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Drachenblut
6. Buch - Flammen
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Informationen
- Story: Drachenblut
- Autor: Nero
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Fantasy und Mystery
Inhaltsverzeichnis
Sulogorn
Kriegsglück
»Held, der (m.)«
»Männliches Wesen mit beschränktem Intellekt, welches sich zur falschen Zeit am richtigen Ort befindet und Opfer der Umstände wird. (vgl. posthume Ehrung)«Lady Lydias Konversationslexikon
Daelbar, die Stadt der Drachen, schmiegte sich sehr organisch an das nördliche Ende eines langgezogenen Tals. Jeder, der diesen Ort besuchte, hatte nicht den Eindruck, in einer Stadt zu weilen. So natürlich integrierten sich die Bauten in die umgebende Landschaft, dass man sich eher in einem Park wähnte, als in einer Siedlung. Selbst bei den Kuppeln und Bauten der Drachenhöhlen wurde eine derart organische Formensprache verwendet, dass man sie fast für natürliche Landmarken halten konnte. Hinzu kam, dass Daelbar eine wahrhaft grüne Stadt war. Überall wucherten Bäume, Buschwerk und Ranken. Ganze Flächen waren mit farbenfroh blühenden Pflanzen übersät. Die meisten Drachenhöhlen waren von Efeu oder ähnlichen Kletterpflanzen bedeckt und verliehen ihnen ein verwunschenes Aussehen. Einzig die Stadtmauer, die diesen Namen eigentlich kaum verdiente, zog sich als kleiner Fremdkörper quer durch das Tal und verband die westliche mit der östlichen Gebirgskette.
Da man sich bei der Verteidigung der Stadt primär auf die Fähigkeiten der Drachenflugstaffeln verließ, bestand nie wirklicher Anlass, aus der eher dekorativen Stadtmauer eine richtige massive Befestigungs- und Wehranlage zu machen. Mehr oder weniger hatte man die Stadtmauer gebaut, weil eine Stadtmauer traditionell zu einer Stadt dazugehörte. Ein Bäcker Daelbars meinte einmal, ohne Stadtmauer fühlte er sich irgendwie nackt. Und so kam es, dass eine sorgsam gepflegte und gehütete Mauer, mit Wehrgängen, Türmen und Toren die imaginäre Linie markierte, die Stadt von Land trennte.
Man durfte nicht ungerecht sein. Die daelbarsche Stadtmauer hatte ihre Qualitäten und taugte tatsächlich dazu, nervige Räuber oder gelegentlich vorbeischauende kleine umhertreibende Orkbanden von der Stadt fern zu halten. Nur einem hunderttausend Mann starken Orkheer vermochte diese Mauer nicht wirklich etwas entgegen zu setzen. Genau so wenig, wie man eine Büffelherde mit bloßen Händen aufhalten konnte. Keine wirklich gute Idee.
Es wäre die Zeit der Morgendämmerung gewesen, doch der Morgen kam nicht. Konnte man Anfangs noch hinter den Zinnen des östlichen Gebirges das schwache Glimmen der bevorstehenden Morgendämmerung erahnen, verschwand dieser ferne Schimmer hinter dunklen, drohenden Wolken, die von Süden kommend aufzogen. Etwas abgrundtief Böses hing in der Luft. Die dunklen, fast schwarzen Wolken wirkten wenig natürlich, insbesondere, wenn man beachtete, dass sie sich entgegen des herrschenden Nordwinds bewegten. Es waren Vorboten des Orkheeres, beschworen von schwarzen Magiern, um Angst und Schrecken in Daelbar zu wecken. Kaum erreichten diese Wolken die Stadt, begann es aus ihnen zu regnen. Ein öliger, schwarzer Regen ergoss sich auf die Stadt und verbreitete einen ekligen, fauligen Geruch, den Geruch von Tod und Verderben.
Langsam, aber unaufhaltsam wie eine Flut, brandete das Orkheer heran. Immer näher kam es der Stadtmauer, um dann plötzlich und völlig unerwartet etwa etwa fünfhundert Meter vor ihr zu stoppen. Wie es schien, wollten die Hauptleute des Orkheeres kein Risiko eingehen. Nicht, dass sie mit nennenswertem Widerstand rechneten, schließlich befehligten sie ein sehr spezielles Heer, gegen das selbst Drachen nichts ausrichten konnten. Doch wollte man sich auch nicht vor irgendwelchen Verzweiflungstaten überraschen lassen. Es war besser, die Lage erst einmal genau zu sondieren. Außerdem wollte man auch etwas Spaß haben, was hieß, dass man sich an der Verzweiflung der verhassten Drachenreiter weiden wollte.
Zwischen den Orks öffnete sich ein Pfad, durch den ein einzelner Reiter zur Stadtmauer ritt. Ganz in schwarze Gewänder gehüllt, die Hände mit schwarzen Lederhandschuhen bedeckt und einer Kapuze, die tief ins Gesicht gezogen war, wirkte die Gestalt zumindest bedrohlich, wenn nicht sogar unheimlich. Etwas Kaltes und Böses schien von ihr auszugehen.
Der Reiter erreichte das Tor der Stadt, blieb dort stehen und verharrte. Eine gespannte Erwartung lag in der Luft. Das Orkheer in seinem Rücken verhielt sich absolut still. Die Gestalt auf dem Pferd hob langsam ihren Kopf und schaute sich um. Nichts! Daelbar schien das Heer zu ignorieren. Die gesamte Stadtmauer, von einem Gebirgskamm zum anderen, war zwar von Fackeln gesäumt, doch niemand war zu sehen. Weder auf der Mauer, noch auf den Türmen, waren Wachen, Soldaten oder Bogenschützen zu entdecken. Selbst der Himmel über Daelbar schien leer. Kein einziger Drache durchzog die Lüfte.
»Ich bin ein Bote des Einen«, rief der Reiter, dessen Stimme mehr ein Zischeln als eine wirkliche Stimme war. Ihr Klang war so eisig, dass ein Eimer kochenden Wassers in Sekunden zu Eis gefroren wäre.
»So, bist du das?«, ein einzelner Ork, ein Uruk, lugte über die Stadtmauer hinaus, »Und was „Bote des Einen“ können wir für dich tun?«
Der Reiter schaute zu dem Uruk hinauf. Obwohl man nun unter die Kapuze schauen konnte, gab es dort kein Gesicht zu sehen. Dort, wo die Augen sein mussten, schimmerten nur zwei fahlgrünliche Punkte.
»Ich spreche nicht mit einem Verräter!«, zischte der Bote. Wenn er sprach, meinte man vage die Umrisse eines Mundes erkennen zu können, der im gleichen fahlen Grün wie seine Augen flackerte, »Ich erwarte, mit dem Vertreter dieser Stadt zu sprechen.«
»Ich, Uskav, freier Uruk, Seele Narsuls, bin der gewählte Präsident des Rates dieser Stadt. Wenn du etwas zu sagen hast, dann sprich mit mir!«
Der Bote des Einen zischte erneut, wobei man nicht sagen konnte, ob es Verachtung oder Ärger war, welchem er Ausdruck verleihen wollte.
»Ich bin der Bote des Einen! Er verlangt, dass ihr euch ergebt und seiner Gnade unterwerft. Weigert ihr euch, werdet ihr sterben. Wie lautet eure Antwort?«
Die Antwort kam prompt und deutlich. Mit einem durch Zauber unterstützten Satz, den kaum jemand für möglich gehalten hätte, sprang Uskav von der Brüstung des Stadttores zum wartenden Reiter hinab. Noch im Flug zückte er Lokril, die Drachenflamme.
Lokril — Toldins Geschenk. Als Toldin und Turondur sich opferten und der große Silberdrache von Uskavs Schwert sein Herz durchbohren ließ, vermachte er Uskav ein ganz besonderes Geschenk. Sein magisches Blut war in den Stahl der Klinge eingedrungen und hatte es verändert. In diesem Schwert loderte von da an eine Drachenfeuerflamme, jederzeit bereit hervor zu brechen, um die Mächte des Bösen zu bekämpfen.
Hell wie die Sonne selbst loderte das Schwert auf. Sein Schein traf den Boten, der laut und markerschütternd kreischte und sich abwandte. Denn das Licht Lokrils verbrannte ihn, fügte ihm ungeahnte Schmerzen zu. Doch waren diese Schmerzen nichts im Vergleich zu dem was folgte. Mit einem einzigen Hieb spaltete Uskav den Boten in zwei Hälften. Mit einem grellen Quitschen platzte die Hülle des Boten und gab die schwarzmagische Essenz des Dämonen frei. Ein grünlich schimmernder Dunst entwich und wurde vom leicht wehenden Wind hinfort getragen. Geblendet und verbrannt vom inneren Drachenfeuer des Schwertes zerstoben die Reste des Dämons zu Staub und Asche. Daelbar hatte seine Antwort gegeben.
Bei den Heerführern machte sich Unsicherheit breit. Eine derartige Reaktion hatte man nicht erwartet. Natürlich ging man nicht davon aus, dass sich auch nur ein Drachenreiter ergeben würde, aber dass sie mit einem derartigen Schlag reagierten, kam überraschend und unerwartet. Natürlich war Uskav gefährlich. Nicht ohne Grund war er General des Königs gewesen und trug den Titel eines Meisters des Mordes. Doch das hatte man einkalkuliert. Was man nicht kalkuliert hatte, war seine seltsame Waffe. Ein Schwert dieser Art war ihnen gänzlich unbekannt. Die zweifelsfrei in ihm wohnende weiße Magie war einfach ekelhaft.
»Was soll ein einzelner Uruk schon gegen ein ganzes Heer ausrichten können?«, gab einer der Heerführer zu bedenken.
»Nichts!«, meinte ein anderer siegessicher, »Dass es zu Verlusten kommen würde, haben wir kalkuliert. Lasst uns angreifen und diesen Schandfleck, diesen Hort ekelerregender Kreaturen, ausradieren. Ich hasse Drachen! Ich hasse Daelbar! Tötet sie! Tötet sie alle!«
»Ich hasse sie auch, doch seid ihr wirklich sicher, dass wir in keine Falle laufen?«, fragte ein weiterer Heerführer, der, kleiner und schmächtiger als die anderen, in den Hintergrund gedrängt wurde.
»Eine Falle? Lächerlich, Naszgrbak, du Jammerlappen von einem Dämon, einfach lächerlich! Hunderttausende Orks gegen ein paar unfähige Drachen?«, wischte der zweite Heerführer, der den Rangabzeichen nach den Rang eines Marschalls bekleidete, die Bedenken seines Kollegen hinfort, »Unsere Armee ist unbesiegbar! Keine dieser widerlichen Echsen wird sich ihnen entgegenstellen können. Kommt Brüder! Lasst uns die Erde von der Pestseuche des Drachentums säubern!«
Während Uskav noch den Staubhaufen der Dämonenreste betrachtete, setzten sich plötzlich die wartenden Orks in Bewegung, was man als untrügliches Zeichen dafür werten konnte, dass die Kommandeure der Orkarmee nicht wirklich von Uskavs Antwort beeindruckt waren. Als faktischer Präsident Daelbars, er war noch nicht offiziell zu Turondurs Nachfolger ernannt worden, postierte sich Uskav demonstrativ vor dem Tor. Sein Schwert lässig quer im Nacken und die Arme locker darüber gelegt, ließ er die Orks auf Rufweite herankommen.
»Wenn ich an eurer Stelle wäre«, begann Uskav zu rufen, »würde ich umkehren und mich ganz schnell aus dem Staub machen.«
Wie nicht anders zu erwarten, antworteten die Orks der vordersten Frontlinie mit Hohngelächter. Sie wussten, dass die Drachen gegen sie nichts ausrichten konnten, und die Aussicht auf frisches Menschenfleisch war mehr als verlockend. Man könnte auch sagen, das Orkheer war sehr motiviert.
»Ihr glaubt mir nicht?«, Uskav hielt seinen Kopf schief, lächelte provozierend und wartet ab, bis die Frontlinie der Orks näher gerückt war, »Nun gut, ihr habt es nicht anders gewollt!«
Uskav packte sein Lokril und lief mit weit ausholenden Schritten los. Erst langsam, dann immer schneller werdend, stampfte er auf die Frontlinie der Orks zu, die nach wie vor lachten und Uskav für einen durchgedrehten Selbstmörder hielten. Genau genommen lachten nicht alle Orks über Uskav. Diejenigen, die das Pech hatten direkt in Uskavs Route zu stehen, durchzuckte ein eher mulmiges Gefühl beim Anblick eines zynisch grinsenden Uruks mit gezücktem Schwert in der Hand. Uskavs finstere Entschlossenheit ließ die Orks an der Zuverlässigkeit und insbesondere an der Tauglichkeit ihrer eigenen Waffen plötzlich zweifeln. Andererseits zeigten sich die weiter entfernt stehenden Orks zweifach begeistert. Zum einen würde der Kelch, von Uskav erschlagen zu werden, an ihnen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorbei gehen, zum anderen waren sie felsenfest davon überzeugt, dass mit Uskavs ebenso sicheren baldigem Ableben die größte Gefahr für Leib und Leben, die von Daelbar aus ging, gebannt sein dürfte.
Wie das mit Wahrscheinlichkeiten so ist, beißen sie einen zuweilen in den Allerwertesten. Unmittelbar vor Uskavs erster Feindberührung sprangen in militärisch präzisen Abständen Drachen über die Stadtmauer, stürzten die Mauer herab, fingen sich ab und schossen auf die Frontlinie der Orks zu. Das ganze vollzog sich so schnell, dass die vordersten Orks bereits von Drachenklauen filetiert wurden, bevor sich ihre Denkapparate auf die neue Schlachtsituation mental einnorden konnten.
Von oben betrachtet begann das Orkheer den Eindruck eines frisch gepflügten Ackers zu erwecken. Tiefe Furchen bildeten sich dort, wo Drachenklauen Orks zu Ragout zerstückelten. So schnell, wie die Drachen auftauchten, waren sie auch wieder verschwunden. Uskav hatte die Idee, die Waffe des Feindes für ihre eigenen Zwecke auszunutzen, was hieß, dass die Drachen, nachdem sie eine etwa siebenhundert Meter lange Furche in die Orks geschlagen hatten, in die tiefhängenden, schwarzen Wolken entschwanden. In denen herrschte zwar null Sicht, doch Sicht war auch gar nicht nötig. Jeder Drache Daelbars kannte die Umgebung seiner Stadt im Schlaf und konnte das Tal mit geschlossenen Augen durchfliegen, oder, wie in diesem Fall, eine undurchdringlich schwarze Wolke. Hinzu kam, dass die exakt parallel ausgeführte Flugformation dafür sorgte, dass man nicht aus Versehen gegeneinander stieß.
Uskav selbst wollte sich die Befriedigung nicht nehmen lassen, sein neu veredeltes Schwert an ein paar Orks auszuprobieren. Während die Furchen, die die Klauen der Drachen durch das Orkheer zogen, eher dunkle Linien bildete, hätte ein Betrachter dort wo Uskav wütete, eine gleißend weiße Flamme wild umher tanzen sehen. Lokrils Wirkung war verheerend. Das Schwert zerteilte selbst den härtesten Stahl der Orkschwerter als würden diese aus Butter bestehen. Uskav ließ seine Klinge tanzen. Lokril wurde gleichzeitig zu Waffe und Schild. Pfeile, Messer, Schwerter kamen keinen halben Meter an Uskav heran.
Als schließlich die Drachen verschwunden waren, war auch Uskav vom Schlachtfeld verschwunden, denn Narsul war ebenfalls über die Mauer gesprungen, hatte seine Seele mit seinen Klauen gepackt, war in die Wolken durchgestartet und zur Mauer zurück geflogen, wo sie den Uruk vorsichtig absetzte. Uskav wollte ganz genau sehen, wie sein Schlag wirkte und stieg einen Wachturm empor, der das Feld vor der Stadtmauer überblickte. Von dort aus erhielt er einen sehr guten Eindruck über das Geschehen.
Nach dem Überraschungsangriff teilte sich die Drachenstaffel in zwei Hälften, eine östliche und eine westliche, die zu den jeweiligen Gebirgszügen flogen, um sich dort neu zu formieren. Uskav gab Narsul ein Zeichen den nächsten Angriff zu starten, den die Drachendame mental an ihre Mitechsen weiter leitete. Die Orks sollten erst gar nicht auf die Idee kommen, sich auf weitere Angriffe vorbereiten zu können.
Von zwei Seiten gleichzeitig stießen die die Drachen erneut auf die Orks herab und pflügten sie diesmal um 90 Grad gedreht durch. Von oben betrachtet hätte man zwei Fronten paralleler Linien aufeinander zulaufen sehen können. Wer beim ersten Angriff noch auf den Beinen stand, den erwischte es spätestens beim zweiten Durchlauf.
Entsetzt, erschüttert und sprachlos, betrachteten die Heerführer der Orks, wie ihre erste Angriffswelle in wenigen Momenten aufgerieben wurde. Wut und Hass schäumte in ihnen auf, als sie begriffen, dass innerhalb von fünf Minuten gut 80 Prozent des Frontkontingents des Orkheeres den Klauen der Drachen zum Opfer gefallen war. Das entsprach zwar kaum einem fünftel ihres Gesamtheeres, war aber immer noch zwanzig mal mehr, als man als Gesamtverlust eingeplant hatten. Nun, Orks waren Massenware und entbehrlich, viel erschreckender und für die Heerführer das eigentliche Debakel, war der Umstand, dass bisher kein einziger Daelbaner auch nur eine winzige Schramme abbekommen hatte.
Egal wie man es drehte, das Bild blieb das Gleiche. Etwas lief gewaltig schief. Soviel war den Heerführern klar. Diese verdammten Drachen hätten die Orks niemals angreifen dürfen, bestenfalls ankotzen, wenn man den Produktversprechungen Boldin Dynamics glauben durfte. Eigentlich hätten die Drachen vor Ekel fliehen müssen. Doch die verfluchten Viecher schienen davon nichts zu wissen. Immerhin schienen sie Probleme mit ihrem Feuer zu haben, was Anlass zur Hoffnung bot. Vielleicht gab es hier einen Ansatzpunkt, eine Schwäche, die man nutzen konnte. Zuerst aber hieß es, sich neu aufzustellen. Die Heerführer befahlen den Rückzug.
Daelbar hatte die erste Runde gewonnen.
Wiedersehen
»Tot«
Antwort auf die Frage, wie man aus dem Barad Baul wieder raus kommt
»Erogal?«, etwas überrascht, die Stimme meines alten Lehrers und Mentors zu hören, drehte ich mich langsam um, wobei ich Ole Olson als Schutzschild verwendete. Der Neovikinger war schlau genug, meinen Bewegungen zu folgen. Mein Messer, welches kühl seine Kehle berührte, wirkte ungemein motivierend.
»Segato, bitte, steck das Messer weg! Du könntest jemanden ernsthaft verletzen.«
Das war typisch Erogal. Wenn er etwas sehr ernst meinte und es ihm besonders wichtig war, verpackte er es in scherzhaften Plauderton.
»Hm, scheint mir kein sonderlich guter Rat zu sein, in meiner Lage auf eine Waffe zu verzichten, oder?«
»Sicherlich nicht«, gab Erogal freundlich zu, »Andererseits … Was denkst du, könntest du gegen einen Gildemeister und einen Profimörder mit einem einzigen Messer ausrichten?«
»Vermutlich nicht viel«, gab ich wiederum zu, »Aber du vergisst Ivo. Mein Freund hier hätte auch noch ein Wörtchen mitzureden gehabt und euch schneller erledigt, als ihr auch nur Oh sagen könntet.«
»Sieht nach einem Patt aus, oder?«
»Etwas in der Art«, pflichtete ich Erogal bei, »Wie ich das sehe, ist die Situation die Folgende. Du musst die Omegadirektive umsetzen, wozu letzten Endes auch gehört, dich meiner und aller anderen Kontaktpersonen zu entledigen. Weiß dein neovikingischer Freund hier eigentlich, dass dies auch für ihn gilt?«
»Gegen deine Analyse wäre soweit eigentlich nichts einzuwenden. Allerdings fußt sie auf einer falschen Annahme«, Erogal bedachte mich mit einem zynisch-bitteren Gesichtsausdruck, »Ich hoffe, es kränkt nicht dein Ehrgefühl, aber die Gilde bewertet deinen Fall nicht mehr ganz so vordringlich, wie noch vor ein paar Tagen. Inzwischen hat man sich ein neues Ziel gesucht.«
»Interessant!«, lachte ich ironisch, »Vermutlich möchtest du mir weismachen, dass es sich dabei um dich handelt.«
»Ich habe ja immer gesagt, dass du ein schlauer Junge bist.«
Ich musste bitter grinsen, »Das bringt uns in eine wirklich spannende Situation. Jetzt hängt alles davon ab, ob ich dir glaube oder nicht. Ich …«
Fremde Rufe unterbrachen mich: »Los! Er kann nicht weit sein! Sucht in den Seitengassen! Durchforstet jeden Winkel der Umgebung!«
Wie konnten wir die Geheimpolizisten vergessen? Nach Ivos und Oles diskretem Rückzug aus dem Sexclub hatten wir die Staatsmacht vollkommen vergessen. Dummerweise hatte sie uns nicht vergessen und war dabei, ihre Suche nach Ole Olson außerhalb des Clubs fortzusetzen, was sie unweigerlich in unsere Richtung brachte.
»Hier lang!«, zischte der Neovikinger, packte meine Hand, die das Messer hielt, entwaffnete mich und zog mich dann mit sich, »Ich persönlich würde gerne noch etwas länger leben!«
Mein Fluchtinstinkt war stärker, als mein gekränktes Ego. Ich ließ mich von Ole Olson mitreißen und so auch Ivo und Erogal. Der Neovikinger kannte sich gut, geradezu perfekt aus, wusste wie man in der Menge untertauchte und führte uns vier fast direkt vor den Augen der Geheimpolizisten aus der Gefahrenzone heraus, weg vom leichenübersäten Sexclub.
Nach etwa einer viertel Meile erreichten wir einen geschlossenen Lieferwagen.
»Bitte, Segato, vertrau mir. Ich werde dir wirklich nichts tun!«
Erogal hatte die Seitentür des Wagens geöffnet und bat Ivo und mich einzusteigen. Als Beweis seiner Aufrichtigkeit gab mir Ole mein Messer zurück, die Klinge auf sich selbst gerichtete.
»Also gut …«, ich zuckte mit den Schultern. In all den Jahren, während Erogal mein Lehrer, Mentor und väterlicher Freund war, hatte er mich nie belogen. Ich glaube sogar, dass er dazu gar nicht in der Lage war. Jemanden, der auf seiner Seite stand, zu belügen, widersprach seinem Charakter. Die Frage war nur, standen wir noch auf der gleichen Seite? Ich hoffte es und war bereit, es zu glauben. Erogal kämpfte nicht gegen das Böse, weil er ein Meister der Gilde war, sondern war ein Meister der Gilde, um gegen das Böse zu kämpfen. Stellte sich nur die Frage, wie weit er im Kampf gegen das Böse gehen würde? Würde er sich deswegen selbst von der Gilde abwenden?
Ich bejahte diese Frage. Sollte ich mir irren, würde mein Leben recht bald ein gewaltsames Ende finden.
»Ich glaube, du machst dir zu viele Sorgen. Ole und Erogal sind cool!«
»Cool?«, wunderte ich mich über Ivos Wortwahl.
»Megacool!«
»Wenn du es sagst!«, wunderte ich mich etwas mehr.
»Yupp!«
Warum musste dieser Drache eigentlich immer das letzte Wort haben? Ivo saß mir im Transporter gegenüber und grinste mich frech an. Außerdem blinzelte er mir diskret zu, einen unauffälligen Blick auf Ole Olson zu werfen, der neben uns Platz genommen hatte, während Erogal hinter der Steuerung des Lastengleiters Platz genommen hatte.
Ich hätte mich fast an meiner eigenen Spucke verschluckt. Ole Olson zog Ivo mit seinen Blicken regelrecht aus. Eigentlich fehlte nur noch, dass der Neovikinger anfing zu sabbern. Welche Wirkung mein Drachenpartner auf Ole besaß, ließ sich an der deutlichen Ausbeulung in der Mitte seiner Beinkleider ablesen. Fairerweise muss angemerkt werden, dass Ivo diese Wirkung des Öfteren hervor rief und dies unabhängig davon, ob es sich dabei um Mensch, Elb, Männlein oder Weiblein handelte. Ivo war in seiner menschlichen Form ein wahrer Sexgott. Er war muskulös, aber gleichzeitig sanft, schlank, aber nicht mager, knuffig aber nicht pummelig. Sein ebenmäßiges Gesicht verlieh Ivo etwas engelhaftes, während seine Haare, die einen eigenen Willen zu haben schienen und ihm als wilde Strähnen regelmäßig vor die Augen fielen, einen frechen Kontrapunkt setzten. Das Schlimme an Ivo war, es wusste ganz genau, wie gut er aussah und kokettierte frech damit.
Auch in diesem Fall. Ivo lächelte Ole provozierend lasziv, aber nicht obszön an und entblößte dabei zwei Reihen schneeweißer, absolut makelloser Zähne. Der Neovikinger bekam einen Hustenanfall.
»Du bist also der sagenhafte Ole Olson«, bildete ich mir das nur ein, oder flirtete Ivo mit Ole?
»Ähm …«, stammelte Ole und rang krampfhaft um Worte und seine Fassung, »Sagenhaft? Nein, ich bin nur … Na ja, du weißt ja, was ich mache …«
Ich war Ole Olson bisher erst ein mal begegnet, nämlich an jenem denkwürdigen Abend in Xengabad, als mir Suman das erste mal begegnete. Suman war es auch, der mich vor Ole warnte, er sei ein ebenso attraktiver wie überaus tödlicher Zeitgenosse. Ersteres war absolut nicht von der Hand zu weisen. Der Neovikinger hatte mich bereits damals mächtig beeindruckt. Allerdings traf das, aus unterschiedlichsten und ganz anderen Gründen, auch auf die übrigen Teilnehmer des xengabadschen Abends zu. Am meisten hatte mich Boldin beeindruckt, wobei beeindruckt nicht das richtige Wort war, geängstigt traf es besser. Sein penetranter Stolz auf seine perfiden Tötungswerkzeuge widerten mich schon damals an. Doch sollte man die anderen Mitglieder des netten Abends nicht vergessen. Szwang, Markendorfer und vor allem Vaughan forderten ebenfalls meine ungeteilte Aufmerksamkeit, weswegen Olson mehr oder weniger in den Hintergrund geriet, was er wohl auch so beabsichtigt hatte.
»Ein interessantes Wiedersehen …«, unterbrach ich meinen Drachen, der begonnen hatte Ole Olson nach allen Regeln der Kunst anzumachen.
Sowohl Ivo als auch der Neovikinger schauten zu mir. Ivo ganz leicht säuerlich, Ole überraschend dankbar.
»Komm Kleiner, du kannst ihn später immer noch vernaschen. Wenn Erogal und er uns betrügen, sogar wortwörtlich.«
»Was denn? Ich mach doch nur Konversation!«
»Konversation? „Du bist so muskulös. Treibst du viel Sport?“, nennst du Konversation?«
»Öhm, wieso? Er ist doch muskulös, oder?«
»Ich geb’s auf!«
Unsere mentale Unterhaltung währte nur wenige Sekundenbruchteile, so dass ich Oles Antwort auf meine Frage nicht verpasste: »Xengabad, ja, in der Tat. Das war ein sehr interessantes Zusammentreffen.«
Ole Olson musterte mich. Er tat das ganz offen, ohne sein Tun auch nur ansatzweise zu verbergen.
»Stellvertretender Sekretär Segato G’Narn, Ihr habt euch verändert.«
Hörte ich da etwa Ironie in Oles Stimme? Vermutlich; anders war sein leichtes Schmunzeln kaum zu erklären.
»Ich glaube, das mit dem stellvertretenden Sekretär hat sich erledigt. Für die Gilde bin ich im Moment eher … Hm, eine interessante Frage. Vermutlich bin ich „Ein Problem“. Dabei fällt mir ein, dass dich Suman als „Problemlöser“ bezeichnet hat.«
»Suman …«, Ole Olson lächelte versonnen, fast träumerisch und wirkte für einen Moment abwesend, dann riss er sich zusammen und ging auf meine Bemerkung ein, »Ich habe keinen Auftrag der dich betrifft. Ganz im Gegenteil, Turondur hat mich gebeten, dich zu beschützen. Er sorgt sich um dich.«
Meine Mine verfinsterte sich, wurde eisig: »Turondur ist tot! Er starb heute Morgen!«
Ole Olson wirkte geschockt, Erogal, der unsere Unterhaltung hinter dem Steuer mitgehört hatte, stieg in die Eisen und hätte fast einen Unfall gebaut.
»Was? Turondur ist tot? Woher weißt du das?«, schrie Erogal vom Fahrersitz aus.
Sollte ich ihm sagen, dass ich ein Drachenreiter war? Ich entschied mich dagegen und wählte eine mehr nebulöse Erklärung.
»Ich verfüge über entsprechende Quellen, die mich über derartige Dinge informieren.«
»Segato, Turondur war mein Freund! Wenn du etwas weißt, dann sag es mir, bitte!«
Ich hatte Erogal noch nie so emotional erlebt. Als Gildemeister trieb er die Kontrolle seiner Emotionen zur Perfektion. Die Gefühle eines Meisters der Gilde waren sein Geheimnis. Doch nicht in diesem Fall. Erogal zeigte, was er innerlich fühlte. Ich schaute fragend zu Ivo.
»Sag es ihm!«
»Erogal, ich bin, wie ich nach meiner Ausbildung beabsichtigt hatte, ein Drachenreiter geworden.«
»Ich weiß. Turondur erzählte mir davon, als er mich in Crossar aus Anlass deiner Flucht aus Daelbar besuchte.«
»Oh!«, meine Flucht hatte offenbar Wellen geschlagen. Ich erinnerte mich, genaugenommen erinnerte mich mein PDA-Implantat, an die Berichte und Artikel über das »Blutbad in Crossar« in denen unter anderem auch erwähnt wurde, dass der Präsident Daelbars zum Zeitpunkt des Attentats zugegen war. Warum hatte ich diese Verbindung nicht vorher gesehen? Für Turondur gab es nur eine Person, für die er Crossar besuchen würde, Erogal D’Santo, meinen Mentor und seinen Freund aus alten Tagen.
»Nun gut …«, fuhr ich fort, »Ich weiß, dass du selbst einmal Drachenreiter werden wolltest und die Drachenreiterschule besucht hast. Es ist ganz einfach. Wie du sicherlich weißt, sind alle Drachen mehr oder weniger stark mental miteinander verbunden. Ich habe es heute morgen, wenn auch sehr schwach, gespürt.«
»Dann war …«
Erogal D’Santo ließ den Satz unvollendet im Raum stehen. Gedankenverloren setzte er den Transporter wieder in Bewegung und fädelte sich in den kriechenden Verkehr ein. Schweigend kreuzten wir durch Tharbad. In den vergangenen Tagen hatte ich genügend Gelegenheit gefunden, mich mit dem Grundriss der Stadt auseinander zu setzen. Die von Erogal eingeschlagene Route führte aus dem Zentrum heraus in Richtung eines der unzähligen Industrie- und Gewerbegebiete, die sich an der Peripherie der Stadt tummelten. Je weiter wir uns vom Zentrum entfernten, desto flüssiger wurde der Verkehr, bis aus einem zähen Gekrieche ein flottes Reisetempo wurde.
»Irgend jemand, der uns verfolgt?«
Die Frage galt Ole Olson, der seit ein paar Minuten durch einen Sehschlitz im Heck nach draußen lugte.
»Nein«, verkündete Ole, »Vor den drei letzten Richtungswechseln hatte ich den Eindruck, von einer schwarzen Limousine verfolgt zu werden. Aber die ist jetzt weg. Trotzdem sollten wir den Stadttunnel nehmen und dort unser kleines Manöver durchziehen.«
Das »kleine Manöver«, von dem Ole Olson sprach, bestand in der trickreichen Anwendung von Magie. Der Stadttunnel Tharbads galt als ein Meilenstein städtischer Verkehrsplanung. Statt sich den Verkehr oberirdisch stauen zu lassen, konnte er es jetzt gleichzeitig ober- und unterirdisch tun. Während die Stadtplaner planten, den dichten Verkehr durch eine Art Abflussrohr flüssiger zu machen, hatte die Stadt anderes im Sinn. Sie nutzte den zusätzlichen Verkehrsraum einfach für noch mehr Verkehr. Das Prinzip des Tunnels war einfach. An einem Ende flossen Fahrzeuge hinein, um am anderen Ende wieder hinaus zu fließen. Dazwischen steckten sie, verborgen von Blicken, unter der Erde. Auch wir fuhren in den Tunnel hinein, der, der Knausrigkeit der Stadt sei Dank, eher spärlich bis gar nicht beleuchtet war. Man kannte den Weg auch so — Gerade aus! Kaum im Tunnel begann Ole Olson einen Zauberspruch zu rezitieren und seine Hände auf die Außenhaut des Fahrzeuges zu legen. Erstaunt sah ich seinem Treiben zu.
»Fertig!«, Ole Olson entdeckte meinen verwunderten, äußerst fragenden Blick und entschied, eine Erklärung abzugeben, »Unser weißer Transporter … er ist nicht mehr weiß. Die Außenflächen sind mit Zauberfolien beklebt. Sehr praktisch für die Werbung. Wir sind jetzt dunkelblau und tragen die Aufschrift „Klempnerei Rohrmeister – Ihr Meister für alle Rohre“.«
Und so kam es, dass zwar ein weißer Transporter in den Stadttunnel hinein fuhr, aber niemals wieder heraus. Eine Anomalie, die den eifrigen und nimmermüden Augen der »Traffic-O-Matic«, einem Produkt der Firma Secur-O-Fence Ltd., mit dem die Hauptstraßen Tharbads flächendeckend überwacht wurde, entging.
Eine halbe Stunde später erreichten wir einen abgelegenen Gewerbepark mit wenig bis keinem Verkehr. Erogal hielt direkt auf die Einfahrt eines Lagerhauses zu, dessen Rolltor sich automatisch öffnete und hinter uns schloss.
»Willkommen in meiner bescheidenen Hütte«, verkündete Ole Olson fröhlich und öffnete die Hecktür des Transporters. Zwei neugierige Drachenköpfe schauten uns an.
»Die Sulozwillinge!«, rief Ivoricalad freudig erstaunt, »Mit euch hätt ich jetzt nicht gerechnet.«
Ohne Rücksicht auf Verluste sprang Ivo aus dem Wagen, lief auf die beiden Jungdrachen zu und umarmte jeden einzelnen von ihnen. Erogal, Ole und ich schauten zu und kratzten uns verblüfft am Kopf, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
»Ivo, du alte Kieselechse, wie siehst du denn aus?«, rief Sulomile.
Der Angesprochene schaute an sich herunter, zupfte an seiner Kleidung und grinste verlegen.
»Oh, ähm, Sekunde, das haben wir sofort!«
Was folgte, ließ Ole Olsons Augen fast aus ihren Höhlen springen. Vor versammelter Mannschaft entledige sich Ivoricalad seiner Kleidung. Jedes Stück wurde überaus sorgfältig ausgezogen und zusammengelegt, bis mein Drache nur noch in seiner Unterhose dastand. Erogal und Ole waren zu geschockt, um etwas zu sagen. Ole bekam sogar einen weiteren Hustenanfall, als bei Ivo auch noch die letzte Hülle fiel und er in seiner ganzen Pracht mitten im Raum stand. Allerdings blieb dem inzwischen knallrot angelaufenen Neovikinger wenig Zeit, diesen Anblick zu genießen. Kaum komplett entkleidet, verwandelte sich Ivo in seine natürliche Drachenform.
»Darf ich vorstellen?«, verkündigte ich amüsiert, »Ivoricalad, mein Drachenpartner.«
Ole Olson stöhnte erleichtert auf: »Puhh! Ich hätte fast mit dieser Echse gepoppt!«
Er hätte leiser stöhnen sollen. Ivo hat ein verdammt gutes Gehör. Sein Echsenkopf drehte sich zu Ole, Ivo entblößte seine Fänge, grinste breit, soweit dies bei seiner reptilischen Anatomie möglich war und meinte: »Oh Ole, das können wir immer noch!«
Ich sagte ja, Ivo muss immer das letzte Wort haben!
Feuerwall
»Liebe(f), Geisteskrankheit, Verlust von Urteilsvermögen und Artikulationsfähigkeit, i.A. Fixierung auf singuläre Objekte«
Eintrag im medizinischen Wörterbuch der Kirche der unifizierten Technokratie
»Was tun sie?«
Sie taten nichts. Vom Wachturm des Hauptores der Stadtmauer Daelbars betrachtet, sah es so aus, als wenn die Orks des großen Heeres nichts taten. Genau genommen hatten sich die Überlebenden der Vorhut zurückgezogen und neu formiert, griffen aber nicht an, sondern hielten sich im Hintergrund.
Uskavs Frage war an Thonfilas gerichtet, der mit seinen elbischen Augen weitaus besser sehen konnte, als die meisten anderen Kämpfer auf der Stadtmauer. Der Elb hätte selbst die mikroskopisch kleinen Warnhinweise auf dem Beipackzettel einer Packung Mega-Lax, Goldors beliebtesten Abführmittels, in zwanzig Meilen Entfernung lesen können. Wer die Nebenwirkungen von Mega-Lax kannte, weiß, wie klein die Warnhinweise geschrieben waren. Um es anders auszudrücken, wer den Text lesen konnte, benötigte Mega-Lax nicht mehr.
»Sie stehen rum.«
Thonfilas Antwort war ebenso präzise wie nutzlos. Doch was sollte er anderes sagen. Die Orks standen in der Tat einfach nur rum.
»Gut!«, knurrte Uskav zufrieden, »Ihre Heerführer sind verunsichert. Sie fragen sich, was schief gegangen ist. Sie fragen sich, warum unsere Drachen die Orks angreifen konnten, wo sie doch solch eine besondere Züchtung sind. Was sie jetzt besonders quält, ist die Frage, warum wir kein Drachenfeuer eingesetzt haben. Können wir es etwa nicht? Oder wollten wir es etwa nicht?«
Uskav starrte auf eine vor ihm ausgebreitete Umgebungskarte, auf der aus magischer Energie geformte Marker schwebten, die die Positionen des Gegners und die eigenen Kräfte in unterschiedlichen Farben anzeigten.
»Wir greifen erneut an!«, entschied Uskav, »Ich will unserem Gegner keine Zeit lassen, seine Situation genau zu analysieren. Drachenstaffel 7 soll mit ihrem Angriff beginnen und für Verwirrung sorgen. Aber sie sollen aufpassen. Beim ersten mal haben wir sie noch überrumpeln können. Das wird dieses mal anders sein. Achtet auf Jagdlanzen und Drachentöterspeere.«
Staffel 7 hatte Uskav in den südlichen Bergen am anderen Ende des Tals postiert. Sie befand sich quasi mitten zwischen den Feinden. Es war eine kleine Truppe, die in erster Linie für Verwirrung sorgen sollte, was sie dann auch tat. Der Schaden, den Staffel 7 dann auch verursachte, war kaum der Rede wert. Ein paar hundert Orks wurde zu Orkfleischwürfeln verarbeitet, was man bestenfalls als Nadelstich bezeichnen konnte. Dafür war der Preis auf der Daelbarschen Seite dieses mal höher, als beim ersten Angriff. Einer der Drachen wurde von einer Jagdlanze getroffen. Einer jener Lanzen, die die Drachen durch unerträgliche Schmerzen lähmte. Drache und Reiter konnten sich gerade noch hinter die Stadtmauer retten, doch am weiteren Kampf konnten sie nicht mehr teilnehmen. Dieser Ausfall war sehr schmerzhaft, einfach, weil es im Verhältnis zur gigantischen Größe des Orksheeres viel zu wenige Drachen gab. Uskav musste sein ganzes Geschick als Taktiker und Stratege einsetzen, um dieses Missverhältnis zu kompensieren. Doch eigentlich war es nicht zu kompensieren. Ohne Drachenfeuer konnte das Orkheer Daelbar einfach überrennen. Dass es es bisher nicht tat, lag ausschließlich an der Unsicherheit seiner Anführer, die sich die Köpfe darüber zerbrachen, was Uskav wohl plante und über welche Mittel er noch verfügte.
Uskavs und damit auch Daelbars Problem lautete »Zeit«. Die schlausten Köpfe der Drachenreiterschule hatten Uskav zwar mehrfach versichert, dass die Drachen ihr Feuer wiedererlangen würden. Doch bisher sah es nicht so aus, als wenn die Echsen alsbald ihre Zündfähigkeit zurückerlangen würden. So sehr sich die Drachen auch anstrengten, halbwegs passable Flammen zu zünden, so sehr endete jeder Versuch in Rußwölkchen und Hustenanfällen. Die magischen Echsen waren überaus frustriert.
»Und was machen wir jetzt?«
Die Frage galt Uskav und kam von Thonfilas, der neben ihm im Beobachtungsturm des Stadttores stand. Beide Männer schauten sorgenvoll über das drohende Orkheer, das wie eine dunkle Flut die gesamte Talebene ausfüllte. Uskav antwortete nicht sofort, sondern beobachtete das Heer etwas genauer. In die dunkle Masse kam Bewegung. Thonfilas Frage wurde vom Feind beantwortet. Das Heer begann vor zu rücken.
»Es geht los!«, meinte Uskav leise und schaute Thonfilas traurig in die Augen, »Diese Orks kennen keine Gnade. Sie kennen nur eins, töten. Wir müssen uns verteidigen und versuchen die Stellung so lange wie möglich zu halten. Bedauerlicherweise ist unser Gegner alles andere als dumm. Wir müssen ihn beschäftigen und davon abhalten sich zu fragen, warum die Echsen kein Feuer spucken.«
Uskav griff zum Kommandogeber, mit dem er seinen Streitkräften Anweisungen geben konnte: »Ladet die Katapulte mit Felsbrocken. Die Bogenschützen sollen sich ebenfalls bereit halten.«
Hinter der Stadtmauer wurden reihenweise schwere Katapulte mit großen Felsbrocken beladen und gespannt. Jeder Daelbarianer, der nicht mit anderen Dingen beschäftigt war, hielt entweder einen Bogen in der Hand oder eine Armbrust im Anschlag. So ausgestattet hockte man auf der Stadtmauer und wartete auf den unvermeidlichen Angriff der Orks, obwohl jeder wusste, dass man ihnen eigentlich hoffnungslos unterlegen war.
Zeit! — Alles hing davon ab, den Drachen möglichst viel Zeit zu geben, sich an das Gegenmittel zu gewöhnen — Zeit!
Das Orkheer rückte näher. Uskav wagte einen Blick durch sein Fernglas. Die Orks wirkten nicht nur wild entschlossen, sie wirkten verbissen, lechzten nach einem Kampf. Tod funkelte in ihren Augen. Diese Orks waren aus dem einzigen Grund gezüchtet worden, Daelbar zu vernichten. Keine Gnade, kein Erbarmen, keine Aufgabe. Man konnte diesen Orks Arme und Beine abschlagen, sie würden verbissen weiter kämpfen. So lange auch nur ein Funke Leben in ihnen steckte, würden sie ihr Ziel verfolgen, alles Leben in Daelbar zu vernichten. Uskav wusste, was das bedeutete. Im Falle einer Niederlage Daelbars würde es keine Gefangenen geben, sondern nur abgenagte Knochen.
»Achtung!«, Uskav hob sein Schwert als Signal, dass der Feind sich der Schussreichweite der Katapulte näherte, »Feuer!«
Sperr- und Sicherungsriegel wurden entkoppelt, Gegengewichte sausten der magisch verstärkten Schwerkraft entgegen, Felsbrocken trotzten selbiger für den kurzen Moment ihres Parabelfluges. Die ersten Geschosse sausten über die Stadtmauer hinweg und stürzten auf die heranstürmenden Orks nieder. Reihenweise zermalmte das Gestein dunkles Fleisch und Knochen. Doch wer hoffte, dadurch den Kampfeswillen der Orks brechen zu können, irrte. Ganz im Gegenteil, diese Orks dachten gar nicht daran in Panik zu verfallen geschweige denn, die Flucht einzuschlagen; statt dessen wurden sie rasend und begannen wild »Tod!« zu brüllen.
»Bogenschützen, Feuer!«
Diejenigen Orks, die von den Felsbrocken verfehlt wurden, bedeckte Uskav mit einem wahren Pfeilhagel, was ihren Angriffswillen aber auch nicht wirklich schmälerte. Diese Orks waren zäh und vor allem auf Selbstaufopferung programmiert. Erschlagen oder erschossen zu werden, war für sie etwas ganz normales. Sie nahmen es hin, wie andere Leute einen Schnupfen hinnahmen.
Trotzdem zeigten Uskavs Verteidigungsmaßnahmen Wirkung, was primär der Masse der Pfeile und Felsbrocken geschuldet war. Kaum ein Ork kam der Stadtmauer näher als fünfzig Meter. Zufrieden stellte Uskav fest, dass sein Konzept vorerst fruchtete. Allerdings war ihm genau so klar, dass er das Unvermeidliche nur herauszögerte. Denn, wie lange konnten die Bogenschützen durchhalten, bevor sie zu müde waren, um weiter zu feuern? Wie lange konnten die Katapulte beladen und abgefeuert werden, bevor die Munition erschöpft war?
Daelbar musste einsehen, dass sie auf einen Kampf, Mann gegen Ork, nicht vorbereitet, geschweige denn ihm gewachsen, war. Nur Uskavs strategischem und taktischem Wissen war es zu verdanken, dass die Stadt noch nicht überrannt war. Zwar hatte man den Tag genutzt, um so viele Pfeile wie irgend möglich anzufertigen, auch wurden massenweise Felsbrocken herangeschafft, die als Munition für die Katapulte dienen sollten, doch wie lange würden sie reichen? Selbst wenn die Schützen durchhalten würden, was wenig wahrscheinlich war, irgendwann würde ihnen Pfeile und Geschosse ausgehen. Und dann? Uskav hatte einen Plan.
»Drachenstaffel 1 und 2«, gab Uskav seinen nächsten Befehl.
Eine Hand voll kleiner und ausgesprochen wendiger Jagddrachen, angeführt von Xunrina, sorgte hinter der Frontlinie und außerhalb der Reichweite der daelbarischen Waffen für Verwirrung. Immer wieder stießen sie aus großer Höhe blitzartig herab, pflügten durch die Reihen der Orks und schnellten sofort wieder empor.
Uskavs Strategie zeigte Wirkung, der Druck des Orkheeres ließ spürbar nach. Es war tatsächlich gelungen den Vorwärtstrieb des Heeres zu stoppen, jedenfalls für den Moment. Der Grund war ebenso banal wie grauenvoll. Gut zweihundert Meter vor der Stadtmauer türmten sich ganze Berge von Orkleichen auf. Die Wirkung der Bogenschützen und Katapulte ging mehr und mehr ins Leere, denn die nachströmenden Orks nutzen die Leichen ihrer Brüder als Deckung. Andererseits hatte der Gegner mit dem Problem zu kämpfen, dass der Leichenwall erst überwunden werden musste, um gegen die Stadtmauer anrennen zu können.
»Wechselt auf die Fässer!«, rief Uskav den Männern und Frauen an den Katapulten zu.
Statt die Schleudern mit Felsbrocken zu beladen, wechselte man nun auf Holzfässer, die von der alchemistischen Fakultät der Drachenreiterhochschule bereitgestellt wurden. Die Fässer als solche verursachten wenig Schaden. Sie zerschellten und verbreiteten eine klare Flüssigkeit. Nach und nach wurde der ganze Leichenwall mit ihr durchtränkt.
»Brandpfeile! Steckt die Orkleichen in Brand!«
Was folgte, war ein Inferno. Die Bogenschützen wechselten zu brennenden Pfeilen, mit denen sie auf die Orkleichen zielten. Kaum hatte ein Pfeil sein Ziel erreicht, schlugen die Flammen der Pfeile auf die hochentzündliche Flüssigkeit über, die in den Fässern enthalten war. Innerhalb kürzester Zeit stand der ganze Leichenwall in Flammen. Wie eine zweite Stadtmauer verlief eine brennende Linie von einer Seite des Tals zur anderen.
Uskav schaute auf das Schlachtfeld hinaus. Für eine Weile war Daelbar vor Angriffen sicher. Ein unüberwindlicher Feuerwall aus brennenden Orkkadavern schützte die Stadt. Rauchschwaden, die in den Augen brannten und beißend stanken, waberten über die Lande. Als Thonfilas zu Uskav schaute, entdeckte er, wie dem Uruk eine Träne die Wange hinunter lief. Es schien, als wenn Uskav Rauch in die Augen geraten war, doch Thonfilas war sich da nicht so sicher. Er kannte seinen Freund und ahnte, dass ihm das sinnlose Abschlachten stärker bewegte, als er sich anmerken ließ.
Uskav kochte vor Wut. Er hasste nicht die Orks, die Daelbar angriffen. Sie hatten keine Wahl. Sie waren für diesen Zweck gezüchtet worden und würden ihre Aufgabe erbarmungslos umsetzten. Sie würden jeden Befehl ihrer Heerführer kritikfrei und erbarmungslos befolgen, egal, wie grausam oder gefählich für das eigene Leben er war. Uskav wusste, dass ihm ebenfalls keine Wahl blieb. Er musste die Orks aufhalten, mit allen Mitteln. Genau das war es, was er hasste, dass man ihn dazu zwang, die Orks zu töten, abzuschlachten. Wie gesagt, die Orks mochten keine Wahl haben, ihre Befehlshaber schon. Und so tat Uskav, was er am besten konnte, Schlachtstrategien entwickeln und Taktiken umsetzen, um seine Stadt, seine neue Heimat zu retten.
Und so ging auch die zweite Runde an Daelbar. Was noch lange nicht hieß, dass der Kampf sich seinem Ende näherte. Das Feuer gewährte Daelbar eine kurze Pause, mehr nicht als ein Wimpernschlag, denn der nächste Angriff kam bestimmt und wenn er kam, dann um so härter, brutaler und erbarmungsloser als die vorigen. Uskav hatte den Gegner zwei mal vorgeführt, ein drittes mal würde der Feind nicht zulassen.
Scanner
»Schützen und Dienen«
Leitmotto der Metropolizei Tharbads
»Und unser Treffen ist wann?«
Es sah nicht nur nach einem Lagerhaus aus, es war auch ein Lagerhaus, und das hing vielleicht damit zusammen, dass es, wenn es nicht gerade als Drachenreiterunterschlupf diente, Palle Gustavsons Lagerhaus war. Zwischen seinen hohen Regalreihen, die mit allerlei Kisten und Paletten gut gefüllt waren, hockten drei Drachen, ein riesiger tief schwarzer und zwei kleinere, die auch etwas jünger wirkten, obwohl dies bei Drachen immer schwer zu schätzen war. Die Echsen bildeten einen Kreis, in dessen Mitte zwei Menschen, ein Elb und ein grauer Wolf hockten. Die Menschen und der Elb hatten sich an die Flanken der Drachen gelehnt, die sie wohlwollend stützten. Die Frage, die von Gilfea, einem der beiden Menschen, gestellt wurde, galt Anger, einem jungen Neovikinger.
»Heute Abend um 8 Uhr am Rathausplatz. Mein Kontakt ist ein vorsichtiger Mann. In seinem Beruf ist man entweder vorsichtig oder ziemlich schnell ziemlich tot. Wenn er dich für sauber hält, wird er mit uns Kontakt aufnehmen.«
Gildofal, Anger, Gilfea, der Wolf Schiefergrau und die drei Drachen hielten sich nun mehr seit zwei Tagen in Tharbad auf. Das Schnellboot, das Suman als Gefangener Goldors zum Barad Baul bringen sollte, war immer noch nicht eingetroffen. Anger war sich allerdings sehr sicher, dass dies nur noch eine Frage der Zeit war. Er meinte, er hätte seine Quellen. Die könne man zwar nicht direkt auf Suman ansprechen, es sei denn man wollte sich selbst verraten, doch gab es genug Anzeichen, dass sich die Sicherheitskräfte des Kerkers auf etwas Großes vorbereiteten.
Eine drückend traurige Stimmung hing in der Luft. Am Morgen des vorherigen Tages waren Gilfea und Gildofal gleichzeitig erwacht und sofort zu ihren Drachen gelaufen. Mithval, die große, ehrwürdige Mithrilechse, hockte wach und von Tingalen und Eargilin gesäumt, in der Lagerhalle.
»Ist es wahr, was ich gefühlt habe?«, fragte Gilfea mit Tränen in den Augen.
»Ja, meine Seele, es ist wahr!«, verkündete Mithval mit ernster und erhabener Stimme, »Toldin und Turondur haben unsere Welt verlassen. Doch tröstet euch. Weder war ihr Opfer vergebens, noch starben sie durch die Hand eines Feindes!«
»Ich weiß, doch schmerzt der Verlust …«
In dieser Stimmung verbrachten Gilfea und Gildofal ihren Tag, während Anger wenig zu sehen und damit beschäftigt war, ein paar Kontakte zu reaktivieren, was schließlich zu jener Verabredung mit dem besagten Profiproblemlöser führte.
»Hatte ich schon erwähnt, dass mir der Gedanke nicht gefällt, dass ihr euch ohne Schutz in die Hände eines Mannes begebt, den wir nicht kennen?«
Die Sorgenfalten auf Gildofals Stirn ließen den jungen Drachenreiter unelbisch alt erscheinen. Es war offenkundig, dass er sich ernsthafte Gedanken machte. Gilfea erhob sich von seinem Platz, ging zu Gildofal und nahm das Gesicht seines Freundes und Geliebten in seine Hände.
»Mir gefällt die Idee auch nicht, doch wenn dieser Typ Mittel und Wege kennt, Suman zu befreien, bin ich bereit das Risiko einzugehen.«
Gildofal seufzte. Er kannte seinen Freund und Liebhaber gut genug, um zu wissen, dass sich Gilfea selten bis gar nicht umstimmen ließ. Hatte dieser erst einmal eine Entscheidung gefällt, blieb er dabei. Was nicht hieß, dass er sie blind und ohne sie zu hinterfragen, unabänderlich verfolgte. Der Punkt war eher, dass er Entscheidungen traf und sie nicht endlos hinaus zögerte, auch wenn dies hieß, ein Risiko eingehen zu müssen. Und er hatte Recht. Sie, Gildofal, Gilfea, Anger, der Wolf und die Drachen, besaßen weder das Wissen noch die Mittel eine Befreiungsaktion zu planen oder gar durchzuführen. Sie waren auf fremde Hilfe angewiesen. Jemanden unbekannten damit zu beauftragen war ein Risiko. Doch trotzdem …
»Anger und ich werden gehen«, verkündete Gilfea.
Die Entscheidung war gefallen. Die drei Freunde, Anger zählte inzwischen mehr oder weniger dazu, begannen sich vorzubereiten. Der junge Neovikinger kümmerte sich um Essen für Mensch und Elb sowie Futter für Drachen und Wolf. Gildofal kümmerte sich um die Echsen, sprach insbesondere mit Tingalen, die unter der Trennung von Suman, ihrer Seele, sehr litt. Anger hatte sich zwar mit der eleganten Jagddrachendame angefreundet, doch war er eben nur ein Freund und keine Seele. Gilfea, als letzter der drei, wanderte mit Schiefergrau durch die Regalreihen des Lagerhauses. Obwohl kein akustisches Wort zwischen den beiden fiel, sah es so aus, als wenn sich Mensch und Wolf miteinander unterhielten.
Fünf Stunden später war es dann so weit. Gilfea und Anger brachen auf, um sich mit dem Problemlöserprofi zu treffen. Ein Kleintransporter, der vor dem hinteren Tor der Lagerhalle bereit stand, diente ihnen als Fahrzeug. Mit ihm erregte man im Freihafen die wenigste Aufmerksamkeit. Auf dem Gelände wimmelte es nur so von Lastengleitern, Kleintransportern und Sattelschleppern. Mit traumwandlerischer Sicherheit manövrierte Anger das Fahrzeug zwischen Schuppen, Lagerhäusern, Containerbergen und anderen Verkehrsteilnehmern umher.
»In den Schulferien jobbe ich hier für meinen Vater. Dann bin ich sowas wie ein Mädchen für alles«, erläuterte Anger, der Gilfeas angespannte Gesichtszüge entdeckt hatte. Verschiedene Schwerlastfahrzeuge, schwebende Container und Gabelstapler kreuzten wenige Dezimeter vor, hinter und neben ihnen den Weg. Anger folgte stur und ohne zu bremsen seinem Weg.
»Äh, ja …«, japste Gilfea, der sein bisheriges Leben vor seinem inneren Auge vorbeiziehen sah.
»Entspann dich!«, grinste Anger.
Gilfea musste zugeben, dass der junge Neovikinger sein Handwerk wirklich beherrschte und ein begnadeter Fahrer war. Im Gegensatz zu Gilfeas innerer Erwartung, kollidierten sie mit keinem einzigen der tonnenschweren Fahrzeuge. Doch als er gerade dabei war, sich ein wenig zu entspannen und an Angers beherzten Fahrstil zu gewöhnen, jagte ihm das nächste Problem einen neuen Adrenalinschub durch die Blutbahn. Die Grenze zwischen Freihafen und Stadtgebiet wurde von einem riesigen Zaun mit Fence-O-Matic Überwachungssystemen markiert. Der einziger Durchlass bestand aus einer großen Zollstation, die mit massenweise bewaffneten Zöllnern und Grenzschützern besetzt war.
»Ähm …«, begann Gilfea, »Dir ist schon klar, dass man mich in Goldor nicht unbedingt als einen Freund betrachtet?«
Anger lächelte: »Entspann dich!«
Der Neovikinger griff in die Brusttasche seiner Jacke, zückte eine Karte und reichte sie Gilfea. Zu dessen großer Überraschung zeigte die Karte sein Bild, trug aber den Namen Rasmus Sangström und wies diesen als Mitarbeiter der Im- und Exportfirma Vikingexpress aus.
»Rasmus?«
»Ein guter Name für einen Neovikinger!«, lachte Anger, »Gefällt er dir nicht?«
»Doch! Nichts gegen einzuwenden!«
Obwohl Gilfea schmunzeln musste, nervös war er trotzdem. Seine Nervosität nahm sogar mit jedem Meter, dem sie der Kontrolle näher kamen, zu. Als ein Zöllner schließlich ihre Papiere prüfte, hämmerte Gilfeas Herz wie ein Presslufthammer. Doch auch dieses mal passierte rein gar nichts. Eher gelangweilt gab der Staatsdiener die Ausweise zurück und winkte sie durch.
»Mein Vater bezahlt viel zu viel Schmiergeld, als dass man uns kontrollieren würde.«
Anger blinzelte Gilfea frech grinsend an und fädelte den Transporter in den zäh fließenden Verkehr ein.
Dass der Verkehr nur zäh dahin kroch, war wichtig. Zwar nicht für Gilfea und Anger, dafür aber einen ihrer Freunde. Der permanente Stau erlaubte es Schiefergrau, dem Transporter heimlich und unauffällig zu folgen. Der Wolf nahm ihre Witterung auf und heftete sich an ihre Fersen. Gilfeas und Angers Geruch zog sich wie eine Schnur durch die Gassen und Straßen. Seine Aufgabe entpuppte sich als leichter, als er vermutet hatte. Niemand schien sich an einem umherstreunenden großen Wolfshund zu stören, geschweige denn, ihn zu bemerken. Vielmehr musste Schiefergrau mehrfach zur Seite springen, um nicht von einem heranbrausenden Wagen angefahren zu werden. Seine größte Schwierigkeit bestand darin, das Freihafengelände zu verlassen. Schiefergrau musste drei Fahrzeuge abwarten, bevor er Anger und Gilfea folgen konnte. Erst der vierte Wagen besaß eine Ladefläche, auf er sich unter einer Plane verkriechen konnte.
Eine dreiviertel Stunde nach dem Aufbruch vom Lagerhaus erreichte Anger einen Parkplatz in der Nähe des Rathausplatzes. Die letzten Meter mussten Gilfea und er zu Fuß zurücklegen, was nochmals Schiefergraus ganze Aufmerksamkeit erforderte. Im Umkreis des Rathauses herrschte ein Gedränge und Gewusel, wie weder Gilfea noch Schiefergrau es je zuvor erlebt hatten. Gilfea war in einem Dorf aufgewachsen. Bereits das parkähnliche Daelbar, sein neues Zuhause, kam ihn dagegen hektisch und sehr belebt vor. Doch Tharbad sprengte jeden Rahmen. Noch nie hatte er erlebt, in einer Gasse den Mitmenschen auf Tuchfühlung nahe zu sein. Es war ein Schieben und Zerren, wie er es sich nie hätte vorstellen können. Wenn man Glück hatte, konnte man mit dem Strom schwimmen. Musste man hingegen in eine andere Richtung als die Masse, blieb einen nichts anderes übrig, als sich seinen Weg zu erkämpfen, was jeder Tharbadianer nach Herzenslust und unten permanentem Fluchen offenbar auch tat.
Anger und Gilfea hatten Glück. Die Massen drifteten in Richtung Rathausplatz. Dort angekommen verdünnte sich der Strom ein wenig, so dass man etwas freier atmen konnte. Überhaupt, die Luft. Gilfea verfluchte Tharbad. Diese Stadt war dreckig, gerade zu siffig, grau und trübe. Von überall krochen üble Gerüche hervor und quälten seine Nase. Zuweilen stank es einfach widerlich. Doch was für Gilfea nur widerlich war, entfaltete für Schiefergrau fast dramatische Qualitäten. Seine feine Hundenase wurde von den Gerüchen regelrecht überflutet. Sie waren so stark, dass sie dem Wolf im ersten Moment die Sinne raubten. Nur sehr langsam begann sich Schiefergrau an die Vielzahl und Stärke des Duftteppichs, denn so dicht und schwer lagen die Gerüche auf der Stadt, zu gewöhnen.
Schiefergrau stellte überrascht fest, dass er sich besser orientieren konnte, wenn er seine Augen schloss und nur mit seiner Nase sah. Wie feine farbige Bändchen oder Fäden zogen sich die Gerüche durch Straßen, Gassen und Plätze. Eine frische Spur erschien als stark leuchtende Linie, während ältere nur noch als ein faseriger, breiter und dunstiger Schimmer zu erahnen waren. Gilfeas und Angers Spur war hell und klar zu sehen.
»Wir sind da. Jetzt heißt es warten.«
Anger stoppte. Sie hatten eine von hohen Häusern beschattete Ecke des Rathausplatzes erreicht. Hier herrschte etwas weniger Gedränge, so dass man nicht permanent gegen den Strom ankämpfen musste. Anger und Gilfea drückten sich dicht an den dicken Mast eines der riesigen Kandelaber, mit denen der Platz abends beleuchtet wurde.
Sekunden später hatte Schiefergrau den Rathausplatz ebenfalls erreicht und Gilfea ausgemacht. Der Wolf schlängelte sich geduckt und unauffällig an seinen Freund heran, versteckte sich dann aber in einer dunklen, engen Häusernische. Gilfea hatte ihn gebeten das Treffen zu beobachten, ohne dabei von Anger oder ihrem Kontakt entdeckt zu werden. Er war eine zusätzliche Sicherungsoption, die sich Gilfea überlegt hatte. Im Prinzip vertraute er Anger, nur wusste er nicht, ob er Angers Urteil über ihren Kontakt trauen konnte. Sollte etwas schief gehen, konnte Schiefergrau Gildofal davon berichten. Schließlich war sein Freund ein Werwolf und konnte sich mit den Wölfen des Gebirges unterhalten.
»Hallo Anger!«
Wie aus dem Nichts war neben Anger ein Hüne von einem Neovikinger aufgetaucht. Obwohl Gilfea ihn vorher noch nie persönlich gesehen hatte, erkannte er Ole Olson sofort. Sumans und Segatos Beschreibung des Meuchelmörders waren recht plastisch und überaus präzise gewesen, nur, dass sie deutlich untertrieben hatten, was Olsons attraktives Äußeres betraf. Der Typ sah wirklich gut aus. Er hätte sogar noch viel besser gewirkt, hätte neben ihm nicht ein Typ von fast überirdischer Schönheit gestanden.
Gilfea stutzte. Die unbekannte Person neben Olson kam ihm vertraut vor. Er hatte das Gefühl, sie kennen zu müssen, kam aber auf Teufel komm raus nicht dahinter, woher.
»Gilfea«, meinte die unbekannte Person fröhlich, »Gut dass ich dich gefunden habe. Ich vermute, Gildofal, Suman und die Echsen sind ebenfalls in Tharbad?«
Gilfea stockte der Atem. Er war sehenden Auges in die Falle gelaufen. Ein Meuchelmörder und ein unbekannter Typ, der seinen Namen kannte und von Gildofal wusste? Das konnte nur eine Falle sein.
»Wer bist du?«
Der Unbekannte setzte kurz eine gespielt enttäuschte Mine auf, um dann zu breit zu grinsen, wobei er zwei Reihen schneeweißer Zähne entblößte. Dieses Grinsen war überirdisch. Gilfea ertappte sich bei ausgesprochen unzüchtigen und, in Anbetracht der Situation, mehr als unangebrachten Gedanken.
»Oh, jetzt enttäuscht du mich aber. Hab’ ich mich so verändert?«, der Typ betrachtete seine Hände und seinen Arm, als wenn er selbst nicht sicher war, ob es seine Hände und Arme waren, »Hm, vermutlich hab’ ich das …«
Gilfea verfluchte sich. Er hatte alle möglichen Szenarien durchgespielt, wie das Treffen ablaufen konnte. Auf einen extrem attraktiven Typen zu stoßen, der sich in kryptischen Anspielungen erging, gehörte nicht dazu. Wie sollte er reagieren? Was sollte er tun?
Der unbekannte Typ kam auf Gilfea zu: »Ich bin es, Ivo. Ich kann eine menschliche Form annehmen. Ihr zwei solltet mit uns kommen. Dein Freund wird sich freuen, dich wiederzusehen.«
»Ivo?«, Gilfea wechselt instinktiv auf mentale Kommunikation, obwohl ihn Ivos Offenbarung etwas unvorbereitet traf, »Wow, ich hätte dich wirklich nicht wiedererkannt. Mithval wird sich wundern.«
»Stimmt, mein großer Bruder kennt mich so auch noch nicht. Ich hoffe, ihm geht es gut?«
»Ich will eure Wiedersehensfeier ja nicht stören«, unterbrach Ole die wortlose Unterhaltung, »aber dies ist weder der passende Ort, noch der geeignete Zeitpunkt. Falls euch Zweien das nicht klar sein sollte, wir befinden uns mitten in einer eher feindlich gesonnenen Zone.«
Ole Olsons Einwand war mehr als berechtigt.
»Shit! Wenn man vom Teufel spricht!«, Ole deutete diskret auf den Rathausplatz, »Geheimpolizei! Wir müssen hier sofort weg!«
Es war nicht sonderlich schwer, die Geheimpolizisten Goldors zu erkennen. Es reichte völlig aus, zu beobachten, wo sich eine Lichtung innerhalb der Menschenmenge bildete. Diejenigen, die innerhalb dieser Lichtung standen, waren mit absoluter Sicherheit Mitglieder der geheimen Reichspolizei des Königs — oder Schlimmeres.
»Kommt!«
Mit traumwandlerischer Sicherheit führte Ole Olson seinen kleinen Trupp aus der Gefahrenzone. Die Geheimpolizisten waren sicherlich gut, nur, der Neovikinger war es ebenfalls. Aus sicherer Distanz konnte Gilfea beobachten, wie die Spione des Königs die Stelle am Kandelaber erreichten und sich intensiv und forschend umschauten. Suchten sie etwa nach ihnen? Wussten sie von ihm und Gildofal? Vielleicht sogar von den Drachen?
»Das gefällt mir nicht«, Ole beschleunigte seinen Schritt, »Die Stadt wimmelt nur so vor Spionen, Agenten und Polizisten. Schnell, folgt mir, dort vorne steht mein Transporter.«
»Was ist mit Gildofal und den Drachen?«
»Wo sind sie?«
»In Papas Lagerhaus«, erläuterte Anger.
Ole kratzte sich am Kinn und überlegte: »Im Freihafen also. Wie groß sind die beiden Echsen? Könntest du sie rausholen und zusammen mit eurem anderen Freund, Gildofal, nach … Na ja, du weißt, wo ich mich aufhalte.«
Anger schüttelte verneinend seinen Kopf: »Ich weiß ja nicht, was für Drachen du so kennst, aber unsere drei … Ich will es mal anders ausdrücken. Ein Transporter reicht nicht. Allein Mithval füllte den halben Laderaum von Fredericks Kahn aus.«
Ungläubig hab Ole seine Augenbrauen: »Den halben Laderaum? Das Vieh müsste … Wow, das ist groß.«
»Hey, du redest von Mithval, meinem Drachen, und nicht von einem Vieh!«, fühlte sich Gilfea genötigt, die Ehre seines und eigentlich aller Drachen zu verteidigen.
Der große Neovikinger grinste breit: »Oh, glaub mir, das sind Viecher! Ich sitze neuerdings selbst mit einem an!«
Nach diesem Geständnis schloss sich Gilfea Oles Grinsen an: »Nu ja, Mithval ist ein verdammt großes Vieh!«
»Hey, ihr redet von meinem Bruder!«, knurrte Ivo empört, überlegte es sich dann aber anders, »Eigentlich habt ihr recht, er ist ein verdammt großes Vieh!«
Ole Olson stoppte und deutete den anderen an, ebenfalls zu stoppen. Der Neovikinger spähte, schob Anger, Gilfea und Ivo in eine schattige Häusernische: »Wartet hier! Ich bin gleich zurück.«
Sprach’s und verschwand. Dicht zusammengekauert verharrten die Zurückgelassenen in schützender Dunkelheit und warteten auf Oles Rückkehr. Mit Schrecken mussten sie zusehen, wie sich zwei Geheimpolizisten in Ihre Richtung bewegten. Es sah zwar nicht so aus, als wenn sie sie bereits entdeckt hätten. Doch schien dies nur eine Frage der Zeit zu sein. Einer der Agenten hielt einen kleinen Kasten in der Hand, dessen Vorderseite einen fahl grünen Schimmer aussandte. Gilfea hatte während seiner Zeit in der Drachenreiterschule genug gelernt, um einen Scann-O-Matic-Magihandscanner zu erkennen, wenn er ihn sah. Wenn er sich richtig erinnerte, befand sich im Inneren des Kastens ein mit einer schwachen Portion dämonischer Magie aufgeladener Kristall. Mit einem System aus alchemistisch veredelten Spiegeln und Linsen wurde ein Magiestrahl erzeugt, der auf alles projiziert werden konnte, was man untersuchen wollte. Traf der Strahl auf etwas magisches, leuchtete das betroffene Objekt hell auf. Die Farbe gab dabei Aufschluss über die Art der Magie. So simpel die Scann-O-Matic konstruiert war, so effektiv war sie auch. Ihr einziger Nachteil bestand darin, regelmäßig mit dem Blut geschlechtsreifer Jungfrauen gefüttert werden zu müssen, was in einer Stadt wie Tharbad ein echtes Problem darstellte.
Die Geheimagenten kamen immer näher und mit ihnen auch der Scanstrahl. Gilfea wusste nur zu gut, dass die Scann-O-Matic bei ihnen mehr als deutlich aufleuchten würde. Er selbst war ein Drachenreiter und damit zumindest teilmagisch. Ivo hingegen … Sobald der Strahl ihn träfe, würden Sonnenbrillenverkäufer das Geschäft ihres Lebens machen. Der Einzige, bei dem das Gerät nicht reagieren würde, war Anger.
Gilfea glaubte schon, erledigt zu sein, als der Geheimpolizist mit dem Scanner von etwas am Kopf getroffen wurde. Erschrocken wirbelte er sofort herum und mit ihm auch der Scanstrahl, der damit voll in die Menschenmasse leuchtete.
»Was …?«, dachte Gilfea verdattert, als er mehrere Passanten dunkelrot aufleuchten sah, als der Strahl sie traf. Weiter kam der Drachenreiter nicht. Wie aus dem Nichts packten zwei Hände Anger und ihn und rissen sie mit. Ivo folgte von sich aus.
»Wo steht euer Transporter?«, zischte Ole Olson.
»Was ist mit deinem?«, fragte Anger.
»Der scheint identifiziert worden zu sein. Auf dem Parkplatz wimmelt es vor Agenten. Wenn wir auch nur in seine Nähe kommen, sind wir erledigt!«
»Hier lang!«
Das Gewusel auf dem Rathausplatz Tharbads war Fluch und Segen zugleich. Einerseits hinderte es Ole, Gilfea, Anger und Ivoricalad zügig voran zu kommen. Die Massen auf dem Platz drängten in eine andere Richtung, entgegen der, in der Angers Transporter stand. Andererseits sah sich die Geheimpolizei mit dem gleichem Problem konfrontiert. Ole war zwar nicht ganz klar, was der Geheimdienst eigentlich suchte, doch konnte er sich seinen Teil denken. Die Observation seines Fahrzeuges ließ einige Spekulationen zu, eine unerfreulicher als die andere. Damit drängte sich eine andere Frage auf: War das Lagerhaus noch sicher? Segato, Erogal, die Zwillinge und nicht zuletzt der kleine zugelaufene Aushilfsmörder Sebastian setzten darauf. Ole ging vorerst davon aus, dass seine Zuflucht noch sicher war. Außerdem stand Ivo mit Segato in mentaler Verbindung und hätte ungewöhnliche Situationen sofort gemeldet.
»Links … Nein, wartet, halb Rechts!«
Der Rathausplatz wimmelte vor Agenten. An allen Zu- und Abflüssen waren sie postiert und beobachteten die an ihnen vorbeiströmenden Massen mit Scann-O-Matic Scannern. Allerdings herrschte ein so großes Gewusel und Gewimmel, dass es für die Geheimpolizei unmöglich war, jeden Passanten zu scannen. Mit einer gut getimeten kleinen Ablenkung sollte es möglich sein, unentdeckt dem Netz zu entschlüpfen.
Eine Ablenkung? Ole kramte in den geheimen Taschen seines Mantels, wurde fündig und beförderte ein Magiepatch, einen kleinen Aufkleber, hervor. Von der Größe eines Heftpflasters stellte dieses Teil im Prinzip etwas völlig harm- und witzloses dar. Seine einzige Wirkung bestand darin, sofort mit demjenigen zu verschmelzen, dem man es angeheftete. Als Resultat passierte dem Träger nichts, einzig der Strahl einer Scann-O-Matic träfe einen. Dann allerdings leuchtete man, je nach Typ des Patches, im Scanstrahl golden, grün, blau oder dunkelrot auf. Die Wirkung war zeitlich begrenzt und verflüchtigte sich nach etwa vier Stunden.
Die kleine Gruppe unter Oles und Angers Führung hielt weiter auf eine der Ausgangsstraßen zu, bis sie sich ihr auf wenige Meter genähert hatten. Dort deutete Ole ihnen, kurz zu warten. Er selbst suchte sich ein geeignetes Opfer. Es musste jemand sein, den die Geheimpolizisten auf jeden Fall scannen würden. Da man nicht wusste, welche Kriterien die Agenten des Königs bei ihren Scans ansetzten, entschied Ole zu einem alten, aber sehr erfolgreichen Trick zu greifen. Wenn man sich auf etwas verlassen konnte, dann darauf, dass die Geheimpolizisten alle auffälligen Personen scannten, und sei es nur, dass sie eine Uniform trugen. Dies schien ein unterbewusster Reflex zu sein und an sich völlig unsinnig. Vielleicht lag es daran, dass Uniformträger einfach aus der Masse herausstachen.
Ole musste schmunzeln, direkt vor ihm schob sich eine Gruppe Matrosen in schneeweißen Ausgehuniformen durch die Massen. Selbst der allgegenwärtige Dreck Tharbads konnte ihrer Kleidung nichts anhaben. Matrosen waren in Tharbad kein seltener Anblick, schließlich beherbergte die Stadt den zweitgrößten Marinestützpunkt des Königreiches.
Mit der Geschicklichkeit eines Taschendiebes heftete Ole einem der Matrosen den Magieaufkleber an. Sofort entfernte er sich von der Gruppe und deutete Ivo und den anderen, sich bereit zu halten, während die Matrosen in Richtung Ausgang drifteten. Kaum hatten sie den Rand des Platzes erreicht, passierte genau das, worauf Ole gehofft und kalkuliert hatte. Ein Scanstrahl strich über die Gruppe der Matrosen einschließlich Pflasterträger, der spontan in einem goldgelben Licht aufflammte. Die Geheimpolizisten mochten sich mit Kriminellen, Spionen und anderen Staatsfeinden auskennen, doch mit den Angehörigen der königlichen Kriegsmarine offensichtlich nicht. Der Versuch, eine Personenkontrolle bei einer Gruppe von Matrosen auf Landgang durchzuführen, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Ganz im Gegenteil, die blauen Jungs in ihren weißen Uniformen hatten offensichtlich bereits ordentlich geistigen Getränken zugesprochen und waren entsprechend gut drauf. Und so kam es statt zu einer Personenkontrolle zu einer munteren Klopperei, bei der, natürlich, die Marine als klarer Sieger hervor ging.
Das Handgemenge war das Zeichen. So schnell wie möglich schoben sich Ivo, Ole, Anger und Gilfea dem Ausgang entgegen, um plötzlich zu stoppen. Wie aus dem Nichts tauchten an ihrem Ziel Massen weiterer Geheimpolizisten auf. Die Typen waren schlauer als Ole lieb war. Sie hatten seinen Trick durchschaut und waren von nun an doppelt wachsam.
»Das war wohl eher nichts«, kommentierte Ole das magere Ergebnis seiner Bemühungen, während er nach einem anderen Ausweg suchte. Doch egal in welcher Richtung er blickte, jeder Ausgang war nun mit Geheimpolizisten verstopft. Sie saßen in der Falle. Der Rathausplatz war nahezu quadratisch und von hohen Häuserzeilen gesäumt. Eine ganze Seite nahm das Rathaus ein. Zu- und Abflüsse gab es nur an den Ecken des Platzes. Hier führten enge Straßen zwischen den Häusern hindurch. Und genau diese Straßen waren nun diskret abgeriegelt.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Anger nervös.
»Personenkontrolle! Folgt mir!«
Steinbrenner
»Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen.«
Graffiti auf der Stadtmauer Daelbars, Urheber unbekannt
Es hätte helllichter Tag sein müssen, schließlich war es Mittag. Die Sonne hätte hoch am Himmel stehen müssen und tat es vermutlich auch. Nur reichten ihre Strahlen nicht bis zur Erde. Tiefhängende dunkle Wolken, ätzender Rauch und beißende Schwaden üblen Brodems verwandelten Tag in Nacht. Selbst die Fackeln, die sowohl von den Daelbarianern als auch dem Orkheer aufgestellt wurden, erreichten nur eine marginale Verminderung der vorherrschenden Dunkelheit.
Das Feuer der brennenden Orks begann langsam selbst zu sterben. Schweigend, mit bewegungsloser Mine schaute Uskav auf den Berg der verkohlten Orkkadaver. Der amtierende Präsident Daelbars stand seit Minuten auf der Stadtmauer. Thonfilas, der neben ihm stand, ließ sich von den versteinerten Gesichtszügen seines Freundes nicht täuschen. Uskav litt Seelenqualen. Gegen seine eigenen Brüder zu kämpfen, sie mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln daran zu hindern, Daelbar einzunehmen, war eine, wenn nicht sogar die schwerste Aufgabe, die er jemals zu bewältigen hatte.
»Es wird nicht mehr lange dauern«, begann Uskav nach Minuten des Schweigens zu sprechen, »Das Feuer ist am Erlöschen und wird das Heer nicht mehr lange aufhalten. Sag’ unseren Leuten, sie sollen sich bereit machen.«
Thonfilas nickte und gab den Befehl weiter.
»Wann?«
Diese eine Frage bestimmte Uskavs ganzes Denken. Waren waren die Drachen wieder einsatzbereit und in der Lage, Feuer zu spucken? Uskav brauchte nicht zu fragen, ob es bereits soweit war. Er kannte die Antwort auch so. Jeder in Daelbar kannte sie. Man konnte sie fühlen. Selten hatte man die edlen Echsen dermaßen niedergeschlagen erlebt, wie in diesen Stunden. Das Mittel gegen die veränderten Orks wirkte. Die Drachen konnten sich ihnen nähern, ohne dass sie von lähmender Übelkeit überwältigt wurden. Doch nützte dies nicht viel, so lange den Drachen ihr Feuer zur Verteidigung fehlte. Es würde wiederkommen, das hatten die Magier, Hexer, Alchemisten und Wissenschaftler der Drachenreiterschule versichert. Die Frage war nur, wann?
So wie sich die Situation entwickelte, bestand die Gefahr, dass die Drachen ihr Feuer zu spät zurück erlangten. Zwischen den Reihen des Orkheeres tat sich etwas. Die Heerführer des Gegners mochten davon ausgegangen sein, Daelbar im Handumdrehen einzunehmen und seine Bewohner zu erschlagen. Wider Erwarten zeigten zwei peinliche Niederlagen, dass Daelbar nicht Willens war, sich in sein Schicksal zu fügen. Aber die verlorenen Gefechte hießen noch lange nicht, dass die Schlacht, geschweige denn der Krieg, entschieden war. Die Obristen und Generäle des Orkheeres waren sicherlich arrogante, selbstgefällige, überhebliche und von sich und ihrem Können überzeugte Persönlichkeiten. Doch waren sie auch intelligent, beherrschten die Kriegskunst und durchaus lernfähig. Sollte sich Daelbar nicht mit der Brechstange bezwingen lassen, dann musste man eben zu subtileren oder weniger direkten Maßnahmen greifen.
Während das Feuer aus getöteten Orks noch brannte, wurden hinter den hintersten Reihen des großen Orkheeres große und schwere Belagerungstürme errichtet. Wie Aufklärer berichteten, handelte es sich um massive Türme, die aus zentimeterdicken Titanplatten zusammengesetzt wurden. Offenbar verfügte der Gegner über einen Alternativplan, sollten die drachenimmunisierten Orks und Uruks Daelbar nicht im ersten Ansturm überrennen. Eine ganz konventionelle Belagerung benötigte zwar mehr Zeit, zeigte am Ende aber meist doch das gewünschte Ergebnis. So sah es jedenfalls aus.
Uskav traute der Entwicklung nicht. Obwohl wirklich alles darauf hindeutete, dass sich der Feind auf einen längeren Aufenthalt einstellen würde, konnte sich Uskav einfach nicht vorstellen, wie dies funktionieren sollte. Orks waren zähe Geschöpfe, dazu gezüchtet, auch mit kärglicher Nahrung lange auszuhalten und trotzdem kampffähig zu bleiben. Kam es zum Äußersten fraßen sich die Orks einfach gegenseitig. Im Prinzip konnte ein Heer selbst dann eine Stadt noch belagern, wenn die Umgebung keine oder wenige Nahrungsmittel her gab. Als General des Königs war Uskav selbst mehrfach gezwungen gewesen, einen Teil seines Heeres als Nahrung zu opfern. Die Auswahl der Orks, die als Nahrung für die anderen Orks dienen sollten, war denkbar einfach. Die Schwächsten wurden Teil der Nahrungskette. Es handelte sich um eine gängige militärische Praxis, die exakt so an der Offiziersakademie des Königs gelehrt wurde. Trotzdem, irgend etwas sagte Uskav, dass sich der Gegner nicht wirklich auf eine Belagerung einstellte. Etwas anderes braute sich zusammen.
Immer wieder griff Uskav zum Fernglas oder ließ sich Aufnahmen seiner Aufklärer zeigen. Die Belagerungstürme wuchsen mit beängstigender Geschwindigkeit in die Höhe. Leider waren die Aufnahmen nicht gut genug, dass sie zeigten, was in den Türmen vor sich ging. Der Versuch der Aufklärer, Drachenreiter mit wendigen und blitzschnellen Jagddrachen, dichter an die Türme heran zu kommen, um bessere und detaillierte Aufnahmen von ihnen zu schießen, endete jedes mal mit dem Abbruch des Versuchs. Die Bauplätze der Türme waren durch unzählige Abwehrbatterien geschützt. Den Drachen flogen ganze Schwärme von Jagdlanzen entgegen. Eins wurde klar, der Feind wollte auf jeden Fall verhindern, dass Uskav mehr über die Belagerungstürme erfuhr.
»Dir gefallen die Türme nicht?«, fragte Thonfilas.
Mit seinen elbischen Augen konnte kein menschengemachtes Fernglas konkurrieren. Allerdings war Thonfilas Sicht auf die Bereiche eingeschränkt, die im Blickfeld der Stadtmauer lagen. Erschwerend kam der Wall aus den immer noch schwelenden Orkkadaver hinzu, der in direkter Linie zwischen seinem Standort und dem Bauplatz der Türme lag.
»Diese Türme gefallen mir ganz und gar nicht«, bestätigte Uskav und griff erneut zu einem Fernglas, »Kannst du etwas erkennen?«
Thonfilas spähte über die Ebene Daelbars bis zu den Belagerungstürmen. Es war sehr schwierig und forderte ein gehöriges Maß an Konzentration, um auch nur etwas erkennen zu können.
»Du hast Recht, mir gefallen die Türme ebenfalls nicht!«, begann Thonfilas nach einer Weile, »Eine dunkle, unheilvolle Aura liegt über ihnen. Da ist mehr zu Werke, als einfache Metallarbeit. Ein Zauber schützt die Türme vor neugierigen Blicken, sie sind verhüllt, als seien sie mit dunkler Gaze überzogen. Doch da ist mehr! In ihrem Inneren brodelt etwas. Ich kann nichts genaues erkennen, doch die Aura einer nach Vernichtung lechzenden Wesenheit ist unübersehbar.«
»Sie rücken vor!«, Uskav setzte sein Fernglas ab.
Zwölf gigantische Belagerungstürme setzten sich auf direktem Weg zur Stadtmauer in Bewegung. Je näher sie kamen, desto deutlicher ließen sich ihre Dimensionen erkennen. Die Türme war riesig, deutlich höher als die Stadtmauer und äußerst massiv. Mit Pfeilen oder Armbrustbolzen war diesen Konstruktionen nicht beizukommen.
»Ich möchte etwas probieren!«
Noch während er sprach, sprang Uskav hinfort und rannte zu Narsul, die ihn bereits erwartete. Sekunden später befanden sich Uruk und Drache in der Luft. Uskav überließ es seiner Echsendame einen möglichst sicheren Kurs zu wählen, Hauptsache er führte in die unmittelbare Nähe eines der Türme.
Narsul überlegte nicht lange. Sie flog hinter der Stadtmauer zum westlichen Gebirgszug, stieg dort in die Höhe über die dunklen Wolken. Dort angekommen ließ sich sich fallen. Mit eng an den Körper gepressten Flügen stieß sie im Sturzflug der Erde entgegen. Als sie die Wolkendecke durchbrach, brachten minimale Korrekturbewegungen mit dem Schwanz sie auf den richtigen Kurs, dem letzten Turm der Reihe entgegen.
Die ganze Aktion spielte sich in Sekundenbruchteilen ab. Uskav zückte Lokril. Das Schwert, das Toldins Feuer in sich trug, flammte auf. Eine gleißend helle Fackel erleuchtete das Schlachtfeld. Ihr reines Licht blendete den Feind, verwirrte ihn für einen Moment. Einen Moment den Uksav ausnutzte, um mit Narsul ein irrwitziges Flugmanöver zu vollziehen.
Die Drachendame fing ihren Sturzflug ab, breitete ihre Flügel aus und wechselte blitzschnell in den Seitenflug. In dieser Fluglage umrundete sich den vorher anvisierten Turm. Uskav hob sein Schwert über seinen Kopf, der jetzt direkt dem Turm zugewandt war. Narsul zog den Radius etwas enger, bis das Schwert an den Turm heranreichte.
Lokril durchschnitt die Titanstahlplatten des Turms wie Butter. Gegen Toldins Feuer, das in Uskav Schwert gebunden war, war die Panzerung wehrlos. Seinem Zusammenhalt beraubt, geriet der obere Teil des Turms ins Wanken, brach unter seiner eigenen Last zusammen und gab einen Blick in sein Inneres frei. Uskav erhaschte einen kurzen Blick. Denn kaum hatte Uskav seinen letzten Schnitt gesetzt, wechselte Narsul erneut die Fluglage, gewann Geschwindigkeit und schoss hinfort. Bevor die Orks ihre Jagdlanzen schussbereit hatten, hatten Uskav und seine Drachendame bereits wieder die relative Sicherheit hinter der Stadtmauer erreicht.
»Rückzug!«, brüllte Uskav, während er von Narsul Rücken sprang, »Die Türme tragen Steinbrenner!«
Steinbrenner taten das, was ihr Name andeutete. Sie brannten Stein. Sie zertrümmerten ihn nicht, sie schmolzen ihn und alles, was sich in seiner Umgebung befand. Der Steinbrenner war eine Vernichtungswaffe. Wer das Pech hatte sich in der Nähe eines Steinbrenners aufzuhalten, der gerade gezündet wurde, kam meistens nicht mehr dazu, sich über die plötzliche Hitze zu wundern. Bevor die verantwortlichen Hirnzellen die richtigen Schlüsse zogen, waren sie längst zu Asche zerfallen. Noch mehr Pech hatte hingegen jener, der etwas weiter entfernt dem Wirken eines Steinbrenners beiwohnte. Sein Schicksal reichte von simpler Blindheit bis hin zu schwersten Verbrennungen, die alsbald den Tod nach sich zogen.
Den Steinbrenner als zivilisierte Waffe zu bezeichnen, wird gemeinhin als Geschmacklosigkeit und Zeichen minderen Intellekts betrachtet. Was natürlich niemanden davon abhielt, ihn trotzdem einzusetzen, genau so, wie die Todesigel.
Uskav brauchte seine Warnung nicht wiederholen. Jeder wusste, was sie bedeutete und ergriff die Flucht. Der Rückzug vollzog sich schnell, aber nicht übereilt. Innerhalb weniger Minuten waren Stadtmauer und die Wehrtürme geräumt.
»Ist es das? Das Ende?«, fragte Thonfilas leise.
Für einen Moment war Uskav nicht klar, was sein Freund meinte. Dann wurde ihm die Bedeutung der Worte klar. Sollten die Steinbrenner die Stadtmauer in geschmolzenen Stein verwandeln, gab es nichts mehr, was das feindliche Heer von Daelbar trennte. Die Orks würden über die Stadt hereinbrechen, wie eine Sturmflut. Nichts würde sie wirklich aufhalten können.
»Ich weiß es nicht!«, gestand Uskav ehrlich. Sein Blick, den er Thonfilas zuwarf, sprach Bände. Die Lage wurde ernst, mit einer eher verschwindend geringen Wahrscheinlichkeit auf einen guten Ausgang.
Doch trotz der Hoffnungslosigkeit der Situation, begannen die Bewohner Daelbars sich hinter ihrer Stadtmauer aufzureihen. Bäcker standen neben Drachen, Hexenmeister neben Maurern, Tischler neben Drachenreitern. Dieses war ihre Stadt. Sie würden Sie verteidigen, bis zum letzten Atemzug. Alle waren da. Von Blob, dem Gnom, über Xurina, Tom und Bendict, bis zu Professor Bogenhausen und Xelmachus von Emd. Jeder Mensch, jeder Zwerg, jeder Elb oder Gnom Daelbars war bereit seinen Traum von Freiheit und Glück, denn genau dafür stand Daelbar, zu verteidigen, selbst wenn dies hieß, mit wehenden Fahnen dem Verderben entgegen zu schreiten. Der Feind sollte ruhig kommen, kampflos würde er Daelbar nicht besiegen.
»Uskav? Thonfilas?«, hörten die zwei Freunde eine Stimme neben sich.
»Roderick?«, rief Uskav, als er den Sprecher entdeckte, »Du gehörst ins Bett! Deine Schulter …«
»Meiner Schulter geht es gut!«, unterbrach Roderick, »Ich bleibe hier, bei euch! Wenn dies tatsächlich unser Ende sein soll, will ich die verbleibende Zeit mit euch kämpfend bestreiten. Ich will sie mit euch, den beiden Männern, verbringen, die ich Liebe!«
Mehr musste nicht gesagt werden. Die drei Freunde umarmten sich, drückten sich aneinander, schauten sich in die Augen, um anschließend ihre Positionen einzunehmen.
Eine drückende, erwartungsvolle Stille senkte sich über die Ebene Daelbars. Narsul und Lindor kreisten in sicherer Höhe über den feindlichen Reihen. Das Orkheer stand still und unbeweglich weit von der Stadtmauer entfernt bereit. Nur die verbliebenen elf Belagerungstürme rollten langsam aber beständig der Stadtmauer entgegen. Als sie die Linie mit den verbrannten Orkkadavern erreichten, stoppten sie kurz, um sich dann wieder in Bewegung zu setzen. Die Gebeine der verkohlten Orks schob sie einfach vor sich her. Etwa vierhundert Meter vor der Stadtmauer hielten die Türme wieder an. Eine Weile passierte nichts. Die Stille nahm, soweit dies überhaupt möglich war, noch weiter zu.
»Es fängt an!«, schrie Uskav, »Seht nicht auf die Mauer! Bedeckt eure Augen und wendet euch ab!«
Plötzlich erfüllte ein hochfrequentes Pfeifen die Luft, das schnell zu ohrenbetäubender Lautstärke anschwoll. Als man meinte, der schrille Ton könnte nicht mehr lauter werden, wurde es schlagartig total still. Ein gleißender Blitz erhellte die Unterseite der Wolken, die Gebirgszüge, überhaupt die ganze Umgebung. Die Welt hielt eine Sekunde den Atem an. Dann brach die Hölle los.
Haken schlagen
»Flucht wird vielfach zu Unrecht als Feigheit gescholten.«
»Zumeist leben die Kritiker der Flucht nicht lange genug, um ihren Irrtum einzusehen.«aus einem Lehrbuch fortgeschrittener Kriegskunst
»Personenkontrolle! Folgt mir!«, polterte plötzlich eine tiefe, kraftvolle Stimme hinter ihnen. Ivo, Ole, Anger und Gilfea wirbelten herum. Allerdings zuckten nur Ole, Anger und Gilfea vor Schreck zusammen. Vor ihnen stand ein riesiger Uruk, der Uskav wie aus dem Gesicht geschnitten war. Neben ihm, etwas kleiner, hatten sich zwei Orks postiert. Der Uruk trug die Uniform eines Leutnants der Stadtwache. Die beiden Orks schienen einfache Gefreite zu sein, sofern Anger ihre Rangabzeichen richtig interpretierte. Die riesigen Pranken des Uruks landeten auf Oles und Angers Schultern, während die zwei Orks sich um Ivo und Gilfea kümmerten. Ohne weiteren Kommentar wurden die vier zum Rathaus geführt.
Das Rathaus Tharbads war groß und besaß mehrere Eingänge. Der Uruk hielt auf ein Tor zu, das ein Schild mit der Aufschrift »Stadtwache« trug. Zwei Wachposten blockierten den Zugang, nahmen aber sofort Haltung an und traten einen Schritt zurück, als sie den Urukleutnant sich nähern sahen. Hinter dem Tor verbarg sich ein kleiner Hof mit drei Zugängen zum umgebenden Rathaus. Ole und die anderen wurden durch dieser Zugänge und in einen dunklen, spärlich erleuchteten Gang geführt. Der Uruk ging voran. Nach dem man mehrere verschlossene Türen passiert hatte, blieb er stehen und öffnete den Zugang zu einem Raum.
»Rein mit euch!«, rief der Uruk laut und zeigte auf die offen stehende Tür. Ole, Anger, Gilfea und Ivo gehorchten.
»Wegtreten!«, brüllte der Uruk im Kommandoton seinen Orks zu, die sich ohne Murren sofort trollten.
»So!«, verkündete der Uruk laut, während er die Tür hinter sich schloss, »Personalien!«
Gilfea schaute den Uruk verwirrt und unschlüssig an. Sollte er versuchen zu fliehen, kämpfen oder kapitulieren? Um diese Frage beantworten zu können, musste man erst einmal verstehen, was eigentlich passiert war. Wenn man den Raum betrachtete, in dem sie sich gerade befanden, dann schien es sich um ein einfaches Verhörzimmer zu handeln. War das etwas Gutes oder etwas Schlechtes? Waren sie verhaftet? Davon hatte der Uruk nicht gesprochen. Eigentlich hatte er sie sogar vor der Geheimpolizei gerettet. Nur wozu?
Während Gilfea versuchte Sinn in ihre Situation zu bringen, spielte Ole Olson diverse Fluchtpläne durch, die aber alle im wenig erwünschten Ergebnis endeten, dass mindestens einer der Anwesenden das Zeitliche segnete, wobei es sich nicht um den Uruk handelte. Es blieb also nichts anderes übrig, als die augenblickliche Lage weiter zu analysieren und eine bessere Fluchtchance abzuwarten.
Anger war geschockt. Die Stadtwache genoss einen üblen Ruf und ihre Personenkontrollen einen noch viel schlechteren. Manch ein Bürger soll nie von solch einer derartigen Kontrolle zurückgekehrt sein. Ob dies wirklich der Wahrheit entsprach, war nicht sicher, jedenfalls sprachen die Gerüchte davon, dass dem so sei. Und schließlich wusste jeder, dass Gerüchte über die Staatsmacht Tharbads nichts anderes waren, als eine abgemilderte Form der Wahrheit. In Wirklichkeit war alles noch viel, viel schlimmer.
Der einzige, der die Situation entspannt zu betrachten schien, war Ivo. Als sich seine und die Blicke des Uruks kreuzten und dieser kurz aber eindeutig mit seinen Mundwinkeln zuckte, wusste Ivo mit hundertprozentiger Gewissheit, dass sie sich im Moment in Sicherheit befanden.
»Du!«, brüllte der Uruk übermäßig laut Ole Olson an, »Deine Ausweispapiere! Wird’s bald!«
Was der Uruk dann tat, verwirrte Ole. Statt die ihm dargereichten Papiere zu nehmen, ging der Uruk zur geschlossenen Tür und brüllte hindurch: »Ah, da will wohl einer frech werden! Na warte!«
Es folgte die spektakuläre Zertrümmerung eines altersschwachen Stuhls an einer Wand und das Klatschen von Fäusten auf Fleisch, wobei sich der Uruk selbst klapste. In einem Moment relativer Ruhe hörte man von draussen leises Gekicher und schließlich das Geräusch sich entfernender Schritte. Darauf hin wartete der Uruk ein paar Momente, um dann die Tür vorsichtig zu öffnen und hinaus zu luken. Mit dem Ergebnis zufrieden, schloss er die Tür wieder und meinte: »So, die neugierigen Burschen sind weg.«
Das Verhalten des Uruks deutete auf mehr als eine psychische Störung hin, da waren sich Ole, Gilfea und entsprechend seines Bildungsstandes auch Anger sicher, was die drei mit entsprechend besorgten Minen zeigten. Ein durchdrehender Uruk war unberechenbar. Wenn man Glück hatte, brachte er einen nur um oder schraubte einem einen Arm oder ein Bein ab. Was es bedeutete, in solch einer Situation Pech zu haben, darüber wagte niemand ernsthaft nachzudenken.
»Ich dachte, du wolltest unsere Ärsche nicht retten?«, ließ sich unerwartet Ivoricalad verlauten.
»Golfindel würde es mir nie verzeihen, sollte euch etwas zustoßen, obwohl ich es hätte verhindern können«, Uskol, der Uruk, kratzte sich verträumt am Kragen, »Außerdem kann ich diese arroganten Geheimpolizisten nicht ausstehen! Behandeln uns wie inkompetente Schwachköpfe.«
»Ähm, seh ich das richtig? Ihr zwei kennt euch?«, mischte sich Gilfea ein.
»Oh, entschuldigt meine Unhöflichkeit«, wandte sich Uskol an Gilfea, Anger und Ole, »Ich bin Uskol, Leutnant der Stadtwache.«
War das die gute Nachricht? Wie gesagt, die Statdtwache Tharbads genoss einen ambivalenten Ruf. Die meisten Bewohner der Stadt vermieden es, mit der Stadtwache in näheren Kontakt zu geraten, weswegen kleinere Streitigkeiten, zu denen eigentlich alle Vermögensstraftaten zählten, untereinander geklärt wurden. Die Stadtwache wurde somit nur bei Gewalttaten und Verbrechen gegen die Krone tätig, aber auch nur dann, wenn der geheime Senatskämmerer, vergleichbar einem Senator für Inneres und Justiz, die Stadtwache mit der Untersuchung der Tat beauftragte, was selten genug geschah. So verrichtete man überwiegend langweiligen Wachdienst, patrouillierte durch die Stadt und zerlegte gelegentliche eine Kneipe. Letzteres war einerseits dem Frust, andererseits der Tatsache geschuldet, dass die Hälfte der Wachen Orks waren. Einen schlechteren Ruf als die Stadtwache konnte man eigentlich nicht genießen.
Dabei war die Wache viel besser als viele Leute vermuteten. So hatten Uskol und seine Männer eine Mordserie an reiferen Liebesdienerinnen genau so aufgeklärt, wie den rätselhaften Tod des Kommerzienrates Claudius Mercator. Die meisten Bewohner, insbesondere die Menschen, sahen in Uskol nur den Uruk, ein gezüchtetes Monstrum, dem man eine Polizeimarke in die Hand gedrückt hatte, doch täuschte der Eindruck. Uskol war mehr. Er war ein hochintelligentes Wesen und besaß eine reife Persönlichkeit, die er allerdings sehr gut zu verstecken wusste.
Für ein Mitglied der Bruderschaft der Meuchelmörder galt es als elementar, über Personal und Struktur der Strafverfolgungsbehörden umfassend informiert zu sein. So war Uskol für Ole Olson kein unbeschriebenes Blatt. Vermutlich kannte Ole den Uruk besser, als die meisten seiner Vorgesetzten und Untergebenen. In Oles Klassifizierungssystem trug Uskol die Vermerke »gefährlich, intelligent, analytisch, skrupellos, zielgerichtet, gewaltbereit« und den Zusatz »Kontakt unbedingt vermeiden!«. Letzteres schien als Zielvorgabe nicht mehr haltbar zu sein. Uskol stand Ole direkt gegenüber.
»Der berühmt-berüchtigte Ole Olson«, begann Uskol und schmunzelte hintersinnig, »Da steht einer der besten, wenn nicht sogar der beste Meuchelmörder der Bruderschaft hier in meiner Wache. Freiwillig hätte ich euch wohl nie hier her bekommen …«
Ivo mochte Uskol zwar kennen, doch änderte dies nichts an Oles, Angers und Gilfeas Nervosität. Dafür sorgten Uskols subtile und mehrdeutige Bemerkungen.
»Ich bin im Besitz einer offiziellen Zulassung des Kronkämmeramtes als Meuchelmörder«, das Argument war schwach, aber immerhin war es eins. Die Zulassung mochte zwar die Rechtslage widerspiegeln, dass Meuchelmörder im Königreich Goldor legal ihrer Tätigkeit nachkommen durften, solange sie nur offiziell beim Kronkämmeramt akkreditiert waren. Dies änderte nichts daran, dass Meuchelmörder bei der Ausübung ihres Berufs quasi Freiwild waren. Weder Polizei noch die Bodyguards der potentiellen Ziele zögerten auch nur eine Sekunde, einen Meuchelmörder ins Jenseits zu befördern, sollten die Umstände es nötig werden lassen — Akkreditierung hin oder her.
»Oh, keine Angst, ich hatte nicht vor … Nun ja …«, fuhr Uskol fort, »Eigentlich wollte ich mich bei euch bedanken.«
Ole war ganz Ohr, es kam selten vor, dass sich jemand, insbesondere Polizisten, bei ihm bedankten: »Bedanken?«
»Krossav«, entgegnete Uskol knapp.
»Oh!«, entfuhr es Ole Olson, »Ihr sprecht von diesem Orkhauptmann. Ich hörte, jemand hat ihn …«
»Lassen wir die Spielereien. Ich weiß, dass Krossav euer Informant war, wenn auch kein all zu verlässlicher. Mir waren auch Krossavs speziellen Ernährungsgewohnheiten bekannt. Dieser Ork war ein Schande für die ganze Wache, durch und durch korrupt. Hat Informationen für Geld verkauft, Schutzgelder kassiert und auch die eine oder andere Erpressung laufen … nun ja, Ihr kennt ja seine Leibspeisen.«
»Da bekommt das Wort »Jägerschnitzel« gleich einen anderen anderen Klang«, pflichtete Ole Olson bei, »Nehmen wir für eine Sekunde mal an, ich wäre an Krossavs Dahinscheiden nicht ganz unschuldig, warum habt Ihr euch nicht selbst um ihn gekümmert?«
»Man mag es kaum glauben, aber diese Kellerassel von einem Ork genoss Protektion. Nicht jeder Diener des Königs ist korrupt, nur die Mehrheit. Ich hätte mit Krossav liebend gerne noch ein paar Dinge erörtert, bevor ich ihm anschließend den Schädel zerquetscht hätte. Sich von Menschen-, Zwergen-, Ork- oder gar Elbenfleisch zu ernähren, ist selbst für Tharbads Maßstäbe extrem. Doch haben über Krossav ein paar sehr einflussreiche Persönlichkeiten ihre schützende Hand gehalten. Man hat mir sehr eindringlich zu verstehen gegeben, meine Finger von ihm zu lassen. Und damit kommen wir zu Euch. Ich weiß, dass Ihr Krossav erledigt habt. Ich habe es gesehen. Etwas überrascht war ich, als unser spezieller Freund Ivoricalad in der Szene auftauchte.«
Ole wurd es heiß und kalt. Uskol berührte einen wunden Punkt. Der Besuch bei Krossav war alles andere als planmäßig verlaufen. Hatte er wirklich so schlampig gearbeitet, dass man ihn bei seiner Tätigkeit beobachtet hatte? Nun war Krossav ein Informant, der immer auf Diskretion bedacht war. Von daher hatte Ole nicht mit einer Falle gerechnet. Nur Ivos Erscheinen verhinderte, dass er in die Gewalt der Geheimpolizei geraten war.
»Die königliche Geheimpolizei?«
Uskol nickte: »Du wirst gesucht. Oh, es gibt keinen offiziellen Steckbrief. Ich sagte ja, dass ich die Geheimpolizei hasse. Vor ein paar Tagen tauchten zwei Agenten bei mir auf und forderten Unterstützung an. Man sagte mir weder warum man Euch sucht, noch was man mit euch vor hat. Man sagte mir nur, was ich zu tun hätte. Euch finden und festsetzen. Nun, diesem Befehl werde ich mich wohl widersetzen.«
»Gut!«, Ole Olson fuchtelte resigniert mit seinen Armen umher, »Wer seid Ihr? Ihr seht aus wie ein Uruk, ihr riecht wie ein Uruk, aber ihr verhaltet euch nicht wie ein Uruk.«
»Ich bin Uskol, ein freier Uruk, der sich von den Ketten seiner mentalen Versklavung befreit hat. Und ich stehe den Herren Daelbars zu Diensten!«, verkündete Uskol stolz.
»Ihr seid wie Uskav!«, rief Gilfea, »Das ist erstaunlich. Wir dachten Uskav wäre ein Einzelfall.«
»Oh, da täuscht Ihr euch. Wir sind viele, sehr viele und wir sind bereit für unsere Freiheit zu kämpfen!«
Mit kurzen Worten schilderte Uskol, wie er sich von seiner geistigen Versklavung befreien konnte. Gilfea und Ole waren sehr erstaunt zu hören, dass der gesamte Urukzuchtstamm 172 in der Lage war, sich gegen seine genetische Programmierung aufzulehnen. Noch erstaunter waren sie, dass es einen regelrechten Untergrund, einen Urukwiderstand, gab, der das Ziel verfolgte, den Orks und Uruks die Freiheit zu bringen. Wobei sie sich keiner Illusion hingaben: Die meisten Orks waren seelenlose Mordmaschinen, die das Konzept der Freiheit überhaupt nicht begriffen. Nach dem Uskol mit seinem Bericht fertig war, erzählte Ivo, wie er und Segato Uskol kennen gelernt hatten.
»Und was geschieht jetzt?«, fragte Anger.
»Jetzt werde ich versuchen, euch sicher von hier fort zu bringen«, erklärte Uskol, »Ole, Ihr werdet gesucht. Die Geheimpolizei hat nicht gesagt warum, aber das tut sie nie. Fakt ist, dass sie sich in unser Fahndungsnetz eingeklinkt haben. Sie zapfen die Bilder der Traffic-O-Matic an. In Tharbad gibt es tausende dieser magischen Augen. Ein schwarzer Hexenmeister ist permanent damit beschäftigt, diese Bilder zu durchsuchen. Ich habe noch nie erlebt, dass sie einen derartigen Aufwand betreiben, um einen einzelnen Mann zu fangen. Aber das ist noch nicht alles. Die Wachtruppen des Barad Baul sind in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt worden. Für heute Abend wird ein Gefangenentransport per See erwartet.«
»Suman!«, entfuhr es Gilfea.
Uskol wirbelte herum: »Ihr wisst etwas? Wer ist Suman? Ein Freund von euch?«
Gilfea war unsicher. Wie weit konnte er einem fremden Uruk trauen? Uskol mochte, wie Uskav, ein freier Uruk sein, aber das war nicht sicher. Andererseits konnte sie alle Hilfe gebrauchen, egal wer sie ihnen anbot. Was tun? Vertrauen oder sich zurückhalten?
»Suman ist eine Seele!«, nahm Ivo Gilfea die Entscheidung ab, »Suman ist Tingalens Seele und Segatos Liebe.«
»Ich verstehe …«, meinte Uskol nachdenklich nickend, »Das erklärt einiges. Golfindel hat mir alles über die Beziehung zwischen einem Drachen und seiner Seele erklärt. Sie haben euren Freund und wollen über ihn an seine Echse ran kommen. Der arme Junge …«
»„Der arme Junge“ Was soll das bedeuten?«, rief Gilfea.
»Dass sie alles tun werden, um seinen Drachen hervor zu locken. Sie werden euren Freund foltern! Sie werden ihn nicht etwa umbringen, jedenfalls nicht sofort, denn das würde den Drachen ebenfalls töten. Oh ja, diese Leute sind in Drachenkunde bewandert. Ich habe früher auch an die alten Schauermärchen von orkfressenden Drachen geglaubt, bis mir Golfindel die Wahrheit lehrte. Glaubt mir, sie werden Suman so lange quälen, bis sich sein Drache zeigt, erst dann wird man sie beide töten!«
»Wer sind „Sie“?«, fragte Ole.
»Ich weiß es nicht genau. Alle möglichen Leute scheinen daran beteiligt zu sein, Agenten des Königs, Senatoren der Stadt, Priester der UT, aber auch Mitarbeiter Boldin Dynamics’. Ich glaube nicht, dass die Agenten wirklich im Namen des Königs handeln. Vor ein paar Monaten bin ich zufällig Zeuge eines Gesprächs zwischen einem Agenten und einem Nuntius der UT geworden. Sie sprachen davon, dass die Maßnahmen wie geplant weiter geführt werden sollen und dass es keine Alternative zu den minderwertigen Exemplaren geben würde, solange es nicht gelänge, endlich eine Echse zu erlegen. Dann meinte der Agent noch, dass Boldins Leute etwas diskreter vorgehen sollten. Seine Vorgesetzten hätten bereits den Verdacht geäußert, dass unautorisierte Sachen laufen würden, denen man nachgehen müsse. Es sei ihm zwar gelungen, die daraufhin durchgeführte Untersuchung ins Leere laufen zu lassen, doch sollten sich Boldins Penner mehr auf ihre Arbeit konzentrieren statt in irgendwelchen Kneipen besoffen rum zu schwadronieren.«
»Das klingt ganz nach einer Verschwörung«, meinte Ole knapp.
»Das klingt nicht nur danach, das ist eine. Wenn ihr mich fragt, ist ein geheimer Staatsstreich im Gange. Meiner Einschätzung nach begann es vor etwa fünf Jahren. Alles passierte schleichend und verursachte wenig Aufmerksamkeit. Ich selbst kam mit der Sache in Kontakt, weil ich wegen ein paar Morden ermitteln musste. Zuerst sah es nach den üblichen Gewalttaten aus, die in Tharbad an der Tagesordnung sind. Doch mit der Zeit kristallisierte sich ein Muster heraus. Nach und nach starben einflussreiche Bürger, Senatoren, Militärangehörige und sogar Mitglieder der Wache eines gewaltsamen Todes oder verschwanden einfach spurlos von der Bildfläche. Alle waren dem König treu ergebene, aber kirchenkritische Bürger. Bei dem Versuch, die Mordfälle aufzuklären, stieß ich zusehends auf Widerstände, wie ich sie bei anderen Morduntersuchungen noch nie erlebt hatte. Natürlich ließ ich nicht locker und als es mir endlich gelang, eine heiße Spur zu entdecken, fand man meinen Vorgesetzten mit durchgeschnittener Kehle in seinem Badezimmer. Sein Blut war noch nicht kalt, da war bereits ein Nachfolger bestimmt, dessen erste Amtshandlung darin bestand, mich sämtliche Untersuchungen einzustellen zu lassen.«
»Was Ihr als treuer Untertan des Königs natürlich auch gemacht habt«, meinte Ole salopp.
»Natürlich!«, beteuerte Uskol mit gespielter Entrüstung.
»Und was machen wir jetzt?«
»Wie ich schon sagte. Ich werde versuchen, euch hier raus zu bringen«, meinte Uskol, wobei ein breites Grinsen seine Lippen umspielte.
Flugschau
Die größte Leistung besteht darin, den Widerstand des Feindes ohne einen Kampf zu brechen
Sun Tzu - Die Kunst des Krieges
Seine Zeit unter Deck eines Schnellbootes in einem Raum ohne Fenster zu verbringen, lässt einen jegliches Zeitgefühl verlieren. Es sei denn, man hieß Suman und war ein Drachenreiter. Nach dem einer seiner Bewacher sich in subtilen Andeutungen ergangen hatte, dass er, Suman, von jemandem sehnlichst erwartet würde, passierte eine Weile lang nichts. Das Boot fuhr, die Wachen schauten ab und zu vorbei und gaben Suman Nahrung, aber das war es dann auch schon. Ohne gelegentlichen Kontakt zu Tingalen hätte Suman nicht gewusst, ob gerade Tag oder Nacht herrschte. So wusste Suman, dass es Abend war, als das Schnellboot plötzlich stoppte.
Dem Schlingern und Schwanken des Bootes zufolge, schien man auf hoher See gehalten zu haben. Suman schloss seine Augen, um sich besser auf die Bewegungen des Bootes konzentrieren zu können. Mitten in seiner kleinen Zelle stehend, erfühlte Suman jede Regung.
Der Skipper schien das Schnellboot Bug voraus in den Wind gestellt zu haben. Die Wellen rollten von vorn heran. Fußgetrappel auf Deck deutete auf ein bevorstehendes Ereignis hin, welches auch nicht lange auf sich warten ließ. Etwas stieß mehrfach gegen die Steuerbordseite. Vermutlich kam ein anderes Schiff längsseits auf, worauf auch diverse Rufe und Stimme hindeuteten, die gedämpft und dumpf zu Suman hinunter drangen. Ein Teil der Stimmen wurden lauter. Hinter der Tür von Sumans Zelle waren Schritte zu hören. Der Sehschlitz, der sich in der Tür befand, wurde aufgeschoben.
»Hände an die Wand und keine Bewegung. Wir kommen rein!«
Suman gehorchte, schließlich handelte es sich bei seinen Bewachern um Soldaten des Königs von Goldor, die vermutlich nicht zögern würden, ihren Willen mit Gewalt durchzusetzen. Also drehte Suman der Tür seinen Rücken zu und legte beide Hände auf die Stirnwand des kleinen Raums. Kaum stand er so da, wurde die Tür aufgerissen. Den Geräuschen nach sprangen drei Soldaten herein. Jedenfalls packten zwei Mann seine Arme und zogen sie auf seinem Rücken zusammen. Im gleichen Moment wurde ihm ein schwarzer Sack oder eine Kapuze über den Kopf gestülpt und mit einem Halsband gesichert. Gleiches galt für seine Hände, die hinter seinem Rücken zusammengebunden wurden.
»Du solltest jetzt freiwillig mitkommen«, raunte jemand Suman zu, der vorsichtig nickte.
Eine kräftige Hand packte Suman am Arm und führte ihn aus dem Raum, der in den letzten Tagen seine Zelle gewesen war. Suman wanderte durch das Schnellboot. Gelegentlich wies sein Bewacher auf eine Stufe hin oder dirigierte ihn in eine neue Richtung. Am Geruch der durch den Kopfsack dringenden Luft erkannte Suman, dass man ihn an Deck geführt hatte. Nach einer hohen Stufe deutete der schwankende Untergrund darauf hin, dass der Weg über eine Planke oder eine Art Gangway auf ein anderes Boot oder Schiff führte. Dies unterstrich auch der veränderte Geruch, der Suman sofort in die Nase drang, kaum dass er die Überquerungsplanke verlassen hatte.
Es roch eigentümlich. Bestand die Luft auf dem Schnellboot aus einer sehr ehrlichen Mischung aus Schweiß, Kraftstoff, Seetang, Metall, Teer, Salz und Meer, erreichten Suman nun ganz andere und für ein Schiff völlig unerwartete Aromen. An Deck war noch die typische Meeresluft zu riechen, doch kaum unter Deck, was an der veränderten Geräuschkulisse erkennbar war, veränderte sich die Konsistenz der Atemluft. Eine ganz leicht chemische Note stach Suman in die Nase. Das Gasgemisch, das seine Lungen füllte, wirkte künstlich, geradezu klinisch und tot. Suman hätte sich noch weiter mit dem Geruch der Luft beschäftigt, wäre er nicht plötzlich mit einem ganz anderes Problem konfrontiert worden.
Es begann mit einem unvermittelt einsetzenden stechenden Kopfschmerz. Der traf Suman wie ein Blitzschlag, was jener mit einem unterdrücktem Stöhnen quittierte. In Folge des migräneartigen Schmerzes bekam Suman den weiteren Weg durch das neue Schiff nur verschwommen mit. Erst als der Sack unsanft vom Kopf gezogen und die Handfesseln recht rüde entfernt und er in einen schwach erleuchteten Raum gestoßen wurde, kam Suman halbwegs wieder zu Besinnung.
Dies war keine Schiffskammer, die als Zelle dienen musste, sondern eine echte Kajüte, die zu einer Zelle umfunktioniert worden war, was sich an zwei Details manifestierte. Zur Zelle wurde der Raum durch das schlichte Fehlen eines Türgriffs oder sonstigen Öffnungsmechanismus. Zur Kajüte wurde der Raum durch seine Großzügigkeit. Neben einem vernünftigen Bett beherbergte der Raum eine Eckbank, einen Tisch, einen Kleiderschrank und ein kleines Bücherregal. Fast schon luxuriös, wenn man Sumans Lage betrachtete, war der kleine Extraraum mit Dusche, Waschbecken und Klo.
Benommen von seinen Kopfschmerzen torkelte Suman auf sein neues Bett zu und ließ sich fallen. Mit beiden Händen packte er seinen Schädel und drückte ihn.
»Was?«, rief Suman zu niemand spezifischem, die Kajüte war schließlich leer.
Diese Kopfschmerzen waren keine normalen Kopfschmerzen, dazu waren sie zu intensiv. Auch ihr spontanes Auftreten genau in dem Moment, als Suman das neue Schiff betrat, deutete auf einen externen Ursprung hin.
»Guten Abend, Suman, Seele von Tingalen«, riss Suman eine unsichtbare Stimme aus dessen Gedanken, »Die Kopfschmerzen dürften lästig sein, aber ich befürchte, sie werden sich vorübergehend nicht vermeiden lassen. Sollten sie zu stark werden, liegen Schmerzmittel auf deinem Nachttisch. Keine Angst, es ist wirklich nur ein Schmerzmittel und kein Gift.«
Tingalen! Die Erkenntnis traf Suman wie ein Schlag. Er konnte Tingalen nicht mehr erreichen. Die Verbindung zu seinem Drachen war … blockiert. Suman sprang vom Bett auf und lief die Wände der Kajüte ab, berührte sie, fühlte durch sie hindurch.
»Ja, Ihr habt es richtig erkannt«, ließ sich die unsichtbare Stimme erneut vernehmen, »Wir haben Deine Kajüte ein wenig präpariert. Schließlich wollen wir ja nicht, dass uns plötzlich geflügelte Echsen überraschen. Entspann dich, so lange es noch geht.«
»Er ist weg! Suman ist weg! Ich kann ihn nicht mehr erreichen!«, rief Tingalen entsetzt.
»Weg? Nicht tot?«, fragte Gildofal, der bei Tingalens erstem panischen Aufschrei sofort zu Sumans Drachen geeilt war.
»Nein, nein, nein! Dann wäre ich ebenfalls tot. Ich komm nicht mehr zu Suman durch. Ich fühle, dass er lebt. Ich spüre seinen pure Existenz, doch irgend etwas blockt ihn ab.«
»Es ist schwarze Magie in ihrer abscheulichsten und widerwärtigsten Form. Sie hüllt Suman eine, wie eine Kugel. Jemand oder etwas hat sich sehr viel Mühe gegeben, uns von unserem Freund, unserer Seele, abzuschirmen«, fügte Mithval hinzu.
Die Lage spitzte sich zu. Mithval, der große Mithrildrache, Drache aller Drachen, fühlte es. Seine erste große Bewährungsprobe, der eigentliche Grund seiner Existenz stand ihm unmittelbar bevor. Toldin und Turondur hatten sich geopfert, Daelbar stand unmittelbar vor einem Angriff, der gut das Ende der Heimstadt der Drachen bedeuten konnte, Suman war gefangen und Gilfea saß mit Anger und Ole bei Uskol fest. Schiefergrau war inzwischen zur Lagerhalle zurück gekehrt und hatte Gildofal Bericht erstattet. Im ersten Moment war er entsetzt, als er hörte, dass seine Freunde von einem Uruk abgeführt wurden, doch hatte ihn Ivoricald, ein Drache in Menschengestalt, beruhigt und erklärt, dass alles in Ordnung sei. Das änderte aber nichts daran, dass Gilfea und die anderen weiterhin in der Gefahr schwebten, entdeckt zu werden.
Mithval richtete sich zu seiner vollen Größe auf und berührte mit seinem Kopf fast die Decke des riesigen Lagerhauses. Tingalen und Eargilin gesellten sich zu seinen Seiten. Mithval enthüllte sich. Seine mattschwarzen Schuppen fingen an transparent und glasig zu werden. Es war, als schaute man durch sie in die Tiefe der Ewigkeit. Der Glanz und die Farbigkeit eines Regenbogens schimmerte an den ihren Rändern.
»Freunde, ich glaube mir ist nach einem kleinen Ausflug zumute!«, verkündete Mithval und entblößte zwei Reihen rasiermesserscharfer Reißzähne, »Gildofal, wärst du so nett uns die Tore zu öffnen?«
Der Angesprochene kniff seine Augen zusammen und schaute seinen Echsenfreund schräg an: »Was hast du vor?«
»Gilfea und die anderen sitzen bei Uskol fest. Der Uruk mag vertrauenswürdig sein, aber sobald sein Geheimnis enthüllt wird, ist er Orkfutter. Der Gegner weiß, dass Drachen in der Stadt sind, sonst hätte er Suman nicht abgeschirmt. Er wartet auf uns … Nun, es wäre ausgesprochen unhöflich, ihn zu enttäuschen, nicht wahr?«
»Du musst wissen, was du tust«, meinte Gildofal, während er zum großen Rolltor ging, »Seid bitte vorsichtig und lasst euch nicht die Schuppen verbeulen!«
Gildofals scherzhafte Bemerkung täuschte niemanden darüber hinweg, dass er Angst hatte; schon gar keinen Drachen und erst recht nicht Eariglin.
»Hey, Kleiner, natürlich passen wir auf uns auf, zumal du uns begleiten wirst. Sitz auf!«
»Das Lagerhaus dürfte nach unserer Vorstellung als Unterschlupf ausfallen«, fügte Mithval in normaler Sprache hinzu, »Schiefergrau, du fliegst bei mir mit! Auf, Freunde, ich will den Wind unter meinen Schwingen spüren!«
Gildofal schüttelte seinen Kopf. Was Mithval vor hatte, war Wahnsinn, allerdings Wahnsinn mit Methode und guten Gründen. Mithval hatte Recht, die Zeit des Versteckspielens war eindeutig vorbei. Der Gegner wusste von ihnen, wusste, dass Drachen in Tharbad waren. Entschlossen knallte Gildofal seine Hand auf den Knopf, der das Rolltor öffnete. Mit einem gequälten Quietschen setzte sich die mächtige Stahltür in Bewegung.
Der Freihafen Tharbads schlief nie. Zu jeder Tageszeit und fast zur gesamten Nachtzeit herrschte Hektik und Betriebsamkeit. Vor dem Tor des Lagerhauses kurvten allerlei Stapler und Lastgleiter herum. Dass sich ein Rolltor öffnete, fiel niemanden wirklich auf, schließlich war es die ureigenste Eigenschaft eines derartigen Lagerhallentores, sich hin und wieder zu öffnen.
Etwas ungewöhnlicher war hingegen das kräftige und dumpfe »Flapp, flapp, flapp«, das aus der Halle heraus schallte. Noch ungewöhnlicher war der Wind, der mit dem »Flapp« einher ging. Die Fahrzeuge vor der Lagerhalle stoppten. Kaum wandten sich die neugierigen Blicke ihrer Piloten dem dunklen Schlund der Halle zu, schossen drei Drachen aus ihm hervor und erhoben sich in den Himmel Tharbads.
Drei Drachen, zwei große und ein wahrlich gigantischer Drache, kreisten über der Stadt. Mithval übernahm die Führung. Um Gilfea und Uskol etwas Luft zu verschaffen, war es am geschicktesten, dort hinzufliegen, wo drei Drachen für größtmögliche Aufmerksamkeit sorgten. Mithval grinste, als ihm die Idee für ein passendes Ziel kam. Die Geheimpolizei suchte nach Magie? Nun, dann sollte man ihnen etwas Magie bieten.
Auf dem Rathausplatz Tharbads wimmelte es vor Menschen, Orks, Zwergen und anderen, zuweilen nicht näher bestimmbaren, Wesen. Und mitten unter ihnen durchstreiften die Geheimpolizisten den Platz mit ihren Scann-O-Matic Geräten. Eine Gruppe von Agenten waren gerade dabei, ihren Scanner über die Menschenmasse streichen zu lassen, als der Strahl plötzlich ein Hindernis traf und gleißend golden aufglühte, so dass sich jeder in seiner Nähe die Hände vor die Augen halten musste, um nicht geblendet zu werden.
Mithval, Tingalen und Eariglin sausten in greifbarer Höhe über die Massen. Im ersten Moment reagierten Geheimpolizisten und Passanten irritiert und verwirrt, bis ihnen klar wurde, wer da über ihren Häuptern umher flog. Chaos setzte ein, welches nicht zuletzt durch das ohrenbetäubende Brüllen und Fauchen der Drachen geschürt wurde. Mithval und die anderen Echsen machten sich einen Spaß daraus, mit aufgerissenem Maul und weit ausgefahrenen Klauen dermaßen dicht über die Köpfe der Leute zu sausen, dass diese das Gefühl hatten, man verpasste ihnen einen neuen Scheitel.
Mit allem möglichen mochte Mithval gerechnet haben, nur nicht mit der Abgebrühtheit der Tharbadianer. Oder handelte es sich schlicht und ergreifend um Abstumpfung? Nachdem sich der erste Schreck gelegt hatte, reagierten die anwesenden Passanten mit unverhohlener Neugier. Statt in wilder Flucht den Rathausplatz zu verlassen, verharrte man an Ort und Stelle und schaute den akrobatischen Manövern der Drachen zu. Einige Menschen begannen sogar zu applaudieren, als Eariglin eine besonders elegante Flugfigur vollführte.
Mithval, Tingalen und Eariglin warfen sich fragende Blicke zu.
»Das läuft irgend wie anders, als ich mir das vorgestellt habe.«
»Ist doch egal. Die Leute sind abgelenkt«, lachte Eariglin, »Hey, wie wär’s mit etwas Feuerzauber. Schließlich sind wir Drachen und haben einen Ruf zu verlieren.«
Mithval ließ sich nicht zweimal bitten. Er schoss im Tiefflug über die Massen hinweg, zog hoch und feuerte eine Salve Feuerbälle ab, die spektakulär wie ein Feuerwerk am Himmel in tausende Funken zerplatzten. Die Aktion der Drachen mochten zwar nicht die von Mithval beabsichtigte Wirkung erzielt haben, doch zweifelsfrei hatte sie eine Wirkung erzielt. Eigentlich war Mithval sogar glücklich darüber, dass die Bewohner Tharbads die Drachen nicht fürchteten, sondern sich über sie freuten, denn das taten sie. Wohin man auch schaute, man blickte in glückliche und strahlende Gesichter. Die Menschen jubelten den Drachen zu, freuten sich über ihr Erscheinen und schienen für einen kurzen Moment das Grau und die Trübheit Tharbads zu vergessen.
Dass sie bei ihrer Begeisterung für die Echsen die Geheimpolizisten vergaßen, ignorierten und sogar einfach abdrängten, war ein sehr willkommener Nebeneffekt und entsprach in seinem Effekt dem, was Mithval eigentlich beabsichtigt hatte. Die Aufregung sollte reichen, Gilfea und den Anderen die Möglichkeit eines diskreten Abgangs zu verschaffen.
»Der Rathausplatz ist voller Drachen!«, rief ein Ork, der ungefragt das Verhörzimmer stürmte. Schneller als man gucken konnte, wechselte Uskol zurück in die Rolle des brutalen Polizisten. Er packte Ivo am Arm und schleuderte ihn mit aller Wucht gegen eine der Zimmerwände: »Rede, du Wurm!«
Im ersten Moment war Ivo überrascht, im zweiten noch mehr. An Uskol war ein begnadeter Schauspieler verloren gegangen. Was wie ein raues Verhör aussah, war in Wirklichkeit perfekt choreographiertes Ballett. Ivo prallte so sanft gegen die Wand, dass man nicht ernsthaft von einem Aufprall sprechen konnte.
»Oh, Sir, Sie sind beschäftigt! Entschuldigen Sie, Sir!«
Der Ork stand stramm und salutierte.
»Sichert den Rathausplatz! Passt auf, dass es zu keinen Verletzten oder Schlimmerem kommt«, brüllte Uskol seinen Untergebenen an, »Wegtreten!«
Der Ork eilte hinfort. Als er außer Hörreichweite war, meinte Uskol: »Folgt mir! Meine Leute dürften damit beschäftigt sein, die Massen in Zaum zu halten.«
Uskol lief los und die Freunde folgten. Der Uruk führte sie durch allerlei Gänge, Türe, Innenhöfe und Treppen. Ole bekam den Eindruck, dass das Rathaus Tharbads wie eine Burg angelegt zu sein schien. Mit seiner Vermutung traf er fast ins Schwarze. Das Rathaus war in früheren Zeiten tatsächlich eine Burg. Damals war Tharbad nicht mehr, als befestigter Hafen mit einem kleinen Handelsplatz. Da zu jener Zeit eine Menge Gesindel in der Nähe ihr Unwesen trieb und gelegentlich Tharbad überfiel, entschied man sich eine Burg zu bauen. Über die Jahre expandierte Tharbad. Aus einem Hafen wurde ein Dorf und aus dem Dorf eine Stadt. Dabei bildete die Burg seit jeher den Kern der Stadt. Mit der Zeit änderte sich auch sie. Sie wurde um- und überbaut, Flügel angefügt, Höfe, Wälle und Mauern abgetragen. So stark sich auch das Äußere der Burg zu einem Rathaus änderte, der ursprüngliche Kern blieb gleich und mit ihm ihre Geheimnisse.
Zu denen gehörten insbesondere die unterirdischen Fluchtgänge. Wenige Menschen kannten sie noch. Doch Uskol, als Uruk, besaß eine für seine Art typische Affinität zu verborgenen und geheimen Orten. Selbst in absoluter Dunkelheit besaß Uskol ein perfekten Orientierungssinn, der sogar dem der meisten Zwergen überlegen war. Nach seiner Versetzung nach Tharbad und Beförderung zum Leutnant der Wache dauerte es nicht lange, dass er die alten Gewölbe, das geheime Zisternensystem und die vergessenen Fluchttunnel entdeckte. Wenige Wochen später hatte er sie soweit erkundet, dass er einen Plan anfertigen konnte. Dabei stellte er fest, dass die Gänge nicht auf das Gebiet der Burg beschränkt waren. Die gesamte Altstadt war von Tunneln durchzogen, wovon manche allerdings nicht mehr passierbar waren, sei es, dass das Wasser des nahen Flusses einen Weg durch das Felsgestein des Bodens gefunden hatte, oder das alte Mauerwerk der Gänge dermaßen verwittert war, dass sie eingestürzt waren.
»Hier lang!«, flüsterte Uskol und hielt überraschenderweise ein Elbenlicht hoch, »Hinter manchen Mauern befinden sich die Keller der Häuser über uns. Wir sollten versuchen, so leise wie möglich zu sein. Es wäre Schade, wenn jemand auf diese schönen Tunnel aufmerksam werden würde.«
Und so schlich man sich durch die Unterwelt Tharbads. Ole Olson musste gestehen, dass es in dieser Stadt, die er meinte eigentlich sehr gut zu kennen, Dinge gab, die er nicht kannte, aber ausgesprochen interessant fand. Irgendwann reichte es Ole, er platzte vor Neugier und ging zu Uskol.
»Haben diese Gänge auch eine Verbindung zum Barad Baul?«
Uskol grinste breit: »Oh ja, nicht nur einen. Ich ahne, an was Ihr denkt! Ihr wollt Euren Freund durch die Tunnel raus bringen. Eine gute Idee. Ich werde euch helfen und einen Plan geben. Doch jetzt leise, wir kommen gleich an einer heiklen Stelle vorbei.«
Uskol behielt Recht. Keine Minute später deutete Uskol den Freunden besonders leise zu sein. Er selbst verhüllte das Elbenlicht, doch wurde es nicht wirklich dunkel. In einer der Seitenmauern fehlte Steine, durch die Licht in den Gang fiel. Doch nicht nur das, auch Wortfetzen drangen zum kleinen Trupp durch die Löcher vor. Ganz vorsichtig schlich sich Ole an eines der Löcher heran und spähte durch.
Hätte Ole gerade gesprochen, wäre er nun verstummt. Vor seinem Auge erschloss sich ein riesiger Saal. Dem Blickwinkel und Sichtfeld zu folgen, mussten sich die Löcher in Deckenhöhe befinden. Ole schaute auf mehrere Reihen Bänke herab, ab dessen Ende sich an der Stirnseite eine Art Altar oder Verkündigungspult befand. Mehrere Stoffbahnen, die mit den Symbolen der Kirche der unifizierten Technokratie verziert waren, bedeckten die Wand.
»Bruder Johannes«, hörte Ole die Stimme eines Priesters sprechen, »wenn eure Informationen zutreffen, woran ich nicht zweifele, dann droht uns das gleiche Schicksal wie der Gilde. Wem können wir jetzt noch trauen?«
»Kardinal, ich war ebenso schockiert wie ihr!«, antwortete eine andere Stimme, »Das Ganze war von langer Hand vorbereitet worden. Die Unregelmäßigkeiten reichen inzwischen mehr als zwanzig Jahre zurück. Erinnert ihr euch noch an den Fall mit dem kleinen Dorf?«
»Bitte nicht! Ein Albtraum! Woher hätten wir wissen sollen, dass dieses Dings«, das Wort wurde mit unüberhörbarer Abscheu ausgespien, »Uskav gleich ein ganzen Dorf niedermetzeln lässt? Und was hat es uns gebracht? Uskav hat sich befreit, der Junge konnte fliehen und ist jetzt einer der mächtigsten Drachenreiter unserer Welt. Es ist genau das eingetreten, was dieses Ding verhindern wollte!«
»Kardinal, wie es aussieht, begannen unsere Probleme mit … diesem Ding. Ich bin davon überzeugt, dass es sich dabei nur um einen ganz kleinen Teilaspekt eines ganz groß angelegten Angriffs handelt. Ich glaube, nein, entschuldigt, ich bin absolut davon überzeugt, dass die Gilde in einem Punkt Recht hat. Es will zurück in unsere Welt. Es gibt keine andere Erklärung. Jeder seltsame Vorfall der letzten Jahre mochte für sich gesehen ein zufälliger Einzelfall gewesen sein, doch wenn man sich alle Vorfälle zusammen ansieht, entsteht ein Bild, dass mir Angst breitet. Es versucht diejenigen zu schwächen, die Es aufhalten könnte. Die Gilde? Geschwächt und mit einem Bruderkrieg beschäftigt. Wir? Unterwandert. Der König? Offen für Einflüsterungen seltsamer Sekretäre. Daelbar, belagert von einer Armee, dessen Heerführer niemand kennt, die aber offensichtlich von uns, von der Kirche entsandt wurden.«
»Verrat! Überall Verrat! Es kann niemand von unseren Leuten sein, jedenfalls niemand, der den Eid auf die Päpstin geleistet hat. Daelbar ist unantastbar. Wenn die Drachen fallen, fällt die ganze Welt in die Hand von diesem Ding!«
»Kardinal, eine Frage, habt Ihr einen Vikar beauftragt Erogal D’Santo zu töten?«
»Nein, natürlich nicht!«
»Nun, wie es aussieht wurde ein Vikar namens „Sebastian“ der Auftrag erteilt, Gildemeister D’Santo zu ermorden. Das Gesuch kam angeblich von Zacharias von Rochsinasul.«
»Völliger Quatsch. Ich habe mit Zach erst gestern gesprochen. Er hätte mir was gesagt, wenn jemand in meiner Stadt einen Job für ihn erledigen soll. Was hat das denn jetzt wieder zu bedeuten?«
»Ich weiß es nicht, aber ich werde es für Euch, Eminenz, herausfinden. Dass die Drachen vorhin auftauchten, war ein interessanter Schachzug, meint Ihr nicht auch?«
»Mein lieber, Johannes, manchmal seid ihr mir richtig unheimlich. Nun, ihr könnt jetzt gehen. Ich muss nachdenken!«
Damit endete das Gespräch. Ole Olson empfand es als recht erstaunlich, dass der Kardinal genau zu dem Zeitpunkt ein Thema erörterte, dass ihn persönlich betraf. Die Erfahrung lehrte, dass man derartigen Zufällen misstrauen sollte. Zugegeben, die Informationen waren interessant, aber waren sie glaubwürdig? Man wird es sehen, dachte sich Ole und folgte Uskol und den anderen, die sich wieder in Bewegung gesetzt hatten.
Wiedersehen
Freundschaft — Hat man sie, hält man sie für überbewertet. Fehlt sie, ist man am Arsch.
Profitius Spax, Philosoph 2. Klasse
»Ich glaube wir …«
»Ja … Ehrenrunde?«
»Warum nicht?«
Tharbad galt allerseits nicht unbedingt als Heimstadt der schönen Künste, sondern mehr als ein Ort kurzweiliger und unverbindlicher Bedürfnisbefriedigung und erfüllte damit die üblichen Vorstellungen, die man an eine Hafenstadt stellte. In gewissem Sinne musste man sie sogar als Stilgegend betrachten. Nirgendwo anders hatte man sich dermaßen gezielt darauf spezialisiert, sich den obskuren und abseitigen Aspekten menschlicher, orkscher oder zwergischer Zerstreuung zu widmen. Der gemeine Tharbadianer galt daher nicht wirklich als leicht zu beeindrucken. Was anderswo, selbst in anderen Hafenstädten wie Crossar, zu Stürmen der Entrüstung und rechtschaffenem Bürgerzorn gesorgt hätte, entlockte einem Bewohner der Goldorischen Metropole bestenfalls ein müdes Naserümpfen.
Umso erstaunlicher war die Begeisterung, die die Flugschau der drei Drachen verursachte. Arbeiter der königlichen Schiffswerft, denen man eine gewisse bodenständige Ignoranz gegenüber ihrer Umwelt nachsagte, verfolgten fasziniert das Kreisen der drei Echsen.
Der Hauch eines magischen Glanzes, einer Ahnung von Welt jenseits der zähen, seelenzerfressenden Gräue Tharbads, verzaubterte Stadt. Für einen Moment begannen sich die Zuschauer auf dem Rathausplatz an längst vergessene Farben zu erinnern: Ein Grün, welches an Wälder voller Bäume und sonnenüberflutete Wiesen erinnerte, dämmerte aus selten genutzten Regionen der kollektiven Erinnerung hervor. Bilder schneebedeckter Gebirge vor einem tiefblauen Himmel blitzten auf und erinnerten an ein Weiß, dem jegliche Gräue fehlte. Der wahre Geruch des Meeres und nicht der Gestank ölverseuchter Hafenbecken voller Brackwasser lag in der Luft.
Und dann war plötzlich alles weg.
Sowohl die Drachen als auch die Ahnung einer anderen, schöneren, freieren, farbigeren und gesunderen Welt war verschwunden. Zurück blieb das triste, schlammige Grau Tharbads und das allgegenwärtige Gefühl von Einsamkeit und Depression kehrte zurück.
Doch etwas hatte sich geändert. Die Erinnerung an die Drachen blieb, wie ein Samenkorn, das auf den richtigen Moment zum Keimen wartete.
Mithval, Eargilin und Tingalen entschwanden in den niedrig hängenden Wolken, die Tharbad stets zu überdecken schienen. Die kleine Flugshow hatte ihren Zweck erfüllt. Kaum aus den Tiefen des Tunnelsystems aufgetaucht hatte Ivo Mithval für dessen Intervention gedankt und ihm ihren neuen Treffpunkt mitgeteilt. Segatos Drache hatte seine mentale Zurückhaltung aufgegeben, die er sich auf Segatos Wunsch nach ihrer gemeinsamen Flucht aus Daelbar auferlegt hatte. Wie es aussah, stand ihnen eine große Familienzusammenführung bevor, wenn auch ohne Suman, dessen Präsenz man zwar spüren, aber nicht lokalisieren oder gar zu ihm durchdringen konnte.
Uskol entpuppte sich als wirkliche Hilfe, was ganz im Widerspruch zu seiner ursprünglichen Behauptung stand, Ivo und Segato nicht beistehen zu können, um seine eigene Tarnung nicht auffliegen zu lassen. Andererseits betonte er mehrfach und äußerst glaubwürdig, dass ihm Golfindel seinen »Arsch aufreiße«, würde er nicht alles urukmögliche unternehmen, um Ivo, Segato und ihren Freunden zu helfen.
Als Leutnant der Stadtwache besaß Uskol detaillierte Kenntnisse über Ort und Umfang der Überwachungssysteme der Stadt, was ihn in die Lage versetzte, Ole Olson einen sicheren Weg zu dessen Lagerhaus zu geben. Jenes Gebäude mutierte gerade zur Operationszentrale und sollte als Basis für die geplante Befreiung Sumans dienen. Es besaß eine Reihe von Vorzügen, die es dafür auszeichnete, ja geradezu prädestinierte. Es war groß genug, sechs Drachen zu beherbergen, war weit genug außerhalb des Stadtzentrums gelegen, um den geflügelten Echsen ein dezentes Kommen und Gehen zu ermöglichen und glücklicherweise der Geheimpolizei als eines von Ole Olsons Unterschlupfen unbekannt. Doch der wichtigste Grund war ein anderer: Es war der einzige Ort, der kurzfristig greifbar war.
Und so setzten sich unabhängig voneinander zwei Trupps in Richtung des olsonschen Lagerhauses in Bewegung. Die eine Truppe mit Schiefergrau, den Drachen und Gildofal drehte über das nordöstliche Gebirge ein und nutzte dabei die Wolken als Schutz, die sich an den Hängen bildeten, wenn der feuchtwarme Seewind auf das nordöstlich von Daelbar gelegene Gebirsmassiv traf. Ole Olsons Gruppe hatte hingegen einen umständlichen Fußmarsch vor sich, der sie nur auf sehr verwundenen und indirekten Pfaden zum Ziel brachte.
Den Ortsunkundigen, der Tharbad nur aus Erzählungen mit allerlei schrecklichen Details kannte, die zum größten Teil sogar wahr waren, dürfte es überrascht haben, dass die Stadt, die als Inbegriff Stein gewordener Menschenfeindlichkeit galt, eine ausgedehnte Parkanlage sein eigen nennen durfte. Doch selbst der einfache Tharbadianer war sich dieser Tatsache selten bewusst. Auf Nachfrage hätte man sich vermutlich am Kopf gekratzt, für ein Moment verwirrt geschaut, um dann mit einem Ausdruck der Erleuchtung in Richtung der Grünanlage zu zeigen und mit überschwänglichem Stolz von der Einzigartigkeit des Objekts zu schwärmen. Wobei man davon ausgehen muss, dass der Befragte den Park mit seinen eigenen Füßen niemals betreten haben dürfte.
Es war dieser Park, den Uskol als Endpunkt seiner Tunnelodyssee wählte. Der Königin Sevitania Gedächtnispark, wie die Grünanlage offiziell hieß, spiegelte einen wesentlichen Aspekt seiner Namensgeberin wieder. Königin Sevitania, ihres Zeichens Ururururururgroßmutter des amtierenden Königs, liebte spektakuläre Landschaftsszenen wie zerklüftete Gebirge mit dramatisch dahinbrausenden Gebirgsbächen, die sich in tiefgrüne Seen ergossen. Nur war die Dame seit eines Reitunfalls, den sie bereits in frühen Jahren erlitten hatte, etwas gehandicapped, was Reisen in die von ihr so geschätzte raue Natur stark einschränkte.
Was Könige und andere hochwohlgeborene Personen von normal sterblichen Menschen wirklich unterscheidet, ist die Interpretation und Wahrnehmung von Worten. Man interpretiert sie sehr wörtlich. König Argraton, Gemahl Sevitanias, bewies dies an seiner Deutung des Sprichwortes: »Wenn der Prophet nicht zum Berg kommen kann, dann muss der Berg zum Propheten kommen.« Da Argraton der Überzeugung war, dass eine umfassende Allgemeinbildung für die Tätigkeit eines Königs eher abträglich war, empfand er es als Nebensächlichkeit, nicht zu wissen, was wohl ein Prophet sein könnte und verstand den Begriff als allgemeinen Platzhalter für alles Mögliche, zum Beispiel seine Frau. Seiner Frau in Tharbad einen Bergpark bauen zu lassen, hatte zudem den nicht zu unterschätzenden Charme, eine gewisse räumliche Distanz zu ihr zu schaffen. Argraton stimmte mit der Überzeugung seines Vaters überein, dass der Erfolg einer guten Ehe in der Entfernung lag.
Natürlich konnte der königliche Landschaftsarchitekt keine echten Berge versetzen, doch er bemühte sich redlich, diesem Ziel möglichst nahe zu kommen, was hieß, dass Legionen von Zwergen gut zweieinhalb Jahre Unmassen Gestein bewegten. Diesem Umstand war es zu verdanken, dass Uskol den Park als Endpunkt wählte. Denn wo Zwerge Gestein bewegten, waren Gänge und Tunnel nicht fern. Soweit Uskol durch seine Erkundungsgänge das unterirdische Wegenetz erforscht hatte, lag der Park dem olsonschen Anwesen am nächsten und wurde relativ schwach bewacht. Und so erblickten Uskol, Ole, Ivo, Anger und Gilfea das Tageslicht, als sie aus einer bombastischen, künstlichen Grotte traten, die einen ebenso künstlichen und bombastischen See überwölbte.
»Nett!«, verkündete Ivo und zuckte vom Rand der Grotte zurück, »Vielleicht sollte ich erwähnen, dass ich ein kleines Problem mit Sonnenlicht habe.«
Ivo hatte sich inzwischen so sehr an seine menschliche Gestalt gewöhnt, dass er zuweilen vergaß, dass er eigentlich Ivoricalad, der Kristalldrache war. Nun ließ die Witterung Tharbads dies leicht vergessen, da der Himmel im Allgemeinen von tief hängenden Wolken verdeckt war. Nicht so die Gegend um den Gedächtnispark. Der Landschaftsarchitekt, der den Park gestaltet hatte, wartete noch mit einer weitere spektakulären Besonderheit auf. Über dem Park schien fast immer die Sonne. Eine spezielle Fönströmung entlang der echten Gebirgskette Tharbads verhinderte, dass sich Wolken bilden konnten oder löste sie sogar auf.
Ivo streckte versuchsweise seine Hand aus, doch kaum traf ein Sonnenstrahl seine Finger, wurde sie transparent. Das Sonnenlicht wurde wie durch einen Kristall gebrochen und fächerte sogar in alle Regenbogenfarben auf. Von Ivos Hand waren nur noch schemenhafte Umrisse zu erkennen. So stark funkelte und glänzte der Drache.
»Ähm, das nennst du ein kleines Problem?«, fragte Ole Olson.
»Nun ja!«, Ivo zuckte mit den Schultern, »Mich stört’s nicht, allerdings weiß man nie, wie arglose Passanten reagieren. Man gerät ja so leicht in einen schlechten Ruf.«
»Von hier aus müsstet ihr einen sicheren Weg zu eurem Versteck finden können«, Uskol würde nicht weiter mitkommen. Seine Abwesenheit dürfte zwar noch nicht weiter aufgefallen sein, als Leutnant war er öfters allein unterwegs, doch sollte man sein Glück nicht herausfordern.
»Danke, Uskol!«, verabschiedeten sich Ole und Gilfea vom großen Uruk, »Wer weiß, vielleicht bietet sich bald eine Gelegenheit, bei der wir eure Hilfe erwidern können.«
»Das braucht ihr nicht«, entgegnete Uskol und reichte Ole Olson eine Kartenfolie mit den Standorten der Scann-O-Matic-Stationen, die sie noch zu umgehen hatten, »Seid bitte vorsichtig und lasst euch nicht fangen. Ihr habt noch ein paar heikle Stellen zu kreuzen. Kommt heil zu eurem Ziel und befreit euren Freund. Das wäre mir Dank genug. Vielleicht noch eins: erzählt Uskav von mir und den anderen freien Uruks unseres Zuchtstamms. Teilt ihm mit, dass wir bereit sind, für unsere Freiheit zu kämpfen. Wenn er uns ruft, sind wir für ihn da!«
»Ich werde eure Nachricht überbringen«, verkündete Gilfea, »Daelbar wird immer eine Heimstadt der Freiheit und des Friedens sein, egal ob man ein Mensch, Elb, Zwerg oder Uruk ist. Wenn die Zeit reif ist und ihr uns um Hilfe ruft, werden wir da sein.«
Dieses Versprechen war mehr, als Uskol je erwartet hatte. Seine Hoffnung bestand eigentlich nur darin, dass Uskav von seinen ebenfalls freien Brüdern erfuhr, dass sich Daelbar, die Drachenreiter, seiner Sache annahmen, war fast ein Traum, der ihn sehr glücklich machte. In dieser dankbaren und glücklichen Stimmung, wandte sich Uskol an Ivo:
»Ivoricalad, Licht des Mondes. Bevor ich euch verlasse, muss ich noch etwas gestehen, das seit unserem ersten Zusammentreffen in mir gärt. Ich muss euch danken. Vor eurem Besuch bei Golfindel war mein geliebter Elb depressiv und kurz davor, aufzugeben, sich aufzugeben. Ihr könnt euch nicht vorstellen, welchen Schikanen und Misshandlungen er ausgesetzt ist. Doch ihr habt dies geändert. Er lebte auf, schöpft neue Hoffnung und erfreut sich wieder des Lebens. Ihr und Segato habt nicht nur eine Seele gerettet, sondern den Mann den ich liebe. Dafür bin ich euch ewig dankbar und stehe tief in eurer Schuld.«
Statt direkt zu antworten, streckte Ivo seine Arme aus und griff nach dem Uruk. Der zuckte im ersten Moment erschrocken zusammen und hätte fast seine Kampfreflexe ausgelöst. Was ihn stoppte waren zweierlei Dinge. Zum einen konnte er fühlen, dass von Ivo keinerlei Gefahr drohte. Und zum anderen, dass, wenn der Drache die Absicht besessen hätte, ihn, Uskol, zu erlegen, er eh keinerlei Chancen gehabt hätte, sich dagegen zu wehren. Ivo mochte aussehen wie ein Mensch, doch blieb er die ganze Zeit ein mächtiger und überaus starker Drache. Dieser umarmte Uskol, wobei er mit dem Uruk ins volle Sonnenlicht trat. Sofort wurde Ivo vollständig transparent und verwandelte sich in einen glitzernden, funkelnden und lichtdurchfluteten Kristall. Das durch ihn gefilterte und gebrochene Sonnenlicht hüllte Uskol ein und badete diesen mit den Strahlen der Sonne. Eine magische Welle des Glücks und der Freude überflutete den Uruk.
»Ihr braucht mir nicht zu danken«, hörte Uskol Ivos Stimme in seinem Kopf. Eine Gefühlswellle bestehend aus Liebe und Zuneigung durchströmte ihn. Noch nie hatte er derartige Empfindungen verspürt. »Du hast dich deiner Versklavung entledigt und einen Weg eingeschlagen, der das Leben und das Gute verehrt und beschützt. Gilfea hat wahr gesprochen. Ich erneuere es und sage dir, dass es für uns alle gilt: Jeder Drache wird dir und deinen Brüdern beistehen, solltet ihr unsere Hilfe bedürfen. Das sage ich dir! Ich Ivoricalad, Drache Daelbars im Namen meiner Brüder. Doch …« Ivos Stimme klang plötzlich sehr frech und ausgesochen lüstern, »Von einem Uruk mal richtig tief geküsst zu werden, hätte schon was.«
Es brauchte ein paar Sekunden, bis Uskol begriff, worauf Ivo anspielte. Den Uruk umspiele ein hinterhältiges aber ebenfalls lüsteres Grinsen: »Du weißt, dass das Teil eigentlich zum Morden gedacht ist?«
»Natürlich! Deswegen will ich es ja. Was wäre subversiver, als Mordwerkzeuge zu Werkzeugen der Zuneigung umzunutzen? Und wie ich Golfindel einschätze, dürfte er einen Uruk, der talentiert mit seinen körperlichen Attributen umgehen kann, sehr zu schätzen wissen.«
Mit diesen Worten schob Ivo Uskol in den Schatten der künstlichen Gebirgshöhle und wurde wieder sichtbar. Uskol erschauderte. Dieser menschliche Drache sah selbst in den Augen eines Uruks unerträglich attraktiv aus. Außerdem ließ Ivo für einen winzigen Moment einen Bruchteil seiner wahren Kraft durchschimmern, als er Uskol gegen eine Höhlenwand drückte. Wie gesagt, Ivoricalad mochte wie ein Mensch aussehen, war aber eindeutig ein Drache. Sein zupackender Griff entsprach dem eines Schraubstocks. Wäre Uskol kein Uruk, der über einen wesentlich robusteren Körperbau als die meisten Lebewesen verfügte, hätte Ivo ihm etliche Knochen gebrochen. Dabei spürte der Uruk, dass sich der Drache noch extrem zurück hielt und nur soviel lüsterne Gewalt einsetzte, wie es ein Uruk liebte. Die Echse in Menschengestalt war ohne Zweifel in der Lage, Uskol ohne jegliche Anstrengung mit seinen bloßen Händen in winzige Teile zu zerfetzen.
Doch so durchlief Uskol ein wohliger Schauer der Lust. Als Uruk war er darauf gezüchtet worden, Schmerz als Lust zu empfinden und dieser freche, geile, lüsterne Drache wusste ganz genau, wo und wie er zupacken musste, um Uskol fast in den Wahnsinn zu treiben. Jedenfalls reichte es, um seine Lustreflexe auszulösen. Der Uruk erwiderte Ivos rauhartes Vorgehen, krallte sich am Drachen fest und begann ihn mit seiner Urukzunge tief zu küsste, so wie dieser es forderte. Uskols Zunge drang weit in Ivos Rachen ein und füllte diesen aus. Jeder Mensch wäre erstickt, doch Ivo genoss es, denn Uskol war wild, hart und ursprünglich und darin dem Drachen recht ähnlich.
Man muss zugeben, dass Ivoricalad ein recht ungewöhnlicher Drache war. Extrem lustbetont. Er genoss das Leben und noch mehr den Sex, egal wo er sich ihm bot, auch, wenn Ort und Zeit nicht unbedingt passend waren. Das Gilfea, Anger und Ole neben ihm und Uskol standen und die etwas intensivere Liebesszene in fast all ihren Details mitbekamen, stört Ivo nicht sonderlich. Eigentlich störte es ihn gar nicht. Er mochte Uskol und das wollte er dem Uruk auch zeigen. Und da er wusste, was Uruks anmachte, revanchierte er sich für den Kuss. Ivo verwandelte seine Hände zurück in Drachenklauen und bohrte diese scharfkantigen Krallen in Uskols Fleisch. Der Uruk stöhnte auf vor Lust. Dann ließ Ivo von Uskol ab musterte ihn. Der Uruk schauderte und blickte verzückt zurück.
»Ich hoffe Golfindel wird nicht eifersüchtig sein«, fragte Ivo vorsichtig und mit entschuldigendem Tonfall.
Uskol grinste versonnen, musterte seine perforierten Unterarme und leckte sich genussvoll das eigene Blut ab: »Nein, höchstens, dass er euch nicht ebenfalls küssen konnte.«
»Dann sagt ihm bitte, dass ich es bei nächster Gelegenheit nachholen werde!«
Uskol verabschiedete sich auf eine urukuntypisch schüchterne Art, wobei er noch mehrfach Ivo verstohlene Blick zuwarf. Als Uskol dann seinen Rückweg antrat und sich die restliche Gruppe auf den Weg zu Oles Unterschlupf begaben, trat Gilfea zu Ivo heran.
»Das war aber ein bisschen mehr, als nur eine freundlich Verabschiedung, oder?«
»Eifersüchtig?«, entgegnete Ivo frech grinsend.
»Och, Ivo, vergiss bitte nicht, mit wem du sprichst«, der Drachenreiter und Seele Mithvals bedachte Ivo mit einem wissenden Blick.
Ivos Grinsen verschwand und wurde durch einen ernsten Ausdruck ersetzt: »Gut, du hast Recht!« Ivo wiegte seinen Kopf hin und her: »Bei dem, was Uskol bevorsteht, wird er alle seine Kräfte brauchen.«
»Und da dachtest du, ein Splitter deiner Kristallschuppen könnte nicht schaden?«
Statt zu antworten grinste Ivo Gilfea nur verschworen an. Während er von Uskol geküsste wurde und dem Uruk im Gegenzug seine Klauen ins Fleisch bohrte, hatte Ivo einen Splitter seiner Kristallschuppen abbrechen und in Uskol eindringen lassen. Dieser Splitter, so winzig er war, hatte es in sich. Denn auch er enthielt das Wesen und die Essenz Ivos. Durch ihn übertrug sich ein wenig der Stärke, Weisheit, Güte, Intelligenz und vermutlich auch Lüsternheit des Drachens auf Uskol. Es war ein fürstliches Geschenk, das Ivo mehr als bereit war zu geben. Der Uruk hatte sehr viel riskiert, um sie zu retten. Er hatte nicht nur die Geheimpolizei hintergangen, sondern sogar seine eigenen Untergebenen getäuscht, weil er an die Richtigkeit von Ivos Sache glaubte.
Uskol sollte mit seinem Hinweis Recht behalten. Der kleine Trupp bestehend aus Ole Olson, Anger, Gilfea und Ivoricalad hatte noch ein paar heikle Stellen zu überwinden, an denen die Scann-O-Matic-Apparate der Stadt eine großen Fläche überblickten. Die erste Hürde stellte ein kleiner Platz dar. Eigentlich war es nicht mehr, als eine mit Steinplatten gepflasterte Fläche, auf dem ein durch den Dreck und Ruß der Jahrzehnte schwarz angelaufenes Sandsteinehrenmal zu Ehren eines längst vergessenen Admirals seiner Majestät des Königs errichtet war. Das Scann-O-Matic-Auge, das diesen Platz überwachte, besaß eine Besonderheit. Es schaute abwechselnd in verschiedene Richtungen. Allerdings tat es das so vorhersehbar, dass Ivo und seine Freunde schnell ein Muster entdeckten, welches ihnen ermöglichte, den Platz unbemerkt zu überqueren.
Die nächste Hürde war schon etwas kniffeliger. Gleich zwei Scann-O-Matic-Augen, die in beide Richtungen einer zu kreuzenden Hauptverkehrsstraße schauten blockierten ihren Weg.
»Kniffelig!«, meinte Gilfea.
»Unmöglich!«, ergänzte Ivo.
»Eine Sackgasse!«, fällte Ole Olson das finale Urteil.
»Vielleicht auch nicht …«, erwiderte Anger und sah sich um, »Wartet hier!«
Dass der junge Neovikinger schlauer und abgebrühter war, als er durchblicken ließ, hatte Gilfea bereits beim Passieren des Hauptzolltores des Freihafen erfahren, doch was Anger jetzt tat, demonstrierte, dass er es faustdick hinter den Ohren hatte. Er näherte sich einem am Straßenrand geparkten Gleiter, der sich noch außerhalb des Sichtfeldes der magischen Augen befand und lehnte sich fast beiläufig daran. Es dauerte keine halbe Minute, da war die Tür auf und Anger winkte Ole, Ivo und Gilfea zu, sich zu ihm in den Wagen zu setzen.
»Man könnte sowas Diebstahl nennen, oder?«, meinte Ole amüsiert.
»Welch böses Wort!«, entgegnete Anger, »Wir parken den Wagen doch nur um.«
Worauf Anger genau das tat. Er startete den Gleiter, dessen Antrieb er auf nicht näher durchschaubare Weise in Betrieb genommen hatte, fädelte in den Straßenverkehr ein, überquerte die kritische Kreuzung und parkte den Wagen etwas außerhalb des Sichtbereichs der Scann-O-Matic.
Schritt für Schritt näherte man sich so Ole Olsons Unterschlupf, wo die kleine Gruppe bereits von ihren Freunden und Drachen erwartet wurde.
Ich muss gestehen, dass ich mehr als nur etwas nervös war, meine Freunde endlich wieder zu sehen. Als Erogal zusammen mit Sebastian das große Tor des Lagerhauses öffnete und meine geschuppten Freunde hineinschwebten, hielt ich den Atem an. Wie würden sie auf mich reagieren, der sie einfach bei Nacht und Nebel verlassen hatte? Waren sie verärgert oder wütend auf mich? Verfluchten sie mich, da durch meine Dummheit Suman, mein allerliebster Suman, in Gefangenschaft geraten war?
Ich machte mir zu viel Sorgen. Gildofal, Mithval, Tingalen und Eargilin fielen sofort über mich her. Doch statt mich mit Vorwürfen zu überhäufen und mir den Kopf abzureissen, umarmten sie mich nur (Gildofal) oder stupsten mich liebevoll mit ihren Schnauzen an.
»Ich glaube, ich habe ziemlich schwachsinnig reagiert, oder?«, fragte ich meine Freunde.
»Etwas —«, meinte Mithval mit schmunzelndem Unterton in der Stimme, »Deine Motive waren edel und selbstlos, so schwachsinnig sie auch waren. Du bist halt ein Gildemeister, da kann man wenig gegen machen!«
»Hey!«, mischte sich Erogal ein, »Sich über eine Omegadirektive hinwegzusetzen erfordert schon ein gerütteltes Maß Mut. Für einen Jungspund wie unseren Segato war das schon ziemlich beachtlich.«
»Ich weiß nicht. Wegen mir wurde Suman gefangen genommen«, ich hätte heulen können, riss mich aber zusammen. Innerlich zitterte ich vor Angst meinem Liebling könnte etwas zustoßen. Wer weiß, was man mit ihm anstellte? Ich hätte es nicht ertragen können, würde man ihm auch nur ein Haar krümmen. Der Gedanke, dass man Suman folterte, verursachte einen bitteren Geschmack in meinem Mund. Doch äußerlich versuchte ich mir nichts davon anmerken zu lassen. Schließlich war ich ein Gildemeister und darauf geschult, meine Emotionen zu kontrollieren.
»Wir werden ihn retten!«
Die großen, tiefen, liebenvollen Augen Gildofals schauten mich an und verkündeten laut und deutlich, dass er meine Selbstkontrollfassade vollständig durchschaut hatte. Ich ließ meine Maske fallen und fiel Gildofal in die Arme. Mein elbischer Geliebter war so sanft, so einfühlsam und verständnisvoll, wie kein anderer. Allein die Berührung durch seine schlanken Finger, die Samtigkeit seiner Haut, die sich wie ein leichte Brise anfühlte, ließ mich neuen Mut schöpfen.
»Gildofal!«, fiel ich Gildofal in die Arme, schmiegte ich mich fest und eng an ihn.
Gildofal sagte nichts, sondern erwiderte meine Umarmung. Der große Elbe strich mich durchs Haar, streichelte meine Wange und küsste mich sanft.
»Hast du schon etwas von Gilfea gehört?«, fragte Gildofal, nachdem ich meine enge Umklammerung für einen Moment löste.
»Nein, noch nichts!«, meinte ich, »Gilfea, Ivo, Ole und euer kleiner Neovikinger, wie hieß er noch, Amger?«
»Anger!«, korrigierte Gildofal, wobei er grinste, da er ganz genau wusste, dass mir Angers Name gar nicht entfallen konnte. Mein PDA-Implantat vergaß nie etwas.
»Die drei sind noch unterwegs. Ivo meint, sie müssten noch ein paar kleine Hürden überwinden.«
Bei der Erwähnung meiner Echse musste Gildofal grinsen, wurde dann nachdenklich und begann mich zu mustern: »Ich bin froh, dass du wieder da bist. Du hast uns gefehlt, uns allen!«
»Elben!«, hörte ich eine Stimme, die zu einem Jungen gehörte, den mir Erogal als früheren Vikar der unifizierten Technokratie vorgestellt hatte. Inzwischen schien er sich zum Drachenpfleger berufen zu fühlen. Seine Bemerkung klang etwas abschätzig, war wohl aber nicht so gemeint. Denn wenn man genau hinhörte, konnte man die Furcht in seiner Stimme erkennen.
»Ah, du musst Sebastian sein, oder?«, fragte Gidofal, nachdem er sich von mir gelöst und Sebastian zugewandt hatte.
»Äh … Ja?«, stammelte Sebastian, der Gildofal und mich unsicher anstarrte, »Ich meinte das nicht so, wie es geklungen hat.«
»Natürlich nicht!«, lachte Gildofal, der eine Lüge sofort erkannt hätte, »Hast du Angst vor mir?«
Sebastian nickte schüchtern. Ole und Erogal hatten mir ihren tölpelhaften Attentäter schon vorgestellt. Er war ein niedliches Kerlchen und schien eigentlich nicht dumm zu sein. Allerdings präsentierte er sich ein wenig schreckhaft. Vor den beiden Zwilligen Sulomile und Sulogorn schien er überhaupt keine Angst zu haben, was bei Menschen an sich ungewöhnlich war. Selbst der gigantische Mithval, Drache aller Drachen, schien Sebastian eher zu faszinieren statt zu ängstigen, näherte er sich meinem reptilen Freund kaum dass dieser gelandet war. Er berührte den Mithrildrachen sogar, nachdem er Mithval ihm freundlich nickend dies gestattet hatte. Doch vor einem Elben wich Sebastian zurück.
»Ich?«, fragte Sebastian mit vibrierender Stimme. Gildofal schaute mich hilfesuchend an: »Bin ich so angsteinflößend?«
»Und wie!«, schmunzelte ich, »In deiner Nähe bekomm ich immer weiche Knie!«
»Witzbold!«, knurrte mein Freund, was erschreckend komisch wirkte, da Gildofal und Wut ungefähr so gut zusammen gingen wie Wasser und Öl.
»Sebastian, jetzt sei kein Frosch und begrüße meinen Freund Gildofal«, sprach ich dem ehemaligen Vikar Mut zu.
»Versprichst du mir, dass er mich nicht verhexen wird?«
»Verhexen?«, fragten Gildofal und ich gleichzeitig.
»Natürlich!«, insistierte Sebastian, »Er ist ein Elb. Im Priesterseminar haben wir alles über die Zauberkraft der Elben erfahren. Es sind hochmagische Wesen, die unseren Geist verwirren wollen, damit wir ihnen blindlings vertrauen und dadurch zu ihren willenlosen Marionetten werden.«
»Ach?«, meinte ich und musterte Gildofal gespielt ernst, »Warum hast du mir nie gesagt, dass ich deine willenlose Marionette bin?«
Gildofal tat unbeeindruckt: »Du hast mich nie gefragt.«
Sebastian starrte uns ungläubig, mit offenem Mund und zunehmend wütend an: »Ihr nehmt mich nicht erst, oder?«
»Oh doch!«, betonte ich, »Wir nehmen dich sehr ernst. Nur nicht den Schwachsinn, den man dir eingetrichtert hat. Gildofal mag alles mögliche sein und auch tun, aber verhexen wird er dich nie. Vielleicht wird er dich mit seinem Charme und seiner Liebe bezaubern, aber daran kann ich nichts Schlechtes entdecken. Es stimmt, Elben sind magische Wesen, aber das sind die Drachen auch. Vor denen scheinst du keine Angst zu haben. Hast du dich eigentlich nie gefragt, wie Ivo das Kunststück fertig bringt, sich von einen Drachen in einen Menschen zu verwandeln?«
Erschrocken schaute sich Sebastian zu den Drachen um: »Ihr Viecher seid magisch?«
»Hochmagisch, bittschön! So viel Zeit muss sein! Willst du mich mal im Dunkeln funkeln sehen?«
Versteckte Waffen
Was wir lieben, bringt uns um.
Leitsatz 8 des Ordens der Neovikinger
»Äh …«, mehr brachte der ehemalige Vikar der unifizierten Technokratie nicht über die Lippen. Ungläubig schaute er von Mithval, der ihn treudoof anblinzelte, über Tingalen und Eargilin zu den Sulozwillingen.
»Ich hab’ dir gleich gesagt, dass wir es ihm hätten sagen sollen.«
»Und uns um den Genuss seines einmalig dummen Gesichtsausdruck bringen? Hey, wir sind Raubtiere, ein wenig Spaß muss schon sein. Das ist genetisch!«
»Willkommen in der Wirklichkeit, mein Freund«, grinste Gildofal.
Sebastian ließ sich auf einen Hocker fallen, der das Pech hatte in seiner Nähe herum zu stehen: »Kann mich mal jemand kneifen? Mein Auftrag war ganz einfach. „Bring D’Santo um!“ Klingt doch nicht schwierig, oder? Und wo lande ich? Zwischen magischen Drachen und Elben. Kann mir mal jemand verraten, was ich verbrochen habe?«
Gildofal warf mir einen fragenden Blick zu, den ich mit einem zustimmenden Nicken beantwortete, worauf sich mein Freund und ich auf zwei weitere Hocker nieder ließen, die so unvorsichtig waren, neben dem ersten Hocker zu stehen.
»Ich weiß ja nicht, was man dir in deinem Priesterkonvent über Magie, Drachen und Elben erzählt hat, aber der Realität scheint es nur bedingt zu entsprechen«, fragte Gildofal.
»Willst du sagen, man hat mich belogen?«
»Das hab’ ich nicht gesagt, außerdem musst du das selbst entscheiden«, entgegnete ich. Erogal hatte mir Sebastians Geschichte kurz geschildert. Der Typ hatte ziemlich in die Scheiße gegriffen, um es vorsichtig zu formulieren, »Ich würde mich schon fragen, was ich von Mitbrüdern, Priestern, Bischöfen und Kardinälen zu halten hätte, die mich beim Scheitern eines Auftrages gleich hinrichten würden.«
»Ach, und bei euch in Daelbar ist alles besser? Wenn einer von euch einen Fehler macht, wird er belohnt, oder wie?«, fragte Sebastian. Nach allem, was ich von Erogal erfahren hatte, schien der junge Mann unter Stimmungsschwankungen zu leiden. Dies war mehr als verständlich. Natürlich war ihm klar, dass er durch sein Scheitern sein Leben verwirkt hatte. Die Kirche stellte sich bei manchen Fehler wirklich pingelig an. Mordaufträge zu verbocken gehörte auf jeden Fall dazu.
Ich verstand Sebastians Gefühle und konnte seine Situation nachvollziehen. Mir und Erogal ging es genaugenommen wie ihm. Auch unsere Organisation stellte sich zickig an und trachtete nach unserem Leben. Zu entdecken, dass alles, woran man glaubt auf zumindest teilweise äußerst fragwürdigen Prinzipien gebaut war, die eigentlich im krassen Widerspruch zu den eigenen Interessen standen, wie dem Wunsch zu leben, stehen, bereitet nicht wirklich Freude. Dabei hatten Erogal und ich noch Glück. Erogal konnte seinen Bruch mit der Gilde durch Erfahrung und Weisheit verarbeiten. Ich hatte Ivo. Doch wen hatte Sebastian? Sein bisheriges Leben lag in Scherben, doch fußte sein gesamtes Wissen auf diesen Scherben.
»Du hast Recht«, wenn wir Sebastians Vertrauen gewinnen wollten, mussten wir ehrlich zu ihm sein, »Ich war oder bin, im Moment ist das nicht so ganz klar, ein Gildemeister. Auch ich musste feststellen, dass meine Mitbrüder bestimmte Fehler nicht verzeihen. Wie dir, trachtet man mir nach dem Leben. «
»Das scheint dich aber nicht sonderlich zu stören, oder?«
»Ja und nein«, gestand ich und schaute Gildofal dabei an, »Um mich mach ich mir keine Sorgen. Doch man verfolgt auch meine Freunde. Ich kann auf keinen Fall zulassen, dass ihnen etwas geschieht!«
»Und was hast du getan?«, fragte Sebastian.
»Mich zwischen überholten Regeln und denen, die ich liebe und die mich lieben, entschieden. Meine Freunde werden mich niemals im Stich lassen und auch meine größten Fehler vergeben. «
Sebastian musterte mich und bemerkte dabei, wie ich Gildofal anschaute und wie dieser meinen Blick erwiderte: »Du liebst einen Elben?«
»Oh ja, unsterblich!«
»Also hat er dich verhext!«, zog Sebastian den für einen Priester der U.T. zwangsläufigen Schluss.
»Schon wieder dieses Wort!«, knurrte Gildofal wütend, was bei ihm einfach nur süß klang, »Seh’ ich etwa wie ein Hexenmeister aus? Ich bin ein simpler Elb! Schau: absolut makellose Gesichtshaut, spitze, formschöne Ohren, große, runde, tiefgründige Augen, blondes, wallendes Haar, das niemals verklettet, schlank, fast hager und langgliedrig. Wenn man es kurz fasst, bin ich ein Feld-, Wald- und Wiesenelb.«
»Toll, du musst mit deiner Schönheit nicht auch noch angeben!«, knurrte nun seinerseits Sebastian, »Es reicht, dass ihr uns damit verführen wollt!«
»Verführen?«, der Versuch frustriert aufzulachen, scheiterte. Gildofals glockenhelles Lachen konnte nichts anderes, als wohlklingend und niedlich sein, »Verdammt, du hast wirklich keine Ahnung, oder? Es gab Zeiten, da hätte ich meinen linken Arm für einen Pickel geopfert. Ich stamme aus dem großen Elbenreservat Goldors und musste eine der königlichen Schulen besuchen, die, wie du vielleicht weißt, von deinen Priestern geführt werden. Hast du ungefähr eine Idee davon, wie Elben dort behandelt werden?«
»Nö?«, Sebastian wollte zwar distanziert und abweisend klingen, doch schimmerte sowohl Neugier als auch eine Ahnung, wie es Gildofal ergangen, in seiner Stimme hindurch. Gildofal antwortete, in dem er ihm die Geschichte seiner Flucht aus Goldor und die Gründe, die dazu führten erzählte. Er erzählte, dass er aus Goldor flüchten musste, weil er sich bei seinem orkschen Mitschüler namens Krotos nicht dafür entschuldigen wollte, ein Elb zu sein.
»Warum hast nicht einfach klein beigegeben und dich bei Krotos entschuldigt?«
Natürlich ahnte Sebastian die Antwort. Langsam begriff er, worum es wirklich ging. Gildofals Lehrer hatte genau so gehandelt, wie man es den Priestern der unifizierten Technokratie beigebracht hatte: Man mochte Orks. Sie waren relativ leicht zu kontrollieren, schließlich züchtete man sie entsprechend. Elben hingegen, standen von ihrem ganzen Wesen her im Widerspruch zur Lehre der Kirche. Sie waren in gewissem Sinne unkontrollierbar und damit eine stetige Bedrohung der Kirche. Was, wenn jemand auf die Idee kam, den Elben bei ihren Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu folgen? Nachher kam das Volk noch auf die Idee, solche aberwitzigen Konzepte wie Demokratie zu verlangen!
»Du weißt warum«, entgegnete Gildofal auf Sebastians Frage mit sanfter, unverbitterter Stimme, »Ich wollte und ich konnte nicht mehr leugnen, wer und was ich bin. Goldor und die Kirche wollten, dass ich kein Elb sei oder mich zumindest nicht wie einer verhielt. Doch genau so wenig, wie Mithval nicht aufhören kann ein Drache zu sein, konnte ich nicht aufhören ein Elb zu sein. Als ich dies erkannte, wurde ich zum Feind des Systems. Ich musste Goldor verlassen oder wäre eingesperrt worden.«
»Ist denn die Kirche wirklich so schlimm?«, Sebastian stürzte mehr und mehr in eine Existenzkrise.
»Urteile selbst«, forderte ich Sebastian auf, »Als Gildebruder und noch mehr als Gildemeister wurde ich mit Wissen quasi bis zum Anschlag vollgestopft. Dazu gehörte auch die Geschichte der Gilde und der der unifizierten Technokratie. Beide verfolgten anfangs recht ähnliche Ziele, wählten aber unterschiedliche Wege. Sowohl die Gilde als auch die Kirche wollten das Böse in der Welt bekämpfen. Wobei die Gilde der Meinung war, dass man dies am besten erreicht, wenn man den Menschen Wissen vermittelte, damit sie gute und vernünftige Entscheidungen träfen. Die Kirche hingegen meinte, dass die Menschen einer Führung bedürften und verstand sich daher als Elite, die das Volk leitete. Bei diesen Ausgangspositionen wundert es nicht wirklich, dass sich beide Lager nicht sonderlich mögen. Die beiden Konzepte passen alles andere als gut zusammen.«
»Hm, und wer ist jetzt besser?«
»Keiner!«, rief ich entschieden, »Uns Drachenreitern liegen die Ideen der Gilde zwar deutlich näher, denn Daelbar ist eine Demokratie von freien und gleichen Bürgern. Ein Bäcker, der täglich das Brot für uns bäckt, besitzt die gleichen Rechte und Pflichten wie der weiseste und älteste Drache. Allerdings bin ich inzwischen der Überzeugung, dass die Gilde viele ihrer Ideale vergessen, wenn nicht sogar verraten hat. Wenn Riten und Regeln zum Selbstzweck werden und man beginnt sie nicht mehr zu hinterfragen, vielleicht sogar ihre Gründe nicht mehr kennt, dann läuft etwas arg schief. Das ist jedenfalls mein Urteil, das ich über die Gilde leider fällen muss, obwohl ich ihr sehr viel, sogar mein Leben, zu verdanken habe.«
Das gab Sebastian etwas zum Nachdenken. Er schaute wechselweise mich und Gildofal an, wusste aber nicht so recht, was er sagen sollte. Man konnte sehen, dass er sehr unsicher war, was er machen sollte; wie er sich verhalten sollte. Sollte er die Kirche wirklich hinter sich lassen und ein neues Leben in Daelbar wagen? Ich entschied, dass der junge Exvikar, eine kleine zusätzliche Motivation gebrauchen konnte. Ole hatte etwas erwähnt, dass Sebastian offenbar dem eigenen Geschlecht zugetan war. Erstaunlich, wenn man bedachte, dass die Kirche eine recht explizit ablehnende Position zur Homosexualität vertrat und sie offiziell in ihren Reihen nicht duldete. Was natürlich nicht hieß, dass es sie nicht gab.
»Was hält eigentlich deine Kirche davon, dass du auf Männer stehst?«, fragte ich im munteren Plauderton und wusste in gleichem Moment, dass ich einen Fehler begangen hatte.
Sebastian starrte mich entsetzt an, öffnete seinen Mund, brachte jedoch kein einziges Wort heraus. Sein Anblick erinnerte entfernt an einen Fisch auf dem Trockenen und löste bei mir pflichtgemäß das schlechte Gewissen aus. Mit der Frage war ich zu weit gegangen.
»Entschuldige bitte!«, ich biss mir auf die Lippen, »Es tut mir Leid. Das hätte ich nicht sagen dürfen. Ich …«
»Es war der Grund!«, unterbrach mich Sebastian, sorgte damit aber nur für Verwirrung, die Gildofal in Worte fasste: »Was war welcher Grund wofür?«
Sebastian seufzte, holte tief Luft und starrte einen Moment zu Decke, um Kraft zu sammeln und dann zu verkünden: »Dass ich auf Männer stehe war der Grund für den Auftrag, Erogal zu erledigen!«
Als Sebastian sein Geheimnis endlich ausgesprochen hatte, wurde er ruhiger. Im sachlichem Ton schilderte er, wie er zu dem Mordauftrag kam: »Ein Priester, genaugenommen ein Nuntius der Kurie, besuchte mich im Konvent. Ich kannte ihn nicht, aber seine Legitimation war echt. Er stellte sich als Inquisitor vor, dessen Aufgabe es sei, glaubensgefährdenen Gedanken, häretischen Ideen und ketzerischen Handlungen nachzugehen. Ich glaube nicht, dass ihr euch vorstellen könnt, welche Machtbefugnisse ein Inquisitor besitzt. Ich habe selbst erlebt, wie Kurienkardinäle zu schwitzen begannen, als die Sprache auf die Inquisitoren kam. Ihre Befragungen sollen manchmal Tage dauern. Doch dieser schien sich mit mir nicht lange aufhalten zu wollen. Er sagte mir auf den Kopf zu, dass man mich widernatürlicher und ketzerischer Neigungen für schuldig hielt. Meine einzige Chance, mich dieser Schuld zu entledigen, wäre einen Beweis für die Festigkeit meines Glaubens zu erbringen. Zacharias von Rochsinasul, ein Freund und Förderer der Kirche, hätte ein Problem, bei dem ich ihm helfen könnte: Erogal D’Santo.«
Exbruder Sebastian war sich dessen gar nicht bewusst, doch seine Erzählung enthielt eine Information, die ein ganz anderes Licht auf die geplante Ermordung Erogals lenkte. Bisher hieß es immer, Zacharias hätte den Auftrag direkt erteilt, doch war dem nicht so. Einzig das Wort des Inquisitors stützte diese Behauptung. Ein Novize, ein Vikar wie Sebastian, hätte niemals an seinem Wort gezweifelt, geschweige denn es hinterfragt, weswegen es auch nicht verwunderte, dass er dieses Detail bisher verschwiegen hatte.
»Er wusste, dass ich scheitern würde, oder?«, fragte Sebastian leise.
Ich nickte: »Sieht ganz so aus …«
»Aber warum?«
Eine interessante Frage. Aus welchem Grund würde man einem unerfahrenen Vikar den Auftrag erteilen, einen erfahrenen Gildemeister zu liquidieren? Dass er fast Erfolg gehabt hätte, war meiner Einschätzung nach purer Zufall. Eigentlich hätte Sebastian nicht die geringste Chance haben dürfen. Also warum schickte man ausgerechnet ihn?
»Zieh dich aus, sofort!«, rief plötzlich Gildofal.
»Ich bezweifle ernsthaft, dass dies der passende Moment …«, begann ich, wohl ahnend, dass Gildofal eine ganz andere Motivation verfolgte, als es den Anschein hatte. Aber bei einer derartigen Steilvorlage konnte ich einfach nicht widerstehen. Ivos Charakter schien auf mich abzufärben.
»Warum nicht? Er sieht doch ganz lecker aus!«, grinste mich Gildofal an, der das Spiel ebenfalls beherrschte.
»Hey, ihr zwei perv … Ähm, also … Ich werde mich nicht ausziehen!«, protestierte Sebastian.
»Doch, wirst du!«, entgegnete ich mit ernster Stimme, als mir klar wurde, welcher Gedanke Gildofal beschlichen hatte, »Denk bitte einmal nach: Warum sollte man ausgerechnet dich, einen schwulen, unerfahrenen, aber durchaus attraktiven Typen schicken, um Erogal D’Santo zu ermorden, obwohl man wusste, dass deine Chance gleich Null war? Wenn du es vielleicht noch nicht bemerkt hast, die meisten von uns stehen auf Männer, angefangen bei Ole, über Gilfea, Gildofal, Suman und mich. Selbst mein Drache ist schwul! Sebastian, du bist eine Waffe!«
»Eine Waffe?«, fragte Sebastian nervös, ungläubig, ängstlich und verwirrt.
»Segato und ich glauben«, begann Gildofal zu erläutern, »dass dein Auftraggeber fest davon ausging, dass du deinen Jobs verbockst und stattdessen mit uns im Bett landest.«
»Ich Idiot! Ich naiver Vollidiot!«, schrie Sebastian plötzlich wütend, »Wie konnte ich so blind sein und nicht selbst auf die Idee kommen? Dabei hatte Ole sogar erzählt, wie er Gonzales de Silva mit vergiftetem Gleitgel umgebracht hat. Hat man aus mir einen Giftköder gemacht?«
»Das würden wir gerne rausfinden«, erläuterte Gildofal, »Ich glaube allerdings nicht, dass man bei dir Gift verwendet hat. Das passt nicht zur Kirche. Ich vermute eher eine Beschwörung oder einen Fluch.«
»Moment! Eure Vermutung macht keinen Sinn. Würde ich nicht wissen, dass ich eine Waffe bin?«, fragte Sebastian.
»Nein, eigentlich nicht. Es gibt genügend Möglichkeiten, zu verhindern, dass du davon weißt. Man könnte dein Gedächtnis gelöscht haben oder vielleicht wurdest du in Trance versetzt. Das du nichts davon weißt, ist sogar sehr wahrscheinlich. Die beste Waffe ist die, der man nicht ansieht, dass sie eine ist. Deswegen möchte ich, dass du dich ausziehst. Ich weiß, du magst uns Elben nicht, aber es ist die einzige Möglichkeit, zu sehen, was man mit dir angestellt hat.«
Sebastians verängstigtes Gesicht sagte mir, dass ein paar erläuternde Worte angebracht waren: »Elben sind magische Wesen und nehmen die Welt anders wahr, als wir Menschen. Sie leben halb in unserer und halb in der Welt der Magie. Sollte also ein Fluch auf dir liegen oder du von etwas besessen sein, kann Gildofal das sehen.«
Unsicher blickte Sebastian von mir zu Gildofal und wieder zurück: »Gut, aber nicht hier. Nicht vor all den anderen. Können wir in mein Zimmer gehen?«
»Natürlich!«, grinste Gildofal.
Wir verließen die große Halle. Die Drachen insbesondere Mithval schauten uns mit anzüglichen Grimassen auf den Schnauzen nach, was ich nur mit einem Kopfschütteln kommentieren konnte. Wie konnte man nur über soviel schlüpfrige Gedanken verfügen, wie diese Echsen?
Erogal und Ole hatten Sebastian ein eigenes Zimmer gegeben, was bei der beschränkten Zahl der abgetrennten Räume über die das Lagerhaus verfügte, fast schon Luxus war. Das Zimmer war klein, aber ausreichend und war absolut eindeutig ein Zimmer eines ehemaligen Vikars. Die Ordnungsliebe der Kirche schlug voll durch. Das Bett war gemacht, es lagen keine Kleidungsstücke herum und selbst der kleine Schreibtisch war aufgeräumt.
Sebastian ließ Gildofal und mich in sein Zimmer, schlüpfte dann selbst hinein und schloss die Tür hinter sich. Wieder sah er uns ängstlich, aber auch ein bisschen schüchtern an.
»Ihr versprecht mir, dass ihr mich nicht einfach nur befummeln wollt?«, hakte Sebastian nach.
»Gegenfrage: Hast du, seid du den Auftrag Erogal zu liquidieren erhieltst, mit irgend jemand gefummelt?«, stellte ich eine Gegenfrage.
Sebastian senkte seinen Blick und schüttelte seinen Kopf: »Nein, hab’ ich nicht. Aber ich hätte fast. Ole ist schon ein geiler Typ, oder?«
Wir entgegneten nichts und lächelten nur zustimmend. Sebastian begann sich zu entkleiden. Er verfügte über einen knuffigen Körper. Man konnte ihn sicherlich nicht als Hungerhaken bezeichnen, aber dick oder pummelig traf auch nicht zu. Sebastian war im besten Sinne stämmig, aber auf der muskulösen Seite, was bei der Priesterausbildung der Kirche nicht verwunderlich war.
»Ganz?«, kam die unvermeidliche Frage.
»Ganz!«, die ebenso unvermeidliche Antwort.
Sebastian ließ auch die letzte Hülle fallen und stand nun nackt vor uns. So langsam ahnte ich, warum ihm die Sache peinlich war. Sein bestes Stück flaggte Halbmast. Unser junger Exvikar schien der Situation einen gewissen erotischen Reiz abgewinnen zu können, was uns im Moment aber nicht interessierte. Ich schaute mehr zu Gildofal als zu Sebastian. Der Elb konzentrierte sich wiederum ganz und gar auf Sebastian. Er nahm einen Stuhl und setzte sich unmittelbar vor Sebastian hin, um ihn aus nächster Nähe betrachten zu können.
»Und kannst du schon etwas sehen?«, fragte ich leise.
Gildofal zögerte: »Nein, noch nicht … Auf der Oberfläche seines Körper scheinen weder Flüche noch Beschwörungen zu liegen. Aber damit hab’ ich auch nicht gerechnet. Allerdings ist da etwas … Ich kann es noch nicht greifen, aber das Gefühl ist eindeutig: Schwarze Magie!« Zu Sebastian gewandt: »Würdest du dich bitte umdrehen?«
Der Novize gehorchte. Die klinische Sachlichkeit mit der Gildofal seine Untersuchung absolvierte, färbte ab. Sebastian wurde ernster, seine anfängliche Schüchternheit machte der Furcht Platz, tatsächlich verflucht oder verhext zu sein. Auch sein bestes Stück senkte sein Haupt.
»Nein, nichts auf seiner Haut«, verkündete Gildofal, »Versuchen wir mal etwas anderes.«
Mein Lieblingselb streckte seine Hand aus und fuhr mit seiner Handinnenfläche dicht über Sebastians Körper ohne ihn zu berühren.
»Was machst du?«, fragte Sebastian.
»Manche Flüche und Beschwörungen reagieren auf die Nähe eines potentiellen Opfers.«
»Und?«
Gildofal wiegte seinen Kopf hin und her: »Meine Empfindungen sind nicht eindeutig. Ich bin mir sicher, schwarze Magie in dir zu spüren, allerdings reagiert sie nicht auf meine Nähe. Sie scheint sogar schwächer geworden zu sein, als sie eben noch war. Hm … Ich hab’ da eine Idee. Würdest du dich bitte auf dein Bett legen?«
Sebastian legte sich aufs Bett, doch Gildofal unternahm keine Anstalten, irgend etwas zu tun, woraufhin wir ihn fragend anschauten.
»Es ist ein blöder Gedanke«, begann Gildofal, »Mir ist folgender Gedanke gekommen. Was, wenn der Fluch oder was immer auch in unserem neuen Freund steckt, nur bei … ähm, sexueller Erregung wirksam wird?«
Schweigen! Statt Worten wechselten vieldeutige Blick zwischen uns hin- und her. Gildofal schaute verlegen drein, ich unschlüssig und Sebastian ängstlich. Darauf hin schaute Gildofal besorgt, Sebastian verwirrt und ich frustriert drein, was im Anschluss zu hilflos, noch verwirrter und entnervt führte.
»Gut, das klingt wahrscheinlich wie der verdrehteste Weg einen attraktiven Typen zu verführen, aber wenn wir raus bekommen wollen, ob du mit einem Fluch belegt worden bist, dann führt kein Weg dran vorbei, dass Gildofal mit dir … Du weißt, was ich meine.«
»Mit einem Elben?«, fragte Sebastian mit einem ablehnenden Unterton in der Stimme. Allerdings war seine Reaktion nicht wirklich glaubwürdig. In seinem Schritt regte sich wieder etwas. So abgeneigt wie er immer tat, schien der ehemalige Novize gar nicht zu sein. Als sich Gildofals und mein Blick dann auf sein Fortpflanzungsorgan richtete, bekam Sebastian plötzlich eine recht rosige Gesichtsfarbe und ein verlegenes, verschmitztes Grinsen breitete sich aus.
»Wovor hast du eigentlich wirklich Angst?«, fragte ich, »Das mit der Elbenphobie nehm ich dir ehrlich gesagt nicht mehr ab.«
Sebastian schloss seine zerknirscht die Augen, »Es ist genau umgekehrt. Ich liebe Elben! Sie sind so … Mir fehlen dir Worte dafür … Ich schäme mich dafür, aber ich träume regelmäßig davon einen Elben in meine Arme zu schließen oder von einem Elben berührt, gestreichelt, geliebt zu werden …«
»Und warum schämst du dich dafür?«, fragte Gildofal verwundert.
Sebastian öffnete seine Augen und schaute uns mit einem schuldig, beschämten Ausdruck an: »Ihr seid so schön, überirdisch, ätherisch. Ich könnte in deinem Anblick ertrinken. Ist das nicht peinlich? Der Gedanke, von dir berührt zu werden … Ich …«, Sebastian wich Gildofals Anblick aus, »Sollten mir die Menschen nicht genug sein?«
Ich ahnte, was er meinte, musste aber trotzdem meinen Kopf schütteln: »Quatsch! Vergiss den Schwachsinn, den dir deine Kirchenfürsten eingetrichtert haben und lieb wen du magst! Ich kenne einen Elben und einen Neovikinger, die sich in einen Uruk verliebt haben und der Uruk in die beiden! Wobei diese Liebe nicht kulinarischer Natur ist. Also, warum solltest du keine Elben mögen?«
Gildofal ging Sebastians Vorbehalte von einer anderen Seite an: »Schäm dich nicht dafür, Elben zu lieben. Die meisten Menschen fürchten, meiden und verachten uns. In früheren Zeitaltern war das anders. Menschen und Elben standen sich sehr viel näher und wir hätte diese Unterhaltung niemals geführt. Die ältesten meines Stammes erinnern sich noch an eine Zeit, zu der es nichts Besonderes oder Anrüchiges war, einen Menschen zu lieben. Obwohl … Kannst du dir vorstellen, was es für einen Elben bedeutet, einen Menschen zu lieben und zusehen zu müssen, wie er altert, gebrechlich wird und schließlich dahinscheidet? Ich kenne eine Elbenfrau. Sie liebte einst einen Menschenmann und sie liebt ihn noch immer, obwohl er unsere Welt schon vor sehr langer Zeit verlassen hat. Über zweihundert Jahre ist es jetzt her, doch sie liebt ihn immer noch. Nach all den Jahren.«
Gildofal hatte mir bei anderer Gelegenheit von dieser Elbin erzählt und auch von seiner Angst, die ihn selbst quälte oder gequält hatte. Gildofals Angst, das war die Angst, die uns, Drachenreiter wie Elben, umtrieb. Die Seele eines Drachen zu werden, bescherte einem ernsthafte Konsequenzen für das eigene Leben. Eine bestand darin, länger, viel länger, als die meisten Menschen zu leben oder leben zu müssen. Der Gedanke, sich in einen Sterblichen zu verlieben und an dieser Liebe zu zerbrechen, war mehr als real und hatte bereits einige Drachenreiter zeitweise in emotionale Krüppel verwandelt. Die Drachenreiterschule versuchte uns auf derartige Dinge vorzubereiten, doch erst Gildofals Erzählung machte mir klar, was es wirklich bedeutete, die Seele eines Drachens zu sein. Vielleicht war dies der wahre Grund, warum die Echsen gemeinhin einen recht bodenständigen und hinterhältigen Humor pflegten. Sie wussten, was es bedeutete, die Zeitalter an einen spurlos vorbeieilen zu sehen.
Und doch: zu allen Zeiten und trotz aller Widrigkeiten verliebten sich Sterbliche und Unsterbliche. Selbst zu unserer Zeit gab es sie, vor allen zwischen Menschen und Elben. Was aber inzwischen in Goldor als exotisch und höchst anrüchig galt. Die Propaganda der Kirche zeigte Wirkung. Wer sich mit einem Elben einließ, wurde scheel angesehen, gemieden und zuweilen auch gesellschaftlich geächtet. Das hässliche Wort der »Rassenschande« machte die Runde. Und auch hier konnte Tharbad erneut seine Bigotterie unter Beweis stellen. Wie ich später erfuhr, gab es mehrere Sexclubs in denen Menschen sexuelle Kontakte mit Elben haben konnten, wobei dies auf Seiten der Elben nicht notwendiger Weise auf freiwilliger Basis erfolgte.
Man muss Sebastian zugestehen, dass er es zu einer wahren Meisterschaft im Verdrängen, Verleugnen und Verstecken gebracht hatte. Ein Novize, ein angehender Priester der unifizierten Technokratie während seines Vikariats, der nicht nur dem eigenen Geschlecht, sondern sogar dem Volk der Elben zugetan war, dürfte mittelfristig ein potentieller Patient der Geistesärzteschaft oder Psychiater, wie sie sich neuerdings nannten, werden. Eine unglücklichere Berufswahl als Sebastians, konnte ich mir schwerlich vorstellen. Psychosen waren eigentlich vorprogrammiert.
Unser Exvikar lag nach wie vor nackt auf seinem Bett und schuldete mir und Gildofal noch eine Antwort. Da er sie nicht gab, fragte Gildofal freundlich, frech nach: »Wenn ich dich richtig verstanden habe, würde es dir also nichts ausmachen, wenn ich dich ein wenig befummle?«
Sebastian zuckte erschrocken zusammen, insbesondere zwischen seinen Schenkeln: »Du willst …? Wirklich? Aber … Wieso?«
Man musste unserem Freund zugute halten, dass ihn die aktuellen Ereignisse etwas verwirrt haben mussten. Auch wenn es etwas von einer kalten Dusche hatte, musste ich Sebastian nochmal erklären, was wir vorhatten.
»Du erinnerst dich, dass wir dich für eine Waffe halten? Gildofal und ich sind davon überzeugte, dass ein Fluch oder etwas ähnliches auf dir lastet, der aktiv wird, wenn du mit jemanden schläfst. Mit Flüchen und Beschwörungen ist es allerdings so eine Sache. Um sie entfernen zu können, muss man wissen, mit welchem man es zu tun hat. Da dein spezieller Fluch aber offenbar nur aktiv wird, wenn du mit einem Typen auch aktiv wirst, bleibt uns keine andere Möglichkeit, als mit dir aktiv zu werden.«
»Aber wenn ich verflucht wurde und ihr mit mir schlaft, übertrage ich den Fluch nicht auf euch? Wie bei einer Geschlechtskrankheit? Davor wurden wir im Konvent immer gewarnt.«
Wieder so ein typisches Verhaltensmuster der Kirche. Statt seinen Priestern zu lehren, wie man sich vor Geschlechtskrankheiten schützen konnte, bläute man ihnen Enthaltsamkeit ein, was lächerlich war, da eh jeder wusste, was zu tun war. Aber darum ging es wohl auch nicht. Natürlich wussten die Kirchenoberen ganz genau, wie man sich schützt und trotzdem Spaß haben konnte. Aber genau das war der springende Punkt. Spaß am Sex war böse. Wer Spaß und Erfüllung in der Liebe fand, dessen Denken lässt sich schlechter manipulieren.
Schutz vor Geschlechtskrankheiten hin oder her, Sebastians Einwand zeigte zielgenau auf den offenen Punkt in unserem Plan, denn Flüche scherten sich im Allgemeinen einen Scheißdreck um technische oder medizinische Schutzmaßnahmen zur Vermeidung von ungewollter Schwangerschaft oder Geschlechtskrankheiten. Schließlich war so ein Fluch keine Bazille, der man mit der chemischen Keule zu Leibe rücken konnte.
»Wir vermuten, dass der Fluch gegen Menschen gerichtet ist«, erläuterte ich unseren Plan, »Es ist nicht ungefährlich. Ich will ehrlich zu dir sein. Diejenigen, die dich auf uns angesetzt haben, dürften mit sehr potenter Magie operiert haben. Die Sache wird alles andere als leicht sein. Schließlich geht es darum, ein paar Drachenreiter zu liquidieren. Allerdings haben wir zwei Trümpfe in unserer Hand. Zum einen wissen wir, dass du wahrscheinlich eine tödliche Waffe bist und sind entsprechend vorbereitet. Gildofal wird wachsam sein und nicht wie sonst beim Kuscheln seinen Verstand abschalten.«
Dies war vermutlich sogar unser größter Trumpf. Es war zu erwarten, dass einem der Fluch genau in dem Moment erwischen sollte, wenn man gerade seinen Kopf abgeschaltet und sich ganz der Lust hingegeben hatte. Wenn man dann schließlich realisierte, was tatsächlich geschehen ist, wäre es schon zu spät.
»Und der zweite Trumpf?«, fragte Sebastian.
»Bin ich!«, meinte Gildofal, »Ich bin ein Elb, selbst magisch und ziemlich gut in weißer Magie bewandert. Wenn etwas schwarzmagisches in dir lauert, sollte ich dem am ehesten widerstehen können.«
Sagte jedenfalls die Theorie. Ob dem wirklich so war, sollten wir bald herausfinden.
Antithese
Nicht wir wählen die Waffen, mit denen wir Kämpfen, unsere Feinde wählen diese für uns.
Es ist ihre Grausamkeit, die uns zu eigenen Grausamkeit zwingt.König Antharon von Goldor II
Ohne weiteren Kommentar ließ Gildofal seine Hüllen fallen. Ich kannte den Anblick, ich wusste, wie Gildofal unbekleidet aussah, doch trotzdem raubte es mir jedes mal den Atem. Diesen Elb einfach nur als schön oder attraktiv zu bezeichnen, wäre einer Lüge gleichgekommen. Gildofal war einfach überirdisch schön. Oder unerträglich schön, wenn man ihn fragte. Mein Lieblingselb hatte nach wie vor Schwierigkeiten, mit seiner elbischen Natur klar zu kommen, wofür ich Krotos und Gildofals ehemalige Lehrer von ganzen Herzen verfluchte.
Wenn ich schon unwillkürlich die Luft anhielt sobald sich Gildofal entkleidete, dann kann man sich ungefähr vorstellen, wie Sebastian reagierte. Sein Mund klappte auf, die Durchblutung seiner oberen Hautschichten nahm zu, Schweißperlen begannen auf seinem Körper zu glitzern, seine Augen nahmen eine Größe an, für die sie anatomisch eigentlich nicht konstruiert waren.
»Ich …«, begann Sebastian zu stammeln, »Ich habe noch nie …«
»Das ist Ok«, flüsterte Gildofal, »Hab’ keine Angst.«
Angst vor Sex? So absurd es klang, aber es war genau das, was ich in Sebastians Augen sah, nämlich eine Mischung aus Angst, Verlangen, Schüchternheit, Lust und Faszination. So sehr er sich sehnte, von Gildofal berührt, liebkost und wahrscheinlich sogar genommen zu werden, so sehr fürchtete er sich davor. Ich konnte seine Empfindungen in jenem Moment gut nachvollziehen. Hatte ich in der Vergangenheit doch mit ähnlichen Ängsten zu kämpfen gehabt. Mit einem Elb kann man nicht einfach nur Sex haben, sprich das körperliche Verlangen von der emotionalen Komponente trennen. Wenn Gildofal einen berührt, er seine Hand auf die Brust legt oder einen Arm sanft streichelt, dann ist dies nicht nur eine physische, sondern auch eine psychische Berührung.
Diese Erfahrung musste auch Sebastian gerade verarbeiten. Gildofal strich dem ehemaligen Vikar mit seinem Handrücken über die Wangen, was dieser mit mehreren scharfen Seufzern quittierte. Doch Gildofal blieb nicht bei den Wangen, er arbeitete sich über Hals und Schultern, die Arme entlang zu Sebastians Handgelenken vor, um diese dann zu packen.
Im ersten Moment war Sebastian von Gildofals sanft-harten Verhalten überrascht und wehrte sich, doch als er in Gildofals Augen sah, gab er nach und ließ sich vom Elb führen. Gildofal zog Sebastians Hände zu sich, zu seiner Brust, heran, bis Sebastian begriff, was der Elb damit beabsichtigte. Der junge Mann öffnete seine Hände und legte sich auf Gildofals warme, samtige Haut. Elbenhaut — Sie ließ sich kaum mit menschlicher Haut vergleichen, obwohl sie sich im ersten Moment genau so anfühlte. Doch fühlte sie sich eben auch nach Mehr an. Das frustrierende war, dass es für dieses Mehr keine passenden Worte gab, um die Empfindung beschreiben zu können. Gildofals Haut war gleichzeitig samtig und weich, aber auch hart und sehr präsent. Sie war sowohl warm als auch kühl und sie steigerte das Verlangen, mehr von ihr zu berühren. Es dauerte keine zehn Sekunden, bis Sebastian seine bisherige Zurückhaltung über Bord warf und seine Arme um Gildofal schlang, um ihn zu sich ins Bett zu ziehen. Gildofal blinzelte mir kurz zu und ließ sich neben und auf Sebastian nieder.
»Darf ich dich küssen?«, fragte Gildofal vorsichtig, um Sebastian weder zu erschrecken noch zu überfordern.
Mit feuchten Augen starrte Sebastian den Elben an: »Das würdest du tun? Du willst mich wirklich küssen?« Der junge Expriester war den Tränen nah und schlitterte wohl gerade in eine Existenzkrise: »Ich bin doch ein niemand! Vielleicht sogar eine tödliche Waffe.«
»Pssscht!«, stoppte Gildofal Sebastians Selbstmitleidstrip, »Du bist ein attraktiver, sogar süßer Typ. Ich würde nicht bei dir liegen, wenn ich dich nicht mögen würde.«
Mit diesen Worten übernahm Gildofal die aktive Rolle und entschied, dass ein Kuss nicht schaden könnte. Seine schlanken Finger legten sich sanft, aber nachdrücklich um Sebastians Nacken und zogen diesen zu sich heran. Wieder gab der Exvikar nach und sich Gildofals Kuss hin.
Mag sein, dass ich mich mit meiner Beschreibung wiederhole, aber von einem Elben geküsst zu werden, stellt eine ganz eigene Erfahrung dar, wie nun auch Sebastian feststellen musste. Gildofals Lippen berührten Sebastians, was sich ganz anders anfühlte, als alle Küsse zuvor. Man hätte erwartet, dass Elben zuckersüß, wie Honig, küssen würden, doch dem war überhaupt nicht so. Das erste, was Sebastian spürte, war die überwältigende Lebendigkeit, die Gildofals Lippen versprühten. Die Berührung war wie ein Stromkreis, der geschlossen wurde und Sebastian mit Energie erfüllte. Als Gildofal dann auch noch seinen Mund öffnete und mit seiner Zunge langsam aber nachdrücklich Einlass einforderte, erfüllte ein Duft und Geschmack Sebastians Mund, dass er träumte, über ein Meer zu fliegen oder eine blühende Wiese zu wandern. Dabei war die Berührung sehr konkret und körperlich überaus erregend. Gildofal nahm Sebastian in den Arm, schmiegte sich mit seinem schmalen Körper fest an ihn.
Sebastian wusste nicht, wie ihm geschah. Einen Elb in seinen Armen zu halten, war völlig anders, als er sich vorgestellt hatte. Von wegen weich, sanft und ätherisch. Nicht, dass Gildofal nicht weich, sanft und ätherisch war, er war genau das, aber er war auch intensiv, präsent und einhüllend. In seinen Armen vergaß man die Welt. Alles andere außer Gildofal trat in den Hintergrund und verblasste. Dass ich mich noch im Raum befand, hatte Sebastian längst vergessen. Nicht so Gildofal, der mich anblinzelte und mir zu verstehen gab, besonders wachsam zu sein. Schließlich spielten wir mit dem Feuer. Niemand wusste, was in Sebastian verborgen lag.
Gildofal war ein Elb, was hieß, dass, wenn er liebte, er zu hundert Prozent liebte. Er liebkoste Sebastian, wie dieser noch nie von jemanden liebkost wurde. Gildofal küsste seinen Nacken, seine Ohren, seine Augen, sogar Sebastians Nasenspitze wurde mit Küssen bedacht, während gleichzeitig seine Hände auf Wanderschaft gingen und über Schultern, Arme, Hände, Handgelenke, Brust und Bauch glitten. Schließlich wandte sich Gildofal Sebastians Schritt zu und umschloss seinen Schwanz mit seiner Hand, um Sebastians bestes Stück gekonnt zu massieren.
Die feinen Härchen auf Sebastians Haut stellten sich auf, Schweißtropfen traten hervor und zeugten durch ihr glitzern von intensiver Erregung. Gildofal bemerkte Sebastians Gänsehaut und blies sanft darüber hinweg, was sich frisch und belebend wie eine Meeresbrise anfühlte.
»Ich werde in dich eindringen«, verkündete Gildofal. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Sebastian riss sich zusammen. Seine geschlossenen Lieder flackerten, öffneten sich zögerlich und schauten Gildofal ängstlich an: »Wird es weh tun?«
Gildofal gab Sebastian einen Kuss und meinte: »Nein, ich bin schließlich kein Mensch.«
Mit einer überraschenden Kraft, die Sebastian einem Elb nie zugetraut hätte, wechselte Gildofal seine Position. so dass Sebastian mit seinem Rücken auf ihm zu liegen kam. Der Hintern des ehemaligen Novizen der Kirche der unifizierten Techokratie, kam auf Gildofals hartem und steifen Schwanz zu ruhen. Aber nicht lange. In das Fortpflanzungsorgan des Elben kam Leben. Sanft, fast wie ein Streicheln, schlüpfte es zwischen die beiden Halbkugeln von Sebastians Gesäß.
Diese Art der intimen Berührung war Sebastian bisher gänzlich unbekannt, dass heißt, ihre reale Umsetzung. In seiner Phantasie konnte der junge Exvikar umfangreiche Erfahrungen vorweisen. Doch keine dieser Fantasien konnte mit der Wirklichkeit konkurrieren, was Sebastian mit einem Seufzer quittierte, der gleichzeitig Traurigkeit und Glück ausdrückte.
Gildofal umklammerte Sebastian. Seine Arme verschränkte er vor Sebastians Brust und Bauch, seine Wange schmiegte sich an Sebastians, sein Mund auf Höhe dessen Ohrs: »Fühlst du dich gut?«
»Ja!«, japste Sebastian.
»Möchtest du, dass ich …«
»Ja!«, japste Sebastian erneut, »Bitte!«
Von einem Elben gefickt zu werden ist in erster Linie vollkommen anders. Ich weiß, ich wieder hole mich und hatte es schon einmal erwähnt: Elben können nicht ficken! Nun, sie können es schon, aber eben anders. Ein Elb kann einem nicht weh tun. Sein Schwanz ist nicht fähig, einen in irgend einer Weise Schmerzen zuzufügen. Selbst der sensibelste Schließmuskel, der bei der geringsten Ahnung eines sich von Außen nähernden Objektes auf maximale Verkrampfung schaltete, hatte gegen einen Elb keine Chance. Wer sich also von einem Elb handfesten und bodenständigen Sex erhofft, wird hoffnungslos enttäuscht sein. Ein Elb dringt nicht ein, er gleitet hinein, füllt einen aus und verbreitet ein Gefühl von Verbundenheit und Nähe, wie man es niemals für möglich halten würde. Mir ist nur eine engere und intensivere Verbundenheit mit einem anderem Lebewesen bekannt, als die zu einem Elb, nämlich die, die Seele eines Drachen zu sein. Wenn ich mit Gildofal schlief, war es, als würde ich mit ihm eins werden. Gildofal wurde ein Teil von mir und ich ein Teil von ihm. Ganz im Gegensatz zu Suman oder Gilfea. Wenn ich mit ihnen zusammen kam, war es das bewusste fühlen, berühren und lieben eines anderen Körpers. Ich konnte ihnen meine Liebe schenken und sie mir die ihre, aber sie wurden nicht Teil von mir. Elben sind eben etwas anders.
Diese Erfahrung machte auch Sebastian. Ohne Vorwarnung, ohne Zielen und Ansetzen, ließ Gildofal mit sanftem Druck seinen Schwanz in Sebastian hinein gleiten. Sebastian begann zu Zittern und Stöhnen. Pure Lust, aber auch pures Glück breitete sich auf seinem Gesicht aus. Der Junge musste sich im Paradies wähnen, die Welt um sich schien er vollkommen vergessen zu haben. Nicht so Gildofal, der zu mir schaute und mich versonnen anlächelte. Ich verstand, er mochte Sebastian, andernfalls hätte er ihn niemals derart verwöhnt und sich ihm geöffnet.
»Nein!«, kreiste Sebastian, »Nicht!«
Von einer Sekunde zur anderen änderte sich die Situation. Statt Glück und Lust waren Angst und Furcht in Sebastians Gesicht geschrieben. Der Fluch oder die Beschwörung, die in dem Exnovizen ruhte, war am Erwachen. Auch Gildofal bemerkte die Veränderung. Bei aller Lust, Liebe und Zuneigung, die er gegenüber Sebastian empfand, hatte Gildofal ihn nicht ohne Grund gefickt, denn dies war der direkteste Weg zu Sebastians Unterbewusstsein. Wenn man auf spirituelle, das heißt bei einem Elben auf magische Weise, ein Teil seines Partners wird, liegt dieser wie ein offenes Buch vor einem. Umgekehrt galt dies allerdings auch. Was Gildofal tat, war extrem gefährlich. Um den Fluch entdecken zu können, musste er sich ihm öffnen, was ihn hochgradig angreifbar machte.
»Was ist es?«, fragte ich im Flüsterton.
Gildofal schloss seine Augen, presste die Lieder fest aufeinander, um sich besser konzentrieren zu können. Sebastian war inzwischen in einen Zustand konvulsiver Spasmen übergegangen. Er zuckte, zappelte und krampfte. Schaum bildete sich vor seinem Mund.
»Das ist kein Fluch!«, gurgelte es aus Gildofal heraus, während er Sebastian von sich drückte, »Es ist … stark«
Sebastian rollte von Gildofal, doch blieb eine Verbindung zwischen Gildofal und ihm bestehen. Eine schwarzer Pseudokörper, mit glühend roten Adern überzogen, quoll aus Sebastians Hintern und hielt sich an Gildofals Schwanz fest, breitete sich sogar über diesen hinaus aus.
»Was zum Teufel …«, fluchte ich.
»Genau das!«, rief Gildofal, »Es ist ein Dämon! Er ist sehr stark! Ich weiß nicht, ob ich … Arghh!«
Die glutrotgeäderte schwarze Masse breitete sich über Gildofal aus, kroch seinen Bauch empor und seine Beine hinab. Der Dämon war dabei, meinen geliebten Elb einzuhüllen und zu verschlingen. Wir hatten mit allem möglichen gerechnet, etwa einem Fluch, der wirksam würde, sobald jemand mit Sebastian schlief. Dies hielten wir für die wahrscheinlichste Variante. Selbst mein PDA-Implantat, auf dass ich mich eigentlich immer verlassen konnte, hatte dafür eine Wahrscheinlichkeit von über 80% ermittelt. Mit einem Dämon hatte wir hingegen überhaupt nicht gerechnet. Für mein Implantat belief sich die Quote auf unter 2%. Manchmal holt die Realität die Wahrscheinlichkeit eben ein.
Gildofal kämpfte. Er tat dies nicht mit seinen Händen, sondern mit seinem Geist. Er musste es, denn der Dämon war körperlos. Was wir sahen, diese schwarze Masse, besaß keine Substanz im eigentlichen Sinne, was nicht hieß, dass er nicht gefährlich war. Und dieser Dämon war brandgefährlich. Wenn mich nicht alles täuschte, hatten wir einen großen Fehler begangen, Gildofal mit Sebastian schlafen zu lassen, denn Dämonen wurden von Elben angezogen wie Motten vom Licht. Es schien an ihrer magischen Polarität zu liegen. Elben waren Gefäße einer reinen, weißen Magie und repräsentierten die Mächte des Lebens. Dämonen hingegen waren überwiegend das genaue Gegenteil. Pure konzentrierte schwarze Magie, die allem Lebenden versuchten das Leben zu entziehen.
Das Widerliche an Dämonen war, dass sie ihre Kraft aus der ihrer Opfer bezogen. Je stärker und weiter es auf der Seite des Guten stand, desto stärker und damit gefährlicher wurde der Dämon. Gildofal machte den Dämon sehr stark. Seine einzige Chance bestand im massiven Einsatz von schützenden und abwehrenden Gegenzaubern, die aber ähnlich, wie der Dämon, von Gildofal zehrten. Man konnte den Kampf zwischen Gut und Böse sehen. Der Dämon versuchte Gildofal einzuhüllen, was ihm anfangs, da er uns überrumpelt hatte, leider nur zu gut gelang. Inzwischen war sein Vorankommen gestoppt und sogar etwas zurückgedrängt worden. Der Rand der schwarzen Masse, mit der sich der Dämon manifestierte, schien zu kochen. Sie blubberte und warf Blasen. Grauer Rauch stieg von ihm auf.
»Segato, hilf mir!«, hörte ich Gildofal, »Ich kann nicht mehr lange widerstehen. Dieser Dämon … Er ist extrem mächtig!«
Ich verfluchte meine eigene Dummheit und Arroganz. Wie konnten wir so blauäugig sein und unseren Gegner unterschätzten? Der wusste ganz genau, mit wem er sich anlegte. Jetzt wurden wir für unserer Überheblichkeit bestraft. Ein Fluch? Lächerlich. Wie konnten wir nur so dumm sein?
Doch alles Jammern half nichts. Gildofal befand sich in Lebensgefahr oder Schlimmerem. Wenn er den Kampf mit dem Dämon verlor, bestand die große Gefahr, ein verfluchter Schwarzelb zu werden. Gildofals ganze Kraft und Stärke würde in die Hände des Gegner fallen und aus ihm ein Werkzeug des Bösen machen. Gildofal?
Wie ein Schlag traf mich die Erkenntnis, dass wesentlich mehr auf dem Spiel stand. Wenn Gildofal fiel, dann fiel auch Eargilin? Ein Drache im Dienst des Feindes? Das durfte nicht passieren!
»Du weißt, dass der Dämon nicht gewinnen darf!«, flüsterte Gildofal und sah mich mit flehenden Blick an, »Lass nicht zu, dass ich zu einer Abscheulichkeit werde!«
Mir war mehr als klar, was Gildofal von mir forderte. Ein geeignetes Kurzschwert trug ich bei mir, welches ich zückte. Mein elbischer Freund blinzelte nicht einmal. Sein Blick ruhte ruhig auf dem tödlichem Stahl, dann auf mir. Meine Hand zitterte. Ich sah, wie Gildofal verzweifelt gegen den Dämonen ankämpfte und diesen Kampf verlieren würde. Mir war die Konsequenz eines Scheiterns mehr als bewusst und doch konnte ich es nicht tun. Gildofal war mein Freund. Ich konnte ihn nicht töten. Ich …
Ich konnte etwas anderes tun!
Plötzlich fiel mir die Erinnerung an Suman und meinem Kampf mit dem Geschoss des Todesigel wieder ein. Ich ließ mein Schwert fallen. Kniete mich neben Gildofal hin, konzentrierte mich einen Moment und griff zu. Mit beiden Händen griff ich nach dem Dämon.
Wer vermutet, dass Dämonen von Natur aus heiß sind und einen verbrennen, der irrt. Es gibt die unterschiedlichsten Arten an Dämonen. Dieses Exemplar war kalt, eiskalt. Nicht nur, dass mein Atem kondensierte und Nebelschwaden bildeten, kaum dass meine Hände den Pseudokörper des Dämonen berührten, schrie ich auch schon auf. Die Kälte brannte an meinen Fingern.
»Du willst mir wohl meine Lebensenergie absaugen, was?«, fauchte ich das Dämonenplasma an. In der Zwischenzeit war genug Substanz aus Sebastian heraus gequollen, dass sich etwas körperähnliches formen konnte. In einer blasenförmigen Ausstülpung, die wohl so etwas wie ein Kopf sein sollte, erschienen zwei rot glühende Punkte, die mich hasserfüllt und mit abgrundtiefer Bosheit anstarrten.
»Hab’ Geduld. Sobald ich deinen Elbenfreund verschlungen habe, bist du dran«, zischelte mir der Dämon zu. Er schien der irrigen Idee zu folgen, Gildofal und ich würden uns ihm einfach ausliefern. Doch da sollte er sich täuschen. So einfach lässt sich kein Drachenreiter erlegen.
Oder doch?
Dieser Dämon war wirklich unglaublich stark. Seine Kraft schien von Sekunde zu Sekunde zuzunehmen. Gildofal musste seinerseits immer mehr Kraft aufwenden, um dem Dämon zu widerstehen. Es war wir verhext. Verhext?
»Wehr dich nicht!«, eine Idee flammte in meinem Kopf auf. Wenn der Dämon seine Kraft wirklich aus uns, aus unseren negativen Emotionen bezog, wenn gerade Gildofals Gegenwehr ihm erst sein Kraft verlieh, konnten wir ihn dann nicht vielleicht dadurch schwächen und besiegen, indem wir ihn nicht weiter fütterten? War es vielleicht nur deswegen so eisig kalt? Dann bedeutete dies aber auch, dass je mehr wir uns wehrten, desto weniger wir gegen den Dämon gewinnen konnten.
Gildofal biss sich auf die Lippen: »Ich muss, sonst verschlingt er mich!«
Ich versuchte etwas. Ich entspannte mich, verbannte meine Wut und Hass auf den Dämon. Ich spreizte meine von seiner schwarzen Masse umhüllten Finger und löste meinen zupackenden Griff. Der Dämon reagierte und zwar genau so, wie ich es erwartete. Die Kälte wich zurück und die schwarze Substanz floss von meinen Händen, wich vor ihr regelrecht zurück.
»Ha! Damit hast du das Todesurteil deines Freundes besiegelt! Sieh zu, wie ich diesen Elbendreck verschlinge!«
Womit das schwarze Unwesen sogar Recht haben konnte. Gildofal und ich hatten ihn schon viel zu viel mit unseren negativen Emotionen gefüttert. Selbst wenn Gildofal seinen Widerstand aufgab und sich seiner bösen Gedanken entledigte, hätte der Dämon noch genug Kraftreserven besessen, meinen elbischen Freund zu verschlingen.
Ich musste mir eingestehen, dass wir den Angriff auf uns, mit Sebastians als ahnungslose Waffe, wirklich unterschätzt hatten und dem Dämon wohl kaum gewachsen waren. Um Hilfe zu holen, war es inzwischen zu spät. Der Dämon hatte mich zwar nicht mehr am Wickel, dafür aber Gildofal um so mehr. Ich war mir nicht mal mehr sicher, ob es überhaupt noch etwas brächte, den Wunsch meines Freundes zu erfüllen und ihn zu erschlagen.
Verzweiflung breitete sich in mir aus. Alles was ich seit meiner Flucht aus Daelbar getan hatte, stellte sich mehr oder weniger als desaströses Versagen heraus. Wegen mir war Suman ein Gefangener. Wegen meines Versagens stand die Gilde vor dem Scherbenhaufen einer Spaltung. Und nun wurde auch noch Gildofal wegen meiner grenzenlosen Inkompetenz von einem Dämon verschlugen.
»Pack ihn dir!«, die Tür zu Sebastians Zimmer wurde plötzlich aufgerissen und Gilfea stürzte herein, »Du kannst den Dämon besiegen! Du kannst es!«
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo Gilfea plötzlich her kam, doch schien er genau zu wissen, was los war. Er stürmte auf mich zu, stellte sich schräg hinter mich und legte seine Hände auf meine Schultern. Mit ruhiger aber nachdrücklicher Stimme sprach er zu mir: »Liebst du Gildofal?«
»Ja natürlich liebe ich ihn«, ich stand kurz davor, zu flennen.
»Wie sehr?«
»Unendlich! Er ist, wie du und Suman, ein Teil von mir geworden, ohne den ich nicht mehr leben könnte!«
»Dann zeig es diesem Dämon! Zeig ihm, wie sehr du Gildofal liebst!«
Gilfea packte meine Handgelenke, zog meine Hände mit sich und schob sie in den Dämon. Sofort begann dieser mit seiner Kälte meine Haut zu verbrennen. Ein atemraubender Schmerz durchzog meine beiden Arme.
»Argh!«, stöhnte ich auf und presste meine Augenlider zusammen.
»Zeig dem Dämon deine Liebe! Zeig ihm deine Kraft!«, flüsterte Gilfea in mein Ohr, »Du bist stark, stärker als du glaubst. Der Dämon lässt dich glauben, du seist schwach. Er lässt dich glauben, er würde durch deine Kraft stärker werden. Er lügt. Du bist stärker! Zeig es ihm! Du bist stark! Du bist ein Istarilari!«
Gilfea war unglaublich. War es seine Stimme? War es seine Berührung oder war es seine magische Drachenpräsenz, die mich an mich glauben ließ? Was auch immer es war, meine Selbstzweifel schwanden. Langsam und vorsichtig öffnete ich meine Augen und schaute an meinen Armen herunter. Sie schimmerten. Ein grausilbernes Funkeln brach durch die Haut meiner Arme hervor und hüllte sie ein. Dieses Glitzern und Funkeln wanderte zu meinen Händen hinab, die bis dahin noch von dem schwarzen Pseudokörper des Dämon eingehüllt waren.
Doch sie waren es nicht mehr. Ich wollte meinen eigenen Augen nicht trauen. Um meine Fingerspitzen herum verwandelte sich die schwarze Masse des Dämonen zu einer Art dünnen Nebel, der von meinen Händen aufgesaugt wurde. Nicht der Dämon verschlang mich, sondern ich den Dämon! Immer mehr schwarze Masse zog zu meinen Händen. Man konnte sehen, wie sie sich verzweifelt und krampfhaft an Gildofal und Sebastian versuchte festzuhalten, doch der Dämon hatte keine Chance. Wie Wasser, das von einem Strudel angesogen wird, sogen meine beiden Hände jegliche Substanz des Dämonen in sich. Als erstes war Gildofal von der schwarzen Substanz befreit, dafür quoll aus allen möglichen Körperöffnungen unseres Exnovizen um so mehr des ekligen Protokörpers. Es quoll nicht nur aus seinem Hintern, sondern aus Mund, Nase, Ohren und Schwanz. Ausstülpungen der Masse bildeten tastende Finger, die sich versuchten an Sebastian zu klammern, doch gegen die Magie der Istarilari, die in meinen Händen gebündelt wurde, konnte er nicht bestehen. Mit einem schmatzenden Geräusch löste sich der letzte Rest von Sebastian und verschwand in meinen Händen, die inzwischen gleißend hell strahlten.
Der Dämon war nun in mir. Ich konnte fühlen, wie er versuchte von mir Besitz zu ergreifen, doch gelang ihm das nicht. Das Erbe meines Vaters, die Magie der Istarilari, war anders. Ich begriff es, als ich meine Hände betrachtete. Meine Magie war weder schwarz noch weiß, denn meine Hände funkelten in einem strahlenden Grau. Mein Erbe, es war weder gut noch böse. Es war die Urform der Magie, bevor sie von einer der beiden Seiten für sich in Anspruch genommen wurde. Deswegen war es dem Dämon nicht möglich, sich meiner zu bemächtigen. Ich war für ihn zu neutral. Nichts, von dem er Kraft beziehen konnte.
Es gab nur noch eins zu tun, nämlich den Dämon zu entsorgen. Dabei stellte ich verblüfft fest, dass er mir Leid tat. Natürlich war der Dämon böse, jedenfalls aus unserer Sichtweise, doch konnte er nichts dafür. Er war schließlich ein Dämon. Es war seine Natur, sich vom Positiven oder dem Guten zu ernähren. Deswegen konnte ich ihn nicht verurteilen. Schließlich aß ich Fleisch oder verzehrte Gemüse, wofür ein Rind und eine Pflanze sterben musste. Auf der anderen Seite hatte ich auch keine Skrupel eine Mücke zu erschlagen, die mich stach.
Ich schloss meine Augen, streckte meine Arme aus und presste meine beiden Handinnenflächen aneinander. Ein greller, gleißender Blitz grauen Lichts flammte auf, als die magische Energie, die zur Beschwörung des Dämons verwendet wurde, zerbrach. Das leise »Puff«-Geräusch, das auf den Blitz folgte, klang ein wenig lächerlich.
»Wow!«, ließ sich Sebastian hören, »Ist Sex mit Elben immer so spektakulär?«
Mission Impossible
Manche Adjektive ändern sich mit dem Status ihres Substantivs.
Ein Beispiel: Arme Menschen nennt man verrückt, reiche exzentrisch.aus dem Konversationslexikon der Lady Agatha
Ich fiel Gilfea in die Arme. Ich glaube, ich war noch nie so dankbar, meinen Freund zu sehen wie in jenem Augenblick. Es mochte mein Erbe gewesen sein, dass den Dämon bekämpfte. Doch es war Gilfeas Vertrauen in mich, dass uns vor ihm rettete. Ohne seinen Glauben an mich und meine Kraft, wären wir verloren gewesen.
»Wenn ich dann meinen Schatz auch noch mal drücken dürfte«, machte sich Gildofal bemerkbar. Nackt wir er war, sprang er vom Bett auf, umarmte seinen Freund und küsste ihn bis fast zu Besinnungslosigkeit.
»Ähm, soll ich lieber gehen?«, fragte Sebastian mit hoch rotem Kopf, der sich schnell die Bettdecke bis zur Brust hochgezogen hatte, um seine Nacktheit zu verbergen.
»Warum denn?«, entgegnete Gildofal, löste sich von Gilfea und schlüpfte wieder zu Sebastian unter die Decke. Wenn ich die Bewegungen unter ihr richtig deutete, war mein Lieblingselb damit beschäftigt, unseren Exvikar sanft und liebevoll zu streicheln.
»Ich komme gleich nach«, meinte Gildofal und schaute Gilfea und mich verliebt an, »Ich habe unserem neuen Freund etwas versprochen und ich pflege meine Versprechen zu halten.«
Gilfea und ich grinsten unseren Elben an, nickten und verließen das Zimmer.
»Sollten wir eifersüchtig sein?«, fragte ich Gilfea nachdem ich die Tür geschlossen hatte.
»Machst du Witze?«, grinste mich mein Freund an, »Er ist ein Elb! Außerdem … Du weißt, dass ich Gildofal absolut vertraue. Gönnen wir also dem kleinen Möchtegernmeuchelmörder ein paar Momente mit unserem Lieblingselben. Er wird sie nie vergessen!«
»Oh, du bist böse!«, nun musste ich auch grinsen. Denn Gilfea hatte Recht, wer einmal mit einem Elb geschlafen hatte, war hinterher nicht mehr der Selbe. Sebastian würde dieses Erlebnis mit Gildofal in der Tat niemals vergessen.
»Ihr habt es also ebenfalls geschafft«, wechselte ich das Thema, »Ich bin erstaunt. Uskol hat viel für uns riskiert. Wir stehen tief in seiner Schuld. Wenn dies alles vorbei ist, müssen wir ihm beistehen. Der Kampf der Uruks um ihre Freiheit, ist der gleiche Kampf, den auch wir führen.«
Gilfea stimmte mir rückhaltlos zu: »Du hast Recht, wir stehen in Uskols Schuld. Doch zuerst sollten wir Suman retten. « Gilfea zeigte in Richtung der großen Lagerhalle: »Alle sind da, lass uns gemeinsam überlegen, wie wir bei Sumans Befreiung vorgehen sollen.«
Die kleine Drachenreiterfamilie, dich mich in der Lagerhalle erwartete, war wirklich beeindruckend. Sechs Drachen, darunter das riesige Monster namens Mithval bildeten einen Kreis, in dessen Mitte ihre Seelen und Freunde saßen. Ivo hatte sich in seine ursprüngliche Drachengestalt zurückverwandelt und hockte neben Mithval. Mein kristallener Drache und der dunkelschwarz glänzende Mithval erinnerten an einen Nachthimmel, vor dem ein strahlender Mond stand.
Links neben Ivo saßen Eariglin gefolgt von Tingalen, der sich die Zwillinge Sulomile und Sulogorn anschlossen. In der Mitte hatten bereits Erogal, Ole Olson, Schiefergrau und Anger Platz genommen. Gilfea und ich bahnten uns einen Weg zwischen den Drachen hindurch und setzten uns auf zwei freie Hocker.
»Gildofal und Sebastian kommen etwas später«, erläuterte Gilfea, wobei er ein paar süffisante Minen erntete. Um nicht alles mehrfach diskutieren zu müssen, schilderte ich, was es mit Sebastian auf sich hatte, nämlich dass er eine gegen uns gerichtete Waffe war, die wir aber gerade noch entschärfen konnten. Ich war ehrlich und gestand, wie naiv wir waren und die wirkliche Gefahr unterschätzten.
»Ihr habt die Gefahr überhaupt erst erkannt«, wandte Ole Olson ein, »Das ist mehr, als Erogal und ich vorweisen können.«
»Ole hat Recht!«, pflichtete mein alter Lehrer und väterlicher Freund Erogal D’Santo bei, »Segato, du und Gildofal, ihr beiden habt euch nichts vorzuwerfen. Ihr solltet stolz auf euch sein.«
»Danke …«, brachte ich verlegen über die Lippen und schaute unsicher in die Runde. Erogal kratzte sich am Kopf: »Dann war der Mordauftrag gegen mich nur ein Ablenkungsmanöver. Segato, was sagt dir das über die Person, die hinter all dem steht?«
Irgendwie blieb ich immer Erogals Schüler, was mich aber nicht störte, da ich ihm viel, eigentlich sogar alles zu verdanken hatte. Ohne Erogal D’Santo wäre ich niemals die Seele eines Drachens geworden und würde vermutlich bereits tot und am Rande Crossars in einem anonymen Grab liegen.
»Unser Gegner denkt in Strategien«, begann ich mit dem offensichtlichen, »Sein Vorgehen erinnert an einen Schachspieler. Er kennt unsere Stärken und Schwächen. Er weiß, wer wir sind. Dich als scheinbares Ziel zu wählen, war gerissen. Es lenkte von den eigentlichen Zielen ab, weil du ein absolut plausibles Ziel darstellst, das man normalerweise nie hinterfragen würde. Allerdings setzte unser Gegner fest darauf, dass Sebastian versagen und kalkulierte, dass weder du noch Ole ihn für seinen Attentatsversuch liquidieren würde. Der ganze Plan scheint aus einer Sammlung von Wahrscheinlichkeiten und Optionen zu sein. Selbst ein erfolgreiches Attentat hätte man als erfolgreiches Ergebnis verbuchen müssen. Der Plan ist ein Meisterwerk.«
»Ich gebe dir absolut Recht. Der Plan ist wahrlich ein Meisterwerk strategischen- und taktischen Denkens«, gab Erogal in einem Ton zu, der mir deutlich sagte, dass meine Schulstunde noch nicht zu Ende war. Erogal wollte auf etwas anderes hinaus: »Ich war also nur ein Sekundärziel?«
Natürlich! Wieso war ich wieder so blind gewesen? Ich klatschte mit der flachen Hand gegen meine Stirn: »Oh, natürlich! Sebastian wurde auf uns angesetzt. Auf Ole, Gildofal, Gilfea, Suman und mich! Unser Gegner weiß, dass wir auf Typen stehen. Er kennt uns!«
»Vielleicht weiß man es nicht von jedem von euch, aber auf jedem Fall von Ole und Suman. Vielleicht auch von dir.«
»Xengabad!«, langsam ging mir ein Licht auf, »Du willst auf den Zirkel von Xengabad hinaus. Aber Vaughan, Boldin und Szwang sind tot! Es gibt nur noch Markendorfer.«
»Markendorfer? Dieser fette Sack?«, fragte Ole ungläubig.
»Markendorfer? Eigentlich nicht, oder?«, kratzte ich mich am Kopf, »Ich weiß nicht … Ich habe ihn nur ein einziges mal während meines Aufenthalts in Xengabad gesehen. Er machte nicht den Eindruck, sonderlich helle zu sein. Dieser Plan mit Sebastian … Wie Erogal schon sagte. Er trägt die Handschrift einer Person, die strategisch denkt. Ole, du kennst Markendorfer besser als ich. Hältst du ihn für einen Strategen, der komplizierte Pläne schmiedet?«
Ole Olson schüttelte heftig seinen Kopf: »Markendorfer? Nie im Leben. Der Typ ist stulle und brutal. Eine letale Kombination. Wir, ich meine die Bruderschaft der Meuchelmörder, haben schon drei Mitbrüder gegen ihn verloren. Markendorfer ersetzt Hirn durch Muskeln, gekaufte Muskeln. Allerdings kenn ich Markendorfer auch nicht so gut.«
Vor seiner nächsten Bemerkung schaute Ole traurig und leicht verlegen zu Boden: »Der eigentlich Experte ist Suman …«
Er brauchte nicht weiter reden. Ich wusste auch so, was und wie es gemeint war. Markendorfer war während Sumans Zeit in Xengabad dessen ergiebigste Quelle. Allerdings drehte mir der Gedanke an die dazu von meinem Schatz erbrachte Gegenleistung den Magen um. Mir vorzustellen, dass mein Liebling das Bett mit der fetten, ungepflegten, schmierigen Qualle teilte, verursachte jedesmal spontane Übelkeit. Markendorfer war der Inbegriff eines Unsympathen. Obwohl oder gerade weil er sehr wohlhabend war, lief er angeranzter als der ärmste Bettler Crossars rum. Vielleicht war dieser Eindruck übertrieben und traf nicht wirklich zu, doch im direkten Vergleich zu Ole, Vaughan, Szwang und Boldin, wirkte Markendorfer schäbig. Hinzu kam, dass der Typ, wie bereits erwähnt, nicht gerade als intellektueller Riese galt.
»Wenn nicht Markendorfer, wer dann?«, stellte ich die sich konsequenter Weise aufdrängende Frage, »Paula-Sylvestra?«
»Die Päpstin?«, griff Erogal meinen Vorschlag auf. »Eher nicht. Bevor Turondur … Bevor er …«, Erogal hatte Schwierigkeiten weiter zu sprechen. Ich kannte meinen ehemaligen Lehrer als Selbstbeherrschung in Person, doch bei der Trauer um Turondur, seinem Freund und Schwager, gab er jegliche Zurückhaltung auf und zeigte seine Gefühle. Für einen Gildebruder, sogar einen Graumeister der Gilde, war dies mehr als ungewöhnlich. Doch wer weiß, vielleicht zeichnete sich hier auch ein wenig der Einfluss Sulogorns ab.
»Was Erogal meinte«, sprang Ole ein, »Dass wir von Turondur ein paar Informationen erhielten, die es als sehr unwahrscheinlich erscheinen lassen, dass seine Schwester hinter all dem steckt. Paula-Sylvestra mag für alles Mögliche verantwortlich sein und auch über genügend strategisches und taktisches Geschick verfügen, uns eine derartige Falle zu stellen. Doch ein Diener des namenlosen Bösen ist sie nicht. Gewisserweise ist sie auf ihr eigene Weise böse.«
»Haltet mich bitte nicht für penetrant, aber ich muss meine Frage wiederholen: „Wer war es?“« Paula-Sylvestra II, Päpstin der unifizierte Technokratie, war Thurondurs Schwester? Man lernt wohl nie aus. Dieses Detail war mir neu, was ausgesprochen erstaunlich war, da mein Gildewissen eigentlich als überaus umfassend galt. Mein PDA-Implantat vergaß eigentlich nichts und hätte mich auf entsprechende Verwandschaftsverhältnisse hingewiesen. Ich fragte deswegen nach: »Moment mal, die alte Zippe ist Turondurs Schwester? Willst du damit sagen, dass die Päpstin der U.T. eine Elbin ist?«
»Ja und ja. Wobei sie letzteres bestreiten und jeden als Ketzer anklagen würde, der etwas anderes behauptet«, erörterte Erogal, dieses mal ganz ein Mitglied der Gilde und sehr staatsmännisch, »Diese Information sollte diesen Raum auch nicht verlassen. Paula-Sylvestra ist Turondurs Halbschwester. Feressea ist ihr elbischer Name. Als durch das 2. Konkordat Daelbar absolute Unverletzlichkeit und Souveränität zugesichert wurde, war die Geheimhaltung dieser Information eine der Bedingungen. Sämtliche geheimen Zusätze sind nur der Päpstin, dem Kreis der Exekutivkardinäle, dem Meisterrat der Gilde, dem Vorsitzenden des Rates von Daelbar und seinen Vertretern, dem König Golodor II und dem CEO der U.T.U. bekannt.«
Ich war sprachlos, wir alle waren sprachlos. Die Päpstin war mehr oder weniger immer unser Feindbild gewesen und nun stellte sich raus, dass Turondur, der Vorsitzende des Rates von Daelbar ihr Bruder war. In ihrem Namen wurden Drachen getötet, wie konnte Turondur so etwas zulassen?
»Boldin!«, platzte Erogal in die Stille, »Es ist Boldin!«
»Auch wenn mich ich jetzt der Gefahr aussetze, altklug zu erscheinen, aber dir ist schon bewusst, das Boldin tot ist? Suman und ich haben seine und Szwangs Leiche selbst untersucht«, wandte ich ein.
»Bist du dir sicher?«, fragte Erogal mit einem wissenden Grinsen auf den Lippen, »Ole, mein Freund, stimmt es, dass du einen Auftrag bezüglich Boldin erhalten hast?«
Ole nickte: »Ja, genau. Es war an jenem Abend in Xengabad als ich Segato kennen lernte. Unsere kleine Runde, Vaughan, Szwang, Markendorfer, Boldin, Segato und ich selbst, saßen zusammen und plauderten über Krieg und Frieden. Nachdem Segato uns verließ, löste sich die Runde bald auf. Auf meinem Zimmer prüfte ich mein Datenpad und fand einen Auftrag für Boldin vor.«
»Wie überaus ärgerlich, dass dir zwei Tage später jemand zuvor gekommen ist, nicht wahr?«, Erogal grinste Ole breit an. Der runzelte die Stirn und fragte sich, worauf Erogal hinaus wollte. Plötzlich erhellte sich seine Mine, um gleich in einen ungläubig, erstaunten Ausdruck über zu gehen: »Eine Kopie? Du glaubst, Segato und Suman wurden mit Kopien getäuscht?«
»Genau das!«, bestätigte Erogal.
»Wie jetzt? Kopien?«, fragte ich.
»Du hast von dem Attentat auf der Friedensverhandlungen in Crossar gehört?«
»Ja, natürlich!«
»Was du nicht weißt, der Attentäter war ein Uruk, der allerdings nicht als ein solcher erkennbar war. Er hatte das Aussehen eines Kellners angenommen. Auch einer eurer Brüder wurde ausgetauscht. Wir fanden das Original tot in einem magischen Kokon von dem er bereits verdaut wurde«, erläuterte Ole Olson.
»Lecker!« bemerkte Gildofal mit unüberhörbarem Ekel in der Stimme. Mein Lieblingelb kam gerade zusammen mit Sebastian zur Halle herein spazierte. Genau genommen wurde Sebastian vom Elben mit sanftem Druck vor sich her geschoben. Der ehemalige Meuchelmörder schien ein wenig schüchtern zu sein. Außerdem leuchtete sein Kopf feuerrot.
»Lasst uns lieber überlegen, wie wir Suman befreien«, fügte Gildofal hinzu, als er sich auf einen der freien Plätze setzte.
»Es scheint, als wenn Suman heute Abend in den Barad Baul gebracht werden soll«, erläuterte Ole, »Uskol hat erfahren, dass die Wachmannschaft der Festung in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt wurde und für heute Abend ein besonderer Gefangenentransport erwartet wird. Dabei kann es sich eigentlich nur um Suman handeln.«
»Möglichkeiten?«, fragte ich.
»Wenige … Genau genommen nur ein einzige«, seufzte Ole, »Die Vorfläche des Barad Baul und sein Schiffsanleger werden von sieben hohen und schwer bewaffneten Beobachtungstürmen bewacht. Auf dem ganzen Areal gibt es keine Deckung, so dass ein heimliches Anschleichen ausscheidet. Ein Anflug aus der Luft schließt sich aus dem gleichen Grund aus. Ich glaube zwar nicht, dass die Wachtürme über Drachenjagdlanzen verfügen, aber ein Geschwader Echsen dürfte man wohl kaum als diskreten Befreiungsversuch bezeichnen. Unsere einzige Chance besteht darin, dass wir uns von unten einschleichen.«
»Von unten? Du meinst unterirdisch?«
»Genau das«, bestätigte Ole und schilderte die Wanderung mit Gilfea, Anger, Ivo und Uskol durch das alte vergessene Tunnelsystem Tharbads, »Der Barad Baul ist sehr alt. Er soll sogar älter als Tharbad selbst sein. Wer ist heute auch noch in der Lage, etwas derartiges zu bauen? Die Zwerge? Vielleicht, aber man würde sich ihren Preis nicht leisten können. Wenn man den Gerüchten und Legenden glauben schenkt, wird der Turm von Magie zusammen gehalten. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber es fällt schon auf, dass er keine Zeichen von Verwitterung trägt. Sein Äußeres ist immer makellos. Ein tiefschwarz, kalt glänzender Stein.«
Noch während unser Neovikinger erzählte, rief ich die Gildeinformationen zum Barad Baul aus meinem PDA-Implantat ab. Demnach wurde der Turm tatsächlich vor über neunhundert Jahren von einem Hexenmeister gebaut oder genau genommen beschworen. Er ließ ihn einfach aus dem Boden wachsen. So behauptet es jedenfalls die Legende und einiges sprach dafür, dass zumindest ein Funken Wahrheit in ihr steckte. Wie Ole schon erwähnte zeigte der Turm über die Jahrhunderte nicht das geringste Anzeichen, zu verwittern. Er ist einfach das schwarz glänzende Wahrzeichen Tharbads. Ein bedrohlich wirkendes Wahrzeichen. Er überragte nicht nur sämtliche Gebäude der Stadt um teilweise mehr als das zehnfach und warf einen entsprechend langen drohenden Schatten auf die umliegenden Stadtviertel, sondern beeinflusste Menschen, Zwerge und sogar Orks psychisch. Seine tiefschwarze Färbung verursachte Furcht, denn es handelte sich nicht um ein warmes, wohliges Schwarz, wie etwas Mithvals Schuppen es zeigten, sondern um ein angsteinflößendes, gieriges unnatürliches Schwarz. Es war kalt und beklemmend.
Der Eindruck des Unnatürlichen, Fremdartigen gewann noch an Stärke, betrachtete man den Barad Baul aus nächster Nähe, was allerdings nur sehr unglückliche Seelen betraf, die das Pech hatten, den Turm als ihren nächsten und letzten Wohnungsort betrachten zu müssen. Aus nächster Nähe konnte man nämlich beobachten, dass der Turm nicht etwa gemauert war, sondern offensichtlich aus einem einzigen nahtlosen Felsblock bestand.
Gefängnisse und Verliese gab es im Königreich Goldor reichlich. Dafür sorgte schon die allgemein strenge Rechtsprechung, die die Kerker stets gut gefüllt hielten. Fast jeder Delinquent versuchte alles, um den Aufenthalt in einer derartigen Anstalt zu vermeiden. Allerdings übertraf nichts die Angst vor dem Barad Baul. Bereits die Aussicht nach Tharbad zu kommen, war dazu angetan derartige Panik und Schrecken zu verursachen, dass viele Verurteilte darum bettelten, hingerichtet zu werden. Der Barad Baul war ein Kerker ausschließlich für zu lebenslanger Haft oder zum Tode verurteilte Straftäter. Der Turm, wie er häufig nur genannt wurde, galt weit über Tharbad hinaus als Symbol dafür, dass es schlimmere Dinge als den Tod gab.
Ole fuhr mit seinem Bericht fort: »Es gibt Verbindungen zwischen dem Tunneln und dem Barad Baul, die nicht einmal die Wärter kennen.«
»Schön und gut. Vielleicht kommen wir durch die Tunnel in den Turm, doch wie finden wir uns darin zurecht?«, wandte Erogal ein.
»Ich habe Pläne«, entgegnete Ole trocken und sorgte für allseitige Sprachlosigkeit. Mit einem zufriedenen Schmunzeln auf den Lippen fuhr der Neovikinger erklärend fort: »In meinem Job ist Vorbereitung fast alles. Man weiß nie, wo man möglicherweise einmal unfreiwillig landet. Der Pläne sind vielleicht nicht vollständig, aber die vorhandenen Teile sollten recht genau sein.«
Ole legte eine Pause ein und lockerte seine Halsmuskulatur, in dem er mit seinem Kopf kreisende Bewegungen vollführte. Anschließend ließ er seine Fingerknöchel knacken. Alles wartete ungeduldig: »Und weiter? Wie bist du an die Pläne gekommen? Wie groß sind unsere Chancen?«
»Wie ich an die Pläne gekommen bin?«, Ole entblößte seine Zähne, »Sagen wir, zwei Wärter des Turms haben es mir zu verdanken, nicht selbst Insassen des Turms geworden zu sein. Der Plan ist sozusagen ihre Art mir ihre Dankbarkeit zu zeigen. Das Beste darin ist, dass die beiden nichts voneinander wissen. Ihre, nun sagen wir Verfehlungen haben sie unabhängig voneinander begangen. Ich habe einfach die jeweiligen Pläne der beiden genommen und miteinander verglichen. Soweit sie die gleichen Bereich zeigten, deckten sie sich. Wir können also davon ausgehen, dass die Angaben stimmen.«
»Nett!«, meinte Gilfea, »Und unsere Chancen?«
»Das kommt drauf an«, begann Ole und begann uns das Innere des Barad Bauls zu erklären.
Zu weiten Teilen handelte sich bei dem Turm um ein ganz normales Gefängnis, mit Zellen, Fluren, Aufenthaltsräumen, Gemeinschaftsduschen und Speiseräumen, einer Krankenstation, Werkstätten, einer Großküche, einem Waschhaus, Kleiderkammern, Räume für Wachposten und Verwaltungsbereichen. Wie die beiden Wärter übereinstimmend berichteten, befanden sich die Verwaltungsbereiche im unteren Bereich, darüber folgten die Werkstätten und Gemeinschaftsbereiche, Küche und Krankenstation und darüber die Zellen der Häftlinge. Das Waschhaus, Lagerräume und Teile der Haustecknik befanden sich im Untergeschoss.
Das klang soweit recht zivilisiert, war es aber nicht. Der Barad Baul war ein Kerker, der speziell für diejenigen Straftäter geschaffen wurde, die sich besonders schwerwiegender oder grausamer Straftaten schuldig gemacht hatten — Oder was man dafür hielt beziehungsweise definierte. In Goldor besaß das Strafrecht eine recht flexible Struktur. Außerdem, meinte man, dass das Volk nach Rache lechzte und der Barad Baul war dazu bestimmt, dieses Verlangen zu stillen.
»Was soll das heißen?«, fragte Gildofal, den eine böse Ahnung beschlich.
»Zwangsarbeit, Folter und Hinrichtungen«, bestätigte Ole die schlimmsten Befürchtungen des Elben, »Im Barad Baul werden die besonders grausamen Hinrichtungen durchgeführt. Der König oder seine Minister scheinen zu denken, dass ein langsamer, qualvoller Tod eine besonders abschreckende Wirkung besitzt. Ich will euch die Details ersparen, aber meine beiden Quellen wiesen sehr nachdrücklich darauf hin, dass sie weder mit den Hinrichtungen noch den Folterungen etwas zu tun hätten. Dafür wären andere zuständig. Außerdem würden sie in Bereichen stattfinden, zu denen normale Schließer keinen Zugang hätten. Womit wir zum einzig hoffnungsvollen Aspekt meines Berichts kämen.«
»Hoffnungsvoll?«, fragte Gilfea skeptisch, »Was soll an diesem verfluchten Ort hoffnungsvoll sein? Wenn ich könnte, würde ich den Barad Baul von Mithval niederbrennen lassen. Folter? Zwangsarbeit? Hinrichtungen? Wie tief können Menschen sinken, sich so etwas auszudenken?«
»Ich gebe dir absolut Recht«, erwiderte Ole Olson leise, der an die Hinrichtung seines Vaters denken musste und wie man ihn zwang, dabei zuzusehen. Für einen Moment rang Ole mit seiner Fassung, »Es ist …«
Die wenigsten wussten, was mit dem Neovikinger los war, nur Erogal D’Santo, der die Geschichte seines Drachenreiterfreundes kannte, ahnte, was Ole quälte und sprang deswegen für ihn ein: »Was Ole meint, ist das Überwachungsnetz.«
Ole schaute zu Erogal, der ihm aufmunternd zunickte. Es war diese kleine Geste, die ihm die Kraft gab, sich zu sammeln und mit seinem Bericht fortzufahren: »Das Überwachungsnetzwerk ist tatsächlich der größte Schwachpunkt des Barad Bauls. Die schier grenzenlose Überheblichkeit der Wachmannschaft werden unsere Eintrittskarten sein. Es klingt fast ein wenig banal, aber der Barad Baul ist eben im Prinzip nichts anderes als ein Gefängnis. Das heißt, man hat sich alle Mühe gegeben, dass niemand aus ihm ausbrechen kann. Man ist davon überzeugt, dass der Turm absolut sicher ist und nicht mal eine Kakerlake die Tore passieren könnte, ohne dass das Überwachungssystem dies bemerkt.«
»Ziemlich überheblich«, meinte ich, »Da scheint jemand an seinen eigenen schlechten Ruf zu glauben.«
»Daran und an die Unfehlbarkeit der Technik«, bestätigte Ole meinen Einwurf, »Meine beiden Quellen sind mächtig stolz darauf, Wärter des Barad Baul zu sein. Wie auch immer, man beschäftigt sich eigentlich nur damit, zu verhindern, dass Häftlinge ausbrechen. Einmal drin, sieht man sich mit relativ schwacher Sicherheits- und Überwachungstechnik konfrontiert. Wo sollte eine arme Seele auch hin? Freiwillig in die Folter- oder Todeskammer?«
»Sehe ich das richtig?«, hakte Erogal nach, »Außer den Wachtürmen, die den Barad Baul umgeben gibt es nur …«
» …ein Perimeternetz der allerhöchsten Sicherheitsklasse von Secure-O-Fence«, vervollständigte Ole, »Angeblich absolut unüberwindlich, weswegen man sich auch blind darauf verlässt. Dass jemand von unten durch vergessene Tunnel eindringen könnte, liegt weit außerhalb ihrer Vorstellungskraft.«
»Das könnte tatsächlich funktionieren …«, murmelte Erogal zufrieden und begann laut nachzudenken, »Wir könnten uns aufteilen. Ein Team sorgt für Ablenkung, in dem es sehr überzeugend einen heimlichen, aber natürlich zum Scheitern verurteilten, Befreiungsversuch zu Boden oder aus der Luft unternimmt. Und während sich alle Aufmerksamkeit sich auf dieses absurde Unterfangen konzentriert, schlüpft ein kleines zweites Team durch die Tunnel herein. Und noch bevor jemand etwas mitbekommt, haben wir uns Suman geholt und sind wieder verschwunden. Geht es nur mir so, oder stinkt das nicht nach einer Falle?«
Gildofal begann breit zu grinsen und deutete auf Sebastian: »Natürlich ist es eine Falle. Aber es wäre sehr unhöflich, einer derart netten Einladung nicht Folge zu leisten, bei aller Mühe, die man sich gemacht hat, uns zu fangen.«
Damit war die Entscheidung gefallen. Wir würden Erogals Plan umsetzten. Ole, Anger, Schiefergrau und ich würden durch die Tunnel in den Barad Baul eindringen. Ole kannte den Plan. Anger schien mir ein ziemlich schlaues Kerlchen zu sein, der sich gut mit Schlössern und Riegeln auszukennen schien. Schiefergrau nahmen wir wegen seines überragenden Geruchssinn mit, der uns bei der Suche nach Suman vermutlich sehr zu Nutze kommen durfte. Ivo begleitete uns, für den Fall, dass wir jemanden für’s Grobe brauchten. Dieser Drache war auch als Mensch unheimlich stark und konnte es locker mit einem ganzen Trupp Wachen aufnehmen. Ich nahm Teil, weil Suman mein Schatz war. Dieser Punkt war nicht diskutabel.
Wir waren nicht so naiv, wie man vermuten könnte. Erogal und Ole, die über einen weit größeren Erfahrungsschatz verfügten, als wir Jungspunde, wiesen mehrfach und recht nachdrücklich darauf hin, dass der Plan eine eher geringe Erfolgswahrscheinlichkeit trug. Selbst mein PDA-Implantat faselte etwas von „Im optimalen Fall 5% Erfolgsquote“. Trotzdem hielten wir dran fest. Es gab keine Alternative. Suman war unser Bruder, Freund und Geliebter. Wir mussten ihn retten, egal, wie hoch der Preis war.
Schach matt
Je lauter sie schreien, desto besser macht du deinen Job!
Kerkermeister Keulenhauer zu seinem Folterlehrling
Vom Moment der Entscheidung an lief alles wie ein Uhrwerk ab. Für mich etwas überraschend übernahm Gilfea die Gesamtleitung der Aktion. Noch überraschter war ich, als ich feststellen musste, dass mein Freund und Geliebter über erstaunliche Führungsqualitäten verfügte. Gilfea schien eine natürliche Autorität zu besitzen. Als erstes schlug er vor, dass Erogal den Scheinangriff und Ole die eigentliche Befreiungsaktion planen und leiten sollte. Niemand widersprach Gilfea, schließlich war es die einzig richtige Entscheidung. Was mich trotzdem überraschte war, dass diesem jungen Drachenreiter, dem gegenüber Erogal etliche Jahrzehnte Lebenserfahrung fehlten, jeder zuhörte und seine Anregungen und Ideen aufnahm. Zumindest von Erogal hätte ich freundliche, aber nachdrückliche Widerworte erwartet. Doch die kamen nicht. Ganz im Gegenteil schien mein alter Lehrer regelrecht an Gilfeas Lippen zu hängen.
»Du wunderst dich über Gilfea?«
Ich hatte gar nicht bemerkt, wie Gildofal neben mich getreten war und zuckte erschrocken zusammen. »Äh … Ja!«, stammelte ich.
Gildofal nickte: »Vertrau ihm, er weiß was er tut. Suman und ich haben erlebt, wie er es nicht nur mit einem illegalen Außenposten Goldors aufnahm, sondern auch das Weltbild eines Anführer einer kleinen Gruppe Neovikinger auf den Kopf stellte.«
Das klang interessant und da unsere Anwesenheit zur Zeit nicht benötigt wurde, ließ ich mir die Geschichte mit Lars von Gildofal erzählen. Ich war sprachlos. Gilfea schien in der letzten Zeit eine beeindruckende Entwicklung durchgemacht zu haben. Lars dazu zu bringen, überkommene Regeln und Denkmuster in Frage zu stellen, war nur der Anfang. Lars war nur der erste Kiesel, der einen ganzen Berg ins Rutschen brachte. Anders konnte man die Umwälzungen in der Gesellschaft der Neovikinger in dessen Folge die übermächtigen Heerführer entmachtet wurden nicht bezeichnen. Und alles nur, weil Gilfea ein paar Worte mit Neovikinger namens Lars wechselte.
»Gilfea, er ist immer noch unser Gilfea, der Mann, den wir lieben. Aber er ist auch mehr, viel mehr. Er hat sich entwickelt. Es ist Mithval. Ich kann es fühlen. Menschen sind bereit, sich hinter seinem Banner zusammen zu scharen. Gilfea muss nichts befehlen. Er muss auch kein Gehorsam einfordern. Sie folgen ihm auch so, weil er …«
»Weil er grundehrlich ist«, vervollständigte ich Gildofals Erklärung, während ich Gilfea beobachtete, wie er mit Erogal und Ole sprach, »Sie hören ihm zu. Sie fühlen, dass er sie nie manipulieren würde oder zu etwas überreden würde, hinter dem sie nicht stehen. Ein weißer Ritter in strahlender Rüstung. Ja, ich verstehe …«
Gildofal legte seine beiden schlanken Elbenhände auf meine Schulter, drehte mich zu sich herum und schaute mir in die Augen: »Beneidest du ihn? Wärst lieber du an seiner Stelle?«
Verstört schaute ich in Gildofals tiefe Elbenaugen: »Nein!« Noch bevor sich bei mir Empörung über Gildofals Unterstellung aufbauen konnte, nahm mir dieser dreiste Elb den Wind aus den Segeln. Er gab mir einen Kuss auf die Lippen und meinte: »Ich weiß! Aber ich musste sicher gehen, dass du es ebenfalls weißt. Denn auch du, mein geliebter Segato, bist ein Anführer, wenn auch in völlig anderer Geschmacksrichtung.«
Ich war sprachlos, deswegen sprach Gildofal weiter: »Suman hat mir erzählt, wie du dich damals im Haifischbecken von Xengabad geschlagen oder die Untersuchung auf Boldins Yacht durchgeführt hast. Du weißt instinktiv, was in solch einer Situation zu tun ist, während andere noch kopflos wild durcheinander laufen. Du und Gilfea, ihr zwei seid euch sehr ähnlich.«
Ich wusste immer noch nicht, was ich darauf sagen sollte. Unsicher wechselte ich meinen Blick zwischen Gilfea und Gildofal hin und her. Gildofal lächelte: »Mach dir bloß nicht zu viele Gedanken über mein dummes Gelaber. Sei einfach nur du selbst.«
»Ist das elbische Weisheit?«, fragte ich, wobei sich bei mir ebenfalls ein Lächeln auf die Lippen geschlichen hatte.
»Nein, Eigennutz!«, entgegnete Gildofal, »Ich liebe dich, so, wie du bist und möchte dich kein Jota anders haben.«
Mehr gab es nicht zu sagen, außerdem wurde unsere Anwesenheit bei der Einsatzplanung benötigt. Mit einem freundschaftlichen Schubser schob mich Gildofal zurück zu unseren Freunden.
Zwei Stunden später schlichen Ole, Schiefergrau, Anger, Ivo und ich tief unter der Erde durch die vergessenen Tunnel Tharbads, während sich Gilfea, Sebastian, Erogal und Gildofal auf den Weg machten, den Barad Baul oberirdisch anzugehen. Mithval, Eariglin, Tingalen und die Sulozwillinge hatten sich heimlich auf einem alten Gebäude in der Nähe des Turms niedergelassen, von wo aus sie das gesamte Areal überblicken konnten. Unsere Echsen waren auf die verwegene Idee gekommen, sich an den Dachkanten des Hauses bewegungslos fest zu krallen. Jeder Passant, der nicht zufällig ein Fernglas mit sich trug und sehr genau hinschaute, hätte unsere geschuppten Freunde für Wasserspeier gehalten.
»Alles klar bei euch?«, fragte Gilfea, als sich sein Trupp in Bewegung setzte.
»Yupp! Uns geht’s gut. Ich melde mich, sollte sich etwas Ungewöhnliches tun.«
Das war der Startschuss. Mithval übernahm die Rolle des Koordinators, in dem er Boden- und Tunneltruppe über ihre jeweiligen Fortschritte auf den laufenden hielt.
»Hier lang!«, flüsterte Ole seinem Trupp zu, nachdem er sich anhand Uskols Plan orientiert hatte. Wir setzten uns in Bewegung. Der Neovikinger ging voran gefolgt von Schiefergrau und Anger. Ivo und ich bildeten die Nachhut.
»Meinst du, die Sache geht gut?«
»Wo denkst du hin?«, lachte mich meine Echse aus, »Oh, ich habe das unbestimmte Gefühl, dass das, was du „die Sache“ nennst, noch sehr lustig werden wird!«
Fragte sich nur, für wen. Schweigend schlichen wir durch die Gänge. Nach etwa zwanzig Minuten stoppte Ole und signalisierte mit seinen Händen, dass wir uns in unmittelbarer Nähe des Barad Bauls befanden. Von nun an galt es jedes noch so leise Geräusch zu vermeiden. Das Secur-O-Fence-Perimeternetz mochte zwar nicht bis in die Tunnel vordringen, das hieß aber noch lange nicht, dass es keine anderen Überwachungseinrichtungen gab und sei es ein gelangweilter Wärter auf seinem Rundgang.
»Wir sind am Turm!«, gab ich Mithval durch, der diese Information an den Bodentrupp weiterleitete. Jetzt hieß es abwarten. Gilfea und seine Leute rückten ebenfalls bis in die Nähe des Barad Bauls vor. Ihre Aufgabe war alles andere als leicht. Sollten sie doch das Kunststück fertig bringen, den Wächtern des Turms eine absolut glaubwürdige heimliche Befreiungsaktion vorzuspielen, die von ihnen nur durch Zufall und enormes Glück entdeckt werden sollte. Wirkte das Ganze auch nur im Ansatz wie simuliert, würden die Wachen sofort Verdacht schöpfen und wären gewarnt, dass der eigentlich Einbruch von anderer Stelle erfolgte.
»Ihr habt eure Wartepositionen erreicht. Die ersten Wachen befinden sich auf zwei und neun Uhr«, informierte Mithval seine Seele.
Damit begann das Warten. Ein Einbruch, insbesondere ein vorgetäuschter, macht nur Sinn, wenn sich das Ziel des Bruchs im Turm befand. Wir mussten also abwarten, bis das Boot mit unserem Freund angelegt und man ihn an die Wachen des Barad Bauls übergeben hatte. Jeder war auf seinem Posten. Alles war bereit. Wir warteten.
Noch bevor das Schiff seine Geschwindigkeit verringerte, was man in Sumans Kabine recht gut am sich verändernden Klang der Antriebsmotoren hören konnte, spürte der Drachenreiter und Gildemeister, dass ein Stopp seiner Reise bevorstand. Dazu waren keine übernatürlichen oder magischen Fähigkeiten notwendig, sondern nur etwas Aufmerksamkeit. Das Schiff lag ruhiger im Wasser. Die gesamte goldorianische Küste war unter Seefahrern bekannt für ihre markante Dünung, die selbst bei absolut ruhiger See und Windstille kaum nachließ. Da Suman dieses langgezogene Auf und Ab seit ein paar Minuten fehlte, konnte dies nur eins bedeuten: sie befanden sich nicht mehr auf offener See, sondern fuhren einen Fjord oder einen schiffbaren Fluss hinauf. Suman vermutete, dass Tharbad erreicht war und das Ende seiner Reise nun wohl unmittelbar bevor stand. Als würde jemand seine Gedanken lesen und auf seine Vermutung anworten, hörte Suman, wie der Antrieb des Schiffs gedrosselt wurde.
Mit gemächlichem Tempo, wie es für befestigte Hafenanlagen üblich und meistens sogar vorgeschrieben war. Gemütlich tuckerte das Schiff eine Weile voran, bis leichte Schwankungen und Bewegungen andeuteten, dass der Kurs geändert wurde. Sumans hätte gerne gewusst, wo sie sich gerade befanden, doch leider besaß seine Kabine keine Bullaugen. Aber vielleicht war es auch gar nicht nötig, zu sehen, wo sie sich befanden, vielleicht ließ es sich erfühlen.
Suman kam eine Idee. Er hockte sich in die Mitte seiner Kabine, schloss seine Augen und konzentrierte sich auf seinen Gleichgewichtssinn. Vielleicht war es so möglich, die Lenk- und Drehbewegungen des Schiffs mit der Karte der Küstengewässer Goldors zu vergleichen. Wozu sonst besaß man als Gildemeister ein PDA-Implantat. Das müsste eigentlich reichen, die Wende- und Steuermanöver mit dem Verlauf einer Flussmündung oder eines Fjords in Deckung zu bringen.
»Nun denn!«, meinte der junge Drachereiter mangels Publikum zu sich selbst.
»Ich glaube, es geht los. Eine Yacht nähert sich dem Barad Baul und bereit sich vor, an dessen Kaimauer anzulegen«, teilte Mithval uns allen mit.
»Kannst du oder Tingalen sagen, ob Suman an Bord ist?«, fragte ich nach.
»Nein, ich kann es nicht!«, antwortete Tingalen, »Ich kann Suman fühlen. Er ist ganz in der Nähe. Aber ich komme weder zu ihm durch noch könnte ich seinen Aufenthaltsort angeben. Irgend etwas blockt uns immer noch voneinander ab.«
»Gut, dann halten wir uns weiter an den Plan. Jeder bleibt auf seinem Platz. Lassen wir sie Suman erst in den Turm bringen. Sobald er drin ist wird unsere Gruppen die Aufmerksamkeit auf sich lenken und Oles Team dringt ein.«
Wir warteten. Gilfea, Gildofal, Sebastian und Erogal verharrten am äußersten Perimeter des Gefängniskomplexes in ihrer Deckung, Ole, Ivo, Schiefergrau, Gilfea und ich hockten zusammengekauert und mucksmäuschenstill direkt unter dem Barad Baul, während Mithval und die anderen Drachen uns ganz genau schilderten, was sich im Hafen vor dem Turm tat.
Ein Schiff, genaugenommen eine Yacht und nicht etwa ein Schnellboot, wie es die Soldaten Goldors bei ihrer Flucht aus ihrer Festung verwendet hatten ging längsseits der Kaimauer und legte an. Matrosen warfen Taue zum Land hinüber, die von fleißigen Händen aufgefangen wurden. Alles ging sehr schnell. Das Anlegemanöver benötigte keine fünf Minuten. Schwer bewaffnete, vermummte und mit tiefschwarzen, paramilitärischen Kampfanzügen bekleidete Kerkerwärter gingen in Position und sicherten einen Weg zwischen der Yacht und dem Haupttor des Barad Bauls.
Einer der Wärter, vermutlich ein Hauptmann, lief zweimal den Weg ab, schaute hierhin und dorthin und gab, offensichtlich mit den Sicherheitsmaßnahmen zufrieden, drei Männern auf der Yacht ein Zeichen. Es ging los. Zwei der Männer auf der Yacht stellten sich mit dem Rücken zur Bootswand links und rechts vor ein Schott, ihre Waffen fest im Anschlag, während der dritte, ebenfalls mit dem Rücken zur Wand, gegen das Schott klopfte. Auch diese waren mit Balaklavas vermummt und trugen zudem Kampfhelme und -Brillen sowie Mundmasken, die sie wohl gegen Giftgasangriffe schützen sollten.
»Hier tut sich was!«, rief Mithval in unseren Köpfen.
Die Tür wurde geöffnete und ein Typ wurde von zwei weiteren Wachen herausgeschoben.
»Ist es Suman?«, fragte ich.
»Ich weiß es nicht …«, antwortete Tingalen mit einem für Drachen extrem untypischen Unterton von Verzweiflung in der Stimme, »Sie haben ihm einen Stoffbeutel über den Kopf gezogen. Verdammt, ich müsste ihn trotzdem erkennen! Aber ich weiß es nicht. Er könnte es sein, doch sein Wesen ist verhüllt. Ein dunkler Schatten liegt auf ihm, den ich nicht durchdringen kann.«
Die zwei Wachen aus dem Inneren der Yacht führten die Figur mit dem Stoffbeutel über dem Kopf aufs Festland. Dabei wurden sie von den anderen drei Wachen begleitet. Diese trugen ihre Waffen im Anschlag und schirmten den Gefangenen ab.
»Die treiben einen wahnsinnigen Aufwand. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, meinte Mithval, »Könnte es sein, dass man uns nur etwas vorspielt? Was, wenn unser Gegner fest damit rechnet, dass wir den Barad Baul beobachten. Was, wenn wir nur glauben sollen, dass der Typ mit dem Stoffsack über dem Kopf Suman ist?«
»Gegenfrage: Haben wir eine Alternative? Können wir riskieren, nicht daran zu glauben, dass das Suman ist?«
Niemand konnte und wollte diese Frage beantworten. Wir alle hatten das Gefühl, dass man uns etwas vorspielte, aber wie Gilfea sagte, wie waren uns nicht sicher. Wenn auch nur die kleinste Chance bestand, dass die Figur, die gerade von schwerstbewaffneten Männern in den Barad Baul geführt wurde Suman war, dann mussten wir handeln.
Die vermummte Gestalt wurde wenig sanft von den Wachen Richtung Haupttor des Barad Bauls geschoben, wobei man allerdings zugeben musste, dass sorgsam darauf geachtet wurde, dass er nicht stolperte oder irgendwo anstieß. Der Gefangene schien sich nur widerwillig in sein Schicksal zu fügen, was vielleicht die grobe Behandlung der Wachen erklärte. Die ganze Überführung währte nur wenige Minuten, in denen sich das Wachpersonal allerdings hochgradig alarmiert und, wie ihre Berufsbezeichnung bereits andeutete, extrem wachsam verhielt.
»Suman oder nicht, die Show, die die Jungs da abziehen, ist bühnenreif!«, kommentierte Mithval, nachdem sich das Tor hinter dem Gefangenen und seinen Bewachern schloss, »Gilfea, wenn du und dein Trupp am Plan festhalten will, wäre jetzt der Moment gekommen, an dem ihr vorrücken solltet.«
»Wir rücken vor!«
Es ging los! Gilfea, Erogal, Sebastian und Gildofal rückten vor. Es war geplant, dass sich der Ablenkungstrupp so weit wie möglich dem Barad Baul nähern sollte. Um die Sache besonders glaubwürdig zu gestalten, sollte dort ein Grünschnabel, sprich Sebastian, zufällig kurz seine Deckung verlassen.
Der Barad Baul lebte wirklich von seinem Nimbus, ein verfluchter Ort zu sein. Das Gelände um ihn herum wurde zwar von mehreren hohen Wachtürmen gesichert, eine Mauer, wie um andere Gefängnisse, gab es hingegen nicht, nur einen lächerlichen Maschendrahtzaun, der gerade einmal über einen schwachen magischen Einbruchsschutzzauber verfügte, den jeder Hexenschüler in seinem ersten Lehrjahr mit einem beiläufigen Fingerschnippen hinwegfegen konnte. In diesem Fall übernahm Sebastian die ehrenwerte Aufgabe, ein Loch zum durchschlüpfen in den Zaun zu zaubern. Er mochte kein sonderlich erfolgreicher Meuchelmörder sein, aber was das Einbruchshandwerk betraf, war er mehrfach Jahrgangsbester gewesen.
»Sie sind drin!«, teilte uns Mithval mit, was soviel hieß, dass sich Gilfeas Trupp nun in der Sicherheitszone rund um den Barad Baul befand. In diesem Bereich gab es noch ausreichend Deckung, die von unseren Freunden auch genutzt wurde. Unser Plan sah für Gilfeas Trupp als erstes Ziel eine Mannschaftsbaracke vor. Niemand hätte uns einen ebenso direkten wie plumpen Angriff auf den Turm abgenommen. Satt dessen wollten wir den Wachen eine ebenso gute Show bieten, wie sie uns. Die Idee bestand darin, ein paar Kampfanzüge der Wachen zu erbeuten, diese anzuziehen und dann getarnt in den Barad Baul einzudringen.
»Der Plan ist plump!«, gab Mithval ungefragt seinen Senf dazu, »Gut, vielleicht ist er nicht so plump, wie direkt auf den Turm zuzurennen, aber immer noch plump. Er könnte funktionieren!«
Wie soll man bei solchen Bemerkungen einen Drachen ernst nehmen? Doch so verrückt der Plan auch war, das Glück schien auf unserer Seite zu sein. Gilfea gelang es mit seinen Leuten tatsächlich in eine der Mannschaftsbaracken einzudringen. Dumm nur, dass sie nicht ganz leer war. Fünf Wachen waren gerade damit beschäftigt, sich für ihre Schicht fertig zu machen. Wir erwischten sie im für sie denkbar ungünstigsten Moment. Mit halb nur bis zu den Knien hochgezogenen Kampfanzügen konnte man sich schlecht bewegen und schon gar nicht an einen der vielen Alarmknöpfe gelangen.
»Das ist jetzt nicht persönlich gemeint, aber werden uns mal eure Klamotten ausleihen müssen!«, meinte Erogal, und noch bevor die fünf begriffen, was ihnen widerfuhr, hatte man sie ins Land der Träume befördert. Als Gildemeister beherrschte Erogal ein paar interessante Kampftechniken. Es war schon recht erstaunlich, was mit etwas Druck auf ein paar Nervenpunkte alles erreicht werden konnte.
»Sind sie tot?«, fragte Sebastian entsetzt.
»Nein, wo denkst du hin! Die schlafen die nächsten Stunden ganz friedlich. Allerdings sollten wir sie nicht mitten auf dem Markt rumliegen lassen. Zieht ihnen die Anzüge aus«, Erogal schaute sich um, »Dort! Wir packen Sie in den Wandschränke.«
Gilfea, Sebastian und Gildofal befolgten Erogals Anweisungen. Wenig später waren die überwältigten Wachen in den Wandschränken verschwunden und die vier mit je einem passenden Kampfanzug, Balaklava, Helm- und Schutzmaske versorgt. So ausstaffiert, konnte man sie unmöglich von den anderen Wächtern unterscheiden.
»Ich frage mich gerade, wie wir uns so zufällig verraten sollen? In diesem Aufzug gehen wir definitiv als Wachen durch.«
»Hey, was treibt ihr noch hier?«, machte sich plötzlich eine Wache bemerkbar, die gerade zur Tür herein gekommen war. »Los, verschwindet und seht zu, dass ihr in den Turm kommt! Wenn einer von den Oberen mitbekommt, dass ihr bei Violett nicht auf eurem Posten seid, möchte ich nicht in eurer Haut stecken. Los! Ich werd euch nicht verpfeifen!«
»Danke Kamerad!«, entgegnete Gilfea geistesgegenwärtig und rannte, gefolgt von den anderen in Richtung Barad Baul. Am Tor angekommen, wurde der kleine Trupp von zwei Wachen empfangen: »Mensch, Leute, seid ihr wahnsinnig heute zu spät zu kommen! Los, schnell rein, bevor die mit ihrem Kontrollgang beginnen.«
Statt das Haupttor zu öffnen, wurde Gilfea und seinen Leuten eine Wachtür geöffnet, die sich zu einer Personenschleuse öffnete.
»Ausweise!«, flammte es in feuerroter Schrift auf einer Konsole in der Personenschleuse auf.
»Wir sind am Arsch!«, durchfuhr es Sebastian, doch wieder bewies Gilfea Geistesgegenwart. Während er sich den Kampfanzug angelegt hatte, war ihm eine Plastikkarte in der Brusttasche aufgefallen, nach der er nun griff und sie vor die Konsole hielt. Es piepste und ein grünes Symbol erschien. Allerdings leuchteten immer noch drei Symbole rot. Diese verwandelten sich ebenfalls in grün, als einer nach dem anderem seine Karte vor die Konsole hielt.
»Zugang gewährt!«
Mit dieser Meldung und einem weiteren Piepston öffnete sich das innere Schott der Personenschleuse. Gilfea, Erogal, Sebastian und Gildofal betraten den Barad Baul.
»Ende! Ich hab den Kontakt zu Gilfea verloren. Dieser verfluchte Turm schirmt meine Seele von mir ab!«, teilte uns Mithval mit, nachdem der Trupp im Barad Baul verschwunden war, »Ähm, ich möchte ja nicht altklug erscheinen, aber sprach der Plan nicht davon außerhalb des Barad Bauls für Ablenkung zu sorgen?«
»Was machen wir? Gehen wir rein?«, fragte ich mental in die Runde. Anger schaute mich ein wenig verwundert an, da er diese Art der lautlosen Kommunikation bisher nicht gewöhnt war, nickte dann aber zustimmend.
»Wir gehen rein!«, ließ sich Ole Olson vernehmen. Es war das erste mal, dass ich seine Drachenstimme in meinem Kopf vernahm. Sie war angenehm, sehr kräftig und plastisch.
»Na dann los!«, brachte Ivo die Stimmung auf den Punkt.
Wir gingen rein. Das Tunnelstück, durch das wir gerade schlichen, zeigte deutliche Altersspuren. Wenn ich den Zustand richtig interpretierte, befanden wir uns in einem der allerältesten Teile des unterirdischen Wegenetzes. Bisher hatten wir unseren Weg mit zwei Elbenlichtern erleuchtet, doch nun, in unmittelbarer Nähe des Barad Bauls, löschten wir eines der Lichter und dunkelten das andere soweit ab, dass sich die Umgebung eben gerade noch als Umrisse erkennen ließen. Ivo und Schiefergrau waren im klaren Vorteil. Ihre Augen konnten selbst bei fast völliger Dunkelheit noch klar sehen, weswegen die beiden nun auch die Vorhut bildeten.
Wir wagten nicht mehr zu sprechen und verständigten uns daher ausschließlich mental oder per Handzeichen. So auch, als wir zu einem Durchbruch kamen. In der gemauerten Wand des Tunnels fehlten auf etwa einen Meter Breite und eineinhalb Metern Höhe die Ziegel, dahinter zeichnete sich ein Gang aus massivem Fels ab, an dessen Ende ein schwaches Schimmern zu erkennen war.
»Das muss es sein. Der Durchbruch zum Barad Baul!«
Vor Aufregung hielt ich die Luft an und hätte dadurch fast laut und vernehmlich ausgeatmet, wäre da nicht Ivo der mich vorher warnte: »Und das Atmen nicht vergessen!«
»Ja doch! Achte du lieber darauf, dass deine Schuppen nicht knistern.«
»Hört auf euch zu kabbeln! Dafür ist jetzt keine Zeit. Ivo, schau mal, was dort vorne ist.«
Und der Drache in Menschengestalt schaute. Ivo schlüpfte durch den Durchbruch und schlich durch den Gang. Mit dem schwachen Schimmer vor und der Dunkelheit hinter ihm, war von meiner Echse nur ein schwarzer schemenhafter Schatten zu erkennen.
»Ich glaube, wir haben ein Problem. Ihr solltet besser herkommen und euch das ansehen«, rief Ivo, als er nach wenigen Minuten sein Ziel erreichte.
Ole, Anger, Schiefergrau und ich folgten Ivos Ruf und schlichen einer nach dem anderem ebenfalls durch den Felsengang. Der Weg war nicht lang, vielleicht 15 Meter und endete in einer runden, kesselförmigen Höhle. Der Lichtschimmer, den wir von weiten gesehen hatten, entpuppte sich gleichermaßen als Zugang und Hindernis. Im Boden befand sich ein etwa fünf mal vier Meter großes Loch. Von ihm ging nicht nur das Licht aus, es war auch der Zugang zum Turm. Dumm nur, dass es mit wirbelndem, klaren und dampfenden Wasser aufgefüllt war.
»Kann mir jemand sagen, was das ist?«, fragte ich mental in die Runde.
»Wasser?«, schlug Ivo, ganz Drache, ganz Scherzkeks, vor.
»Ich glaube, ich weiß was das ist«, meinte Ole und schaute uns wissend an. Das Licht, das von unterhalb des Wassers hervorquoll, strahlte uns von unten an und verlieh uns allen eine gespenstische Aura, »Das ist bestes Trinkwasser der Thermalquellen Tharbads. Das einzige, was in dieser Stadt nicht schmutzig oder latent giftig ist. Der Barad Baul scheint über eine eigene Quelle zu verfügen. Ich vermute, das Licht kommt aus dem Pumpenraum, der in meinen Plänen erwähnt wird. Jetzt wird mir klar, warum niemand diesen Zugang kennt. Wahrscheinlich gibt es im Barad Baul ein Quellbecken, aus dem die ihr Wasser pumpen. Niemand ahnt, dass es eine Verbindung zu dieser Kaverne gibt.«
»Vielleicht kann man hindurchtauchen. So hell wie das Wasser leuchtet, kann die Quelle des Lichts nicht weit sein. Fünf Meter, vielleicht auch ein klein wenig mehr.«
Tauchen? Mir drängte sich die Erinnerung an meine Tauchfahrt mit Suman und Meridus durch die Pipeline Blaufurts ins Bewusstsein, ein Erlebnis, nach dessen Wiederholung ich mich nicht wirklich sehnte, »Hatte ich schon erwähnt, dass ich kein sonderlicher Freund des Tauchsports bin?«
Ivo kicherte, natürlich kicherte er, er kannte meine Erinnerungen. Doch was tat er? Stellte sich mit dem Rücken zum Beckenrand, hielt sich mit zwei Finger übertrieben affektiert die Nase zu und hopste, springen konnte man es beim besten Willen nicht nennen, rücklings ins Wasser. Dort angekommen gab er sofort seine Albernheit auf. Statt dessen verstärkte Ivo seine Verbindung zu mir. Ich sah, was er sah.
Ivo tauchte dem Licht entgegen. Er hatte Recht. Der Unterwasserkanal war etwa sechs Meter lang, um sich dann in ein etwa acht mal zwei Meter großes Becken zu öffnen, in das vier große Ansaugrohre tauchten. Offenbar wurden die Thermalquellen tatsächlich vom Barad Baul angezapft. Ivo tauchte vorsichtig aus dem Becken auf, lugte über den Beckenrand und schaute sich um. Ein strahlend hell erleuchteter Raum vollgestopft mit Rohren, Pumpen, Ventilen, Mischern und Schaugläsern präsentierte sich Ivos Blick.
»Ich komme zurück!«
Wenig später tauchte mein Drache wieder bei uns auf, kletterte aus dem Wasser und tropfte den Boden voll.
»Also, das Stückchen bis zum Pumpenbecken zu tauchen, dürfte kein Problem sein.«
»Aber?«
»Wenn ihr im Pumpenraum ankommt, wärt ihr gut durch. Das Wasser ist locker 80 Grad heiß. Ich will ja nicht auf dem Thema rumreiten, aber der Drache in unserem kleinen Club, bin halt ich. Ihr wisst schon? Feuerwesen und so.«
»Wenn das das einzige Problem ist, ich glaube, da lässt sich etwas arrangieren.«
Man sollte niemals die Ausbildung eines Gildemeisters unterschätzen. Neben Körperbeherrschung, Kampfkunst, Spionage und Diplomatie, durfte ich auch Zaubersprüche bis zum Abwinken pauken. Darunter so absurde Sprüche, wie die »Salatschleuder«, der sehr hilfreich bei der Zubereitung von Rohkostsalaten war oder aber eben auch die sogenannte »Pommeshand«, die einem ermöglichte, fertig frittierte Kartoffelstäbchen mit bloßen Händen aus ihrem Ölbad zu fischen. Das Wasser war zwar kein kochendes Öl aber ebenfalls heiß genug, dass ungeschützter Körperkontakt nicht ratsam erschien. Die »Pommeshand« kam daher gerade richtig, insbesondere, da sie nicht nur an einem selbst, sondern auf auf andere anwendbar war und dabei relativ wenig Kraft erforderte. Dermaßen geschützt war der Tauchgang für unsere kleine Einsatztruppe ein Kinderspiel. Anger zeigte sich Anfangs noch wenig skeptisch und hielt prüfend einen Finger in das Wasser. Als er aber feststellte, dass sich das Wasser nur angenehm warm aber auf keinen Fall heiß anfühlte, sprang er, wie zuvor Ole und Schiefergrau, in die Fluten. Entschlossen, meinen geliebten Suman zu befreien, tauchten wir den Unterwassergang ins Innere des Barad Bauls entgegen.
»Mit dem Gesicht zu Wand hinstellen!«, die Antwort erschallte ebenso laut wie aggressiv in Sumans Kajüte. Der junge Drachenreiter zuckte mit den Schultern und befolgte die Anweisung. Sowohl sein PDA-Implantat als auch eigene Überlegungen kamen zu dem gleichen, frustrierenden Schluss, dass sich Widerstand sowohl als sinnlos, als auch vermutlich ausgesprochen schmerzhaft herausstellen dürfte. Wie recht Suman mit dieser Vermutung hatte, zeigte sich wenig später, als man ihn sehr unsanft fesselte und einen undurchsichtigen Stoffsack über den Kopf zog. Wieder einmal war er auf die Führung fremder und nicht sonderlich wohlgesonnener Personen angewiesen, was diese auch zeigten. Sie gaben sich nicht all zu große Mühe, ihn kollisionsfrei durch die Gänge des Schiffes zu leiten. Suman meinte sogar hämisches Gelächter zu hören, als er beim Durchschreiten eines Schotts gegen dessen Rahmen prallte.
Einem Gildemeister, auch wenn er wie Suman noch recht jung war, vollständig die Orientierung zu rauben war weit schwieriger, als man sich gemeinhin vorstellte. So mochte ein Sack über Sumans Kopf ihn zwar aller visueller Eindrücke berauben, doch wurde diese Behinderung durch Schärfung der verbliebenen Sinne zu einem großen Teil kompensiert. Es begann schon beim Geruch der Luft, der viel über die Umgebung, durch die man Suman führte, verriet. Die Luft unter Deck roch steril, fast künstlich. Eigentlich roch sie nach gar nichts, weder nach dem Meer noch nach Treibstoff oder den Ausdünstungen der Mannschaft, wie es noch auf dem ersten Schnellboot der Fall war.
Sumans seit Tagen von Düften unbelastete Nase reagierte demnach äußerst empfindlich, als man ihn nun von Bord führte. Es begann damit, dass Suman spürte, dass sich die Luft auf seiner Haut kühler und leicht feucht anfühlte. Er musste sich im Freien befinden, was ein erster tiefer Atemzug sofort bestätigte. Trotz des Stoffsacks über seinem Kopf roch die Luft vergleichsweise frisch und lebendig, wenn auch nicht sonderlich gut. Es roch nach Hafen, einem Seehafen, um genau zu sein, wie der leicht salzige Geschmack bewies. Das war aber nur der erste Eindruck, die Luft hielt noch ganz andere Informationen bereit. Eine unverkennbar ölige Note sprach sehr dafür, dass es sich um einen Umschlaghafen für derartige Stoffe handelte. Damit schieden alle kleineren Häfen aus. Doch da war noch mehr, ein Geschmack, den jeder andere wahrscheinlich gar nicht bemerkt hätte und selbst Suman fast entgangen wäre. Müsste Suman den Geschmack beschreiben, hätte er von etwas grauem, schmierigen und süßlich, bitterem gesprochen. Wenn sich sein PDA-Implantat nicht irrte, gab es nur fünf Orte an der Westküste, an denen man etwas derartiges riechen konnte, wovon zwei gleich ausgeschlossen werden konnten, da für sie die Luft zu kühl war. Blieben drei, hätte sich Suman nicht die Mühe gemacht, sich die Manöver des Schiffes bis zum Anlegen einzuprägen. Verglich man beides miteinander, blieb nur ein Ort, an dem er sich befinden konnte, nämlich in Tharbad.
Diese Erkenntnis empfand Suman als gleichermaßen ernüchternd als auch beunruhigend. Ernüchternd, weil Tharbad von Anfang an das plausibelste Ziel seiner unfreiwilligen Reise darstellte und sogar von seinen Wächtern auf dem Schnellboot erwähnt wurde. Beunruhigend, weil sich dann die Frage stellte, warum jemand so viel Aufwand trieb, ihn sowohl von Tingalen abzuschirmen als auch verhinderte, dass er sah, wo er sich befand. Letzteres war auf extrem besorgniserregende Weise absurd, da Suman wusste, wo er sich befand und derjenige, der ihn gefangen hielt, ebenfalls wissen musste, dass Suman es wusste. Dies konnte eigentlich nur eins bedeuten: Zu wissen, dass er sich in Tharbad befand, war unwichtig. Es ging darum, wo er sich in Tharbad befand.
»Wo sind wir hier?«
Wir hatten das Wasserwerk des Barad Bauls hinter uns gelassen. Wenn man einmal davon ab sah, dass es sich bei dem Gebäude um einen grausamen Kerker handelte, war dessen Technik schon beeindruckend. Während in Daelbar unsere Drachen in Heizkraftwerken für Wärme und Behaglichkeit sorgten, nutzte man im Barad Baul die Hitze der Thermalquellen. Vom Pumpenraum schlängelte sich daher nicht nur ein Gang durch die Untergeschosse des Turms sondern auch ein Wirrwarr dicker Rohrleitungen.
»Den Plänen zufolge müssten wir gleich durch die Waschküche kommen.«
Die Pläne behielten recht. Oles unfreiwillige Quellen hatten uns zumindest bisher mit sehr genauen Angaben versorgt. Der nächste Raum, den wir betraten, war tatsächlich die Hauptwaschküche des Kerkers. Zu dieser Tageszeit sollte sie menschenleer sein, was sich ebenfalls mit der von uns vorgefundenen Realität deckte.
»Findet ihr nicht, dass wir gut voran kommen?«, fragte Ivo mit einem deutlich sarkastischen Unterton in seiner Stimme.
»Erschreckend gut, wenn ihr mich fragt!«, knurrte Ole und sah sich unsicher um, als wenn er jeden Moment, mit einem Trupp schwerbewaffneter Wachen rechnete. Doch die kamen nicht.
»Und wo lang jetzt?«, fragte ich vorsichtig.
»In der Maschinenkammer der Waschküche soll es eine Luke zu einem Schacht geben, der sich durch den ganzen Barad Baul zieht. Die Gefangenen wissen nichts von seiner Existenz. Bei Gefangenenrevolten soll er dazu dienen, den Widerständlern in den Rücken fallen zu können.«
»Hui, wie gemein! Wo bleibt denn da der Spaß an einer Revolte, wenn die andere Seiten mit gezinkten Karten spielt?«
Oh, diese Drachen! Ich hätte Ivo am liebsten verflucht, hätten seine blöden Kommentare nicht die Wirkung gehabt, uns alle aufzumuntern. Etwas, das wir dringend nötig hatten.
»Hat einer von euch schon Kontakt zu den Anderen oder zu Suman?«
Wir hielten inne und lauschten in uns hinein. Da war etwas. Ich konnte Gildofal, Erogal und Gilfea erahnen, erhielt aber keinen Kontakt zu ihnen. Ivo meinte, er verspürte die gleiche Art Dämpfung der Verbindungen, die es uns unmöglich machte, mit Suman Kontakt aufzunehmen.
»Es ist der Turm! Das Material, aus dem der Barad Baul erschaffen wurde. Erschaffen und nicht etwa erbaut. Es ist die Ursache dafür, dass wir nicht zu unseren Freunden durchdringen. Ich kann es fühlen, sogar sehen. Sein schwarzer Fels ist gar keiner. Es ist schon Fels, aber sein Zusammenhalt und seine Form ist nicht natürlich. Hier wirkt ein extrem mächtiger und uralter Zauber. Ich zweifle, dass heute noch ein Hexenmeister auf Erden wandelt, der in der Lage wäre, solch Monstrosität zu beschwören. Oder anders ausgedrückt. Gäbe es einen Hexenmeister dieser Stärke, hätten wir alle ein verdammt großes Problem an der Hacke!«
Etwas derb im Ausdruck aber im Prinzip direkt auf den Punkt. Ivo wusste, was er sagte und was es bedeutete. Wollten wir uns mental nicht ebenfalls verlieren, mussten wir zusammen bleiben. Schon eine simple Wand aus dem Fels des Barad Bauls zwischen uns unterbände die Verbindung zueinander.
»Da vorne ist die Technikkammer. Seid vorsichtig und geratet nicht in das Räderwerk und die Transmissionsantriebe der Waschtrommeln, die sollen einem Arme und Beine abreißen können.«
Wir folgten Ole. Zusammen schlichen wir in die Technikkammer. Hier hauste die Mechanik der Waschmaschinen. Es war ein Dickicht aus Antriebswellen, Zahnrädern, Transmissionsbändern, Trommeln und Walzen, Motoren, Ventilen, Wasserleitungen und Kesseln. Das ganze erinnerte an die Eingeweide eines schlafenden, mechanischen Riesen, der aber jederzeit erwachen konnte. Mit äußerster Vorsicht krochen wir einer hinter dem anderem durch die Kammer, die sich allerdings wenig kammermäßig über zwei Stockwerke erstreckt. Unser Pfad bestand aus einem gerade einmal vierzig Zentimeter breiten Laufsteg, der sich über einem Moloch großer ineinandergreifender und sehr gefräßig wirkender Zahnräder spannte. Das auf Hochglanz polierte Messing, aus dem die Maschinen zusammengesetzt waren, funkelte so heftig, dass wir höllisch aufpassen mussten, nicht durch eine Reflektion getäuscht ins Leere zu treten.
»Hier, das müsste es sein.«
Meuchelmörder Ole Olson nahm die Verkleidung an einem Wandstück ab und siehe da, im Mauerwerk klaffte eine Öffnung, groß genug, dass wir hindurch passten.
Sumans Behandlung wurde zunehmend ruppiger. Frischluft zu atmen, soweit man die Luft des Tharbadschen Hafens als frisch bezeichnen konnte, stellte sich als sehr kurzzeitiges Vergnügen heraus. Nach schätzungsweise fünfzig Metern Fußmarsch, änderte sich die Umgebung. Die Umgebungstemperatur stieg leicht. Der Klang von Sumans und seines Begleiters Schritten änderte sich. Schien er während des kurzen Frischluftintermezzos über offenes Gelände geführt worden zu sein, reflektierten nun nahe Wände den Klang ihrer Stiefel. Suman vermutete, dass er in ein Gebäude gebracht worden war. Hier war die Orientierung weit schwieriger und es erforderte seine seine ganz Konzentration, sich den Weg einzuprägen. Zwanzig Schritte gerade aus, eine Drehung um 90 Grad nach rechts, fünf Schritte voraus, dann schräg links. Jeder Schritt wurde in Sumans PDA-Implantat gespeichert. Es ging eine Treppe hinauf, jeweils 8 Stufen, dann eine Drehung nach links um 90 Grad. Das ganze wiederholte sich zwölf mal. In Sumans Vorstellung entstand das Bild eines quadratischen Treppenschachts. Demnach waren drei Etagen Höhe überwunden, wenn man davon aus ging, dass vier Drehungen einem Stockwerk entsprach. Es ging weiter. Wieder ein paar Schritte, dann eine Pause, wobei stets zwei Hände seiner Wachen auf seinen Schultern ruhten. Während er wartete, meinte Suman eine schwer in den Angeln hängende Tür sich öffnen zu hören. Kaum hatte das Geräusch geendet, wurde er unsanft weiter geschoben. Es folgten erneut ein paar Schritte, doch dann endete die Odyssee.
Plötzlich begannen mehrere Hände an Sumans Hand- und Fußgelenken zu hantieren. Noch bevor er begriff, was geschah, hatte man ihn an Händen und Fußen festgekettet. Während aber seine Fußfessel fest mit dem Boden verbunden waren, schien seine Handgelenke an Ketten zu hängen, die auch prompt nach oben gezogen wurden. Wie ein gespreiztes X hing Suman in den Seilen.
»Endstation mein Lieber!«, mit diesem Worten einer seiner Wachen wurde Suman der Stoffsack vom Kopf gezogen, »Und viel Spaß noch!«
Laut über ihren Witz lachend, wurde Suman von seinen Wachen verlassen. Vom plötzlichen Licht nach Minuten der Dunkelheit geblendet, sah Suman nur, wie seine Wächter den Raum verließen und eine schwere Stahltür hinter sich schlossen. Immer noch etwas benommen blinzelte Suman, um wieder einen klaren Blick zu erhalten, obwohl er ahnte, dass er gar nicht sehen wollte, was sich ihm präsentierte. Und er behielt recht. Vor sich erschloss sich eine mit allen üblichen Werkzeugen ausgestattete Folterkammer.
»Na, das kann ja noch lustig werden!«
»Und jetzt?«
Seit einigen Minuten kletterten wir in einem geheimen Wartungsschacht auf und ab. An jedem Stockwerk hielten wir an und lauschten in uns hinein und hofften so, vielleicht etwas von Sumans Präsenz aufzuschnappen. Doch da war nichts. Nicht das Geringste. Statt dessen hatten wir den Eindruck gelegentlich etwas von Gilfea und den anderen aufzufangen. Doch blieben diese Eindrücke vage und sehr unspezifisch.
»Ehrliche Antwort? Ich weiß es nicht!«, antwortete Ole spürbar frustriert, »Wenn ihr einen Spitzengefangenen in eurem Kerker unterbringen müsstet, wie würdet ihr vorgehen?«
»Oh, da gäbe es viele Möglichkeiten. Es hängt ein wenig von der Denkweise des Kerkermeisters ab. Wenn er wie ein Gildebruder denkt, dann würde er seinen wertvollsten Schatz mitten unter dem gewöhnlichen Plunder verstecken.«
»Das gefällt mir. Doch was, wenn unser Kerkermeister wie ein Kerkermeister denkt?«, meinte mein Drache.
»Nun, dann würde ich meinen Schatz vermutlich in mein sicherstes Verlies schmeißen«, antwortete ich und zeigte nach oben. Wenn Oles Quellen ausschließlich Zugang zu den normalen Bereichen besaßen, lag der Verdacht nahe, dass man einen besonders brisanten Gegangenen wie Suman außerhalb des normalen Kerkerbereichs versteckt hielt. Es gab allerdings noch eine andere Möglichkeit. Eine, die den Denkmustern einer Person entsprach, die ahnungslose und unschuldige Vikare der Kirche der unifizierten Technokratie zu tödliche Waffen umfunktionierte. Sollte sich diese Möglichkeit als Realität rausstellen, liefen wir direkt in eine Falle.
»Es gibt noch eine andere Möglichkeit …«, begann ich meine Ahnung zu formulieren, »Was, wenn Suman gar nicht hier ist? Was, wenn der Gefangenentransport, die erhöhte Alarmbereitschaft der Wachen, vielleicht sogar die Pläne des Barad Bauls, nichts weiter sind, als uns hier her zu locken?«
Wie nicht anders zu erwarten, erntete ich mit meinem Kommentar allgemeines betretenes Schweigen. Es dauerte etwas, bis sich Ivo zu Wort meldete.
»Hab’ ich eigentlich schon mal erwähnt, dass du ein echter Stimmungstöter sein kannst?«
»Warum? Er hat doch Recht!«, meinte Ole trocken, »Das ging alles viel zu leicht. Ich kenne keinen Knast, in den man derart unbehelligt hineinspazieren könnte. Und dies ist der Barad Baul! Aber mal ehrlich, es ist ja nicht so, dass wir es nicht schon geahnt hätten, oder? Jetzt sind wir uns eben sicher. Die Frage ist nur, was tun?«
»Weitermachen!«, meinte Ivo mit leicht ironischem Schmunzeln in der Stimme, »Seid ihr nicht neugierig, wer sich soviel Mühe gemacht hat uns hier her zu bekommen?«
»Du hast doch eine Idee, oder?«
»Vielleicht … Sagen wir mal so, wenn du Recht hast und dies ist eine Falle, dann ist sie längst schon zugeschnappt, oder glaubt ihr ernsthaft, man würde uns genau so leicht aus diesem Turm herausspazieren lassen, wie wir rein gekommen sind? Natürlich nicht. Warum dann nicht einfach weiter machen. Allerdings …«
»Allerdings was?«
Statt Ole zu antworten, wandte sich Ivo an Schiefergrau, Gilfeas treuen Gefährten: »Schiefergrau, mein Freund! Ich weiß, dass du mich verstehen kannst. Und ich weiß auch, dass du etwas kannst, was keiner von uns sonst kann. Hör bitte gut zu!«
Und der Wolf hörte gut zu, was Ivo ihm erzählte und um was er ihn bat. Ivos Idee war ebenso einfach wie genial. Dieser Wolf konnte tatsächlich etwas, was kein anderer von uns konnte. Während wir durch den Barad Baul unserer mentalen Verbindung beraubt war, besaß Schiefergrau etwas, dass ohne jegliche Magie funktionierte, seinen Geruchssinn.
»Du weißt, was du zu tun hast?«, fragte Ivo den Wolf, nachdem er ihn mit einer Reihe Anweisungen versorgt hatte. Der Hund schien tatsächlich zu verstehen, was mein Drache von ihm wollte. Ich meinte sogar so etwas wie ein Kopfnicken zu sehen. Gilfea hatte mir erzählt, dass Schiefergrau anders sei, kein normaler Wolfshund, sondern ein intelligentes Wesen mit Bewusstsein, welches er und seine Sippe durch die Macht eines magischen Kristallartefakts erhalten hatten. Die Geschichte klang dermaßen fantastisch, dass sie vermutlich wahr sein musste. Jedenfalls in unserer Welt.
Zufrieden und mit einem spitzbübischen Grinsen auf den Lippen, wandte sich Ivo Ole, Anger und mir zu: »So, ich glaube, wir können jetzt gehen und unseren Gastgeber besuchen.«
Suman rüttelte an seinen Fesseln, erntete aber nicht mehr, als recht unangenehme Schmerzen, die Hand- und Fußfesseln saßen, ebenso wie die Verankerung der Ketten an denen sie befestigt waren, bombenfest. Dass seine aktuelle Lage nicht sonderlich bequem, sondern eher das exakte Gegenteil davon war, lag vermutlich in der Natur der Dinge. Eine Folterkammer war einfach nicht der Ort, an dem man einen gemütlichen Abend verbrachte, es sei denn, man war Folterknecht mit einer Passion für seinen Beruf.
Die Einrichtung der Räumlichkeit entsprach auf erschreckend realer Weise den übelsten Klischees, die man gemeinhin mit einer Folterkammer verband, angefangen bei der Streckbank bis zur Kollektion diverser Brandeisen und -zangen. Die meisten Werkzeugen schienen mit einer geradezu perversen Lust entworfen zu sein, den armen Seelen der Delinquenten ein maximal qualvolles Sterben zu breiten. Diese Folterkammer verließ man offenbar nur in einem Zustand, nämlich tot. Wobei Suman die beklemmende Ahnung beschlich, dass letzteres vermutlich eher einer Erlösung gleich kam. Besonders talentierte Folterknechte, so klärte Sumans PDA-Implantat auf, waren berühmt dafür, das unvermeidliche Ende fast beliebig hinauszuzögern. Suman fragte sich, was man wohl unternehmen müsste, um so ein PDA-Implantat ein klein wenig zu quälen. Manche Information durfte das dumme Ding wirklich gerne für sich behalten.
Während der junge Gildemeister und Drachenreiter noch darüber sinnierte, mit welchen Werkzeugen man ihm wohl das zweifelhafte Vergnügen einer näheren Bekanntschaft angedeihen lassen würde, fiel sein Blick auf etwas, das eigentlich so gar nicht in einen Raum wie diesen gehörte. Direkt vor ihm, in etwa drei Metern Abstand war eine schwarz schimmernde flache Tafel aufgestellt. Suman hätte sie bei den anderen Gerätschaften gar nicht bemerkt, hätte sie nicht just in dem Moment begonnen zu flackern.
»Ein Video-O-Matic Fernsichtschirm «, staunte Suman nicht schlecht.
Die Fernsichtschirme waren das natürliche Gegenstück der magischen Scann-O-Matic-Augen. Auf ihnen ließen sich all die Dinge betrachten, die die Augen aufnahmen. Dabei mussten sich das Auge und der Sichtschirm nicht einmal in relativer Nähe zueinander befinden. Wie Sumans PDA-Implantat erläuterte, gab es Systeme, die mehrere hundert und sogar tausende Meilen voneinander entfernt waren. Es gab sogar Geräte, mit denen man das Gesehene aufnehmen und später immer wieder betrachten konnte.
Dieser Schirm begann nun zu flackern, was ein deutliches Zeichen dafür war, dass man beabsichtigte Suman an einem Ereignis teilhaben zu lassen. Dem Umstand, dass er sich schmerzhaft gefesselt in einer Folterkammer befand, legte den Verdacht nahe, dass die zu erwartenden Bilder wenig erfreulich sein durften. Er sollte nicht enttäuscht werden. Der Schirm wurde heller, nebelartige Gebilde erschienen, verdichteten sich und nahmen Konturen an. Langsam formte sich das Bild einer Landschaft. Das magische Auge, das die Bilder lieferte, blickte aus größerer Höhe in ein Tal, das von zwei Gebirgszügen gesäumt wurde. Quer dazu verlief in der Mitte eine Stadtmauer. Direkt davor, wo sich eigentlich weite grüne Wiesen von Hang zu Hang erstrecken sollten, sah Suman nichts anderes als verbrannte Erde und ein Heer tausender und abertausender Orks. Belagerungstürme wurde zur Stadtmauer herangerollt.
Suman musste schlucken. Er hatte die Landschaft bereits im ersten Moment erkannt. Es war das Tal von Daelbar. Daelbar, seine neue Heimat, die Insel der Freiheit, Heimstadt der Drachen wurde belagert. Wie konnte das sein? Wieso wehrten sich die Echsen nicht? Es müsste für sie doch ein leichtes sein, diese abscheulichen Orks zu mineralreicher Düngerasche zu verwandeln.
»Hallo Suman, mein alter Freund!«
Eine laute, fast ohrenbetäubend laute Stimme ertönte und lenkte kurzzeitig vom Geschehen auf dem Sichtschirm ab. Suman war sich sicher, dass er die Stimme kannte, doch konnte er sie im Moment niemandem zuordnen, was ihn ärgerte. Er hatte den Eindruck, als wenn die Stimme anders war, als sie sein sollte.
»Du fragst dich sicher, warum sich deine Freunde nicht wehren?«, fragte die Stimme in einem offen hämisch amüsierten Tonfall, »Sie können es nicht. Erinnerst du dich an dieses widerliche Echsenblut, das du und dein Liebchen die Frechheit besessen hattet, zu stehlen? Du wirst dich wundern, was man für wundervolle Dinge damit anstellen kann. Zum Beispiel Orks züchten, besondere Orks, Orks, denen deine geliebten Echsen nichts anhaben können. Die Nähe der Orks macht sie krank und bringt sie sogar um, halten sie sich zu lange neben einem Ork auf. Einfach wundervoll!«
»Darüber lässt sich streiten!«, kommentierte Suman die Einlassung seines Gastgebers. Auf keinen Fall wollte er sich anmerken lassen, was er wirklich empfand.
»Oh, schau mal. Da versucht einer dieser Echsenliebhaber einen der Belagerungstürme anzugreifen!«, verkündete die Stimme amüsiert, »Aber, aber! Er wird mir noch meine kleine Überraschung verderben.«
Suman schaute genau hin. Und tatsächlich, ein feuerroter Drache umkreiste einen der Belagerungstürme. Der Reiter zückte ein Schwert, das plötzlich gleißend hell aufflammte. Suman erkannte ihn, es war Uskav auf Narsul. Mit ein paar gewagten Flugmanövern und gezielten Hieben des flammenden Schwertes gelang es Uskav die Panzerung des Turms zu zerstören. Doch statt über diesen kleinen Sieg erfreut zu sein, gefror Sumans Blut zu Eis, als er entdeckte, dass sich innerhalb des Belagerungsturm ein Steinbrenner befand.
»Nett nicht?«, lachte die Stimme und triefte dabei vor Gehässigkeit, »Schau gut zu. Teile mit mir das Vergnügen, dem Ende dieses widerlichen Ekzems einer Stadt, dieser Abartigkeit, beizuwohnen!«
Suman wollte stark sein, doch es gelang ihm nicht. Gegen seinen Willen füllten sich seine Augen mit Tränen, als er mitansehen musste, wie die Steinbrenner in Position gebracht wurden. Aus der Position des Scann-O-Matic-Auges war es zwar nicht sehr gut zu erkennen, aber es war deutlich genug, um zu erraten, was sich hinter der Mauer tat. Die Bewohner Daelbars, Drachen, Menschen, Zwerge, Gnome und Elben bereiteten sich auf eine Schlacht, vielleicht sogar die letzte Schlacht vor.
»Aufgepasst, es geht los!«, jubilierte die Stimme vor perverser Begeisterung an Zerstörung und Mord. Auch Suman sehnte sich nach Mord und Zerstörung, allerdings konzentrierte sich sein Verlangen auf den Urheber der Stimme. Woher kannte er sie? Er wusste, dass er sie kannte. Er hatte sie etliche Male gehört.
Und dann geschah es. Die Steinbrenner flammten auf, alles wurde in ein gleißendes Licht gehüllt. Suman konnte gerade noch erkennen, wie die Stadtmauer zerbarst, dann war plötzlich mit einem Blitz alles dunkel.
»Och, wie Schade!«, meinte die Stimme mit gespielter Trauer, »Da ist mir doch glatt mein magisches Auge kaputt gegangen. Dabei hätte ich dir so gerne gezeigt, wie ich Daelbar von der Landkarte radiere. Wie auch immer, dieser von Drachen vollgekackte Felsbrocken, den du eine Stadt nennst, dürfte in wenigen Momenten kein Ort mehr sein, zu dem es sich lohnen würde zurück zu kehren. Nicht, dass das für dich noch eine Rolle spielen würde. Wie du dir sicher denken kannst, habe ich ein paar andere Pläne mit dir.«
Suman ahnte, welcher Art diese Pläne waren. Er musste sich nur umsehen. Ein bisher selten, eigentlich nie bemühtes Gefühl keimte in Suman auf. Ein Gefühl, für dass er sich unter normalen Umständen geschämt hätte, aber im Moment empfand er es als angemessen. Suman begann den Eigentümer der Stimme zu hassen.
»Doch zuvor, schauen wir doch mal, wie weit deine Freunde mit ihrem Versuch gekommen sind, dich zu befreien.«
Erneut begann der Schirm zu flackern und sich ein Bild aus dem anfänglichen Nebel zu kristallisieren. Zu sehen war ein Raum, genaugenommen eine Folterkammer ähnlich der Sumans. Das magische Auge schwenkte umher, fixierte dann einen Punkt an einer der vier Wände und vergrößerte den Bildausschnitt. Manche Scann-O-Matic Augen verfügten über diese besondere Funktion. Man konnte nicht nur ihre Blickrichtung ändern, sondern sogar das Aufgenommene aus der Nähe betrachten, so, als wenn man ein Fern- oder Vergrößerungsglas vor das eigene Auge hielt.
Was aus der Ferne nicht zu erkennen war, jetzt aber durch die veränderte Optik sichtbar wurde, war eine metallene Platte auf der Wand, die ihren Ausmaßen nach zu schließen einen Wartungszugang abdeckte. Und genau diese Platte wurde in exakt genau dem Moment von hinten aufgestoßen, als Suman das Bild der Scann-O-Matic betrachtete.
»Na, das nenn ich Timing!«, höhnte die Stimme, »Auf die Berechenbarkeit deiner Freunde ist wirklich Verlass. Es wird dich sicherlich freuen zu hören, dass sie bald dein Schicksal teilen werden.«
Suman kochte vor Wut und Ohnmacht. Ihm wurde übel als er sah, wie erst Ole Olson, dann ein ihm unbekannter junger Neovikinger, welcher von einem überirdisch gut aussehenden Mann, der Suman irgendwie bekannt vor kam, gefolgt wurde. Doch als wenn er es geahnt hätte kam als letztes — Suman blieb fast das Herz stehen — Segato aus dem Wartungsloch gekrochen.
Alles war verloren! Daelbar lag in Schutt und Asche! War, wenn die Bilder nicht logen, ausradiert. Mensch, Elb und Drache von einer tausendfachen Übermacht überrannt. Und dann Segato! Sein geliebter Segato. Er musste einen Befreiungstrupp organisiert haben und war mit ihm direkt in eine Falle gelaufen. Suman biss sich auf die Lippen. Es war unerträglich mitanzusehen, was als nächstes geschah. Kaum dass die vier Männer den Raum betreten hatten, sprangen vier bewaffnete andere Männer hervor, die sich bisher hinter Schränken und den größeren Foltergeräten versteckt gehalten haben mussten. Mit Tränen in den Augen sah er, wie sich Ole Olson, Segato und die anderen beiden Männer ergaben.
»Bringt sie zu mir!«, tönte die Stimme sowohl bei Suman als auch bei den anderen durch den Raum. Der Schirm wurde wieder dunkel.
Suman war zerstört, alle sein Hoffnungen waren zerstört. Es gab nichts mehr, wofür es sich noch lohnte zu leben, bis auf eins: für die Rache!
»Ah, es freut mich, dass dir die Bilder missfielen! Ja, gut! Ich kann deinen Hass auf mich spüren! Ich glaube, es wird Zeit, dass wir uns von Angesicht zu Angesicht sehen!«
Suman hörte, wie sich eine Tür öffnete. Ein Figur trat hindurch, die schwer zu erkennen war, da sich der Bereich des Raumes aus dem er kam, im Schatten befand. Erst kurz vor dem festgeketteten Suman trat er ins Licht.
»Hallo Suman, lange nicht mehr gesehen, oder?«
Suman wurde bleich, als er die Person erkannte: »Nein, das ist unmöglich, das kann nicht sein. Nicht Sie!«
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