihn darin hinderte, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Das muss alles warten … «, entschloß er schließlich und rannte abwesend los.
Wäre Jonas’ Geist klar gewesen, hätte er den Körper eines sehr alten Mannes bemerkt. Dieser Körper war leblos, denn der Mann war tot. Wenige Meter von dem Ort, an dem Jonas überfallen worden war lag er zusammengekauert in einem Gebüsch. Dieser Mann besaß keine offenen Wunden, keine Verletzungen, sein Gesicht zierte sogar ein glücklicher und zufriedener Ausdruck. Er schien einfach sehr alt gewesen zu sein und sein Leben hatte schließlich geendet. Das einzig Ungewöhnliche, das Jonas möglicherweise zu denken gegeben hätte, war eine Blutspur, die aus seinem Mundwinkel lief.
Es war später Vormittag, als Jonas erneut erwachte. Noch etwas müde, aber bei weitem nicht mehr so verkatert, öffnete er seine Augen und war überrascht, dass er sich im Heim seiner Eltern befand. Genau genommen lag er sogar in seinem Bett.
»Na super!«, knurrte der Elb und schlenderte Richtung Wasserquelle, um sich aufzufrischen. Etwas verwundert stellte Jonas fest, dass von seiner Verwundung bis auf einen blauen Fleck nichts mehr zu sehen war. Die Stelle tat auch kaum weh. Selbst als Jonas auf den Fleck drückte war außer einem schwachen Ziehen nichts zu spüren. Mit einem Kopfschütteln beendete Jonas seine Selbstuntersuchung und begann sich zu waschen. Eine viertel Stunde später betrat er die Küche und fand genau das vor, was er befürchtet hatte. Seine Eltern.
»Willst du uns erzählen was passiert ist?«, fragte seine Mutter, während sie ihrem Sohn ein verspätetes Frühstück bereitete.
»Ihr wisst es schon?«, fragte Jonas traurig.
»Die offizielle Benachrichtigung kam vor einer Stunde. Du bist bis zum Schultribunal suspendiert. Sie haben sogar deinen Passierschein widerufen. Du darfst das Reservat nicht mehr verlassen«, meinte sein Vater traurig.
»Es tut mir leid. Ich habe euch enttäuscht«, Jonas ließ seinen Kopf hängen, »Ich … ich … ich konnte einfach nicht mehr schweigen. Es ging nicht. Es kann nicht sein, dass Wesen wie Krotos mich beschimpfen, bespucken oder sogar misshandeln dürfen und ich nichts dagegen sagen darf! Ich würde ihn nie schlagen. Ich weiß, dass Orks gezüchtet wurden, uns zu hassen. Aber das kann keine Entschuldigung sein. Verdammt, sie sind vernunftbegabte Wesen. Schließlich gehen sie zur Schule. Krotos ist sogar ein exzellenter Schüler. Bitte sagt mir, was ich falsch gemacht habe … «
Resignierter konnte eine Geste nicht sein, als die Hand von Jonas’ Vater auf Jonas’ Rücken.
»Gildofal«, begann Jonas’ Vater und verwendete den elbischen Namen seines Sohns, »Es tut mir leid. Dich täglich in dieser Schule zu wissen quälte mein Gewissen, zu wissen, wie man dich dort behandelt, war unerträglich. Es tut mir so leid.«
»Was wirst du jetzt machen?«, fragte Jonas’ Mutter.
»Ich weiß es nicht«, gestand Jonas, »Ich kann hier nicht leben. Bitte glaubt mir, ich will nicht respektlos sein. Aber dieses Reservat ist kein Schutz für uns, es ist ein Gefängnis, ein Zoo. Ja, es ist ein Zoo und wir sind die Attraktion. Wir verkaufen unser ‚Echt authentisches elbisches Lembas-Brot‘, verhökern ‚super magische Elbenmäntel‘ und verramschen ‚echten Elbenschmuck in Mithrilqualität‘ aus Blech mit einer Nanometerdicken Kunstmithrilschicht aus dem Plasmaofen auf die ein Elb einen Spruch geworfen hat, dessen Inhalt er nicht mehr versteht. Ich bin kein Traditionalist, trotzdem tut es mir in meiner elbischen Seele weh, zu erleben, wie wir unsere Geschichte verkaufen. Ich kann so nicht leben. Ich liebe euch, aber ich muss hier weg … «
Jonas’ Eltern hatten sich zu ihm gesetzt und sahen ihn trauig, aber mitfühlend an. Jonas’ Mutter war die erste, die etwas sagte: »Ich verstehe dich. Du hast recht. Alles was du sagst ist richtig. Wir sind zu einer Touristenattraktion verkommen. Einem Elben-Adventure-Park. Ich spüre es in jeder Faser meines Körpers. Wir leben eine Lüge. Aber, Gildofal, wo willst du hin?«
»Daelbar!«, meinte Jonas. Dieses Ziel war ihm erst in jenem Moment klar geworden. Es war einfach konsequent. Daelbar, der leuchtende Stern der Freiheit.
»Ja, vielleicht. Nur, wie willst du dahin kommen? Du weißt, dass Daelbar einem Embargo unterliegt? Gildofal oder Jonas, wie du dich gerne nennen läßt, du bist mein Sohn und ich könnte es niemals ertragen, dich unglücklich zu sehen, aber Daelbar? Sie werden dich jagen! Sobald du das Reservat verläßt, werden sie dich verfolgen, um dich in ‚Schutzhaft‘ zu nehmen. Das wäre nicht schlimm, denn früher oder später würdest du wieder hier landen. Aber wenn sie merken, wohin du willst, wird man dich als Verräter angklagen. Du weißt, dass das Wasser auf den Mühlen von dieser Hexe, der Päpstin, wäre? Ein Elb als Verräter? Sie würde glatt ein heiliges Jahr zur Feier ausrufen.«
Jonas seufzte: »Ich weiß … Ich verspreche euch, nichts zu tun, was uns Elben schaden würde. Wer weiß, vielleicht ergibt sich eine andere Möglichkeit. Daelbar war nur eine Idee«, Jonas grinste, »Immerhin, sollte mir eine Flucht gelingen würden sie mich nicht als Verräter brandmarken. Denn dann müssten sie zugeben, dass man sich ihrer Überwachung entziehen kann.«
»Wieso bist du eigentlich erst heute früh nach Hause gekommen?«, wechselte Jonas’ Mutter das Thema.
»Nach dem Vorfall in der Schule bin ich herumgelaufen und habe mich verlaufen. Ich war wohl sehr in Gedanken. Ich musste durch den Sandgrundener Volkspark. Da ist mir dann etwas merkwürdiges passiert. Irgend etwas hat mich angefallen und ich verlor die Besinnung. Ich glaubte sogar, gebissen worden zu sein. Ich habe aber keine Wunde. Komisch, aber ich kann mich kaum noch an die Sache erinnern. Jedenfalls geht es mir gut. Sehr gut sogar.«
Und es wurde sogar noch besser. In den nächsten Tagen entwickelte Jonas eine Lebensfreude und Lebendigkeit, die ihn selbst überraschte. Elben als Naturwesen waren an sich schon sehr lebensbejahend, aber Jonas wurde richtig quirlig. Er begann, lange Wanderungen durch das Reservat zu unternehmen, unterhielt sich mit den Mitgliedern seiner Sippe, führte sehr lange Gespräche mit den Ältesten und lauschte insbesondere ihren Geschichten. Der Angriff im Park war bald vergessen.
Seid der Geschichte in der Schule waren 11 Tage vergangen. Jonas war von einer langen Wanderung ins Haus seiner Eltern zurückgekehrt und lag müde auf seinem Bett. Etwas war merkwürdig. Jonas verspührte plötzlich eine innere Unrastigkeit in seinem Körper, die ihm bisher fremd war. Er fragte sich gerade, ob er es mit seinen Ausflügen nicht etwas übertrieb. Seine Gelenke und Knochen taten ihm weh. Er hatte zwar noch nie gehört, dass ein Elb von Rheuma geplagt wurde, aber wer wusste schon, was in dieser Zeit alles möglich war.
Die Schmerzen nahmen zu. Jonas massierte sich seine Handgelenke und schaute aus dem Fenster. Es war Vollmond. Das helle Licht fiel direkt auf sein Bett. Jonas sah den Mond an, als ihm ein stechender Schmerz durch die Schulter fuhr. Jonas krümmte sich vor Qual. Er wollte nach Hilfe rufen, aber seine Stimmbänder versagten ihm ihren Dienst. Der Schmerz begann, sich von der Schulter über seinen ganzen Körper auszubreiten. Panik erfaßte Jonas. Er sah auf seine Hände, die sich anfühlten, als würden sie in Flammen stehen. Sie veränderten sich. Jonas wollte es kaum glauben und hielt es für eine Schmerzhalluzination. Doch es passierte wirklich. Seine Finger wurden kürzer, knochiger, tatzenartig. Außer den Kopfhaaren verfügen Elben über keine Körperbehaarung. Jonas jetzt schon. Noch während sich seine Hände zu Pfoten verformten wuchs Jonas ein dichtes, weiches, flauschiges Fell.
»Shit!«, dachte Jonas, als ein fremdes Erinnungsfragment in seinem Schädel aufblitzte. Das Bild eines Wolfes, eines großen Werwolfes, tauchte in seinem Kopf auf. Er war es, der Jonas angefallen hatte. Er hatte ihn in die Schulter gebissen. Jonas sah es klar vor seinem inneren Auge. Ein alter, grauer Werwolf hatte ihn gebissen, eigentlich hatte er nur leicht zugeschnappt und gleich wieder losgelassen.
»Entschuldige, dass ich dir diese Last aufbürde. Aber ich kann meine Aufgabe nicht mehr erfüllen«, hatte der Werwolf geheult. Mit dem Biß waren Erinnerungen auf Jonas übergegangen. Der Werwolf, der eigentlich ein Lycanthrop war, war alt. Seine Zeit war gekommen, die Welt zu verlassen. Doch hatte er eine Aufgabe und diese Aufgabe war auf Jonas übergegangen.
»Was ist das für eine Aufgabe?«, hatte Jonas gefragt.
»Du wirst es wissen, wenn es soweit ist. Es tut mir leid, dir dies angetan zu haben. Du wirst es verstehen und mir vielleicht auch verzeihen. Wenn die Zeit reif ist, wirst du alles verstehen. Ich kann dir nicht mehr sagen, außer, dass du nicht alleine bist. Wer weiß, was kommen wird. Manchmal taucht Hilfe an Orten und von Wesen auf, von denen du es am wenigsten erwarten würdest«, meinte der Werwolf, bevor Jonas seine Besinnung verlor.
Der Erinnerungsblitz war vorbei und die Schmerzen verschwunden. Jonas musste niesen. Dabei stellte er fest, dass statt einer Nase und eines Mundes, er eine Hunde- oder Wolfsschnauze besaß. Etwas unsicher sprang er von seinem Bett und lief auf allen Vieren zu seinem Kleiderspiegel.
»Hm, wie erkläre ich das jetzt meinen Eltern?«, fragte sich Jonas, als er sein Spiegelbild sah.
Statt eines Elben blickte ihn ein sichtlich verstörter Wolf an. Um es genau zu nehmen, war er sogar ein sehr großer Wolf, jedenfalls größer als ein Wolf der kein Werwolf war. Ansonsten sah er wirklich wie canis lupo aus. Schnauze, überall dichtes Fell, vier Pfoten. Seine Kleidung wirkte an diesem anderem Körper etwas deplaziert. Sein Raglan-Shirt wusste nicht, ob es nun spannen sollte oder schlabbern. Es war einfach für eine völlig andere Körperform gefertigt worde. Auch mit Jonas’ Shorts stimmte etwas nicht. Sie schmerzten am Steiß.
»Ich Idot!«, dachte Jonas und befreite seinen Schweif aus seinem Gefängnis.
»Hm! Und nu?«, Jonas musterte sich im Spiegel und stellte dabei fest, dass er alles in schwarz-weiß sah. Sämtliche Farbe war verschwunden. Dafür meinte er Konturen besser erkennen zu können, bis ihm auffiel, dass es, bis auf das Mondlicht, keine Beleuchtung im Zimmer gab. Für so wenig Licht konnte er vorzüglich sehen. Oder anders, denn Elben besaßen ebenfalls eine besondere Sehkraft, auch wenn sie nicht mehr so gut war, wie noch vor ein paar Jahrunderten. Seine Sehfähigkeit als Wolf war anders. Während Jonas als Elb mehr eine allumfassende Perspektive wahr nahm, also eher einen Panoramablick besaß, war sein Wolfsblick gezielter, gerichteter und präsenter, sehr auf einzelne Objekte bezogen.
Und dann war da noch der Geruchssinn. Jonas musste niesen, weil eine Flut von Gerüchen auf ihn einströmte. Er konnte richtige Spuren von Gerüchen lesen. Eine Spur führte von seiner Zimmertür zu seinem Schrank und wieder zurück. Er erkannte die Spur als den Geruch seiner Mutter, die während des Tages frisch gewaschene Wäsche in seinen Schrank gelegt haben musste.
Völlig in Gedanken versunken, kratze Jonas sich mit seiner Hinterpfote am Ohr.
»Ich glaube, ich muss auf mein Verhalten achten«, stellte Jonas zu sich selbst fest und sprang auf seine vier Pfoten. Ihm war eine Idee gekommen oder mehr eine Frage. Die fremden Gedankenfetzen in seinem Kopf erzählten ihm, dass er von nun ein ein Lycanthrop war. Er war kein Werwolf, der bei Mondlicht zur Bestie wurde. Ein Blick in den Spiegel zeigte einen stattlichen aber friedlichen Wolf. Wenn er aber ein Lycanthrop war, dann müsste er seine Form frei wählen können.
Jonas schaute in den Spiegel und konzentrierte sich. Im ersten Moment war das Ergebnis beängstigend, seine Schnauze formte sich um, veränderte sein Gesicht. Von seinen Ohren verschwanden die Haare. Sie wurden kleiner und spitzer, elbenmäßiger und passten sich dem Gesicht an, dass sich aus der Hundeschaunze formte. Als selbst die Farbe in Jonas’ Welt zurückkehrte, sah er einen Elbenkopf, seinen, auf einem Wolfskörper sitzen.
»Gewöhnungsbedürftig«, kommentierte Jonas das Ergebnis.
Trotzdem hatte ihn die Neugier gepackt. Jonas verwandelte sich komplett zurück in einen Elben, zog sich nackt aus, öffnete sein Zimmerfenster, verwandelte sich zurück in einen Wolf und sprang aus dem Zimmer.
»Verdammt!«, fluchte Jonas, als er in der Hecke vor seinem Fenster landete. Schnell verkroch er sich hinter einem Busch. Wer wusste schon, wie die elbische Nachbarschaft auf einen Wolf im Dorf reagierte. Instinktiv wählte Jonas einen Weg, der ihn sicher und unendeckt bis an den Dorfrand führte. Dort angekommen begann er seinen neuen, oder besser, alternativen Körper auszuprobieren. Er rannte, jagte, sprang und kletterte. Es war fantastisch wieviel Spaß es machte, über die Wiesen zu tollen. Einmal heulte er sogar aus Jux den Mond an. Und während Jonas noch lief und rannte, kam ihm ein Gedanke. Seine neue Fähigkeit war ein Geschenk gewesen. Mochte seine neues Alter-Ego ihn noch zu einer Aufgabe verpflichten, auf jedem Fall war es der Schlüssel zu seiner Freiheit.
Mit diesem sehr befriedigenden Gedanken kehrte Jonas ins Dorf zurück. Vorsichtig schlich er von Haus zu Haus und wäre fast entdeckt worden, als ein Nachbar ein Fenster schloß unter dessen Fensterbank Jonas gerade lag. Zu Hause angekommen, sprang er schnell in sein Zimmer, verwandelte sich zurück in einen Elben, zog sich an und schloß sein Fenster. Müde, aber mit aufgwühlten Geist, legte sich Jonas ins Bett und schlief grübelnd ein.
Hassverbrechen
Manche Bürger sind der Meinung, die Kurie würde einen zu großen Einfluß auf unsere Normen und die Werte ausüben.
Da drängt sich mir die Frage auf, ob jenen Bürgern eine Welt ohne Werte lieber wäre? Werte und Normen sind die Basis unserer Zivilisation. Ohne sie kann es keinen Staat geben. Ohne sie herrschte Anarchie.König Antharon von Goldor II
»Guten Morgen!«, begrüßte Jonas’ Mutter ihren Sohn.
Es war gegen 8 Uhr morgens, als Jonas zum Frühstückstisch kam. Es gab die übliche Elbenfrühstückskombi: Lembas (selbstgemacht), Kräuterquark, Käse, Milch, Eier und Nutella.
»Morgen!«, antwortete Jonas fröhlich und begann zu essen.
»Hast du heute Nacht auch den Wolf gehört?«, begann seine Mutter ein morgendliches Frühstücksgespräch. Jonas verschluckte sich vor Schreck, als seine Mutter so zielstrebig zum Thema kam, »Ich habe noch nie gehört, dass Wölfe in dieser Gegend leben. Ob die über den nordöstlichen Gebrigspaß zu uns gekommen sind? Ich habe mit unseren Nachbarn gesprochen. Sie haben ihn alle gehört, manche meinten, sie hätten ihn sogar hier im Dorf gesehen.«
»Ähm … «, wollte Jonas in das Gespräch einhaken. Aber wenn seine Mutter einmal in Fahrt war, bremste sie so schnell nichts.
»Weißt du, was an dem Geheul merkwürdig war?«, stellte Jonas’ Mutter eine Frage, die sie natürlich sofort selbst beantwortete, »Mir kam es bekannt vor, richtig vertraut. Es war fast so, als wenn dein Vater oder du mit mir reden würdst.«
»Klar, ich war’s ja auch!«, meinte Jonas zu sich selbst.
»Mami?«, fragte er vorsichtig, »Ich glaube ich kann dir etwas zu diesem Wolf erzählen.«
»Ach, was denn? Hattet ihr Wölfe in der Schule gehabt?«
»Bitte, ich bin … ich war in der Abschlußklasse. Hunde und Wölfe haben wir in der 6. Klasse gehabt. Es ist etwas anderes. Erinnerst du dich an den Tag, als ich von der Schule geflogen bin?«
»Bitte! Ich bin zwar 273 Jahr alt, aber noch nicht senil. Das war vor gerade mal zwei Wochen. Natürlich erinnere ich mich.«
»Ich hatte euch doch erzählt, dass mich etwas angefallen hat. Ich dachte sogar, gebissen worden zu sein. Als ich aber am Morgen keine Wunde fand, hab ich die Sache als Einbildung abgetan.«
Auf der Stirn von Jonas’ Mutter bildeten sich Denkfalten. In ihrem Schädel arbeitete es.
»Ja … «, forderte sie Jonas zögerlich auf, mit seinen Ausführungen fortzufahren.
»Mich hat tatsächlich etwas gebissen. Es war ein Lycanthrop.«
»Natürlich!«, meinte Jonas’ Mutter mit einer Stimmung die sich nicht recht deuten ließ: »Du warst der Wolf, oder?«
»Ich befürchte, ja!«, gestand Jonas, »Ich habe aus Spaß einfach einmal den Mond angeheult. Das macht man als Wolf doch so.«
»Wie lange weißt du schon davon? Ich meine, dass du ein Lycanthrop bist?«
»Seit gestern Nacht. Es war … «
»Vollmond! Natürlich!«, beendete Jonas’ Mutter den Satz, »Schatz, du solltest sehr, sehr vorsichtig sein. Wölfe sind für viele Menschen, selbst für viele Elben, heutzutage ungewohnt. Wenn du nicht willst, dass du eines Tages als Bettvorleger endest solltest du wirklich extrem vorsichtig sein. Ich hab schon erzählt, dass du im ganzen Dorf gehört wurdest. Du hast eine wirklich weit tragende Stimme. Die Leute sind besorgt. Viele haben Angst vor Wölfen. Jemand meinte bereits, man sollte den Reservatsjäger informieren.«
»Elben fordern einen Jäger an?«, Jonas war schockiert.
Seine Mutter nickte: »Ja und ich schäme mich dafür. Wir sind Elben. Für uns ist Leben, jedes Leben, heilig. Außer in absoluter Notwehr, würden wir niemals ein anderes Wesen töten. So dachte ich, wäre es. Aber ich scheine mich geirrt zu haben.«
»Hast du nicht«, korrigierte Jonas’ Vater, der kurz vorher zur Tür reingekommen war, »Sie machen es sich einfach. Sie töten nicht. Sie lassen töten. Dieser Wolf … «
»…ist dein Sohn«, vervollständigte Jonas’ Mutter ihren Mann, »Wie es aussieht wurde er vor zwei Wochen von einem Lycanthropen gebissen.«
»Ich wusste doch, dass mir die Stimme bekannt vorkam!«, meinte Jonas’ Vater, »Und, wie lebt es sich mit einem Fell?«
»Warm! Gestern Nacht war es schon empfindlich kalt. Man merkt, dass der Winter vor der Tür steht. Aber als Wolf habe ich von der Kälte nichts gespührt. Darf ich euch eine Frage stellen?«
»Sicher!«, meinte Jonas’ Vater.
»Wieso nehmt ihr die Sache so locker? Ihr habt eben erfahren, dass ich ein Werwolf, eigentlich ein Lycanthrop, geworden bin, und ihr macht euch Sorgen, ob ich als Bettvorleger ende oder wie sich mein Fell anfühlt. Ich hätte eigentlich mit einer etwas anderen Reaktion gerechnet.«
»Womit denn?«, Jonas’ Vater setzte sich neben seinen Sohn, »Womit hast du gerechnet? Dass deine Mutter in Tränen ausbricht? ‚Bei Elbereth, mein Sohn ist ein Werwolf geworden! Wehe, wehe, welch Schande! Was haben wir nur falsch gemacht! Warum strafen uns die Götter?‘ So etwa?«
Jonas musste losprusten: »Nee … So natürlich nicht. Ich weiß auch nicht … «
»Ach Schatz!«, begann seine Mutter, »Lycanthropen gelten in unserer Mythologie als besondere Wesen. Es ist ungewöhnlich, dass ein Elb die Bürde trägt, denn eine Bürde soll es sein. Soweit ich mich an die alten Erzählungen und Lieder erinnern kann, ist mit deiner Gabe meistens auch eine Aufgabe verbunden. Es war ein Lycanthrop, der den Calaelen, den Lichtstern, aus den Verließ der Firhen holte und wieder auf die Spitze des Himmelsbergs, des Menelorons, brachte. Ich sage nicht, dass ich darüber glücklich bin, was dir widerfahren ist. Schließlich mache ich mir Sorgen um dich, wie jede Mutter es tut. Aber es ist auch kein Beinbruch. Ich vermute, dass das Schicksal noch etwas mit dir vor hat.«
»Wie immer könnte man es nicht besser ausdrücken, als es deine Mutter gerade getan tat. Sie hat recht«, Jonas’ Vater nahm seinen Sohn in den Arm, »Bitte, Gildofal, sei sehr vorsichtig … Und vergrab keine Knochen im Garten.«
Typisch sein Vater, ernste Situationen musste er immer mit einem blöden Spruch aufbrechen.
»Du wärst nicht zufällig bereit uns mal deine neue Form … «
»Paps!«
»Hey, ich bin neugierig. Du bist der erste Lycanthrop in unserer Sippe.«
Jonas zuckte mit den Schultern. Irgendwie genierte er sich ein wenig. Er war doch schließlich kein Zirkuspferd. Auf der anderen Seite waren es seine Eltern. Sie sollten schon ihren ganzen Sohn kennen.
»Wartet! Ich will mich nur, ähm, vorher ausziehen … In meinem Zimmer … «
Jonas lief in sein Zimmer, schloß Tür und Fensterläden und zog sich aus. Noch während er sich entkleidete begann er sich bereits in einen Wolf zu verwandeln. Als Jonas schließlich auf allen Vieren stand, bemerkte er, dass er seine Zimmertür geschlossen hatte.
»Dann wird Hundchen wohl an die Klinke springen müssen«, dachte er bei sich und sprang an seiner Tür hoch und betätigte mit der rechten Pfote seine Tür. Sie sprang auf und Jonas wollte ins Wohnzimmer laufen, als er eine fremde Stimme hörte. Jonas stoppte. »Ich bin wegen eures Sohnes gekommen. Jonas alias Gildofal. Ist er hier?«
Eine unangenehme Stimme tönte durch den Raum. Sie klang hart und amtlich. Jonas schielte um seine Türkante in Richtung der Stimme. Mitten im Raum stand ein Beamter des Königs und sprach mit seinen Eltern. Jonas kam eine Idee. Er konzentrierte sich und versuchte, seine Größe zu verändern. Bisher war seine Wolfsform riesig, er war so groß wie ein Mensch oder Elb. Mit entsprechender Konzentration gelang es ihm, sich auf eine normale Hundegröße zu reduzieren.
»Nein, er ist ausgegangen, um sich eine Arbeit zu suchen. Worum geht es?«, fragte Jonas’ Vater und bot dem Besucher an, sich zu setzten. Der Besucher nahm das Angebot an und setzte sich, zusammen mit Jonas’ Eltern an den Esstisch. Jonas war neugierig. Was wollte dieser Mann? Jonas entschloß sich zu handeln. Er spielte den Familienhund und trottete langsam Richtung Tisch, um sich neben seinem Vater auf dem Boden zusammenzukringeln.
»Was habt ihr nur für ein prächtiges Tier!«, meinte der Beamte und klopfte Jonas auf die Flanke, was Jonas kurzeitig überlegen ließ, ob er nicht einfach mal zuschnappen sollte.
»Ja, ein wirklich schönes Tier«, meinte sein Vater mit Pokerfacemine, während er seinem Sohn den Kopf kraulte. Jonas tat so, als wenn er dösen würde.
»Der Anlaß meines Besuches ist nicht erfreulich. Wie ihr sicherlich wisst, hat sich euer Sohn ausgesprochen unkorrekt gegenüber einem Mitschüler verhalten. Der Lehrer musste seine Pflicht tun und ihn bis zum Schultribunal verweisen.«
»Das wissen wir. Wobei … Nein, ich will nichts falsches sagen.«
»Gut! Ich denke ich weiß, was ihr denkt. Und ihr wisst, dass ich es melden müsste, wenn ihr es aussprecht. So sind die Gesetzte. Das Problem ist, dass der Mitschüler euren Sohn vor das köngliche Reichsgericht bringen will. Wegen eines Hassverbrechens. Ihr wisst, was das bedeutet? Hier ist die offizielle Order. Bis zum Beginn des Prozesses ist es euerem Sohn unter schwerer Strafe verboten, das Reservat zu verlassen. Denkt daran, einen Menschen müsste ich jetzt verhaften. Euren Sohn überlasse ich eurer Verantwortung. Ich kann ihm nur raten, die Angelegenheit sehr ernst zu nehmen. Sollte er nicht zum Prozeß erscheinen, wird das Urteil in Abwesenheit gefällt.«
»Wir werden es ihm ausrichten, sobald er wieder da ist. Ich glaube nicht, dass ihr euch große Sorgen um ihn machen müsst.«
»Gut. Es tut mir Leid, euch keine besseren Nachrichten bringen zu können. Andererseits ist euer Sohn selbst schuld an seiner Lage. Nun, ich muss mich sputen. Auf Wiedersehen.«
Und weg war der Beamte. Im rausgehen meinte er noch: »Ein wirklich prächtiger Hund.«
Jonas war auf seine vier Beine gesprungen, dem Beamten bis zur Tür gefolgt und hatte sich dort hingesetzt. Nachdenklich schaute er ihm hinterher, stand dann wieder auf und kehrte zu seinen Eltern zurück.
»Gildofal?«, fragte seine Mutter.
Jonas bellte. Eigentlich sagte er ja, aber es kam nur ein Bellen heraus. Dabei kam ihm die Idee, dass er veruchen könnte, seine Stimmbänder so zu verändern, dass sie wieder elbisch waren.
»Ja, ich bin es«, es funktionierte.
»Was hälst du davon?«, fragte sein Vater.
»Es bestärkt mich in meiner Absicht, dass Königreich zu verlassen. Ihr wisst, was sie mit Hassverbrechern machen?«
»Ja und es ist eine Schande. Nicht, dass es nicht wirklich genügend Verbrechen aus Hass geben würde. Nur sehen die ganz anders aus. Ich nenne es ein Hassverbrechen, wenn ein Ork einen Elb oder Menschen erschlägt und frißt. Dass ein Elb, der sich mit Worten verteidigt, ein Hassverbrecher sein soll, ist eine Perversion!«
»Wem sagst du das?«, fügte Jonas’ Mutter hinzu, »Aber, Gildofal, bist du nicht ein wenig klein für einen Werwolf? Die Nachbarn hatten gesagt, sie hätten ein riesiges Monster gesehen.«
Jonas grinste, was man bei seiner Hunderschnauze nicht richtig sehen konnte, und nahm seine volle Größe an: »Besser?«
»Beeindruckend!«, gestand seine Mutter und fuhr ihrem Sohn mit der Hand durchs Fell, »Und so flauschig!«
»Kraulst du deinem Sohn auch die Haare, wenn er gerade kein Werwolf ist?«, bemerkte Jonas’ Vater amüsiert.
»Mußt du gerad sagen! Wer hat denn die ganze Zeit seinen Kopf gekrault, als der Beamte da war?«, fragte Jonas’ Mutter zurück.
Jonas störte es nicht, dass seine Eltern ihn kraulten. Ganz im Gegenteil war es sehr angenehm, weil dieses Fell doch erstaunlich juckempfindlich war. Noch während seine Eltern sprachen ertappte sich Jonas dabei, wie er sich mit seiner Hinterpfote kratzte. Beide Elternteile sahen ihn erstaunt an.
»Ähm … Nun ja, er liegt am Fell … es juckt. Manchmal … «
»Wie sollten ihm ein Flohhalsband kaufen … «, frotzelte Jonas’ Mum.
»Mutter!«, schrie der Sohn entsetzt auf, »Ich bin kein Köter!«
»Nein, wirklich nicht«, meinte sein Vater nachdenklich, »Wir sollten uns glaube ich etwas anderes überlegen. Gildofal, deine Idee das Reservat zu verlassen gefällt mir immer besser. Ich will nicht, dass man dich vor Gericht stellt. Einem Gericht, dass sich schon vor Jahrzehnten jeder Legitimation beraubt hat. Dein angebliches Verbrechen ist eine Farce. Ein Elb wird heutzutage schwerlich mit einem gerechten Urteil rechnen können. Jedenfalls nicht, solange die Kurie überall ihre Finger drin hat. Mein Sohn, du solltest fliehen, und zwar noch heute!«
Anklage
Schuldig!
Lordrichter Sir Sebastopol Wax.
»Flucht also? Interessant, wie schnell sich mein Leben geändert hat«, überlegte Jonas, während er in seinem Zimmer die Sachen zusammen packte, die er für seine Flucht brauchte, »Eben noch ein mittelprächtiger Schüler und bald ein flüchtiger Verbrecher. Super!«
Fliehen – Nur wie? Seine Idee war, bis zur nördlichen Reservatsgrenze am Schattengebrige zu laufen. Das Reservat selbst lag am nordöstlichen Rand des Reiches und war an seiner Spitze nur knapp 100 km von der Reichsgrenze entfernt. Da Jonas eine möglichst kurze Strecke durch das Reichsgebiet zurücklegen wollte, war der Weg zur Nordspitze die naheliegenste Wahl. Allerdings hatte die Sache einen Haken und dieser Haken hieß das Schattengebirge. Es war nicht nur sehr hoch, sondern auf seiner Westseite auch sehr steil. Die Pässe über das Gebrige verdienten es eigentlich nicht, so genannt zu werden. Einen positiven Aspekt gab es immerhin. Die Grenzanlagen des G2 Reiches waren hier am schwächsten. Man verließ sich auf die raue Natur. Wo man es an anderen Stellen mit starken Befestigungsanlagen, wie Energiegittern und Disruptornetzen, zu tun hatte, gab es am Gebirge nur ein Detektornetz und ein Notfallenergiegitter, dass aber selten eingeschaltet wurde.
Mit dem wachsenden Einfluß der unifizierten Technokratie auf das Königreich Goldor 2 zerfielen die alten Staatsbündnisse. Manche wurden offen aufgekündigt, wie mit den Neovikingern des Hohen Nordens, andere schliefen einfach langsam ein. Ein schleichender Prozeß der Entfremdung setzte ein. Ehemalige Verbündete wurden zu Fremden, denen man wenig oder einfach alles zutraute. Die Goldorianer waren zu einem ängstlichem Volk geworden, dass sich vor Überfällen und Anschlägen fürchtete.
Angst war noch nie ein guter Ratgeber, insbesondere, wenn sie gezielt geschürt wird. Natürlich stand die Kurie hinter alle dem. Ein Großteil ihrer Macht bestand darin, die verschiedenen Reiche sich gegeneinander mißtrauen zu lassen. So standen Kardinäle an der Seite von König Anthron, genauso wie an der Seite von Lord Gregor von Mundberg, dem Herrscher von Südland. Die Päpstin wusste, dass, solange sich alle Herrscher untereinander belauerten, niemand ihr auf die Finger schaute. Ganz im Gegenteil, man hielt sie sogar für einen Garant des Friedens.
Da man nun einmal Angst vor seinem Nachbarn hatte, mutierten die Grenzen zwischen den Ländern, Reichen und Staaten zu gigantischen Festungsanlagen – tödlich und unüberwindlich. Der Grund, warum das Gebirge schwächer als die anderen Grenzen gesichert war, lag einerseits in seiner natürlichen Unüberwindlichkeit für Truppen und anderseits in der Tatsache, dass hinter dem Gebrige unbewohntes Ödland lag. Ein Angriff war somit unwahrscheinlich und für eine große Streitmacht auch gänzlich unmöglich.
Jonas’ Sorgen gingen auch eher in eine andere Richtung. Seine Flucht aus dem Reservat musste unendeckt bleiben. Für ihn bestand das Problem nicht darin, nach Goldor II rein sondern raus zu kommen. Er war sich ziemlich sicher, dass, wenn seine Flucht aus dem Reservat entdeckt werden würde, man sofort die Grenzen dicht machen würde.
Wie also fliehen? Als Elb war eine Flucht ausgeschlossen. Das Reservat war zwar nicht von einer tödlichen Grenzanlage umgeben, jedenfalls nicht für Elben, dafür aber mit einem Kontrollnetz. Jeder Elb und Mensch der die Grenze des Reservats passierte wurde registriert. Fragte sich nur, ob dies auch für Lycanthropen galt. Jonas’ Idee bestand darin, als Werwolf über die Grenze zu schleichen, in der Hoffnung, dass das Detektornetz nicht auf ihn anschlug. Gleichzeitig bedeutete dies, dass er nicht viel mitnehmen konnte. Ein kleiner Rucksack, den er auch noch als Werwolf tragen konnte, musste reichen.
Die Entscheidung, welche Sache man mitnahm und welche man besser zurück ließ war ausgesprochen schwierig. Es begann eigentlich schon beim Rucksack selbst. Jonas hatte eine ganze Reihe elbischer Säcke, die leicht, wasserdicht und wiederstandsfähig waren. Jonas’ Wahl fiel auf einen etwas kleineren, dafür farblich besser passenden Sack. Farblich hieß, dass die Säcke zu Jonas’ Fell passen mussten. Um dies zu testen wechselte Jonas in seine Wolfsgestallt und hielt einen Rucksack nach dem anderen an sein Fell. Der passende Sack hatte eine fast identische Farbe. Er war sehr alt und stammte noch von Jonas’ Urururgroßvater, war aber in einem perfekten Zustand. Dieser Sack war noch nach alten elbischen Handwerkskünsten gefertigt worden. Sein filzänlicher Stoff besaß eine unspezifische Farbe, irgend etwas grau-braunes, das sich der Umgebung anpassen zu schien. Wer diesen Sack in mitten einer Geröllhalde verlor würde ihn nicht wiederfinden können. Die einzige Verziehrung, die der Rucksack trug, waren die zwei kunsvoll geschmiedeten silbernen Schließen der Verschlußbänder.
Diese Eigenschaft war wichtig. Jonas hatte vor sich kurz vor der Reservatsgrenze in einen Werwolf zu verwandeln. Dazu müsste er seine Kleidung ausziehen, die er aber unmöglich zurücklassen wollte und konnte. Also musste sie transportiert werden, womit der Rucksack ins Spiel kam. Nur hätte ein Rucksack auf dem Rücken eines Wolfes sehr merkwürdig ausgesehen. Jedenfalls ein normaler Rucksack. Das alte Elbenteil hingegen sollte unendeckt bleiben, solange niemand ganz genau hin sah.
Die Entscheidung für das Transportbehältnis war gefallen. Doch was sonst mitnehmen? Um zwei feste Eckpunkte kam Jonas nicht herum. Der Rucksack war eher klein als groß und er brauchte haltbare Nahrung. Wenn alles glatt lief und er es wirklich schaffte Goldor zu verlassen, dann stand ihm die größte Herausforderung immer noch bevor: das Ödland von Erudor. Soweit Jonas wusste, handelte es sich um eine Hochebene aus Geröll und Schotter ohne jegliche Vegetation, wenn man von ein paar Flechten oder Moosen absah. Sein Weg nach Daelbar führte ihn quer durch Erudor, was einen Marsch von mindestens 3 Tagen bedeutete. Das Nahrungsproblem war noch am einfachsten zu lösen. Jonas packte mehrere Tafeln Lembasbrot ein. Doch wie sollte er seinen Wasserbedarf decken?
»Schläuche!«, meinte sein Vater und gab ihm drei mehrwürdige dünne Dinger. Ein anderer Name viel Jonas nicht ein. Wie sich zeigte, handelte es sich um Schläuche, die aus speziellen Pflanzen hergestellt und dann auf elbische Art veredelt wurden. Wenn man sie in Wasser legte, saugten sie sich selbstätig voll. Dabei filterten sie das Wasser sogar, so dass die Quelle nicht unbedingt sauber sein musste. War sie stark vergiftet, nahmen die Schläuche erst gar nichts auf.
»Du kannst sie dünn zusammenrollen. Solange du sie nicht brauchst, nehmen sie kaum Platz weg. Wenn du über den Gebirgspaß bist, wird sich bestimmt eine Möglichkeit finden, die Schläuche zu füllen. Pro Tag rechne mit einem Schlauch. Also nimm gut fünf mit und du bist auf der sicheren Seite.«
Mit den Schläuchen und den Broten war der Rucksack bereits zu einem Fünftel gefüllt. Viel Platz blieb nicht mehr. Jonas entschied sich für ein paar elbische Kleidungsstücke. Dünn, angenehm zu tragen, wenn nötig warm, sonst angenehm kühl, so war elbische Kleidung. Die hightech Microfasern aus der Welt der Menschentechnik war nur ein billiger Abklatsch dieser Wunderkleidung. Im Gegensatz zu den Kunstfasern der Menschen bestand elbische Kleidung ausschließlich aus Naturprodukten, wenn auch mit etwas Magie veredelt. Wobei die Elben es nicht Magie genannt hätten, sie nannten es schlicht Handwerk.
Der Abschied von seinen Eltern war für alle schwer. Und wenn auch niemand weinte, hatten alle Familienmitglieder einen Klos im Hals. Niemand wusste, ob man sich jemals wiedersehen würde.
»Wir werden uns wiedersehen! Das ist kein Versprechen, dass ist eine Tatsache!«, versichterte Jonas, »Wer weiß, vielleicht könnt ihr sogar nachkommen.«
»Das ist ein schöner Gedanke, aber ich glaube nicht, dass wir hier weggehen werden«, meinte Jonas’ Vater, »Dies ist unser Land. Wir sind wie alte Bäume, mit tiefen und breiten Wurzeln. Es würde uns umbringen, verpflanzt zu werden.«
Und dann tat Jonas’ Vater etwas, was er sehr, sehr selten tat. Er nahm seinen Sohn in den Arm und drückte ihn. Jonas warf seinen Eltern zwei Blicke zu, nickte und schlich sich aus dem Haus. Keiner sah ihm hinterher oder winkte. Niemand sollte etwas erahnen.
Jonas hatte mit seiner Flucht bis zum Abend gewartet. Der Hinterausgang lag gut beschattet unter Bäumen. Wenn nicht zufällig ein Elb in seine Richtung sähe, würde ihn niemand bemerken. Jonas hatte einen Elbenmantel umgelegt, der aus dem gleichem Material wie sein Rucksack gefertigt war. Damit war er für viele Blicke faktisch unsichtbar. Nur wer wusste, was er suchte und zudem elbische Augen besaß, würde ihn entdecken können.
Den Weg durchs Reservat hatte Jonas auf zwei Nachtmärsche angesetzt. Tagsüber wollte er ruhen und sich vor fremden Blicken verstecken. Da er das Reservat gut kannte, er hatte als Kind viele lange Wanderungen unternommen, war sein Ziel für den ersten Abschnitt ein dichter, dunkler Wald ungefähr in der Mitte des Reservats. Das Reservat hatte eine längliche Form. Es verlief auf östliche Seite entlang des Schattengebirges, wenn auch nicht an der Staatsgrenze. Vom Süd- bis zum Nordende brauchte man drei Tage, wenn man 8 Stunden lief. Jonas’ altes Zuhause lag im südlichem Drittel an der Westgrenze. Der erste Marsch verlief also primär in Richtung Norden mit einem leichten Drall nach Osten.
Stunden vergingen. Jonas durchquerte Felder, Wiesen, kleine Wäldchen. Er folgte Bächen und Sandwegen. Doch wo immer er lief suchte er Schutz vor Entdeckung. Er wählte eine Wiese mit hochstehenden Gras vor einer mit flachen Sträuchern. Er lief abseits der großen Alleen und eher im Schatten eines Knicks, der ein Feld begrenzte. Einmal, es war gegen zwei Uhr Nachts, wäre er fast entdeckt worden, als ihm ein Gravitationsgleiter der Forstaufsicht entgegen kam. Nur ein beherzter Sprung in einen Abzugsgraben, der glücklicherweise trocken war, rette ihn vor Entdeckung.
Kurz vor Tagesanbruch erreichte Jonas sein Ziel. Ein alter Walt, naturbelassen und verwildert, sollte sein Unterschlupf am Tage sein. Kaum hatte er die ersten Bäume hinter sich gelassen brach die Sonne hell über das Land hinein. Jonas drang tiefer in den Wald ein, suchte sich eine alten, knorrigen Baum und kletterte hinauf. Hoch oben zwischen den moosbehangenen Astgabeln fand er einen Platz zum ruhen.
Jonas schlief den halben Tag und erwachte erst als es bereits Nachmittag war. Nachdem er sich mit Waldbeeren und Wasser aus einer Quelle gestärkt hatte, tastete er sich vorsichtig zum nordöstlichen Waldrand vor und schaute hinaus ins Land. Wenige hundert Meter von seinem Standort entfernt lag ein Dorf. Es war nicht sehr groß und gehörte auch nicht zu den von Touristen angefahrenen Sehenswürdigkeiten, aber es sah sehr gemütlich aus. Jonas überlegte, ob er es wagen sollte, ins Dorf zu gehen. Schließlich befand er sich immer noch im Reservat und war von Elben umgeben.
Als er noch darüber nachdachte fiel sein Blick auf eine öffentliche Datenfunkantenne, die sich auf einem der größeren Häuser, vermutlich dem Gemeindehaus, befand. Jonas schätzte, dass er auf diese Entfernung einen guten Empfang haben sollte und schaltete sein PDA ein. Sein kleines Gerät war kein Tribut an die Technik. Es war einfach nützlich, völlig unabhängig davon, was man ideologisch von der Technokratie hielt. Jonas war schon länger zu der Einsicht gelangt, dass nicht die Technik das Problem war, sondern die Technokraten. Paula-Sylvestra II war weder an Technik noch an Magie interessiert. Sie wollte Macht und der Kreuzzug gegen die Magie lieferte ihr das Werkzeug dafür. Es war einfach nur Mittel zum Zweck.
Jonas war kein Technologiefeind. Er war in technischen Dingen sogar ausgesprochen begabt, was seine Lehrer nie sehen wollten und ihm durch die Bank schlechte Noten gaben. Seine Mitschüler hingegen schätzten sein Wissen und ließen sich viele Dinge, die sie nicht verstanden, von Jonas erklären, während Jonas die Fehler aus ihren Schaltungen entfernte. Schaltungsentwurf war einer der Kurse, den Jonas wirklich liebte. Obwohl er unbestritten der Beste seiner Klasse war, erhielt er, ideologisch bedingt, nur mittelmäßige Zensuren. Jonas hatte sich mit dieser ungerechten Behandlung abgefunden. Ihn interessierte der Inhalt des Kurses und dieses Interesse zahlte sich nun aus.
Es war zwar nicht allgemein bekannt, aber die PDAs sendeten bei jedem Anschalten eine ID-Kennung ins Datennetz des Königreichs. Dies hatte zum einen recht praktische Gründe, da man sofort über neue Nachrichten informiert wurde. Natürlich konnte diese Kennung auch zu Fahndungszwecken verwendet werden, da das ganze Funkdatennetz auch ortsabhängige Dienst anbot. Wenn sich jemand mit seinem PDA im Netz anmeldete, wusste man automatisch wo er sich befand. Mit seinen Kenntnissen in Schaltungsdesign hatte Jonas seinen PDA so modifiziert, dass er sich unbemerkt ins Netz einbuchte. Jonas konnte zwar keine Nachrichten versenden, aber alles öffentliche Empfangen.
Jonas aktivierte seinen PDA:
Fahndung: Die königliche Polizei sucht den 19jährige Elb Gildofal alias Jonas. Seine Ehren Lordanwalt Redomeus ermittelt gegen Gildofal wegen Vergehen der Zersetzung, Störung des Reichsfriedens, Volksverhetzung, Gotteslästerung- bzw. Beleidigung kirchlicher Würdenträger, Praktizierung unzugelassener Magie und Entzug der Strafverfolgung. Für Hinweise zum Aufhenhalt Gildofals sind 5000 Reichstaler in Gold ausgelobt.
Jonas musste schlucken. Vom harmlosen Schüler zum Staatsfeind in einem Monat war schon ein Rekord, wenn auch ein zweifelhafter. Die Fahndung nach ihm war beeindruckend. Lordanwalt Redomeus war der oberste Ankläger des Reiches. Wenn er einen vor Gericht brachte, dann nicht vor einen alten versoffenen Dorfrichter, der Streitigkeiten um Kühe, Schafe oder Hühner schlichtete. Redomeus brachte Leute vor das Köngliche Reichsgericht unter dem Vorsitz des ehrwürdigen Lordrichters Sir Sebastopol Wax. Redomeus klagte nicht an, wenn er davon ausging zu verlieren. Und Redomeus gewann fast immer. Im Fall von Jonas und den ihm vorgeworfenen Verbrechen hieß dies im besten Fall »Tod durch das Schwert«, im schlimmsten Fall hingegen stand die Aberkennung der Bürgerrechte, Sklavenstatus und lebenslänglicher Arbeitsdienst in den Mienen von Morgorul. Manchmal war ein schneller Tod einfach angenehmer.
Jonas schüttelte entgeistert seinen Kopf. Was hatte er eigentlich verbrochen? Warum war er plötzlich eine Gefahr für das Reich? War es wirklich ein Verbrechen Krotos seine Grenzen zu zeigen?
Mit diesen Fragen im Kopf zog sich Jonas zurück in den Wald und wartete den Einbruch der Nacht ab. Mit der Fahnung war seine Flucht um etliches gefährlicher geworden, was bedeutete, dass Jonas wesentlich vorsichtiger sein musste. Erst als es richtig dunkel war, wagte Jonas es, den Wald zu verlassen. Er wählte dazu einen Weg, der weit vom Dorf aus dem Wald herausführte und zuerst durch unbewirtschaftete Wiesen mit hohen Gräsern und Diesteln führte. In dieser Nacht wollte er das Reservat verlassen. Nach der Fahndungsmeldung hatte Jonas den Gedanken beerdigt sich noch einen Tag länger Zeit zu nehmen.
Das Reservat lag in einer wunderschönen Ecke des Königreiches. Obwohl die letzten Erstgeborenen das Land vor Jahrhunderten verlassen hatten, konnte man noch überall ihr Werk erkennen. Man musste nur genau genug hinschauen. Es gab Bäume, immergrün und mit goldenen Stämmen, die nirgends anders wuchsen. Es gab Blumen mit Blüten, die aufleuchteten, wenn man an ihnen vorbeistreifte. Der Boden war häufig weich und mit feinen Moosen oder Gras bedeckt, dass jedem Elb das Herz aufging, darüber hinweg laufen zu können.
Diese Schönheit und Natürlichkeit verlassen zu müssen, lag schwer auf Jonas’ Herz. Trotzdem zwang er sich voran zu kommen. Gegen vier Uhr hatte er die Reservatsgrenze erreicht. Vom weitem konnte man bereits die Perimeternetzstangen mit ihren gelb blinkenden Warnlampen sehen. Aus Lautsprechern tönte ständig eine Stimme: »Warnung: Sie nähern sich der Grenze eines königlichen Elbenschutzgebietes. Überschreiten nur mit Sondergenehmigung. Grenzverletzungen werden strafrechtlich verfolgt.« Dann gab es einen Piepston und eine Energielinie leuchtete für 2 Sekunden zwischen den Stangen zu Warnung auf. Glücklicherweise handelte es sich um keinen tödlichen Energiestrahl, es sei denn, man war ein Ork, sondern diente nur der Kennzeichnung der Grenzlinie.
Jonas suchte sich einen geschützten Platz, von dem man die Reservatsgrenze beobachten konnte, selbst aber nicht gesehen wurde. Er fand eine Gruppe von Bäumen und kletterte hinauf. Oben angekommen, legte Jonas sich auf die Lauer. Es galt zu testen, ob seine Idee wirklich funktionierte. Zuerst passierte nichts. Die Gegend war sehr ruhig. Es verging fast eine viertel Stunde, in der nicht einmal ein Käutzchen zu hören war. Doch dann raschelte es in einem Buschwerk. Eine Bache mit Frischlingen kam angelaufen und schien sich von der quakenden und blinkenden Grenzanlage nicht stören zu lassen. Die Bache hielt schnurstracks darauf zu. Jonas sah auch warum. Auf der anderen Seite der Grenze glitzerte die Wasseroberfläche eines Tümpels im Mondlicht.
Als die Bache und ihre Frischlinge sich auf ungefähr 5 Meter der Grenzline genähert hatten, flammte auf den beiden Grenzmasten links und rechts von der Wildschweingruppe ein helles grünes Licht auf. Es war ein Scannstrahl. Er tastete erst die Bache, dann jedes einzelne Ferkel ab. Kaum war das letzte Wildschwein gescannt, erlosch das Licht. Sonst passierte nichts weiter. Die Schweine verließen das Reservat und liefen zum Tümpel.
Jonas hatte gesehen, was er wissen wollte. Das Grenzsicherungssystem konnte Mensch und Elb von anderen Lebewesen unterscheiden. Hoffentlich machte es bei Wölfen keine Ausnahme.
Jonas kletterte den Baum hinab. Unten angekommen verkroch er sich in einem Dickicht aus Büschen und Sträuchern, zog sich dort nackt aus, verstaute seine Kleidung in seinem Rucksack, schnallte diese um seinen Bauch und verwandelte sich in einen Wolf.
»Nun denn … «, dachte Jonas und tapste los.
Wie ein Wolf auf dem Weg zum Wasserloch hielt er ziemlich direkt auf die Grenze zu. Er war noch 15 Meter entfernt, als er das niederfrequent pulsierende »Brumm Brumm«, des Grenzlichts hörte. 10 Meter. Von hier an hatte man alle Vegetation entfernt. Ein Streifen von 10 Metern vor und hinter der Reservatsgrenze bestand ausschließlich aus Sand oder Fels. 5 Meter. Das Scannlicht flammte auf und hüllte Jonas ein. Für den Bruchteil einer Sekunde wollte Jonas stehen bleiben und den Scan abwarten, als ihm schlagartig klar wurde, dass das sein letzter Fehler sein würde. Vermutlich war der Scanner unter anderem daruf programmiert, nicht instinktgesteuertes, sondern vernunftbegabtes Verhalten zu erkennen.
Jonas trottete mit flacher, fast geduckter Körperhaltung weiter, als ob er das Scannerlicht überhaupt nicht bemerken würde. Das Licht blieb an. Es erlosch nicht wie bei den Wildschweinen. Jonas hatte die fünf Meter bis zur Grenzelinie bereits hinter sich gelassen, aber das Licht war immer noch auf ihn gerichtet. Jonas tapste weiter, plötzlich kam ihm eine Idee. Er wechselte seinen Kurs. Statt in Richtung Wasserloch zu laufen, lief er direkt auf den nächsten Grenzmasten zu.
»Ich soll mich wohl artgerecht verhalten? Kein Problem!«, dachte Jonas und grinste innerlich.
Als er den Mast erreicht hatte, schnupperte er am Fuß und stellte fest, dass er nicht der erste Hund war, der hier vorbei kam. Und dann zeigte er, was ein Hund oder Wolf mit Pfählen im allgemeinen und Laternenpfählem im besonderen machten. Er hob sein rechtes, hinteres Bein und pisste gegen den Grenzmast. Im gleichem Moment ging das Scannerlicht aus.
Finderlohn
Bei einem Besuch des königlichen Elbenreservats wird der Besucher fast unvermeidlich auf Verkaufsstände mit sogenannter authentischem Elbenkunsthandwerk treffen. Wir raten zur Vorsicht.
Der Großteil der angebotenen Gegenstände verdienen nicht ansatzweise das Prädikat »Kunsthandwerk«. Es ist zumeist billige Massenware und dient einzig dem Zweck, dem unwissenden Touristen das Geld aus der Tasche zu ziehen.Muriels Reiseführer band 17 – »Elben«
Die erste Hürde war genommen. Jonas war es zwar gelungen dem Reservat zu entkommen, leichter wurde seine Aufgabe dadurch aber nicht. Es war eher das genaue Gegenteil, was zutraf. Außerhalb des Reservats war das Land wesentlich dichter besiedelt. Es gab weit mehr Straßen mit hohem Verkehrsaufkommen auf eben jenen Wegen. Die Dörfer waren größer und bevölkerter. Das ungewisseste Hindernis auf den Weg zur Grenze war aber eine Stadt. Jonas’ Weg streifte die Stadt an ihrer südwestlichen Flanke. Sie weiträumig zu umgehen, kostete Zeit. Zeit, so befürchtete Jonas, die er vermutlich nicht mehr hatte. Jede Minute, die er sich noch im Königreich aufhielt, erhöhte die Gefahr verhaftet zu werden.
Jonas schob den Gedanken an dieses Problem beiseite. Es waren noch zweieinhalb Stunden bis zum Sonnenaufgang. Diese Zeit musste genutzt werden. Jonas zögerte für eine Sekunde, als er überlegte ob er als Elb oder Wolf weiterlaufen sollte, und entschied sich für seine Wolfsform. Als Wolf war er deutlich schneller als als Elb.
Zwei Stunden später war er ein gutes Stück voran gekommen. Die ersten Ausläufer der Stadt fraßen sich in die Landschaft. Damit wuchs aber auch die Gefahr entdeckt zu werden. Jonas sah sich um und entdeckte ein kleines Wäldchen, dass ihm als Unterschlupf geeignet erschien. Der dichte, alte und verwachsene Baumbestand schien ihm bestens geeignet, vor unerwünschten Blicken geschützt zu sein. Je tiefer Jonas in den Wald eindrang, desto verwilderter wurde er. Nur ein Elb konnte sich durch das Gewimmel von Ästen, Flechten und Wurzeln hindurchkämpfen. Erst als selbst für Jonas das Dickicht undurchdringlich wurde, kletterte er auf einen Baum und suchte sich eine geschützte Astgabel und schlief dort friedlich ein.
Als Jonas wieder erwachte, war es zu seiner großen Überraschung noch helligter Tag.
»Ich bin mir sicher, dass er in diesen Wald gelaufen ist!«, schallte eine aufgeregte Stimme von unten hoch.
»Ein Wolf?«, erklang eine andere Stimme, mit sehr skeptischen Unterton. Der Sprecher schien gegenüber der Behauptung seines Vorredners größte Vorbehalte zu hegen, »Der letzten Wolf wurde vor 70 Jahren erschossen. Du hast vielleicht einen großen Hund gesehen.«
»Nein, es war ein Wolf!«, beharrte die erste Stimme, »Ich weiß doch, wie ein Hund aussieht!«
»Und bitteschön, wo soll dieser Wolf hergekommen sein? Ganz Goldor ist kultiviertes Land. Wo sollten sich da Wölfe ansiedeln?«, entgegnete die zweite Stimme weiterhin überhaus skeptisch.
»Vielleicht kommt er aus dem Elbenreservat«, gab die erste Stimme zu bedenken, »Wer weiß schon, was diese Typen dort alles treiben.«
Die zweite Stimme sagte erstmal nichts. Jonas lauschte auf seinem Baum, was sich unter ihm tat. Er hörte Schritte und das Rascheln von herabgefallenen Blättern. Das dichte Blattwerk des Baumes verhinderte, dass man Jonas entdecken konnte, besaß aber auch den Nachteil, daß Jonas umgekehrt nicht sehen konnte, was sich unterhalb seines Verstecks abspielte. Angestrengt lauschend versuchte er sich ein Bild davon zu machen, was die beiden Stimmen wohl trieben. Er hörte sie rascheln. Trocknes, herabgefallenes Astwerk knackte unter ihren Füßen. Buschwerk wurde zur Seite bewegt.
»Hm!«, ließ sich plötzlich die zweite, skeptische Stimme nachdenklich verlauten. Sie drang direkt von Unterhalb des Baumes zu Jonas hinauf:»Ich glaube, du hast etwas gesehen, aber … «
»Was?«, rief die erste Stimme und kam angehechtet.
»Hier!«, meinte die zweite Stimme ernst, »Ich glaube kaum, dass ein Wolf soetwas mit sich rumträgt.«
»Eine Spange!«, rief die erste Stimme erstaunt aus.
Jonas schoß das Blut ins Gesicht. Ihm wurde heiß. Ein böse Ahnung überkam ihn. Panisch griff er nach seinem Rucksack. Seine Ahnung bestätigte sich. Einer der Schließen seines Rucksacks war abgerissen, vermutlich, als er sich durch das dichte und widerspenstige Unterholz gezwängt hatte.
»Eine silberne Schließe, eine Fibel. Der Machart zu urteilen ist sie elbischen Ursprungs. Schau dir nur die feinen getriebenen Linien auf der Obefläche an. Ein echtes Kunstwerk«, meinte die zweite Stimme. Von Skepsis war nichts mehr zu hören. Ganz im Gegenteil, meinte Jonas eine konzentrierte Wachsamkeit aus der Stimme heraushören zu können.
»Ist sie wertvoll?«, fragte die erste Stimme mit unverhohlener Gier.
»Wertvoll?«, knurrte der andere Sprecher, »Ja und nein. Die Fibel ist alt, sehr alt. Dies ist nicht der übliche pseudoauthentische Schund, den man im Reservat als Andenken kaufen kann. Dies ist echtes elbisches Kunsthandwerk, so um die 200 Jahre alt. So etwas sieht man sonst nur im Museum, oder aber … «
Der Sprecher ließ seinen letzten Gedanken unausgesprochen. Dafür meldete sich die erste Stimme wieder. Jonas musste, trotz seiner momentanen Nervosität grinsen. 200 Jahre? Leicht daneben ist auch vorbei. Die Fibel war über 575 Jahre alt. Sein Vater hatte ihm erzählt, dass sie von einem seiner Urgroßväter, einem Elbenkunstschmied, für einen Mantel gefertigt worden war. An die Verschlußbänder des Rucksacks wurde sie erst etliche Jahre später geheftet.
»200 Jahre? Dann ist es wertvoll?«
»Vermutlich mehr als 30.000 Goldkronen. Siehst du diese Linien? Das sind elbische Schriftzeichen, vermutlich von ein Zauberspruch. «, die zweite Stimme klang plötzlich sehr zögerlich, fast vorsichtig.
»Meinst du, wir können sie behalten und verkaufen? Oder einen Finderlohn erhalten? Wer so etwas verliert, muss doch sehr, sehr reich sein, oder? Der wird bestimmt einen Finderlohn bezahlen!«
»Entweder ist er Reich oder er ist … «, die zweite Stimme klang extrem vorsichtig. Jonas ahnte, warum. Bevor man etwas finden kann, muss es ersteinmal verloren werden. Und wer würde eine echte, elbische Silberfibel verlieren? Mitten in einem dichten, verwilderten Wald?
»Ein Elb!«, schrie die erste Stimme enthusiastisch, »Beim König! Meinst du, der Elb der überall gesucht wird, hat sie verloren? Mann! Das wär ein Ding. Für Hinweise zu seiner Ergreifung sind 10.000 Goldkronen ausgesetzt worden!«
»Psst! Verdammt, sei doch endlich still!«, fauchte die zweite Stimme gepresst, »Bist du wirklich so hohl im Kopf? Der Typ könnte immer noch hier sein!«
Womit die zweite Stimme absolut recht hatte. Jonas wurde von einem Schweißausbruch nach dem anderem durchflutet. Natürlich war er noch da. Sogar direkt über den beiden Stimmen. Wie konnte sich diese dumme kleine Fibel auch nur von seinem Rucksack lösen? »Verflucht!«, dachte Jonas. Wenn diese beiden Holzköpfe wissen, wo er sich befand, dann würde es die könligliche Polizei ebenfalls bald wissen. 10.000 Goldkronen waren kein Pappenstiel. Das war eine ernsthafte Menge Geld, das Nettojahreseinkommen eines kleinen Handwerkers. Er wusste zwar nicht, was die beiden Stimmen beruflich machten, aber so wie die erste Stimme klang, waren 10.000 Goldkronen nicht wenig.
»Oh!«, meinte die erste Stimme, »Komm, laß uns abhauen und die Bullen benachrichtigen. Diese Kohle entgeht mir nicht!«
Nach diesem letzten Satz schwiegen die beiden Stimmen. Unterhalb von Jonas Versteck begann es zu rascheln. Strauwerk wurde beiseite gebogen. Das Rascheln entfernte sich, die beiden Stimmen verließen den Wald, schnurstraks in Richtung Polizei.
Jonas fluchte in sich hinein. Er fluchte über seine stümperhafte Flucht. Wie konnte er nur diese blöde Fibel verlieren? Warum musste die zwei Deppen sie auch prompt finden. Warum war er als Wolf nicht vorsichtiger gewesen?
Wütend auf sich selbst, kletterte Jonas von seinem Baum. Er durfte keine Sekunde länger bleiben. War die Polizei erst informiert, würde der Wald bald zur Falle werden, wenn er es nicht schon war.
Jonas verwandelte sich schnell in einen Hund, kleiner als ein Wolf. Sein Rucksack baumelte zwar sehr locker vor seinem Bauch, aber als Hund hoffte er, wesentlich weniger aufzufallen. Vorsichtig näherte er sich dem Waldesrand und spähte hinaus. Es war Nachmittag und immer noch sehr hell. Zur linken Seite bestand die Gegend aus abgemähten Feldern, auf denen noch die gedroschenen Halme des Getreides lagen. Rechterhand lag eine Naturwiese mit hohen Gras und Diesteln. Es war die einzige Chance. Als Hund würden die Gräser gerade hoch genug sein, um nicht entdeckt zu werden. Es sei denn, man würde mit einem Fluggerät nach ihm suchen.
Jonas lief los. Geduckt, den Körper niedrig haltend, lief er vorsichtig in die Naturgraswiese. Hochkonzentriert achtete er darauf den großen, hohen Diesteln auszuweichen und sie keinesfalls anzustoßen. Ein Beobachter, der über die Wiese schaute, hätte sonst am Wackeln der weit aufragenden Gewächse Jonas Anwesenheit erahnen können.
Kanalratten
Elben sind einfach süß!
Dass man mich jetzt nicht missversteht, ich meine dies nicht aus kulinarischer SichtLindor – ältester lebender goldener Drache
Als über dem Wald die Hölle los brach, hatte Jonas glücklicherweise bereits einiges an Distanz zwischen sich und dem Wald geschaffen. Die Gleiter der königlichen Polizei dröhnten laut zu Jonas herüber. Die grünen Lichtfinger der Scanner, ähnlich denen der Reservatsgrenzanlage, suchten systematisch den Wald und seinen Saum ab. Im Physikunterricht hatte man ihnen von den Scannern erzählt. Es gab einen Film, der stolz zeigte, welche Fähigkeiten der Scanner bei der Personen- und Spurensuche besitzt, und wie er eingesetzt wird. Wie er funktioniert, wurde nicht erwähnt. Der Film zog sich vornehm auf einige nichtsagende pseudowissenschaftliche Begriffe zurück und meinte, dass man aus patenrechtlichen und sichheitsspezifischen Gründen keine Details nennen könne. Jonas kam dies schon damals wie eine Ausrede vor. Seit er aber den Scannstrahl am eigenen Leib erfahren hatte, war er sich fast sicher, dass das Scansystem von magischen Elementen gebrauch machte. Das war in soweit überraschend, da die Firma Secur-O-Scann, wie die Firma Secur-O-Fence, im 100prozentigen Besitz des Klerus war. Die Päpstin und Magie? Jonas empfand diesen Gedanken gleichzeitig befremdlich, merkwürdig plausibel aber vor allen alarmierend.
Mitlerweile waren die Suchgleiter dabei, sich in Jonas Richtung zu bewegen. Sie waren zwar noch recht weit entfernt, würden ihn aber unweigerlich einholen, sollten sie nicht ihre Suche abbrechen oder Jonas ein Versteck finden. Die Fluggeräte waren einfach wesentlich schneller als er, selbst als Wolf. Auf die erste Variante wollte sich Jonas nicht verlassen. Die Sucher machten nicht den Eindruck, als ob sie in nächster Zeit die Lust an ihrer Arbeit verlieren würden. Was blieb, war die Suche nach einem Versteck.
Jonas lugte vorsichtig aus der Wiese heraus. Er schaute forschend in alle Himmelsrichtungen, doch keine schien ein geeignetes Versteck zu bieten. Der Wald schloß sich wegen seiner Verfolger sowieso aus. Die anderen Richtungen boten auch keine Alternativen. Die größten Bereiche bestanden aus flachem Grasland, ähnlich dem in dem sich Jonas gerade befand. Es gab zwar Deckung, aber nur von der Seite. Ein Fluggleiter würde Jonas sofort entdecken. Die verbleibenen restlichen Alternativen waren erst recht keine: Eine ausgedehnte Brache, auf der allerlei landwirtschaftliche Geräten verstreut lagen, eine Landstraße mit Abzugsgräben links und rechts und ein Areal mit landwirtschaftlichen Zweckbauten. Letztere schloß Jonas sofort als Unterschlupf aus. Dort würde die Polizei als erstes suchen.
Die Situation war ernüchternd. Der einzig mögliche Weg bestand darin, der Graswiese weiter zu folgen und zu hoffen, daß die Suchgleiter ihre Lust am Sucher verloren, bevor sie Jonas erreicht hatten.
Da jede Sekunde Zögern wertvolle Wegstrecke und somit Distanz kostete, sprang Jonas sofort los, als ihm das Ergebnis seiner Überlegungen klar war. Weiterhin tief geduckt jagte er durch die Wiese und versuchte dabei so wenig Bewegung in die Halme zu bringen, wie eben möglich. Hoch konzentriert suchte sich Jonas deswegen einen Pfad, an dem das Gras dünner beieinander stand. Er machte sich so schmal wie möglich und schlüpfte gerade zu durch die Vegetation.
Es dauerte eine Weile, aber mit der Zeit entwickelte Jonas fast soetwas wie einen Instinkt im Finden von Pfaden. So dachte er jedenfalls am Anfang, bis er merkte, dass er in Wirklichkeit Pfade fand, die von Tieren, wie Füchsen, benutzt wurden. Seine lycantrophischen Sinne hatten ihn unbewußt in die richtige Richtung gebracht.
So gut sich Jonas Fähigkeiten auch entwickelten, so sehr drohten sie wirkungslos zu verpuffen. Das Surren der Fluggleiter war mit der Zeit langsam, aber konstant, lauter geworden. Jonas Verfolger holten auf. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihn eingeholt hätten. Mit dem Mut der Verzweifelten legte Jonas noch einen Zahn zu. Er lief nicht mehr, er achtete auch nicht mehr auf die Pfade, er jagte nur noch davon, weg von seinen Häschern.
»Scheiße!«
Jonas hatte sich gerade umgedreht, um zu sehen, wie weit die Suchstrahlen noch von seinem Standort entfernt waren, als vor ihm der Boden unter seinen Füßen verschwand. Der folgende Sturz war zwar nicht tief, aber schmerzhaft. Jonas landete auf hartem Beton. Während er sich umgedreht hatte, war ihm entgangen, dass sein Weg vor ihm von einem quer verlaufenden Abzugsgraben gekreuzt wurde. Der Graben war etwa so tief, wie Jonas als Wolf groß war und bestand aus einer Rinne aus Beton. Glücklicherweise war es seit Wochen trocken geblieben und im Graben stand kein Wasser. Um so schmerzhafter war natürlich der Aufprall. Jonas schüttelte sich, schaute sich um und versuchte sich zu orientieren.
Im Graben war es recht dunkel. Das Gras der Wiese hatte den Graben wie ein Dach überwuchert. Wenn es auch kein Versteck für die Suchstrahlen war, so war es auf jeden Fall ein Versteck für suchende Augen.
Jonas schaute sich erneut um. Der Boden war hart und fest, wie es sich für Beton gehörte. Der Graben führte zwar nicht direkt in die Richtung, in die Jonas wollte, aber er bot sehr viel Deckung beim Laufen und, fast wichtiger noch, auf diesem Boden konnte man hervorragend laufen. Hier und da lag ein Stein im Weg, aber ansonsten war der Abzugsgraben die reinste Rennbahn.
Jonas entschied sich für die Richtung, die ihn weiter von der Stadt weg bringen würde, und rannte los. Wie ein Sturzbach jagte er durch den Graben, der für ihn durch sein Grasdach eher soetwas wie eine Art Tunnel war. Stellte sich nur die Frage, wie lang dieser Fluchtweg wohl sein würde.
In regelmäßigen Abständen blieb Jonas stehen und lauschte, wie weit seine Verfolger waren. Das Geräusch der Sucher veränderte sich nicht. Es wurde nicht lauter, aber auch nicht leiser, was vermutlich bedeutete, dass sich Jonas und seine Jäger parallel zueinander bewegten.
Dies ging so eine ganze Weile. Jonas und die Suche kamen sich nicht näher, entfernten sich aber auch nicht voneinander. Erst nach einer viertel Stunde, hatte Jonas den Eindruck, als ob der Turbinenlärm der Suchgleiter ein klein wenig leiser geworden sei. Zu allem Überfluß mündete auch noch der Graben in einen etwas größeren, der obendrein quer verlief und somit weiter von den Verfolgern weg führte. Der neue Graben war nicht nur ein klein wenig breiter, sondern war auch tiefer. Ein kleiner Rinnsaal lief in seiner Mitte entlang, der von Zuleitungsgräben gespeist wurde, die ab und zu links und rechts auftauchten. Jonas folgte diesem Sammelgraben und stellte mit Genugtuung fest, dass seine Häscher wirklich hinter ihm zurück blieben. Er wollte gerade neue Hoffnung schöpfen, als plötzlich sein Weg jäh endete.
Unvermittelt stand Jonas am Fuß einer Betonwand. Der Graben setzte seinen Weg durch die Betonwand fort. Dazu gab es ein Metallgitter, vor einem großen Durchbruch in der Wand. Vermutlich diente das Gitter dazu, Treibgut abzufangen. Ansonsten schien die Wand Teil eines quaderförmigen Gebäudes zu sein. Obwohl Gebäude ein viel zu hochtrabender Ausdruck war für ein Objekt, mit den Dimensionen eines Geräteschuppens. Für Jonas, der sich aus seinem Graben nicht heraustraute, gab es hingegen nur eine Betonwand und das Gitter, hinter dem der Rinnsal verschwand.
Jonas Flucht war in einer Sackgasse zum Stehen gekommen. Das Jaulen der Gleiterturbinen wurde auch wieder lauter. Wohin? Den Graben verlassen hieß, entdeckt zu werden. Den Graben zurücklaufen? Eine der Abzweigungen nehmen? Dafür schien es zwischenzeitlich zu spät zu sein, denn die Verfolger kamen nun deutlich näher. Sich hier verkriechen und hoffen? Augen konnten ihn sicherlich nicht unter dem Grasdach entdecken, aber die Suchstrahlen konnten es bestimmt.
»Verdammt!«, fluchte Jonas in sich hinein, als sein Blick auf das Gitter fiel. vielleicht konnte er sich hinter diesem Gitter in dem Betonklotz verstecken, Für einen Elben oder einen Menschen war der Durchbruch zu klein, aber in seiner Wolfsgestalt sollte er durch die Öffnung hindurchschlüpfen können. Dazu müsste sich das Gitter aber irgendwie entfernen lassen. Jonas sah sich die Konstruktion etwas genauer an. Das Gitter war mit Schanieren an der Betonwand befestigt. Sie waren zwar verrostet, aber eindeutig noch als Schaniere zu erkennen. Wenn es Jonas gelang, das Gitter hoch zu klappen, könnte er in den Betonklotz schlüpfen. Der Wanddurchbruch war für ihn als Wolf gerade groß genug, schließlich sollten auch starke Regenfälle aufgenommen werden können.
Jonas griff nach dem Gitter und stellte dabei fest, dass er in seiner Wolsform nicht gut greifen konnte. Jonas verwandelte sich zurück in seine Elbenform und versuchte es erneut. Das Gitter saß fest. Er rüttelte und es quitschte. Seine Verfolger kamen immer näher. Jonas wurde nervös, um nicht zu sagen panisch. Er zerrte und riß an dem Gitter, aber es wollte nicht nachgeben, als wenn es von etwas festgehalten wurde. Was das war konnte Jonas nicht sehen, denn der untere Teil des Gitters lag unterhalb der Wasseroberfläche und das Wasser war dermaßen trübe, dass man nichts erkennen konnte. Etwas angeekelt griff Jonas hinab und tastete nach dem Grund.
Ein Verschluß! Jonas erfühlte einen Verschlußbügel und einen Riegel. Er schob ihm auf, klappte den Bügel weg und packte das Gitter. Er ließ sich öffnen. Im gleichem Moment flammte neben Jonas ein grünes Licht auf. Ein Such- und Scannstrahl war dabei, das Terrain zu erkunden. Der Strahl war bestenfalls zwei Meter hinter ihm und folgte dem Verlauf des Graben direkt auf Jonas zu. Ohne weiter nachzudenken riß Jonas das Gitter vollständig auf, verwandelte sich in einen Wolf und schlüpfte in das schwarze Loch in dem der Graben verschwand.
Untergetaucht
Orks sind unkontrollirbar, unzähmbar, agressiv und illoyal. Es sind keine Zeitgenossen mit denen man sich gerne umgibt.
Leider erfordert unsere schwere Aufgabe zuweilen genau diese Art von Wesen, um erfolgreich sein zu können.Lordanwalt Redomeus auf eine Anfrage des Ständeparlaments zum Einsatz von Orks im Sicherheitsdienst
Jonas wurde auf der Stelle von Dunkelheit verschlungen. Direkt hinter dem Gitter befand sich eine steile und durch das Wasser und Algen besonders glitschige Rampe. Jonas sah nur noch, wie die helle Öffnung über ihm verschwand, während er in eine unbekannte Tiefe sauste. Er versuchte erst gar nicht, sich mit seinen Pfoten irgendwo fest zu krallen, dafür war die Rampe viel zu glitschig. Jonas hoffte schon, er wäre seinen Verfolgern entkommen, als durch die eben gerade noch sichtbare Öffnung ein grüner Scannstrahl hinabdrang und Jonas für einen kurzen Moment berührte. Der Kontakt bestand für weniger als ein Blinzeln, reichte aber aus, um Jonas nervös zu machen. Was würden seine Sucher auf ihren Anzeigen sehen? Einen kurzen Blip, ein Aufflackern, dass sie als Störung abtun würden? Einen Wolf? Oder doch einen Elben?
Während Jonas noch über seiner Verfolger nachdachte, ereichte ihn ein viel drängerendes Problem: die Rutschpartie nahm ein Ende. Jonas landete in einem riesigen Becken voller alten und modrigem Wassers.
»Entzückend!«, murmelte er und versuchte sich zu orientieren, wobei ihm sein Wolfskörper hilfreich war. Jonas stellte fest, dass er hervorragend schwimmen konnte.
Überraschenderweise gab es an diesem Ort Licht, wenn auch nur sehr wenig. An einer Wand, die ein paar Meter von Jonas entfernt war, befanden sich in regelmäßigen Abständen Schildkröten- oder auch Kellerlampen. Man könnte sie auch Funzeln nennen. Das trübe Licht reichte Jonas aber aus, um zu erkennen, wo er war. Er schwomm in einer Art Basin, einem Sammelbecken für das Wasser, das aus der Wiese abgeleitet wurde. Das Wasser kam die Rampe hinunter und sammelte sich hier. Momentan war es nur ein Rinnsal, der aber ausreichte, um die Rampe extrem glitschig zu machen.
»Was für ein merkwürdiger Ort«, meinte Jonas in Ermangelung eines Gesprächspartners zu sich selbst, »Was wohl mit dem ganzen Wasser hier unten passiert, wenn das Becken voll ist. Und, wie komme ich hier wieder raus?«
Völlig unerwartet, entpuppten sich beide Fragen als miteinander verknüpft. Während sich Jonas noch umschaute hatte er an einer Wand des Beckens Metallsprossen entdeckt, die bis zum oberen Rand des Beckens reichten. Vermutlich gab es dort einen Wartungsgang. Noch während Jonas auf die Sproßen zuschwamm ertönte plötzlich eine Warnsirene, ein zwei Sekunden dauernder knurrende Hupton. Kaum war der Ton verebbt begann ein Elektromotor zu fauchen und Leben kam in das bisher stille Wasser im Basin. Erst war es nur ein Gurgeln, doch wenig später merkte Jonas, dass ein Sog, eine Art Strudel, ihn in die Mitte des Beckens sog. Erst jetzt sah er das große Rohr, es hatte wenigsten den Durchmesser von einem Meter, dass von einer Wand quer durch den Raum bis zur Mitte des Beckens führte. Dort angekommen endete das Rohr in einem Zylinder, der von der Decke bis tief in das Becken eintauchte. Vermutlich war es eine Pumpe, die das Wasser aus dem Becken in das Rohr befördern sollte und der knurrende Hupton, war eine Warnung, dass sich diese Pumpe in Betrieb setzten würde. Die Idee einen vor der Pumpe zu warnen, war an und für sich gar nicht so schlecht, nur waren zwei Sekunden Vorwarnzeit alles andere als ausreichend.
Die Kraft der Pumpe war mörderisch. Um sie herum entstand ein monströser Strudel, der Jonas im Becken herumwirbelte und ihn vor allem drohte nach unten zu ziehen. Jonas musste mit aller Kraft gegen diesen Sog ankämpfen. Fragte sich nur, wie lange er diese Kraftanstrengung durchhalten konnte. Vermutlich würde die Pumpe so lange laufen, bis sie das Becken zum größten Teil leergepumpt hatte. Nur wann war das? Wie tief war das Becken? Als Jonas in das Becken gefallen war hatte er keinen Boden unter seinen Füßen ertasten können. Ein zufälliger Blick auf die Metallsproßen ließ Jonas das Blut in den Adern gefrieren. Waren es am Anfang drei Sprossen, die über der Wasseroberfläche zu sehen waren, waren es jetzt 5 Sprossen. Der Wasserspiegel sank dramatisch, und damit wurde der Sog immer stärker. Die Pumpenanalge verfügte über einen extrem kräftigen Motor, der ein großes Flügelrad trieb, mit dem auch Schlamm und kleine Steine aus dem Becken befördert werden sollten. Dumm nur, dass die Pumpe keinen Unterschied zwischen steinigem Schlamm und einem Elben in Wolfsgestalt machte. Sie pumpte, und zwar kräftig.
Bei Jonas brach langsam Panik aus. Seine Arme und Beine begannen unter der Anstrengung zu schmerzen. Nur unter größtem Kraftaufwand konnte er sich noch eben gerade über der Wasseroberfläche halten. Inzwischen hatte der Strudel ihn in seinem Bann genommen. Jonas kreiste im Becken mit dem ganzen Wasser umher, dass, aufgewirbelt durch die Pumpe, eine schlammige, stinkige, schleimige Brühe war. Verzweifelt versuchte Jonas, die Metallsprossen zu erreichen. Jedes mal, wenn ihn der Strudel an ihnen vorbei trieb, versuchte er nach ihnen zu greifen. Aber die Sproßen waren glitschig und von Schlickfäden überzogen. Außerdem war Jonas immer noch in seiner Wolfsgestallt. Er wagte nicht, sich zurück zu verwandeln, da er als Wolf einfach besser schwimmen konnte.
Doch wie lange noch? Der Sog nach unten wurde immer stärker. Zweimal hatte er Jonas bereits unter die Wasseroberfläche gesogen. Prustend und nach Luft japsend gelang es ihm noch jedes Mal, sich vom Strudel zu befreien. Aber die Arme und Beine wurden immer schwerer. Jonas Kräfte schwanden rapide.
Ein weiteres mal kam er an einer der Sprossen vorbei. Der Strudel war zu einem regelrechten Trichter angeschwollen, hatte Jonas aber durch seine Zentrifugalkraft an seinen Rand befördert. Die Sprosse kam in Armlänge. Jonas packte zu. Ohne darüber nachzudenken, wechselte er in seine Elbengestalt und krallte sich erst mit einer, dann mit beiden Händen an der Sprosse fest. Das Wasser zerrte an ihm, schlug an seinem Körper eine mächte Bugwelle. Nach Luft japsend klammerte sich Jonas an sein Sprosse. Nur nicht loslassen! Die trübe Schlammbrühe tobte und schäumte und riss an Jonas, doch gleichzeitig sank der Wasserspiegel. Langsam ließ das Zerren nach. Jonas fühlte, wie er schwerer wurde, da die Wirkung des Auftriebs abnahm.
Jonas angelte mit seinen Beinen nach einer Sprosse. Es war nicht mehr das Wasser, dass an ihm zerrte, sondern sein eigenes Gewicht. Erst als er eine Sprosse fand, auf die er seine Füße stellen konnte, fand er einen Moment, um Luft zu holen. Unter ihm gurgelte immer noch der Strudel.
Und dann war es plötzlich ruhig. Das hochfrequente Pfeifen des Pumpenmotors wurde niederfrquenter und verstummte. Die Pumpe war aus. Der Strudel wurde langsamer und verschwand. Es gab ein finales Gurgeln und dann Stille. Das einzige Geräusch war das leise Plätschern von Wasser, dass vom Zulauf aus der Wiese hinabfiel.
Jonas schaute sich um. Es war sehr dunkel. Von den Lampen, die Jonas gesehen hatte, drang nur wenig bis zu ihm hinab. Hinab war das richige Wort, denn als Jonas nach oben sah, stellte er fest, dass er sich schätzungsweise 5 Meter unterhalb der ehemalige Wasserlinie befand. Was die Sache noch etwas unheimlicher machte, war die jetztige Wasserlinie. Jonas schaute nach unten und sah einen Abgrund. Es war sehr schwer zu schätzen, wieviel Meter tiefer das Wasser gesunken war. Es war vermutlich weniger als bis nach oben, aber auch nicht viel, vielleicht knapp 4 Meter. In der Mitte des nun leeren Basins stand ein Zylinder, der offenbar die Pumpenturbine enthielt. Ganz unten meinte Jonas Einströmöffnungen ausmachen zu können. Kein Wunder, dass die Pumpe aufgehört hatte zu pumpen, das Becken war leer.
»Was mach ich hier eigentlich?«, fragte er sich laut. Statt über Pumpen und Regenwasserbasins zu spekulieren, sollte er zusehen, von hier zu verschwinden. Jonas packte die Sprossen vor seinen Augen mit beiden Händen und versicherte sich, dass er sicher stand. Vorsichtig löste er seine rechte Hand und griff nach der nächsten Sprosse über ihn. Der Abstand zwischen den Sprossen betrug vielleicht 20cm. Jonas zog sich hoch und tastete mit seinem linken Fuß nach der nächst höheren Sprosse.
Und dann passierte es. Es war nicht Unachtsamkeit. Auch nicht Leichtsinnigkeit. Es war schlicht und ergreifend Materialermüdung. In dem Moment, als Jonas sein Gewicht auf die nächste Sprosse verlagern wollte brach diese aus dem Mauerwerk heraus. Jonas verlor sein Gleichgwicht und ebenso den sprichwörtlich Boden unter seinen Füßen. Nur seine schnelle Reaktion rette ihn davor, nicht sofort abzustürzen. Seine Beine baumelten in der Luft, hektisch tastete er mit seinen Füßen nach einer rettenden Sprosse, doch er fand keine. Die aufkeimende Panik hinderte Jonas daran kühl, ruhig und überlegt nach der Sprosse zu suchen. Seine Arme, an denen sein ganzen Gewicht hing, schmerzten. Jonas wusste, dass er sich nicht mehr lange halten konnte. Das Erlebnis mit dem Pumpenstrudel hatte zu viel Kraft gekostet.
Jonas versuchte, sich zu entspannen. Wenn er einen Stand für seine Füße finden wollte, dann musste er ruhig sein, ruhiger werden. Langsam und tief atmen!
Im Mauerwerk knackste es. Es schien, als wenn sich die ganz Welt gegen Jonas verschworen hätte. Es war die Sprosse, an der er mit seinen Armen hing. Jonas konnte zusehen, wie der Beton um den Stahl bröckelte und die Sprosse langsam, aber unaufhörlich begann heraus zu rutschen.
»Scheiße!«, war das letzte, was Jonas schrie.
Wenn man einmal von den Effekten vagabundierenden Magiefelder der 2. Kategorie absieht, folgen fallende Körper der Schwerkraft. Jonas Körper tat das gleiche, als sich die Sprosse als illoyales Stück Metall entpuppte: er fiel. Das letzte, was Jonas sah, war die dunkel glitzernde Wasseroberfläche, die auf ihn zu raste, das Gefühl, wie er auf die Wasseroberfläche aufschlug und schließlich, wie ihn etwas an seinen Kopf knallte.
Jonas verlor sein Bewustsein.
»Vermutlich bin ich gerade gestorben!«, dachte Jonas und griff sich an seinen schmerzenden Schädel, »Obwohl, wenn ich tot wäre, würde es mir deutlich besser gehen.«
Jonas berührte eine klebrig, feuchte Stelle an seinem Kopf und wurde sofort mit einem stechenden Schmerz für seine Neugier bestraft. Als er seine Finger betrachtete, klebte Blut an ihnen.
Jonas sah sich um, und stelte fest, dass die Welt signifikant anders aussah. Er lag nicht im Wasser, sondern auf einem Betonboden. Es war auch nicht mehr ganz so dunkel, wie in dem Becken. Mehrere Schildkrötenlampen erhellten den Ort. Es war ein kleiner Raum mit Betonwänden ohne Fenster, aber mit einem Durchgang, der mit allerlei Schaltschränken und Kabeln angefüllt war.
»Ah! Du bist wach, Elbenschwuchtel?«
Inhalt und Klang der Stimme waren eindeutig. Ihr Eigentümer war ein Ork. Jonas wandte sich der Stimme zu und sah nicht nur einen Ork, sondern einen ausgewachsenen Uruk. Uruks, gut ein drittel größer als normale Orks, bestanden aus nichts anderem als Muskeln. Und dieser Uruk war der Archetyp eines Uruks. Arme so dick wie Baumstämme, Brustmuskeln, die mit einem leichten Zucken Ketten aus gehärteten Stahl sprengen könnten. Die Haut des Uruks glänzte schwarz und feucht, sein schwarzes Haar fiel wild und verklettet seine Schultern herunter. Uruks wurden nur für einen Zweck gezüchtete. Man brauchte erbarmungs-, furcht- und skrupellose Kampfmaschinen. Wenn ein Uruk irgendwo gewütet hatte, blieb an diesem Ort nichts anderes zurück, als gemarterte Ödnis.
»Danke!«, murmelte Jonas, obwohl er nicht sicher war, ob er seinem Retter wirklich danken sollte.
Der Uruk sprang auf Jonas zu. »Was jetzt? Bin ich sein Abendessen?«, dachte Jonas, doch der Uruk machte nicht den Eindruck, als wenn er sofort zubeißen wollte. Statt dessen hockte er sich direkt vor Jonas hin. Allein das Hinhocken dieses muskelbepackten Kampfmaschine jagte seismische Schockwellen durch den Beton.
»Was macht ein Elblein wie du in einem Regenwasserbecken?«, fragte der Ork, schien aber nicht sonderlich an der Antwort interessiert zu sein. Statt dessen legte er eine kleine Tasche vor sich hin, öffnete sie und schüttete ihren Inhalt vor sich und Jonas auf einen Haufen. Soweit Jonas das sehen konnte handelte es sich um Bestandteile eines Medpack. Mit erstaunlicher Präzision und Sicherheit, als wenn er ganz genau wusste, was er tat, sammelte der Uruk bestimmtes steriles Verbandsmaterial, Zangen, Pinzetten und Behälter mit unbestimmten Inhalt aus dem Haufen heraus. Als er alles zusammen hatte packte er Jonas Kopf mit seiner rechten Hand. Obwohl »Hand« für diese Pranke eine totale Untertreibung war.
»Nicht bewegen!«, knurrte der Uruk.
Bewegen? Wie denn? Die Hand des Uruks hielt Jonas Kopf fest, als wäre er in einen Schraubstock eingespannt.
»Ahhhhh!«, schrie Jonas auf, als der Uruk jener Stelle berührte, die Jonas schon einmal zusammenzucken ließ.
»Gut!«, knurrte der Ork, »Das haben wir gleich. Meinst du, du kannst die für ein paar Sekunden beherrschen und nicht rumzappeln? Ich brauche meine beiden Hände und kann dich nicht festhalten.«
Jonas verstand nicht, was der Ork meinte, nickte aber vorsichtig.
Der Uruk zögerte nicht und legte sofort los. Er schnappte sich eine flache Kunststofftüte aus dem Medpack und rieß sie sehr professionell auf. Er wusste offenbar ganz genau, wie er die sterilen Gummihandschuhe überziehen musste, ohne deren Sterilität zu verletzen.
»Jetzt stillhalten!«, kam barsch eine Anweisung.
Jonas biß seine Zähne zusammen, es gab ein Zischen wie von einer Sprühdose, und dann explodierte Jonas Kopf. Jedenfalls fühlte es sich so an. Der junge Elb sah regelrecht Sterne. Die vom Schmerz ausgelöste Agonie war so überwältigend, dass er nicht einmal mehr zusammenzucken konnte. Die ganze unerfreuliche Erfahrung währte nur wenige Sekunden, die sich für Jonas aber wie Stunden anfühlten, dann hatte das Spray seine volle Wirkung entfaltet. Das Spray enthielt eine Kombination aus einem sehr starkem lokalen Anesthetikum und einem Desinfektionsmittel. An Jonas Reaktion erkannte der Uruk, dass die Wirkung des Mittels eingesetzt hatte. Der Uruk begann mit seiner eigentlichen Arbeit. Hätte Jonas sehen können, wie der Ork arbeitete, er wäre überrascht gewesen, mit welcher Sorgfalt und Präzision die Wunde versorgt wurde. Nach ein paar Minuten, war alles erledigt.
»Was … ?«, fragte Jonas.
»Du hast ganz schon was abbekommen, Elbentucke. Ich musste deine Kopfhaut nähen«, meinte der Uruk.
»Danke!«, entgegnete Jonas unsicher und fragte sich, was er von der ganzen Situation halten sollte. Wenn er seine Lage beschreiben sollte, dann sah sie ungfähr so aus. Jonas, alias Gildofal, ein 19 jähriger bisher unauffälliger Schüler endeckt sein Rückrat und lehnt sich gegen Ungerechigkeiten auf, insbesondere dagegen von den Orks seiner Klasse ständig als Prügelknabe behandelt zu werden. Wegen dieses Wunsches kommt er zwangsläufig in Konflikt mit der Schulleitung, dann mit dem Klerus und folgerichtig auch mit der könglichen Justiz. Der simplen Wunsch fair behandelt zu werden mutiert zu einem Fall der Staatsräson und Jonas zum Staatsfeind. Er flieht, wird auf seiner Flucht entdeckt, verfolgt, landet in einer Entwässerungspumpstation, wo er fast von einem Wasserstrudel verschluckt wird, sich rettet, dabei stürzt, sich beim Sturz den Schädel aufschlägt und schlußendlich von einem Ork verarztet wird. Ach ja, irgendwo dazwischen, wurde Jonas auch noch von einem Lycanthropen gebissen und wandelt sich durch diesesn Biß selbst zu einem.
Der Uruk tat den Dank mit einem Schulterzucken ab und packte stattdessen das Medpack wieder zusammen.
»Wie heißt du eigentlich?«, knurrte der Ork.
»Jonas«
»Klingt nicht sehr elbisch«, kam die knappe Antwort.
»Eigentlich heiße ich Gildofal.«
»Das klingt elbisch. Es klingt schwul!«, meinte der Uruk und wurde mehr und mehr zu einem Rätsel.
»Hast du ein Problem mit Elben?«
»Nö, ihr seid süß«, der Ork deutete sowas wie ein Grinsen an, »Kulinarisch gesehen.«
War das jetzt Ironie oder ein Witz mit bitterem Beigeschmack. Auf der anderen Seite, warum würde ein Ork Jonas Kopfhaut nähen, wenn er ihn anschließend als Abendessen verzehren wollte.
Uskav
Elben? Gibt es etwas delikateres als Elbenfleisch?
Uskav, prätorjanischer Uruk erster Klasse, General und Meister des Mordes seiner Majestät des Königs
Nach dem unheimlichen Witz schlief die Kommunikation zwischen Jonas und dem Uruk ein. Der Ork griff zu etwas, was wie ein überdimensionierter Rucksack aussah, angelte ein Datenpad heraus und begann mit dem Teil zu arbeiten. Jonas beobachtete ihn eine Weile dabei und fragte sich, was er tun sollte. Fliehen? War er überhaupt ein Gefangener? Und wenn er fliehen sollte, wie und wohin? Er wusste ja nicht einmal, wo er zur Zeit war. Der Ork hatte zwar etwas von einem Pumpwerk erwähnt, aber das brachte Jonas auch nicht wirklich weiter.
Jonas sah sich vorsichtig um. Der Raum, in dem er sich gerade befand, beherbergte offensichtlich die Schalt- und Steuerungstechnik für die mörderische Pumpe. Wenn Jonas den Pegelschreiber auf einem der Schaltkästen richtig interpretierte, war die Pumpe nur deswegen angesprungen, weil das Wasser im Becken unmittelbar vor dem oberen Einschaltpegel der Pumpe stand. Als Jonas hineinplumpste, reichten dann die Wellen aus, um den Einschaltkontakt zu schließen. Jetzt verstand Jonas auch, warum er sich bei seinem Absturz ins leere Becken nicht das Genick gebrochen hatte. Das Becken war nicht vollständig leer, es war immer noch tief genug, dass Jonas bei seinem Sturz nicht bis auf den Boden knallte. Diese Erkenntnis führte Jonas unmittelbar zu einer weiteren. Wäre der Ork nicht gewesen, wäre er, Jonas, unweigerlich ertrunken. Er verdankte diesem Ork sein Leben. Entsetzt starrte er den Muskelberg von einem Uruk an.
»Was?«, fragte dieser und schaute von seinem Datenpad auf.
»Du hast mein Leben gerettet«, meinte Jonas.
»Und wenn schon!«, meinte der Ork schlicht und wandte sich wieder seinem Pad zu.
»Danke!«, meinte ein massiv verwirrter Jonas dankbar.
»Ok«, murmelte der Uruk ohne aufzusehen.
Jonas schüttelte entnüchtert seinen Kopf und wanderte ein wenig herum. Er verließ den Schaltraum und stand in einem Gang aus Beton. An den Wänden hingen in regelmäßigen Abständen Schildkrötenlampen, welche sich erfolglos mühten, die herrschende Dunkelheit zu vertreiben. Jonas schaute sich weiter um, er wählte eine Richtung aus und folgte den Gang. Nach wenigen Schritten öffnete sich der Gang in einer Halle. Jonas erkannte sie, es war der Raum mit dem Regenwasserbasin. Als er vorsichtig über den Rand des Beckens schaute, erschrak er vor dessen Tiefe.
»Elbenschwuppe?«, rief plötzlich der Ork. Jonas ärgerte diese permanente Beleidigung, hielt es aber für seine Gesundheit abträglich, den Ork zu verärgern. Statt etwas gegen die wenig schmeichelhaften Namen zu entgegnen, lief er schnell zum Schaltraum zurück.
»Du solltest hier nicht rumlaufen.«
»Warum? Bin ich dein Gefangener?«, Jonas antwortete gereizter, als er das wollte.
Der Uruk ging nicht darauf ein, stattdessen sagte er: »Der Laden hier ist gefährlich. Alles morsch und verrottet. Deine Wunde könnte aufplatzen.«
Der Uruk legte sein Pad beiseite und öffnete seinen Rucksack: »Hast du Hunger?«
Jonas nickte schüchtern, war sich aber nicht sicher, dass er das Gleiche wie der Ork essen wollte. Als Elb war ernährte er sich vegetarisch. Der Ork vermutlich nicht.
»Hier!«, der Ork hielt Jonas einen frischen Kanten Brot hin, »Magst du Butter oder ist das zu sehr ein Tierprodukt?«
Jonas Verunsicherung steigerte sich ins unermeßliche. Dieser Ork, der Prototyp einer Kampfmaschine, wusste nicht nur, dass Elben Vegetarier sind, er respektierte und beachtete es sogar.
»Wer bist du?«, fragte Jonas erstaunt.
War da so etwas wie Traurigkeit im Gesicht des Orks zu entdecken? Der große Uruk stierte eine Weile ausdruckslos vor sich hin, dann antwortete er schlicht: »Iß!«
Das Brot und die Butter schmeckten gut. Der Ork hatte sein Brot noch mit etwas Fleisch, dem Geruch nach zu urteilen, Salami, belegt. Beide aßen schweigend. Erst, als Jonas sein Brot aufgegessen und der Ork sein zweites Brot halb verdrückt hatte, sprach der Ork. Er klang nachdenklich und schaute beim Sprechen vor sich auf den Boden.
»Ich bin Uskav, ein Uruk. Ich war Soldat im Dienste des Königs.«
Uskav, der Uruk, sprach langsam. Jonas wollte es nicht glauben, aber aus dieser Stimme klang ein tiefer Schmerz heraus, der Schmerz einer verletzten und gequälten Seele. Erstaunlich, bisher hätte Jonas für sich die Frage verneint, ob ein Ork überhaupt über eine Seele verfügen. Dieser Ork besaß eine. Daran bestand kein Zweifel. Außerdem war da noch mehr. Jonas war sich fast sicher, dass an diesem Ork etwas nagte. Hatte er wirklich gesagt, er war im Dienste des Königs? Und was war er jetzt?
»Bist du etwa jener Gildofal, den sie überall suchen?«
Uskav hatte Jonas respektive Gildofal die Entscheidung abgenommen. Er hielt dem Elben sein Datapad hin. Der Fandungsbrief füllte die Seite vollständig aus. Wie es aussah, war inzwischen sogar das Kopfgeld auf Jonas erhöt worden. 20.000 Reichstaler in Gold bot man für seine Ergreifung. Außer den bekannten Vorwürfen hatte man noch eine weitere Tat der Anklagen hinzgefügt: Mord. Mord? Jonas riß ohne nachzudenken dem Uruk das Pad aus der Hand. Der Steckbrief listete alle Anklagepunkte haargenau auf und sparte dabei nicht mit kräftigen Farben. Wenn es nach dem ging, was Jonas gerade las, war er ein blutrünstiger, kaltblütiger Mörder und Schwarzmagier. Die Fandung war absurd, bis auf ein winziges Detail. Jonas kannte den Mann, den er ermordet haben soll. Es war der Werwolf, der ihn angefallen hatte. Von Werwolf oder Lycanthropen war allerdings nicht die Rede. In der Anklage hieß es nur, dass der Elb Gildofal in einen Anflug schwarzmagischen Wahns einen armen, alten Mann erschlagen haben soll. Und bei diesem Mann handelte es sich um niemand geringeren, als um den ehrenwerten geheimen könglichen Staatsminister Geheimrat Victor zu Lebelfallas.
Jonas erschauerte. Victor zu Lebelfallas war niemand unbekanntes. Gerade unter den Elben galt er als Hoffnung für eine bessere Zeit. Er war einer der wenigen, die dem wachsenden Einfluß des Klerus entgegentraten. Er war eine Stimme der Vernunft, die nun für immer verstummt war. Jonas wunderte sich, warum Lebelfallas nicht erzählt hatte, wer er war. Vermutlich hatte er seine Gründe.
Natürlich konnte die klerikale Propaganda der Versuchung nicht widerstehen, Kapital aus seinem Tod zu schlagen. Die Anklageschrift unterstellte Jonas, dass er als Schwarzmagier eine Gruppe terroristischer Elben aufbaute, die das Ziel verfolgte, den königlichen Reichsfrieden zu stören und die Reichsordnung zu untergraben. Lebellfallas wäre das erste Opfer dieser Gruppe. Alles deute auf eine gefährliche Radikalisierung der Elben hin. In gewissen Sinn, so der Steckbrief, trage Lebellfallas mit seiner liberalen Haltung selbst Schuld an seinem Tod. Sein Traum von Verständnis und Nachsichtigkeit wäre ebenso gescheitert, wie sein abenteuerliches Konzept einer multikullturellen Gesellschaft.
»Du bist also ein Killer, Elbenschwuchtel?«, grunzte der Ork.
»Glaubst du das?«
Uskav schnaubte verächtlich: »Früher hätte ich ‚Ist mir doch scheißegal‘ gesagt, dich anschließend kaltgemacht und die Belohnung kassiert. Aber heute … Sag du es mir: Bist du ein Killer?«
Jonas erzählte seine Geschichte. Er wusste zwar nicht warum, aber er erzählte inbesondere auch davon, wie er von seinen orkschen Mitschülern gemobbt wurde. Er erzählte alles, bis auf das winzige Detail, dass er ein Lycanthrop geworden war.
»Pah! Schlappschwänze!«, meinte Uskav und zuckte mit seinen risigen Schultern, »Aber immerhin haben sie noch einen Rest Instinkt!«
»Wer?«
»Deine Orks, deine Mitschüler. Wir können nicht anders, als euch Elben schikanieren. Wir sind so gezüchtet. Wenn wir einen Elben riechen, werden wir agressiv. Wir müssen euch provozieren, schlagen, erschlagen und fressen. Es steckt in unseren Genen. Außerdem, Elbenfleisch schmeckt köstlich. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.«
Jonas musste schlucken. Er verstand ganz genau, was Uskav meinte.
»Wieso Jonas?«, fragte Uskav unvermittelt und unverständlich.
»Wie?«
»Warum nennst du dich Jonas? Das ist kein zuckersüßer Elbenname«, erläuterte Uskav ein wenig mehr.
»Ich … «, Jonas stammelte, »Es ist … Du weißt nicht, wie es als Elb in einer Schule des Königreiches ist. Nicht nur die Orks schikanieren einen. Alle machen sich über Elben lustig. Elben sind Schwuchteln. Elben sind aristrokratisch und arrogant. Siehst du das? Goldblondes Haar, lange elegante Finger, spitze Ohren, makellose Haut. Ich träumte davon wie die anderen Schüler sein. Ich habe sogar versucht, meine Haare dunkel zu färben. Aber dieses Elbenhaar nimmt keine Farbe an.«
»Du verleugnest deine Art? Du schämst dich ein Elb zu sein?«, Uskav grinste breit, »Mann, du demütigst dich ja weit mehr und besser, als jeder Ork das könnte.«
Und dann packte Uskav Jonas an seinen Armen. Für einen kurzen Moment bekam Jonas Panik, dass dieser riesige Ork überraschend Appetit auf Elbenschädel bekommen haben könnte, doch dem war nicht so. Uskav wurde für einen Uruk erstaunlich ernst: »Verleugne niemals deine Herkunft! Du bist der Elb Gildofal! Vergiß das nie! Du bist Gildofal!«
Da musste sich Jonas von einem Ork erklären lassen, was es heißt, auf seine eigene Identität stolz zu sein. Aber Uskav hatt Recht. Er war Gildofal und nicht Jonas. Er sah aus wie Gildofal, er dachte wie Gildofal, nichts würde jemals etwas an der Tatsache ändern, dass er ein Elb war. Warum sich also verleugnen?
»Appropos Selbstverleugnung, ich habe dir nocht nicht alles von mir erzählt«, Gildofal wunderte sich über sich selbst. Das er jemals einen Ork, sogar einem Uruk vertrauen würde, war unglaublich, »Du hast den Artikel über mich gelesen. Ich habe Lebelfallas nicht getötet, aber ich war der Letzte, der ihn lebend sah. Er hat mich verändert.«
»Und?«, Uskav runzelte seine Orkstirn.
»Er war ein Lycanthrop«, erklärte Gildofal.
Uskav dachte einen Moment nach. Schließlich erhellte sich seine Mine und der Uruk tat etwas sehr unerwartete. Der Uruk, der Inbegriff eines Orkkriegers, hockte sich vor Gildofal hin und verneigte sich (ein ganz klein wenig) vor ihm. Gildofal sah ihn verwirrt an.
»Du bist ein Wolfsritter! Unser Zusammentreffen kann kein Zufall gewesen sein. Es war Schicksal, dass wir uns trafen. Du bist die Rettung, auf die wir Orks gewartet haben. Ich habe dich gefunden! Die Prophezeihung beginnt sich zu erfüllen.«
Wolfsritter
»Wenn du glaubst, ich kaufe mir Hundeshampoo für mein Fell, dann träum weiter!«
Gildofal zu Uskav, als dieser bemerkte, dass sein nasses Fell wie Straßenköter stank
»Wolfsritter?«, Gildofal sah Uskav unwissend an.
»Du weißt nichts von den Wolfsrittern?«, jetzt sah Uskav überrascht und argwöhnisch aus.
»Nein. Was ist ein Wolfsritter?«, Gildofal war nervös und wurde noch nervöser, als ihn Uskav brutal packte. Wie aus dem nichts hatte der Uruk einen Krummsäbel in seiner rechten Hand, dessen anderes Ende an Gildofals Kehle lag.
»Du beweist mir sofort, dass du ein Lycanthrop bist oder du wirst diesen Raum nicht lebend verlassen!«
Uskav sah nicht so aus, als wenn er scherzen würde. Es sah aber auch nicht so aus, als wenn er seine momentane Brutalität aus purer orkscher Lust am foltern und quälen betrieb. Es tat nicht mal wirklich weh. Gildofal konnte sich nur nicht bewegen. Was blieb ihm anderes übrig. Zwei Sekunden später hielt Uskav keinen Elb sondern eine riesigen Wehrwohl in seiner Pranke. Seine Reaktion kam sofort. Uskav ließ Gildofal los und schaute zufrieden drein.
»Entschuldige, Gildofal, aber ich musste mir absolut sicher sein, dass du ein Wolfsritter bist«, wo war die typisch Orkkurzsprache geblieben? Uskavs Stimme klang höflich und ernsthaft.
»Verdammt, was sind Wolfsritter?«, fluchte der Elb in Wolfsgestallt.
»Du weißt es wirklich nicht?«, fragte Uskav nervös.
»Nein, ich weiß nur, dass ich irgend eine obskure Aufgabe zu erfüllen habe«, darauf erzählte Gildofal alles, was er von seinen Zusammentreffen mit dem Werwolf wusste. Auch erzählte er von seinem Traum, als ihm der alte Lycanthrop enthüllte, dass er von nun dessen Aufgabe übernehmen musste. Plötzlich fielen ihm die Worte des Wolfes wieder ein: »Ich kann dir nicht mehr sagen, außer, dass du nicht alleine bist. Wer weiß, was kommen wird. Manchmal taucht Hilfe an Orten und von Wesen auf, von denen du es am wenigsten erwarten würdest.«
Konnte es sein, dass Victor zu Lebelfallas genau dieses Zusammentreffen vorrausgesagt hatte? Ein abtrünniger Uruk in den Eingeweiden eines Regenwasserpumpwerks passten schon ziemlich gut in die Kategorie »unerwartet«.
Uskav wurde hektisch: »Wir müssen hier weg. Dieser Ort ist nicht mehr sicher. Komm!«
Der Ork sammelte seine Sachen zusammen und stopfte sie in seinen Rucksack.
»Du musst schnell laufen können. Ich werde deinen Rucksack ebenfalls tragen.«
Mit diesen Worten nahm Uskav auch Gildofals Gepäck. Anschließend untersuchte er Gildofals Kopfwunde und meinte: »Ich hatte gehofft, wir könnten noch ein wenig abwarten, aber es muss auch so gehen. Komm, folge mir so schnell du kannst. Wir haben einen weiten Weg vor uns.«
Uskav rannte los und Gildfal sprang hinterher.
»Wovor fliehen wir?«
»Vor der Agenten der Päpstin! Wir beide, du und ich, sind im Moment vermutlich die größte Bedrohung, die sie je erlebt hat! Du hast gesagt, dass dich der Scannstrahl kurz berührt hat, als du in das Regenwasserbecken gefallen bist?»
»Ja!«
»Du Narr! Diese Scanner erkennen alles. Sie werden mit schwarzer Magie betrieben. Es sind dunkle Kristalle aus Morgorthond in ihnen. Sie weiß jetzt, dass du ein Wolfsritter bist!«
Die ungleichen Partner liefen. Uskav lief vorraus und Gildofal folgte unmittelbar hinterher. Ein Werwolf kann sehr schnell laufen, Uruks sind schneller. Uskav legte ein mörderisches Tempo vor. Immer wenn Gildofal nicht nach kam blieb er stehen und wartete bis der Elb in Wolfsgestalt zu ihm aufgeschlossen hatte. Dann gönnte er ihm eine kurze Pause, bis es schließlich weiter ging. Die ganze Flucht verlief unter Tage. Vom Pumpwerk führte ein unterirdischer Tunnel kilometerlang durch das Land. Der Hauptzweck des Tunnels war es, eine Druckleitung für das Regenwasser aufzunehmen. Es war das gleiche Rohr, an dem die Pumpe, die Gildofal fast verschluckt hatte, angeschlossen war. Der Tunnel war sehr düster, bis auf wenige Schildkrötenlampen gab es kein Licht. Alle paar Kilometer gab es einen Luftschacht mit einer Fluchttreppe. Zwei mal kamen sie an Weggabelungen vorbei, an denen sich ein weiterer Tunnel mit ihrem vereinigte und in einen neuen, etwas breiteren Tunnel überging. Auch das Wasserrohr wurde entsprechend größer. Kurz vor der fünften Fluchttreppe, sie mussten mehr als 25 Meilen vom Pumpwerk entfernt sein, stoppte Uskav und deutete Gildofal an keinen Laut von sich zu geben. Leise und heimlich legte der Ork seinen Rucksack ab und entnahm ihm ein kleines Gerät. Mit diesem Gerät kletterte er lautlos die Fluchttreppe hoch, öffnete aber nicht das Ausstiegsgitter.
Nach mehrere Minuten kam der Uruk zurück, verstaute das Gerät wieder, nahm seinen Rucksack, schnappte sich Gildofal und klemmte ihn unter seinen Arm und rannte los. Dieser Ork war zu erstaunlichen Geschwindigkeiten fähig. Dabei machte er überraschend wenig Lärm. Sie folgten dem Tunnel, bis sie nach drei weiteren Verzweigungen in einer großen Halle ankamen. Hier mündeten noch andere Tunnel mit ihren Rohren. Die Halle war ein einziges Knäul aus Rohren, Pumpen, Schiebern, Kabeln, Schaltschränken und noch mehr Rohren. Uskav sah sich vorsichtig um, er schnupperte in der Luft und tastete sich vorsichtig vor. Die Halle war sehr düster. Die kleinen Funzeln vemochten nicht mal ansatzweise die Dunkelheit zu vertreiben. Aber dies schien offensichtlich ein Vorteil zu sein. Uskav schlich zielsicher auf einen Schaltschrank am anderen Ende der Halle zu. Erst als sie direkt vor dem Schrank standen, konnte Gildofal sehen, dass er nicht direkt an der Wand stand. Dahinter war es stockfinster. Uskav trat in die Dunkelheit, die selbst Gildofals Wolfsaugen nicht durchdringen konnten. Es gab ein dumpfes Geraschel, wie von weichen Stoff, der bewegt wurde. Dann gab es etwas Bewegung, ein leises metallisches Geräusch und plötzlich wurde es hell.
Nun ja, hell ist ein sehr relativer Begriff. Treffender wäre zu sagen, es war nicht mehr völlig dunkel.
Was Gildofal sehen konnte war ein kleiner Raum, dem Schaltraum des Pumpstation nicht unähnlich. Ein rostiges Stahlschott verschloß den einzigen Eingang. Der Raum war vollgestopft mit tickenden und surrenden Schaltschränken. Kontrolllichter leuchteten auf und gingen wieder aus. Es war eine etwas unwirkliche Athmosphäre. Uskav kannte sich offenbar sehr gut aus. Er ging auf einen Schaltkasten zu, öffnete ihn und hantiere in seinem Inneren herum. Es gab ein kurzes Klacken und zwei Lämpchen gingen an.
»So, im moment sind wir sicher. Sollte jemand in die Schächte kommen, werden wir davon erfahren.«
»Wo sind wir?«, fragte Gildofal.
»Im alten unterirdischen Aquäduktnetz der nördlichen Gebirgsprovinz. Es gehört zum Wasserversorgungsnetz der Stadt. Wenige Leute kommen hier runter. Die wenigsten Menschen wissen noch, dass es es gibt, obwohl es arbeitet und gewartet wird.«
»Wer bist du?«
»Uskav, ein Uruk. Sagte ich das nicht?«
»Kein Ork den ich kenne, spricht so wie du. Du hast Kultur und kannst dich ausdrücken. Du kennst dich in Medizin aus. Wer bist du?«
»Ich bin Uskav, ein Uruk. Ich war Soldat im Dienste des Königs. Ich war sein General. Ich habe einen Eid auf Ihn geschworen. Ich war sein loyaler Diener und kämpfte in Seinem Namen«, verkündete Uskav stolz, doch dann verfinsterte sich seine Mine, »Ich töte, metzelte, massakrierte im Auftrag des Königs. Ich habe an ihn geglaubt, gedacht, wir tun etwas Wichtiges, Edles und Gutes. verteidigen den Frieden und die Freiheit. Aber alles war nur Lüge und Betrug.«
»Was ist passiert?«
Uskav starrte Gildofal an: »Ich habe Pläne gesehen! Ich habe Kommandobefehle gelesen! Schlachtpläne von Armeen. Armeen des Königs, Armeen der Feinde des Königreiches. Heimlich regiert Sie beide Seiten! Versteht du was ich sage? Sie läßt mich und meine Brüder gegeneinander kämpfen. Sie läßt sich uns gegenseitig niedermetzeln, damit sie die Macht über die Reiche behält. Sie hat uns gezüchtet, um zu hassen und zu töten! Aber ich will nicht mehr! Verstehst du? Es ist nicht mein Krieg. Es ist nicht mal der Krieg des Königs, obwohl er es für seinen hält. Ich will nicht mehr Menschen, Elben, Orks, Uruks und Trolle abschlachten, die von der gleichen Seite beauftragt wurden, mich abzuschlachten.«
Bei »Ihr« konnte es sich nur um eine Person handeln: Paula-Sylvestra II, Päpstin der unifizierten Technokratie. Nun war es nicht so, dass Gildofal nicht selbst einschlägige Erfahrungen mit dem Klerus gemacht hatte. Schließlich war es sein Lehrer, Vater Johannes, der mittelbar für seine momentane Situation verantwortlich war. Gildofal war sich nicht sicher, was er machen sollte. Er stand vor einem Dilemma. Ein Ork, zumal ein Uruk, den plötzlich ein Drang zur Freiheit packte, war so wahrscheinlich, wie in der königlichen Lotterie 9 aus 111 den Hauptpreis zu gewinnen. Vermutlich war der Lottogwinn sogar wahrscheinlicher.
»Du misstraust mir und ich kann es dir nicht einmal übel nehmen«, Uskav zuckte linkisch mit seinen Schulter, ein leichtes Grinsen war auf seinen Lippen: »Ich bin ein Ork, sogar ein Uruk, eine echte Mordmaschine.«
Dann wurde er wieder ernst und schaute in die Ferne: »Ich habe einen Blick in die Zuchtdatenbank geworfen. Dass wir Elben- und Menschenfleisch lieben wurde in uns hineingezüchtet. Oh, Sie weiß, wie man soetwas macht. Sie kennt sich sehr gut mit Magie aus! Wir sind Ihre magisch programmierten Mordmaschinen. Orks! Schon vor tausenden Jahren wurden wir für diesen Zweck erschaffen, um zu töten. Hast du dich mal gefragt, warum wir Orks Genitalien besitzen? Eigentlich doch völlig überflüssig, da es nur männliche Orks gibt? Zur Fortpflanzung können die wohl kaum dienen. Ich weiß es jetzt. Ich habe es gelesen.«
Gildofal sah Uskav ängstlich an.
»Zum Vergewaltigen!«, fuhr Uskav fort und bestätigte Gildofal schlimmste Ahnung, »Man hat uns diesen Trieb eingepflanzt, uns an den Frauen unserer Opfer zu vergehen, solange wir sie nicht ebenfalls abgeschlachten sollen. Und eine Frau, egal ob Elb, Hobbit oder Mensch, die von einem Ork vergewaltigt wurde, wird immer schwanger, immer! Ich vermute, du weißt, was dabei heraus kommt.«
Gildofal wusste es. Er hatte Bücher gelesen und Beiträge im Bildungsnetz gesehen. Natürlich waren es immer nur die Orks der Feinde, die diese Abscheulichkeiten begingen. Es verging kein Monat, in dem nicht ein Horrorbeitrag über mordende und brandschatzende feindliche Orks gezeigt wurde. Das Fazit war immer das gleiche: Der Feind war erbarmungslos und schreckte selbst vor dem Einsatz dieser bösartigsten Kreaturen nicht zurück. Und Orks konnten bösartig sein. Frauen, die von Orks vergewaltigt wurden, brachten tatsächlich immer etwas zur Welt, es sei denn, sie zogen es vor, sich vorher zu entleiben.
Die eigentliche Absurdität an der Sache war, dass natürlich nur die Orks der feindlichen Reiche, derartige Bestien waren. Jedenfalls, wenn man der offizielen Propaganda glauben wollte. Die Orks des Reiches waren, so der König, natürlich etwas ganz anderes. Sie waren ehrenwerte Kämpfer in seinem Namen, was man allein schon daran sehen könne, dass die jugendlichen Orks die gleichen Schulen besuchten, wie die anderen Bürger des Reiches. Dass die Orks mit einem Haß auf alle feindlichen Lebewesen gezüchtet werden mussten sei leider ein trauriges aber notwendiges Übel. Schließlich würde der Feind auch nicht davor zurückschrecken, erbarmunglose Orks einzusetzen, die natürlich nicht so kultiviert und gebildet waren, wie die Orks des Königs. In Wirklichkeit waren die Orks des Reiches nicht weniger brutal, als alle anderen Orks.
Uskav fuhr fort: »Manchmal vergewaltigen wir auch die Männer, bevor wir sie töten. Und das alles nur, um Angst und Terror zu verbreiten. Psychologische Kriegsführung. Ja, die Päpstin ist teuflisch genial. Allein die Drohung, dass eine Orkarmee in Anmarsch ist, soll den Gegner demoralisieren.«
»Warum bringst du mich nicht um?«, Gildofal fragte, bevor er nachdenken konnte.
Uskav sah Gildofal gequält an:»Oh, du hast keine Ahnung, wie sehr sich mein Körper danach sehnt, dich abzuschlachten. Ich kann riechen, wie süß und zart dein Fleisch schmeckt. Aber ich will dich nicht fressen! Wenn ich meinen Instinkt, meiner Züchtung, folge, bin ich ein Sklave der Päpstin. Ich will frei sein.«
Gildofal konnte nicht anders, als diesen Ork bewundern. Freiheit hieß für ihn, sich von den Fesseln seiner Programmierung zu befreien. In dem er Gildofal nicht verspeiste befreite er sich von den Ketten seiner Versklavung.
»Uskav, ich verneige mich vor dir!«, es klang pathetisch, aber es war genau das, was Gildofal in diesem Moment empfand. Dieser Uruk hatte Respekt verdient.
»Du kleine Elbenschwu … «, für einen kurzen Moment flammte die typisch orksche Wildheit und Boshaftigkeit in Uskavs Gesicht auf, doch dann brachte er sich sofort wieder unter Kontrolle: »Danke Gildofal. Du kannst dir nicht vorstellen, wie intensiv dieser Instinkt ist.«
»Nein, dass kann ich nicht, aber ich vertraue dir.«
»Sei vorsichtig. Ich kann nicht garantieren, dass ich mich immer unter Kontrolle halten kann. Du möchtest doch nicht, dass dir eines Tages ein Körperteil fehlt?«, meinte Uskav mit einem breiten Grinsen auf den Lippen. Dieser Ork hatte Humor.
»Was ist mit den Wolfsrittern? Warum bist du auf der Flucht? Warum stellen wir beide eine Gefahr für die Päpstin dar?«
Uskav hockte sich vor Gildofal auf den Boden.
»Gut, ich erkläre es dir! Wir haben etwas Zeit. Aber wir müssen auch diesen Unterschlupf bald verlassen. Für uns ist es nirgendwo mehr sicher«, bekann der Uruk, wobei er sich reckte und streckte und seinen Muskeln und Gelenke knacken ließ.
»Ich war ein General des Königs. Ich befehligte mehrere seiner Orkarmeen im Süden. Bei einem unserer Aufträge eroberten wir eine Festung des Feindes. Nun ja, meine Krieger haben sich ausgetobt. Kein Feind blieb am leben. Keiner, bis auf einen. Er hielt sich in einem Geheimraum der Festtung versteckt und wurde erst als er fliehen wollte von einer Wache aufgegriffen. Etwas an diesem Typen war allerdings anders. Normalerweise hätten meine Orks kurzen Prozeß mit ihm gemacht, doch konnten sie es nicht. Sie waren nicht in der Lage, ihn zu töten oder sonst wie Hand an ihn zu legen. Ganz im Gegenteil hörten sie auf seine Befehle und brachten sogar ihre Vorgesetzten dazu, dass dieser geheimnisvolle Mann zu mir vorgelassen wurde. «
Uskav holte einen Wasserbeutel aus seinem Rucksack und hielt ihn Gildofal hin. Der Elb trank einen Schluck, sagte: »Danke« und gab den Schlauch Uskav, der selbst einen Schluck nahm, bevor er fort fuhr.
»Dieser Mann war ein Kleriker. Als er mir gegenübertrat, war etwas zwingendes an seiner Art. Er hatte Macht über mich. Wenn er mir gesagt hätte, ich solle mich töten, ich hätte es ohne Zögern getan. Bruder Paulus, so nannte es sich, befahl mir, ihm in die Festung zu folgen. Ich hatte bis dahin mein Kommandolager vor der Festung noch nicht verlassen. Ich folgte. Er führte uns, in seinen Geheimraum und erklärte mir, dass er eine neue Aufgabe für mich hätte. Dazu müßte ich aber meine Arme bis auf hundert Mann opfern. Er würde mir ein effektives Gift geben, mit dem ich mich meiner Männer ganz leicht entledigen könnte. Meine Armee bestand aus 20.000 Orks! Bruder Paulus befahl mir, 19.900 Orks, meine eigenen Männer, zu töten. Ich kochte vor Wut, aber Paulus lachte und meinte: ‚Oh, du dummer Uruk! Spar dir deine Wut für deinen Auftrag. Du wirst dich deiner Orks entledigen, ob du willst oder nicht. Versuch gar nicht erst, zu begreifen, was Wir planen. Du wirst es eh nicht verstehen. Soviel Verstand haben Wir dir nicht gegeben.‘ Ich hätte am liebsten seinen Kopf mit meinen Händen langsam zerqutscht und ihm dabei ihn die Augen geschaut, aber ich konnte es nicht. Bruder Paulus hatte Macht über mich. Ich konnte ihn kein Haar krümmen. Allein der Gedanke daran bereitete qualvolle Schmerzen. Doch dann half der Zufall. Während Bruder Paulus durch die Festung lief, explodierte eine Sprengfalle die der Feind zurückgelassen hatte. Bruder Paulus wurde an der Brust getroffen. Ein Splitter traf einen Talisman, den er unter seiner Sutane um den Hals trug. Der Talisman zerbrach und plötzlich war seine Macht verschwunden. Er wusste es sofort. Ich seh ihn noch vor mir, wie er nach seinem Anhänger griff und kalkweiß wurde, als er merkte, dass der Anhänger nicht mehr da war.«
»Und? Was hast du gemacht? Ihn umgebracht?«, fragte Gildofal und wusste dabei nicht, ob er die Wahrheit wirklich erfahren wollte.
»Sagen wir, ich habe mich mit ihm eine Weile unterhalten«, meinte Uskav vage, wobei seine Augen diabolisch aufflackerten, »Diese Unterhaltung dürfte für mich wesentlich angehmer gewesen sein, als für ihn. Eigentlich müsste er sehr stolz auf mich sein. Schließlich habe ich perfekt funktioniert, so, wie mich seine Brüder gezüchtet haben. Ich habe sämtliche Information aus ihm herausgeholt, die er besaß. Ich kann Lügen genau so gut erkennen, wie, wenn jemand nicht alles erzählt und Informationen zurückhält. Es ist etwas Magie, die Sie in uns Uruks eingepflanzen ließ. Oh, ich bin in sehr, sehr vielen Techniken unterrichtet worden, wie man jemanden zum reden bringt. Ich trage nicht umsonst den Titel eines Meisters des Mordes.«
Uskav machte eine Pause. Als er eine Sekunde später fort fuhr, war seine Stimme leiser und nachdenklicher: »Meister des Mordes – Ein Titel, den ich früher mit Stolz getragen habe und für den ich mich jetzt schäme. Jedenfalls erfuhr ich von Bruder Paulus eine Menge über uns Orks, über die fortwährenden Kriege zwischen den Königreichen und den Plänen der Päpstin. Bruder Paulus hatte extrem geheime Dokumente bei sich. Entwürfe von vergangenen und zukünftigen Schlachten, Zuchtdatenbanken über Orks, Uruks und Trolle. Die Unterlagen zeigen und beweisen, wie in Wirklichkeit die Päpstin die Welt regiert. Sie treibt die Reiche dazu, sich gegeneinander mit Krieg zu überziehen. Als ich das alles las, brach eine Welt in mir zusammen. Ich dachte, die Schlachten, die wir für unseren König führten, wären eine Notwendigkeit. Wenn ich meine Männer in den Tod schickte und mit ihnen auf dem Schlachtfeld stand, dann täten wir es, für Frieden und Freiheit. Aber dem war und ist nicht so. Als ich die Wahrheit begriff, rastete ich aus. Es braucht 10 Orks, um mich wieder unter Kontrolle zu bringen.«
»Und was hat das mit mir und den Wolfsrittern zu tun?«
»Ah! Jetzt wird es interessant!«, Uskav strahlte auf, »Unter uns Orks gibt es eine Legende, ein Art Mythos oder Verheißung, die uns Kraft und Stärke gibt. Es heißt, es gäbe einen geheimen Bund von Menschen, Elben, Zwergen, Hobitts und sogar Orks. Dieser Bund soll sich die Bruderschaft der Wolfsritter nennen. Ihr Ziel soll sein, uns allen die Freiheit zu bringen. Heimlich und unauffällig, sollen sie daran arbeiten, für alle Wesen eine bessere und friedlichere Welt zu schaffen. Die Wolfsritter würde kommen und uns Orks von den Fesseln unsere Züchtung befreien. Wie alle Orks hielt ich es für ein lächerliches Märchen, eine Geschichte, an die kein Ork, insbesondere kein Uruk, zugeben würde zu glauben. Doch jeder Orks denkt in verzweifelten Stunden an die Wolfsritter. Ja, auch Orks können verzweifeln.
Wie gesagt, ich dachte es wäre ein Märchen, wenn ich nicht auf Bruder Paulus gestoßen wäre. Wie es aussieht, gibt es die Wolfsritter tatsächlich. In den Geheimunterlagen der Kirche fand ich umfangreiche Dossiers. Demnach sind alle Wolfsritter Lycanthropen, so wie du!«
War das Gildofals Aufgabe? Den Kampf um eine bessere Welt zu führen? Und zwar den ganz konkreten Kampf, also nicht einfach nur ein paar schlaue Reden halten? War das seine Aufgabe?
»Verstehst du nun, warum wir in Gefahr sind?«, fragte Uskav rethorisch nach, um seine Frage dann selbst zu beantworten, »Du bist ein Wolfritter. Es besteht kein Zweifel. Was meinst du, warum man dich so verbissen sucht? Glaubst du wirklich, es wäre wegen der Sache in deiner Schule? Träum weiter! In den Unterlagen stand, dass die Synode des Königreiches Victor von Lebelfallas bereits in Verdacht hatte, ein Wolfsritter zu sein. Ich habe von einem Plan erfahren, ihn in ihre Gewalt zu bringen. Deine Verfolger haben schneller als du begriffen, was passiert war. Lebelfallas hat sein Erbe an dich weitergegeben.«
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»Und wohin sollten wir deiner Meinung nach fliehen?«, fragte Gildofal.
»Ich kenne nur einen Ort, wo du sicher bist – Daelbar!«, antwortete Uskav. Eine kalte Entschlossenheit schimmerte in den Augen des Orks auf.
Gildofal sah den Ork fragend an. Etwas in seiner letzten Bemerkung beunruhigte ihn.
»Daelbar!«, sagte Gildofal schließlich, »Die Heimstadt der Drachen.«
»Ja, Daelbar, der Albtraum der Päpstin«, Uskav wirkte entschlossen, »Wir Orks sind dort nicht sehr beliebt. Ich werde dich zu dieser Stadt bringen, selbst wenn es mein Leben kosten sollte. Gildofal, dieser Uruk, Uskav, der Meister des Mordes, wird dich von nun an schützen. Ich werde alles dafür tun, dass du unbehelligt deine Aufgabe erfüllen kannst.«
»Das kann ich nicht annehmen! Du hast dich gerade deiner Ketten entledigt, dich befreit!«
»Doch, du kannst es annehmen. Wenn ich sage, dass ich dein Schutz sein werde, dass ich dein Krieger sein werde, der dich schützt und dein Leben notfalls mit seinem eigenen verteidigt, dann tue ich es aus freien Stücken. Es ist für mich ein Akt der Freiheit, dies zu tun!«
Damit war Uskav mit dem Thema durch. Es gab für ihn nichts mehr zu erörtern. Gildofal hatte von nun an, ob er es wollte oder nicht, einen Uruk als persönlichen Bodygard. Der Elb zweifelte keine Sekunde daran, dass es dieser Ork bitter ernst meinte. Uskav würde keine Sekunde zögern, sich in Flugbahn einens tödlichen Pfeils zu werfen, der für Gildofal bestimmt war.
»Wir müssen aufbrechen!«
Uskav packte seine Sachen zusammen, schnallte sich seinen und Gildofals Rucksack um und ging dann zu einem der tickenden Schaltkästen. Der Ork betätigte einige Knöpfe, prüfte ein paar Anzeigen und meinte schließlich: »Bisher ist noch niemand in das Tunnelsystem eingedrungen. Jedenfalls nicht in Umkreis von 50 Meilen. Mit etwas Glück schaffen wir es bis an die Grenze. Es gibt einen Tunnel, der bis zum Fuß des Gebirges führt. Er endet am Raumaranos Stausee.«
Der Stausee von Raumaranos war eines der letzten großen Werke, die im Königreich mit der Hilfe der Zwerge vom Berg erstellt worden war. Die aktuelle Geschichtsschreibung versuchte natürlich, den Beitrag der Zwerge zu marginalisieren. In Wirklichkeit waren es nicht nur tausende Zwerge, die in mühsamer Handarbeit die Schwerstarbeit verichtet hatten, auch sämtlichliche statischen und hydrologischen Berechnungen und Konstruktionen wurden durch die Baumeister des Zwergenreiches geleistet. Damals, zur Zeit des Urururgroßvaters des Königs, bestand noch ein reger Austausch zwischen Zwergen und Menschen. Doch auch diese beiden Rassen hatten sich einander entfremdet. Zuerst sähte der Klerus Neid. Man sagte, die Zwerge wären reich, unverschämt reich und hätten diesen Reichtum auf zweifelhafte Weise erworben. Dann schürte mann Misstrauen. Zwerge seien nicht vertrauenswürdig, sie würden einen übers Ohr hauen, bei jeder Gelegenheit würden die Zwerge einen betrügen, wie hätten sie sonst so reich werden können. Handel, Tourismus und selbst der Wissenschaftsaustausch schliefen ein. Mit der Zeit, begannen sich Zwerge und Menschen voreinander aus Unwissenheit zu fürchten. Aus dieser Furcht entwickelte sich schließlich Menschen- beziehungsweise Zwergenfeindlichkeit, wobei keine Seite merkte, dass sie gezielt einander entfremdet wurden.
Jedenfalls war dieser Damm ein Meisterwerk. Er versorgte nicht nur die gesamte Region mit Elektrizität, sondern auch die Landwirtschaft und Menschen der Städte mit Wasser. Elektrizität war eine relativ neue Errungenschaft. Wer nutzte schon elektrisches Licht, wenn doch magische Lampen mit Elbenkristallen viel schöneres und angenehmeres Licht gaben? Doch die magische Elbenkunst wurde immer argwöhnischer betrachtet. Als dann vor ein paar Jahren Gerüchte aufkamen, dass Elbenlichter Krankheiten verursachen konnten, kam plötzlich die Zeit der Glühbirne, während ganze Elbenstämme, die sich auf die Fertigung kunstvoller Lampen spezilisiert hatten, in tiefste Armut stürzten.
Nachdem Uskav das Zeichen zum Aufbruch gab verwandelte sich Gildofal wieder in einen Werwolf und war erneut über sich selbst erstaunt, wie viel schneller er auf vier Pfoten war als auf zwei Beinen. Der nächsten Teil der Strecke führte durch einen sehr breiten Stollen, durch den selbst ein großer Pferdekarren hindurchgepaßt hätte, wäre der meiste Raum nicht durch vier urukhohe Rohre verbaut gewesen. Diese Rohre führten auf dem direktesten Weg in Richtung Stausee. Für Uskav und Gildofal blieb nur ein schmaler Wartungspfad.
Gildofal fiel auf, dass Uruks offensichtlich gleichzeitig schnell und extrem leise sein konnten. Bisher hielt er Orks für laute, aggressive und wenig intelligente Bestien, doch je mehr er Uskav kennen lernte, desto überraschter war er von dessen außergewöhnlichem Verstand. Ihm wurde übel bei dem Gedanke, dass man dieses Potential nur zum Morden und Zerstören erschaffen hatte. Welch Möglichkeiten boten Uruks, wie Uskav, wären sie frei und könnten sich weniger destruktiven Dingen zuwenden.
Stunden verstrichen in denen das ungleiche Duo gut 50 Meilen zurücklegte. Während der ganzen Zeit verhielten sie sich still. Im Tunnel konnte man nur ein leises Rauschen des Wassers in den Rohren und gelegentlich das Pfeifen von Luft hören. Der Tunnel stieg an und ein Kamineffekt sorgte für einen ständigen Luftzug.
Unvermittelt stoppte Uskav. Der Ork sah sich unsicher um. Schnüffelte in der Luft, hielt seinen Kopf schräg und lauschte. Für drei oder vier Minuten verharrte der Ork in dieser Stellung. Nur seine von Falten zerfurchte Stirn ließ erahnen, dass sich Uskav intensiv konzentrierte. Ohne den geringsten Laut von sich zu geben, formte Uskav mit seinen Händen Buchstaben, die Gildofal las und zu Worten verband: »Soldaten. 50 Orks, 25 Menschen 1 Kardinal im Rang eines Generals. Areal extrem unsicher. Du wirst bereits erwartet.«
Der Weg nach oben war verbaut. Sobald Gildofal oder Uskav seinen Kopf aus dem Tunnel strecken würde, wären sie auch schon verhaftet. Immerhin wussten man nichts von Uskav, was sich als taktischen Vorteil herausstellte. Der Ork kannte dieses Tunnelnetz besser, als Gildofal den Inhalt seines Rucksacks. Der Uruk deutete Gildofal nochmals keinen Laut von sich zu geben, ging dann absolut geräuschlos auf den Werwolf zu und hob ihn mit seinen Pranken hoch. Mit Gildofal in der Hand huschte der Ork wie ein Geist voran. Dabei drückte er sich dicht an ein Rohr, dass die stärksten Strömungsgeräusche von sich gab.
Langsam, jeden Schritt überlegend, kamen die beiden vorran. In der Nähe einer schummerig, blassen Schildkrötenlampe gab es einen vergitterten Luftschacht. Licht fiel herab und zeichnete einen hellen Fleck auf den Tunnelboden. Uskav näherte sich der Stelle, doch statt einfach weiter zu gehen, kroch er mit Gildofal unter eines der Wasserrohre. Hinter dem Rohren befand sich die Tunnelwand, doch gab es zwischen Wand und Rohr ein klein wenig Platz. Man konnte hier zwar nicht schnell entlanglaufen, aber seitwärts entlangschleichen. Niemand, der von oben in den Schacht hineinschaute würde dabei etwas erkennen können.
Uskav und Gildofal waren gerade auf gleicher Höhe mit dem Lichtschacht, als ein grüner Scanstrahl aufflammte. Nur der Durchmesser des Rohres trennte die beiden von einer Entdeckung.
Die beiden Flüchtlinge schlichen weiter. Uskav blieb hinter den Rohren. Gildofal vermutete, dass der Uruk seine Gründe dafür haben müsste, doch wunderte er sich trotzdem, den so kamen die beiden nur sehr langsam voran. Nach etwas mehr als 300 Metern wurde Gildofal der Grund klar. Völlig unerwartet verschwand die Tunnelwand. Ein kleiner, bestenfalls 150 mal 150 cm breiter Schacht führte zur Seite weg. In ihm war es stockdunkel. Uskav setzte Gildofal ab, machte ihm mit Handzeichen klar, ihm zu folgen und begann in den Schacht zu kriechen. Der Elb in Wolfsgestallt folgte.
Das eh sehr spärliche Licht des Haupttunnels verschwand hinter den beiden. Gildofal folgte dem Uruk durch totale Dunkelheit. Es war so dunkel, dass eine Orientierung völlig unmöglich war. Gildofal hätte nicht sagen können, ob der Schacht aufwärts, abwärts oder seitwärts ging. Er wusste nur, dass er kroch, kroch und kroch. Nach einer Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit vor kam, prallte Gildofal plötzlich gegen den Ork. Uskav hatte gestoppt. Ganz leise war ein metallisches Quitschen zu hören, dann wurde Gildofal gepackt, vorsichtig gezogen und schließlich abgesetzt. Es musste ein Raum sein, ein stockfinsterer Raum, denn es gab keine Wände mehr. Es quitschte wieder. Vor Gildofal raschelte es. Ein Licht flammte auf. Uskav hielt einen Lampe mit Elbenlichtkristall in seinen Händen.
»Wir befinden uns innerhalb der Staumauer«, meinte Uskav und deutete mit seiner freien Hand auf eine Wand, »Dorthinter ist der Stausee.«
Gildofall sah sich um. Der Raum war kein Raum, sondern selbst wieder ein Tunnel oder Stollen, der sich nach links und rechts erstreckte. Hinter Gildofall befand sich ein stählernes Schott, durch dass sie wohl gerade gekommen waren.
»Wir können nicht aus den Tunnel heraus. Sämtliche Ausgänge sind bewacht«, meinte Uskav.
»Dann sitzen wir in der Falle!«, entgegnete Gildofall resigniert, »Sie wissen, dass wir im Tunnelsystem sind. Alles, was sie machen müssen, ist warten.«
Uskav grinste: »Nicht ganz. Wir können die Ausgänge nicht benutzen, aber wer sagt, dass wir das tun?«
»Wie sollen wir dann hier raus?«
»Wie gut, kannst du die Luft anhalten?«
»Nein! Das kann ich nicht! Ich werde ertrinken!«, murmelte Gildofal verzweifelt, nachdem Uskav ihm seinen Plan erklärt hatte. Der bestand kurzerhand darin, das Tunnelsystem durch das Staubecken zu verlassen. Die Zwerge hatten beim Bau des Damms geniale Schleusen eingebaut. Niemand außer den Zwergen war in der Lage eine Schleusenkammer in eine Staumauer zu integrieren. Ein Taucher konnte die Kammer betreten, die Kammer wurde geflutet und der Taucher befand sich direkt am Fuß der Staumauer, allerdings auf der Wasserseite. Über ihm befanden sich gut 150 Meter Wasser. Dies ging natürlich nur mit entsprechenden Druckanzügen, wollte man endlose Dekompressionszeiten vermeiden. Kein Mensch oder Elb würde dies ohne entsprechende Ausrüstung sonst überstehen. Doch Uskav meinte allen Ernstes, dass Gildofal und er die Schleußenkammer betreten und dann bis zum Ende des Stausees tauchen sollten. Das Ende des Sees befand sich außerhalb der Grenzen des Königreiches.
»Nein, du wirst nicht ertrinken. Du musst mir vertrauen. Allerdings wird es nicht angenehm für dich werden. Du bist ein Elb und … «
»Und?«, Gildofal fragte sich, um die Situation noch hoffnungsloser werden konnte.
»Es gibt ein Ritual. Es ist schwarze Magie … «
Die Situation konnte doch hoffnungsloser werden! Elben reagierten als Wesen des Lichtes auf schwarze Magie nicht sonderlich gut. Ein Elb, der schwarze Magie aktiv verwandte, war für den Rest seines Daseins gezeichnet. Er hörte quasi auf ein Elb zu sein. Das Wesen der schwarzen Magie lag darin, sich von der spirituellen, geisthaften Seite desjenigen zu zehren, der sie beschwor. Als teilweise magische Wesen besitzen Elben eine sehr große geisthafte Seite. Entsprechend mächtige Beschwörungen waren somit auch für einen Elben möglich. Die Schattenseite besteht darin, dass eine dunkle Beschwörung einen Elb quasi von innen auffrißt. Es war somit sicherlich kein Wunder, dass das praktizieren von schwarzer Magie eines der größten Tabus darstellte, die die Elben besaßen. Wer dagegen verstieß wurde zum Aussätzigen. Die Spuren, die die Beschwörung der schwarze Magie hinterließ, war für jeden anderen Elben sofort erkennbar, denn sie verursachte Übelkeit und Kopfschmerzen. Trotzdem kam es immer wieder vor, dass ein Elb, aus welchem Grund auch immer, den Weg der schwarzen Magie wählte. Dies waren die Moredhel, die Schwarzelben, gefürchtete Hexenmeister und Diener der dunklen Mächte.
Allerdings verlangte Uskav nicht, dass Gildofal gleich zum Schwarzelben und Hexenmeister werden sollte. Der Uruk plante, die schwarze Magie selbst zu beschwören und diese auf Gildofal und sich anzuwenden. Auf Orks im Allgemeinen und Uruks im Speziellen hatte diese dunkle Form der Magie eine ganz andere Wirkung als bei Elben. Als Wesen des Bösen und der Dunkelheit war für sie die Beschwörung dunkler Mächte ein natürlicher Akt. Der springende Punkt an Uskavs Plan bestand nun darin, seine dunkle Magie auf ein Lichtwesen wie Gildofal anzuwenden.
Kein Elb mochte es sonderlich, schwarzer Magie ausgesetzt zu sein. Es war einfach widerlich. Nicht nur, dass man tagelang das Gefühl hatte durch eine Jauchegrube getaucht zu sein, es bereitete Kopfschmerzen, Übelkeit, massive Schmerzen in allen Gelenken und Muskeln. Ein Elb, der eine volle Ladung dunkler Hexenkunst abbekommen hatte, fühlte sich hinterher wie ausgekotzt und von ein Dampfwalze überrollt. Die einzige Chance dem zu entgehen bestand darin, die eigene Magie des Lichtes als Schutzschild zu verwenden. Nur wäre dann auch Uskavs Beschwörung überflüssig. Es blieb Gildofal, die Sache durchzustehen. Bei der Wahl zwischen den Alternativen »halb tot fühlen« und wirklich »tot sein« war die Wahl nicht wirklich schwierig.
»Was muss ich machen?«, war damit auch Gildofals Antwort.
Uskav hob erstaunt seine Stirn. Die Entschlossenheit des Elben überraschte ihn.
»Nichts! Da vorne ist eine Schleußenkammer. Wir gehen hinein und ich beschwöre meinen Dämon. Er wird uns die Fähigkeit geben, unter Wasser atmen zu können und keine Dekompressionszeiten zu benötigen. Es tut mir Leid, aber ich vermute, dass du die Besinnung verlierst. Es ist sehr starke Magie. Ich werde uns beide durch den Stausee bringen. Das andere Ufer liegt außerhalb des Königreiches.«
Gildofal antwortete nicht, er nickte nur stumm. Uskav erwiederte dieses stumme Nicken. Der Ork ging voran. Nach etwa 150 Meter erreichten sie ein Schott. Es war unverkennbar ein Werk meisterhafter Zwergenkunst. Ganz aus Stein gefertigt schloss es nahtlos mit der eigentlichen Staumauer ab. Nur die Bemalung des Schotts machte es als solches kenntlich. Eine kleines Schaltfeld, ebenfalls nahtlos in den Stein eingelassen, diente der Bedienung.
»Bist du bereit?«, fragte Uskav und sah dabei ganz orkuntypisch besorgt aus.
»Nein, aber tu es trotzdem!«, entgegnete Gildofal sarkastisch.
Uskav berührte die Schaltfläche. Ein Warnsignal ertönte. Entlang der Naht zwischen Staumauer und Schott flammte eine rote Linie auf und pulsierte als Warnung, dass das Schott nun geöffnet würde. Fast lautlos begann der Stein des Schleußenkammertores erst ein Stück nach hinten, dann zur Seite zu gleiten und gab damit den Blick in die Schleusenkammer frei. Es war ein kleiner Raum. Uskav und Gildofal würden knapp hineinpassen. Auf Boden und Deckenhöhe gab es Schlitze in den Seitenwänden, vermutlich für den Zu- und Ablauf des Wassers. Die Rückwand war das Schott nach außen.
Gildofall schaute unsicher in die Kammer. »Wenn diese Geschichte daneben geht«, dachte er, »Sind wir tot.« Plötzlich auftauchende Geräusche wie von laufenden Füßen und das aufflammen von hellen Lampen im Staumauerstollen riß den Elb aus seinen Gedanken. Das Öffnen der Schleuse musste ihre Verfolger alarmiert haben.
»Schnell!«, schrie Uskav, packte Gildofall und zerrte ihn mit sich in die Schleußenkammer. Im vorbeigehen schlug er mit seiner Pranke auf das Bedienfeld und das Schott begann sich hinter ihnen zu schließen, »Jetzt gibt es kein zurück mehr. Der Flutungszyklus wurde gestartet und kann nicht mehr unterbrochen werden!«
Das waren die letzten Worte, die Gildofal hörte. Zwei schwache Lichtfelder im Mauerwerk tauchten die Kammer in ein gespenstisches Licht. Ein gurgelndes Geräusch ertönte und Wasser begann aus den Schlitzen in Bodenhöhe zu laufen und die Kammer zu fluten. Uskav hatte sich in eine Pose der Beschwörung begeben. Der Uruk murmelte Worte in einer Sprache, die Gildofal nicht verstand aber bedrohlich und unheimlich wirkten. Das Wasser stieg. Es hatte bereits Gildofalls Knie erreicht und ließ den Elb bibbern, da es eiskalt war. Das Gurgeln des Wassers und das Murmeln Uskavs schwollen an. Es war, als wenn der Ork und das Wasser miteinander kämpften. Während das Wasser schneidend kalt war, schienen Uskavs Worte glühend heiß zu sein. Gildofal hatte fast den Eindruck, als ob das Wasser in der Nähe des Uruks kochen würde. Die verbliebene Luft war von feuchtem Dampf erfüllt, der den Elb einhüllte und seine Sinne vernebelte. Geister- und Dämonenfratzen erschienen vor seinen inneren Auge. Gildofal begann aus der Wirklichkeit heraus zu driften. Uskavs Murmeln war zu einem monotonen, sich wiederholenden Singen geworden, dessen Worte wir Feuer in Gildofals Ohren brannten. Wasser, Hitze, Dampf, Feuer, Kälte – Alles vermischte sich und explodierte schließlich in einem Nichts. Gildofall verlor sein Bewustsein. Sein letzer Eindruck war eine Hand, die Hand Uskavs, die ihn packte und hinaus zog. Hinaus in eine unendliche dunkle Schwärze.
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Nero Impala
Berlin, den 4. Januar 2005
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