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Hyperion
2. Teil - Reiseziel unbekannt
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Informationen
- Story: Hyperion
- Autor: Nero
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Science Fiction
Inhaltsverzeichnis
- Drei Wochen im All
- Quentin
- Kundenbesuche
- Sprungdistanzen
- Lachnummer
- Anziehungskräfte
- Körperkultur
- Mindfuck
- Routenplanung
- Eisschrank
- Kosmische Wolken
- Schadenskontrolle
- Merkwürdigkeiten
- Einsatzbefehle
- Enthüllungen
- Dem Ziel so nah
Drei Wochen im All
»Sehr geehrte Damen und Herren, hiermit eröffne ich die erste Sitzung des Senatsausschusses zur Untersuchung des Hyperionvorfalls. Für das Protokoll: Als Ausschussmitglieder sind erschienen, die ehrenwerte Richterin des Obersten Gerichtshofs Dr. Marion Sakoviac, der ehrenwerte Senator Ruyki Nagano, Vizeadmiral Paul S. Henderson, Senatorin Sybill S. Monahan und als Vorsitzender Henry Willibald Waterman. Diese Sitzung wurde als nicht öffentlich und geheim der Stufe IV deklariert.«
Mit diesen Worten eröffnete Senator Henry Willibald Waterman die erste Sitzung des lange herbeigesehnten Untersuchungsausschusses, der sich mit den Vorfällen rund um die letzte Mission der Hyperion beschäftigen sollte. Floyd Rutherford Grant, Captain der Hyperion, war als erster Zeuge geladen worden. Er hatte bereits auf der Zeugenbank Platz genommen und wartete nun darauf, dass der Vorsitzende das Wort an ihn richtete.
Der Untersuchungsausschuss war vom Senat eingesetzt worden, was hieß, dass es sich um ein ziviles Gremium handelte. Er konnte Zeugen laden, befragen und sogar in Beugehaft nehmen, sollten diese sich weigern, auszusagen. Über richterliche Rechte verfügte der Ausschuss allerdings nicht, was aber nicht hieß, dass seine Tätigkeit keine Konsequenzen nach sich zog. Empfehlungen eines späteren Abschlussberichts konnten durchaus zu Strafverfolgungen und schließlich zu Verurteilungen führen.
»Captain Grant«, begann der Ausschussvorsitzende, »uns allen liegt die von Ihnen angefertigte Stellungsnahme zu den Vorfällen während Ihrer letzten Mission vor. Zusätzlich wurden dem Ausschuss die Logbücher der Hyperion zugänglich gemacht. Captain, Sie stimmen uns sicherlich zu, dass ein Bericht oder eine Stellungnahme nur Teilaspekte eines Sachverhalts widerspiegeln. Wären Sie daher bitte so freundlich, uns die Vorfälle mit Ihren eigenen Worten zu schildern?«
Floyd nickte und begann: »Selbstverständlich, Herr Senator.«
Wenn man Leuten erzählt, dass man Offizier oder gar Captain eines Raumschiffs ist, erlebt man fast immer die gleiche Reaktion - ehrfürchtiges Staunen. Die Augen bekommen einen glasigen Ausdruck, das Gegenüber gerät ins Träumen und beginnt, einem wenig später von der Schönheit der Pulsare, Doppelsterne, Gasriesen und leuchtenden Wasserstoffnebeln vorzuschwärmen. Prinzipiell haben sie recht. Der Weltraum hält beeindruckend schöne Dinge bereit. Wer jemals eine Zeit lang aus dem Panoramafenster einer Beobachtungskuppel geschaut hat, sieht das Universum mit anderen Augen. Als Floyd Rutherford Grant die Erde das erste Mal aus dem Orbit sah, so klein und empfindlich in der unendlichen Dunkelheit, standen ihm Tränen in den Augen. Doch so schön die Reste einer Supernova, das Glühen eines roten Zwergs oder die unvorstellbare Urgewalt eines Hyperriesens auch sein mag, so gefährlich sind sie auch. Das Weltall ist ein kalter und einsamer Ort, der keine Fehler verzeiht und der Mensch ist nicht für den Aufenthalt in ihm geeignet. Doch wusste Floyd nur zu gut, dass dies niemand wirklich hören will. Es klingt eben nicht sonderlich romantisch und wenig glorreich, wenn man erklärt, dass man sich möglichst von schwarzen Löchern fernhalten sollte. Auch empfiehlt es sich, ein paar zig Lichtjahre Sicherheitsabstand zu einer frischen Supernova einzuhalten, will man von deren ultraharter Strahlung nicht gegrillt werden. Selbst die kräftigsten Schutzschirme kennen Belastungsgrenzen.
Seit drei Wochen war die Hyperion unterwegs. Drei Wochen, die sich mit jedem weiteren Tag, mehr und mehr zur Hölle entwickelten. Überlichtsprünge sind körperlich anstrengend. Trotz der Stasis, die vor den direkten Auswirkungen des Sprungs schützt, fühlte man sich jedes mal wie ausgekotzt. Das klingt zu übertrieben? War es aber nicht, nein, wirklich nicht. Wie soll man es sonst beschreiben, wenn man das Gefühl hat, umgestülpt und durch sich selbst hindurchgefaltet worden zu sein?
Ein Sprung, das mag noch gehen. Selbst fünf oder sechs Sprünge sind noch ok, aber danach? Danach wird es mit jedem Sprung unerträglicher. Es gelingt dem Köper einfach nicht mehr, sich zwischen den Sprüngen vollständig zu erholen. Man zehrt von der Substanz, reißt sich zusammen, um den nächsten Sprung zu überstehen.
Drei Wochen. Das waren 38 Sprünge oder knapp 1000 Lichtjahre. Sechs mal sechs Sprunggruppen, mal auch nur fünf, ein anderes mal dafür 8. Das zerrt an Nerven, reißt an Muskeln und Knochen. Mit jedem weiteren Sprung wuchsen die Kopfschmerzen, die nach jedem Sprung auftraten. Waren sie anfangs nach zwei, drei Minuten verschwunden, währten sie in der zweiten Woche bereits gut eine halbe Stunde. Der Schiffsdoktor verteilte Schmerzmittel wie Pfefferminzdrops.
Wenn Überlichtsprünge so unerträglich sind, warum mutet man sie sich dann überhaupt zu? Die Antwort ist einfach. Weil es keine Alternative gibt. Die Aufgabe eines Tiefraumraumschiffs, wie der Hyperion, bestand in der Erkundung der unbekannten Bereiche unseres Teils der Galaxie, und der begann einige tausend Lichtjahre von der Erde entfernt. Der Mannschaft mit Captain Grant blieb somit nichts anderes übrig, als gleich ein ordentliches Pensum an Sprüngen vorzulegen.
Jeder an Bord, egal ob Besatzung oder Passagier, wusste um die Notwendigkeit der Sprünge. Was aber nicht hieß, dass man sie nicht verfluchte. Man begann die Minuten eines jeden neuen Countdowns zu fürchten, lernte die Stasis zu hassen und sehnte sich nach Ruhe und Erholung, die aber nicht kam. Mit den bohrenden Kopfschmerzen reichte die Zeit zwischen den Sprüngen bestenfalls für ein paar Minuten oberflächliches Dösen. In den 48stündigen Pausen zwischen den Sprunggruppen war man dann wiederum viel zu erschöpft, um wirklich abschalten zu können. Es war ein Teufelskreis.
»Alle wohl auf?«
Der 39. Sprung. Commander Otis Johannson, der XO, stellte seine rituelle Frage, erntete aber nur mundfaules, bejahendes Gemurmel. Erst mit der Frage nach dem Schiffsstatus fühlten sich die restlichten Brückenoffiziere ausreichend motiviert, ihre jeweiligen Meldungen abzugeben.
»Auch diesen Sprung haben wir erfolgreich hinter uns gebracht. Nanosingularitätspegel ist bei Null. Magnetische Sperren geschlossen. Wurmlochprojektoren aus. Schiffssysteme booten. In einer Minute sind wir wieder online.«
»Postsprungcheckliste!«, befahl Otis. Floyd hockte im Kommandosessel, massierte seinen Schädel und schaute vom Kopfschmerz benebelt zu. Alles verlief wie bei den 38 Sprüngen zuvor, bis sich Quentin meldete.
»Jackpot!«, kam die formal nicht ganz korrekte Meldung, »Gentlemen, wir haben soeben die 1000 Lichtjahremarke übersprungen. Entfernung von der Erde 1.008,276 Lichtjahre!«
»Ok, das war's!«, schaltete sich Floyd ein und aktivierte eine schiffsweite Durchsage: »Hier spricht der Captain. Wie mir soeben unser Navigator bestätigte, haben wir mit dem letzten Sprung die ersten 1000 Lichtjahre hinter uns gelassen. Wie die meisten von Ihnen wissen dürften, sehen die Vorschriften der Raumflotte nach jeweils 1000 Lichtjahren eine Pause von mindestens 72 Stunden und einen Systemcheck der Klasse 2 vor. Ich glaube, wir haben uns alle etwas mehr verdient, zumal wir für die Strecke knapp ein Viertel der geplanten Zeit benötigt haben. Ich verlängere daher die Pause auf 168 Stunden oder eine Woche. Leute, erholt euch gut!«
Mit dieser Meldung schien der Knoten zu platzen. Ohne befürchten zu müssen, in rund zwei Tagen erneut in Stasis versetzt zu werden, hoffte der größte Teil der Mannschaft und Passagiere endlich den ersehnten Schlaf zu finden, den man seit Wochen vermisste. Die nächsten 36 Stunden senkte sich eine friedliche Stille über die Hyperion.
»Captain, ich muss mit Ihnen reden. Sofort!«
Ich wusste es! Floyd fluchte innerlich. Es kann einfach nicht sein, dass man mir auch nur einen Tag ohne Störung gönnt. Dabei bin ich doch auch nur ein Mensch und muss meine Kräfte sammeln. Auf den innerlichen Aufschrei erfolgte natürlich keine Antwort. Floyd war der Mann mit den vier Streifen am Revers. Er war der Captain, was hieß, dass die Leute mit ihren Problemen zu ihm kamen. Immer! Selbst dann, wenn es darum ging, die Tür eines quietschenden Kabinenschranks zu monieren.
»Professor Cardigan«, Floyd setzte seine zuvorkommendste Miene auf, »Was kann ich für Sie tun?«
»Mir erklären, was hier eigentlich vorgeht!«, schnaubte die Herrin aller Wissenschafter wütend und verpasste Captain Grant die gleichen Schuldgefühle, die er früher bei seiner Lehrerin empfand, wenn er mal wieder seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte.
»Ähm...«, stammelte Floyd wenig geistreich, »Mir ist im Moment nicht ganz klar, worauf Sie eigentlich abzielen.«
»Auf die Lagerräume natürlich!«, erwiderte die Cardigan in einem Tonfall, der keinen Zweifel daran aufkommen ließ, dass sie ihren Gesprächspartner für einen begriffstutzigen Idioten hielt. Wie konnte der Captain nichts von den Lagerräumen wissen. Ähm... Welche Lagerräume?
»Sektion G, Deck 8, Einheiten G-8001 bis G-8027!«, kam die Antwort, die nochmals demonstrierte, wie dumm und inkompetent man in den Augen der Cardigan war.
»Sektion G, Deck 8, Einheiten G-8001 bis G-8027...«, wiederholte Floyd die Angabe, zuckte ratlos mit den Schultern und schaute unschuldig in die Kamera des Kommunikationsterminals, »Und was ist damit?«
»Der Schiffscomputer verwehrt mir den Zugang.«, kam es barsch.
»Ähm...«
»Er behauptet, es würde keine Einheiten G-8001 bis G-8027 geben.«, die Frau entwickelte die Stimme einer Kreissäge, »Ich stehe gerade vor Einheit G-8010!«
»Ok! Ich bin gleich da! Geben Sie mir zwanzig Minuten.« Ich müsste duschen, und außerdem diesen ekelhaften Pelz von der Zunge kratzen. Fügte Floyd im Geiste hinzu.
»Ich warte!«
»Mach das, du alte Zicke!«, knurrte Floyd ins abgeschaltete Terminal, um dann ganz schnell zu überprüfen, ob er auch wirklich den Aus-Knopf gedrückt hatte. Er hatte. Zeit, sich unter die Dusche zu stellen, die sprießenden Bartstoppeln aus dem Gesicht zu kratzen und in neue Kleidung zu schlüpfen. Achtzehn Minuten später erreichte ein frisch geduschter eine ungehaltene Cardigan, die fußwippend auf Jason singende Eidechse einredete. Floyd traute seinen Augen nicht, aber es hatte den Anschein, als wenn der Informatikprofessor unter dem Wortschwall schrumpfte.
»Ah, Captain, da sind Sie ja!«, CC hatte ein neues Opfer entdeckt, »Erklären Sie dem sturen Schiffscomputer, dass er das Schott zu G-8010 öffnen soll.«
»Ihr, erklären Sie Ihr, das Schott zu öffnen. Die Schiffs-KI betrachtet sich als weibliche Entität.«, korrigierte Captain Grant.
»Das erklärt natürlich alles!«, kam es als sämig, sarkastische Antwort von CC.
»Ähm, Hyp?«
»Ja, Captain Grant?«, antwortete eine freundliche Frauenstimme.
»Währst du bitte so nett und öffnest das Schott von Lagerraum G-8010 in Sektion G, Deck 8.«
»Tut mir Leid, Captain, aber das kann ich nicht. Ein Lagerraum G-8010 ist nicht in meinen Datenbanken hinterlegt.«
»Seltsam, ich stehe vor einem Schott, das mit G-8-8010 beschriftet ist.«
»Captain, nach meinen Informationen müsste sich vor ihnen eine leere Wand befinden.«
»Hyp, ich autorisiere hiermit eine Systemselbstdiagnose der Ebene 3. Bitte vergleiche außerdem noch sämtliche internen Sensordaten mit deinen Datenbanken.«
»Aye, Captain!«
Auf den ersten Blick schienen die fehlenden Lagerräume im Raum- und Inventarverzeichnis des Schiffcomputers nicht mehr zu sein, als eine zwar ärgerliche, aber harmlose Fehlfunktion. Wenn man allerdings länger darüber nachdachte, was Floyd gerade tat, beschlich einen ein sehr ungutes Gefühl. Ein Schiffscomputer sollte über alle Räumlichkeiten genau Bescheid wissen, schließlich regelte er die Lebensversorgung. Überhaupt war die Vorstellung, dass der Computer, der faktisch das gesamte Schiff steuerte, unter Gedächtnisverlust litt, alles andere als beruhigend.
»Jason, Sie haben die KI entwickelt. Wie kann Hyp eine ganze Reihe Lagerräume vergessen?«
»Ich bin ein wenig irritiert. Eigentlich ist so etwas nicht möglich. Hyp kann nichts vergessen. Es gibt keine Löschfunktion im eigentlichen Sinne. Ich kann es mir nur so vorstellen, dass die Grundrissdaten von Anfang an fehlerhaft waren.«
»Und wer macht mir jetzt das Schott auf?«, insistierte Professor Cardigan.
Genau das war das Problem. Ohne den Computer gab es nur eine Möglichkeit, das Schott zu öffnen - manuell. Eine manuelle Überbrückung war allerdings nicht wirklich trivial. Die Ingenieure, die das Schiff entwickelt und gebaut hatten, gingen schlicht und einfach davon aus, dass die ihre Technik das tat, wofür sie konstruiert war. Eine manuelle Öffnung war in diesem Konzept nicht nötig und daher nicht vorgesehen. Allerdings hatten die Konstrukteure nicht mit der Kleinkariertheit der Raumflotte gerechnet, die doch tatsächlich meinte, ein Schiffsschott sollte sich auch von Hand öffnen lassen. Man führte dabei so absurde Dinge, wie den Ausfall der Stromversorgung oder gar Notfälle, an. Wenig überzeugt ließ man sich vonseiten der Schiffsbauer widerwillig zu einem Kompromiss herab. Die Schotts konnten manuell geöffnet werden, benötigten dafür Spezialwerkzeug, welches in kleinen Verschlägen in den Gängen gelagert wurde. Jeder, der ein Schott per Hand öffnen wollte, sollte gleich begreifen, dass dies nicht der vorgesehene Weg war.
Floyd, als Captain hatte man schließlich keine anderen Aufgaben, lief zum nächsten Wartungsverschlag und holte das zur Schottöffnung vorgesehene Werkzeug.
»Was für Sachen werden denn hier gelagert, dass es so wichtig ist, sie zu begutachten?«, fragte Jason die Forschungsleiterin.
»Das möchte ich gerne selbst erfahren.«, begann Dr. Cardigan, »Beim Durchgehen der Inventarlisten bin ich auf Frachtcontainer mit als geheim klassifiziertem Inhalt gestoßen. Ich bin die Leiterin der wissenschaftlichen Abteilung. Es ist mein Recht, zu wissen, was wir geladen haben.«
Im Tonfall und der Art ihres Vortrags mochte sich die Cardigan vergriffen haben, im Kern der Sache hatte sie tatsächlich recht. Wie sie richtig bemerkte, war sie die Leiterin der wissenschaftlichen Abteilung, was hieß, dass sie auch die Verantwortung dafür trug. Ob sie nun aus purer Neugier oder echtem Interesse wissen wollte, was in den unzugänglichen Lagerräumen gelagert wurde, spielte letztlich keine große Rolle. Es war einfach nur wichtig, dass sie es wusste.
In der Zwischenzeit war Floyd soweit, das erste Schott zu öffnen. Er hatte das Öffnungswerkzeug in die dafür vorgesehenen Andockpunkte eingeklinkt, mit der sich die Schließ- und Öffnungshydraulik manuell unter Druck setzen ließ. Eigentlich stand einer Öffnung nichts mehr im Weg, doch Floyd überlegte es sich anders und trat einen Schritt zurück. Stirnrunzelnd betrachtete er das Schott.
»Und Sie haben keine Idee, was wir im Laderaum vorfinden werden?«
»Nein!«, keifte CC, »Deswegen müssen wir da rein!«
»Aber nicht ohne Vorsichtsmaßnahmen.«, meinte Floyd. Hatte er anfangs CCs Anruf als nervige Machtdemonstration empfunden, betrachtete er die ganze Angelegenheit inzwischen aus einer ganz anderen Perspektive, nämlich die seines Bauchs. Auf seinen Bauch zu hören, galt unter Raumschiffkommandanten schon immer als erprobte und bewährte Methode der Entscheidungsfindung. In diesem Fall riet Floyds Bauch, Vorsicht walten zu lassen. Türen, die sich nicht öffnen ließen, weil sie im Schiffscomputer nicht registriert waren, konnten ein dummer Zufall sein. Genauso zufällig konnte CCs Ladung als geheim klassifiziert worden sein. Beides zusammen roch hingegen nach massenweise Ärger.
»Chief?«, rief Floyd in sein Sprechgerät, »Könnten Sie bitte in Sektion G, Deck 8 kommen? Und bringen Sie einen Scanner mit.«
»Was tun Sie? Warum öffnen Sie das Schott nicht?«, fragte CC gereizt. Sie wollte wissen, was sich dahinter befand, und das sofort.
»Was ich tue?«, fragte Floyd rhetorisch, »Meinen Job! Wir wissen nicht, was sich hinter dem Schott befindet. Die Schiffs-KI kennt die Lagerräume nicht und kann uns daher auch nicht sagen, ob es ungefährlich ist, das Schott zu öffnen.«
Dr. Cardigan wollte etwas besonders bissiges entgegneten, musste aber einsehen, dass Captain Grants Argument nicht völlig aus der Luft gegriffen war.
»Na gut!«, knurrte die Herrin der Eierköpfe, »Informieren Sie mich, wenn das Problem gelöst ist.«
Abgang Professor Dr. Ruth C. Cardigan. Vom emotionalen Druck, sich in der Nähe seiner obersten Chefin zu befinden, befreit, atmete Jason laut auf.
»Was hältst du davon?«, fragte Floyd, der sich daran erinnerte, mit dem Chefinformatiker inzwischen auf du zu sein.
»Ich glaube auch, dass wir vorsichtig sein sollten. Zufällig weiß ich, dass wir diese Lagerräume bei unserer letzten Mission genutzt haben. Was ich vorhin in CCs Anwesenheit gesagt habe, ist Quatsch. Wenn die Schiffs-KI Teile des Schiffsgrundrisses nicht mehr kennt, sollte man vorsichtig vorgehen.«
»Eine ehrliche Antwort: Können wir unserer Schiffs-KI noch vertrauen?«
Jason lachte: »Floyd, du liest zu viele Klassiker. Hyp ist nicht HAL 9000. Sie wird uns nicht den Saft abdrehen oder die Luft. Sollte es einen Fehler im System geben, wird das autonome Kernsystem diesen erkennen und reparieren. Allerdings wird es eine Weile dauern.«
»Wie lange?«
»Eine interessante Frage.«, Jason zuckte nervös mit den Mundwinkeln, »Es wird... Es dauert... Ähm... Es tut mir Leid, aber ich weiß es nicht. Es dauert eben eine Weile, bis die Abweichung entdeckt und analysiert ist. Immerhin wissen wir und Hyp bereits, dass es ein Problem gibt. Damit sind wir nicht auf die automatischen Prüfzyklen angewiesen.«
»Oh-kay...«, Floyd war mit Jasons Antwort nicht wirklich zufrieden, weswegen er nervös von einem Bein aufs andere kippelte. Doch was blieb ihm anderes übrig, als sich auf seinen Chefinformatiker zu verlassen? In der Zwischenzeit war Chief Peterson eingetrudelt.
»Captain. Jason.«, grüßte der Chefingenieur, »Wo brennts?«
Floyd erklärte die Situation und erntete damit eine sich immer weiter verfinsternde Miene seitens seines Chiefs. Noch während der Captain die einzelnen Punkte durchging, hatte der Ingenieur einen Handscanner aktiviert und begonnen, das Schott zu untersuchen.
»Gut, dass Sie das Schott nicht geöffnet haben.«, meinte Peterson, die Augen auf das Display seines Scanners gerichtet, »Mir ist zwar schleierhaft, wie so etwas möglich ist, aber durch die manuelle Öffnung, die Schließbolzen und das Ankersystem des Schotts fließt Hochspannung.«
»Klingt nicht gut.«, meinte Jason.
»Ist es auch nicht wirklich.«, billigte der Chief zu, »Es sei denn, man möchte als kleiner Haufen Asche enden.«
»Kann man den Strom nicht abschalten?«
»Ich weiß ja nicht einmal, wie und wieso der Strom überhaupt hierher gelangt ist.«, gab der Chief zu, »Das wird eine Weile dauern. Wir müssen das ganze Energieverteilungsnetz durchgehen.«
»Ich befürchte, es wird noch etwas länger dauern.«, meldete sich Jason zu Wort, »Das Energieverteilungsnetz wird, wie alles an Bord, von der Schiffs-KI geregelt. Nur ist auf die zurzeit nicht wirklich verlass.«
»Ach du Scheiße!«, bemerkte der Chief wenig offiziersgemäß, »Hat jemand auch nur ansatzweise eine Vorstellung davon, was es bedeutet, solch eine Diagnose ohne Computerunterstützung durchzuführen?«
»Mehr als einen Tag?«, fragte Floyd scherzhaft und erntete damit einen Blick, der deutlich machte, dass sein Humor gerade etwas deplatziert war.
»Tage? Wir reden hier von mindestens einer Woche.«, der Chief knurrte, »Na toll. Also keine Freizeit, sondern Arbeit.«
»Och bitte, Ulysses«, lachte Jason, »Was denkst du, was ich jetzt machen werde? Däumchen drehen?«
Quentin
»Gestatten Sie mir eine Frage, Captain.«, unterbrach Senatorin Sybill S. Peterson Floyds Bericht, »Warum haben Sie die Mission eigentlich nicht abgebrochen? Wenn ich Sie richtig verstehe, waren Sie mit einer massiven Störung der Schiffs-KI konfrontiert. Wäre es da nicht sinnvoll gewesen, die Mission abzubrechen und die nächstgelegene Reparaturstation anzusteuern?«
»Systemstörungen sind an Bord von Raumschiffen nicht ungewöhnlich. Senatorin, ich gebe Ihnen recht, die Anomalie der Schiffs-KI war für sich genommen schwerwiegend, aber auf das Gesamtsystem der Hyperion betrachtet nicht so gravierend, dass es einen Abbruch gerechtfertigt hätte.«
»Wir sollten auch nicht vergessen,«, ließ sich Vizeadmiral Paul S. Hendersons sonore Bassstimme vernehmen, »dass es sich bei dieser Mission, um Captain Grants erstes Kommando handelte. Captain, gehe ich Recht in der Annahme, dass Sie befürchteten, sich nicht nur dem Gespött der Flotte auszusetzen, sondern vielleicht sogar Ihr Kommando zu verlieren, sollten Sie bereits nach ein paar Sprüngen die Segel streichen?«
Floyd schüttelte energisch den Kopf: »Bei allem nötigem Respekt, Vizeadmiral, bei meinen Entscheidungen stand die Sicherheit der Besatzung und der Passagiere im Vordergrund. Möglicherweise war es ein Fehler, nicht den nächsten Raumhafen anzulaufen. Allerdings bestand zu diesem Zeitpunkt kein Grund, eine Gefährdung anzunehmen.«
»Ja, ja. Natürlich nicht.«, bestätigte der Ausschussvorsitzende Senator Waterman und nahm eine Datenfolie in die Hand, um aus ihr zu zitieren, »Die Disziplinarabteilung der Flotte ist zum gleichen Schluss gekommen, wie Sie, Captain Grant. Die Störung der KI wird hier ebenfalls als nicht abbruchrelevant angesehen. Aber fahren Sie mit Ihrer Schilderung doch bitte fort.«
Floyd wusste, wann er überflüssig war. Während sich Chief Peterson gleich auf das Tür- und Stromversorgungsproblem stürzte, begann sich Jason singende Eidechse mit der gestörten Schiffs-KI zu beschäftigen. Die Anwesenheit des Captain war dabei eher überflüssig, wenn nicht sogar kontraproduktiv. Um nicht in eine existenzielle Krise zu stürzen, tat Floyd das, was jeder Captain eines Schiffs in solch einem Fall tat. Er begab sich auf Inspektionstour. Den Anfang machte erwartungsgemäß die Brücke.
»Captain?«
Der wachhabende Offizier der Bereitschaftsmannschaft war ein wenig überrascht, Besuch vom Captain zu erhalten. Im Allgemeinen wurde der Watchcrew nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Sie sorgten für den Betrieb und die Sicherheit des Schiffs während der Sprungpausen. Nicht, dass ein verirrter Gesteinsbrocken meinte, das Schiff zu treffen. Ähnliches galt für Sonneneruptionen. Landete man zufällig in der Nähe eines stellaren Objekts, konnten einem unerwartete Strahlungsausbrüche ziemlichen Ärger bereiten.
»Mr. Fujimoto«, grüßte Floyd seinen Bereitschaftsoffizier, »Bekommen Sie alles, was Sie brauchen?«
»Danke, Captain. Die technischen Abteilungen bieten uns alle Unterstützung, die wir brauchen.«
Neben der Deckwache koordinierte die Bereitschaftscrew auch die intensiven Systemchecks und Wartungsarbeiten, die nach 1000 Lichtjahren vorgeschrieben und notwendig waren. Sprungantriebe, Stasissysteme und die Betriebssingularität mussten sich immer in einem perfekten Zustand befinden, wollte man vor unangenehmen Überraschungen gefeit sein. Wenn es wirklich dumm lief, konnte der Fall eintreten, dass man nicht einmal mehr die Gelegenheit bekam, sich über die eigene Nachlässigkeit zu ärgern.
»Fein!«, meinte Floyd und seufzte, als ihn erneut das Gefühl beschlich, überflüssig zu sein. Mit einem freundlichen Nicken verließ er die Brücke und schlenderte durch das Schiff. Ab und an begegneten ihm Mitglieder der Besatzung und Passagiere, die ihn alle freundlich grüßten, aber ansonsten eher beschäftigt wirkten. Ganz leicht frustriert entschied Floyd, zu frühstücken.
»Ah, Captain.«, schlug Floyd eine fröhliche Begrüßung entgegen. Lt. Commander Quentin Harding saß an einem der Tische, verzehrte ein Croissant und dirigierte Floyd mit wildem Gestikulieren zu sich heran, »Endlich eine bekannte Nase. Ich dachte schon, das Schiff wäre ausgestorben.«
Für einen kurzen Moment war sich Floyd nicht sicher, ob er Quentins Einladung, das Frühstück gemeinsam einzunehmen, annehmen sollte. Ihm kreiste immer noch das provozierende Verhalten seines Offiziers gegenüber Jason durch den Kopf. Auf der anderen Seite hallten ihm auch noch Jasons Worte im Kopf herum, dass Quentin, bei all seinen Fehlern, ein guter Freund sei, auf den man sich verlassen könne. Floyd entschied, fair zu sein. Er kannte Quentin zu wenig, als sich von oberflächlichen Vorurteilen leiten zu lassen. Oder war es Eifersucht, die ihn zurückhielt? Eifersucht? Worauf? Auf Jason? Oh, Floyd, die Sache darf dir nicht entgleiten!
»Die letzten Wochen waren ein ziemlicher Ritt.«, begann Floyd das Gespräch, nachdem er sich mit seinen Frühstückskomponenten versorgt hatte. Zur Feier der ersten 1000 Lichtjahre gönnte er sich ein weiches Frühstücksei, ein echter Luxus, der Raumfahrern, selbst Kapitänen, vom Sold abgezogen wurde.
»Floyd, Sie untertreiben.«, grummelte Quentin, »Ich hab mich so sehr an die Sprungkopfschmerzen gewöhnt, dass mir jetzt der Schädel dröhnte, weil wir nicht mehr springen. Aber lassen Sie sich das Frühstück schmecken.«
»Danke... Ich...«, Floyd blinzelte Quentin verlegen an. Plötzlich war es ihm unangenehm, seinem Offizier ein Ei vorzuessen, »Möchten Sie auch ein Ei? Ich lade Sie ein!«
»Captain, das kann ich unmöglich annehmen. Ich weiß, was die Viecher kosten. Käse, Schinken, Müsli, selbst Milch lässt sich mit der modernen Kühl- und Lagertechnik der Hyperion frisch halten. Aber Frühstückseier lassen sich nur in einem Mikrostasisfeld lagern. Ich weiß, wie viel Energie das verbraucht.«
»Mr. Harding, wenn ich auf meine Frage einen technischen Fachbericht gewünscht hätte, hätte ich mich an den Chief gewandt.«, meinte Floyd staubtrocken, wartete einen Moment, bis sich bei Quentin Schweißperlen auf der Stirn bildeten, um dann grinsend hinzuzufügen: »Also, möchten Sie ein Ei oder nicht? Ich würde eines nehmen!«
Die Antwort war ein unsicheres Blinzeln, ein schiefes, ungelenkes Lächeln und schließlich ein schüchternes: »Ich nehme gern eins.«
»Na also, geht doch!«, meinte Floyd fröhlich und schlenderte zur Speisenausgabe. Fünf Minuten später stand ein heißes, perfekt auf den Punkt weich gekochtes Frühstücksei vor Quentin Harding, der es mit Andacht genüsslich verzehrte.
»Oh, das ist soooo böse!«, ließ sich der Offizier mit vollem Mund verlauten, »Davon werde ich die nächsten Monate träumen. Captain, Sie sind ein Sadist.«
»Freut mich, dass es Ihnen schmeckt.«, grinste der Sadist und trank genüsslich einen Schluck Kaffee.
Wer war Quentin Harding? Natürlich hatte man die letzten Wochen regelmäßig zusammen auf der Brücke Dienst getan. Hatte bei verschiedensten Gelegenheiten sogar zusammen in der Messe gegessen. Allerdings fanden diese Kontakte vorzugsweise im förmlichen Rahmen des Schiffsbetriebs statt. Das jetzige Zusammentreffen war anders. Beide Männer hatten dienstfrei, soweit ein Captain wirklich jemals dienstfrei haben sollte. Man ging zwar auch während des Dienstes eher locker miteinander um, doch herrschte bei diesem Frühstück eine ganz andere Atmosphäre. Floyd freute sich, dass er seinem ersten Impuls nicht nachgegeben und Quentins Einladung angenommen hatte.
Nochmal, wer war Quentin Harding? In erster Linie deutlich anders, als er sich sonst präsentierte. Floyd begann zu ahnen, warum Jason Quentin mochte. Ohne Publikum, ohne Bühne, auf der er sich präsentieren konnte, war Quentin ein cooler, aufmerksamer, intelligenter und anregender Gesprächspartner. Floyd merkte gar nicht, wie die Zeit verflog. Man quatschte sich fest und unterhielt sich über Gott und die Welt. Mit jeder Minute, die verging, wurde die Stimmung gelöster, entspannter und freundschaftlicher. Die Unterhaltung wurde offener. So erfuhr Floyd nebenbei, dass Quentins Jugend alles andere als in geordneten Bahnen verlaufen war. Einem bildungsfernen Milieu zu entfliehen ist alles andere als leicht, insbesondere dann, wenn von allen Seiten versucht wird, einem den Willen zum Erfolg aus dem Leib zu prügeln.
Ein Blick in Quentins Augen und Floyd wusste, dass sein Gegenüber keine billigen Schauermärchen erzählte. Das krasse Gegenteil schien eher der Fall zu sein. Man musste nur darauf achten, mit welcher ironischen Gelassenheit und inneren Distanz Quentin von den Grausamkeiten erzählte, die ihm während seiner Schulzeit widerfuhren. Floyd begann zu ahnen, warum dieser Mann so gerne in die Rolle des Klassenclowns schlüpfte. Es war genau das. Eine Rolle, die er erlernt hatte, um dem Mobbing zumindest mental zu widerstehen. Es erklärte auch, warum Jason Quentin mochte. Er war niemand, der schnell Freundschaft schloss, was bei seiner Vergangenheit alles andere als verwunderte. Doch wenn er Freundschaften schloss, war es eine Entscheidung mit Gewicht, für die er nötigenfalls auch kämpfte.
Während die beiden Männer sich miteinander unterhielten, ertappten sie sich dabei, wie sie einander taxierten und überlegten, ob man vielleicht etwas miteinander anfangen konnte. Floyd war dabei ein wenig im Vorteil, da er wusste, dass sein Offizier schwul war. Quentin wiederum wusste es von Floyd natürlich nicht, was ihn allerdings nicht davon abhielt, ein wenig mit seinem Captain zu flirten, was dieser mit einem Schmunzeln quittierte, schließlich schmeicheln Komplimente dem Ego.
»Sie mögen ihn, oder?«, der Themenwechsel kam unerwartet. Quentin wechselte von charmant auf melancholisch und nachdenklich.
»Jason«, fuhrt er fort, wobei er Floyd direkt in die Augen sah, »Sie mögen unsere Rothaut, oder? Ich kann sehen, dass Sie auch für unsere Liga spielen.«
»Woher?«, fragte Floyd ein wenig baff.
»Bitte... Ich habe Augen im Kopf, sogar zwei Stück. Ich kenne den Blick, mit dem Sie mich abgecheckt haben. Ich verwende ihn selbst. Aber ich kenne auch diesen verträumten Blick, mit dem Sie Jason... liebkosen? Ja, das passt. Wenn Jason in der Nähe ist, beginnen Ihre Augen ihn regelrecht zu streicheln, was sehr romantisch anzusehen ist. Ja, Sie sind verliebt. Geilheit sieht anders aus.«
»Hmm...«, meinte Floyd in Ermangelung einer geistreichen Replik.
»Hmm?«, fragte Quentin, »Sie sind mir hoffentlich nicht böse, dass ich so deutlich bin, oder? Bitte, Floyd, es lag mir fern, Sie in Verlegenheit zu bringen. Ganz im Gegenteil freut es mich. Sie wissen, dass Jason und ich eine Beziehung hatten?«
Floyd nickte etwas unbeholfen.
»Dann wissen Sie auch, dass es zwischen uns nicht funktioniert. Ich bin... Ich bin ich. Sie wissen, was ich damit meine. Sie kennen meinen Background. Sie haben mich erlebt. Ich weiß, was man von mir sagt. Quentin, der Klassenkasper. Quentin, der Typ, der erst handelt und dann denkt. Nun, die Leute haben recht. Wie wir alle kann ich nicht aus meiner Haut. Allerdings, und das habe ich Jason zu verdanken, sind mir meine Charakterschwächen bewusst. Ich kämpfe dagegen an, doch meistens verliere ich den Kampf. Nun, ich mag manchmal der oberflächliche Pausenclown sein, aber ich bin kein Arschloch. Ich möchte niemanden verletzten, am wenigsten Jason.«
Quentin legte eine kleine Pause ein, holte Luft und schaute mehr vor sich auf den Tisch, als dass er Floyd ansah, »Ich mag Jason. Ich liebe ihn immer noch. Allerdings ist mir klar geworden, dass es zwischen uns nicht funktionieren kann. Es würde uns beide zerstören, Jason allerdings mehr als mich. Oh, glauben Sie nicht, dass ich dem Altruismus verfallen bin. Meine Motive entspringen eher dem Selbstschutz, als der Nächstenliebe. Jason in guten Händen zu wissen hilft mir, über ihn hinwegzukommen.«
»Quentin, was wollen Sie mir eigentlich sagen?«, Floyd hatte seine Sprache wiedergefunden.
»Oh, ist das nicht offensichtlich?«, kurzzeitig blitzte der Schalk in Quentin auf, »Sie sollen sich diesen geilen, schnuckeligen Indianer schnappen, bevor es ein anderer tut. Jason mag Sie. Nein, ich korrigiere mich. Jason will Sie, sieht vor lauter Wald den Baum allerdings nicht. Er hält Sie für durch und durch hetero, weil er in seinem Zustand eben ein wenig zu blind ist, um das Offensichtliche sehen zu können, nämlich, dass Sie ihn ebenfalls wollen.«
»Ich liebe es, wenn meine Offiziere einen klaren, verständlichen Sprachstil pflegen.«, Floyd grinste, »Ihr zweiter Vorname ist nicht zufällig Cupido?«
»Oh, böse Welt!«, rief Quentin theatralisch und presste sich beide Hände auf eine virtuelle Wunde auf seiner Brust, »Welch grausames Schicksal du mir aufgebürdet hast, als Quentin Harding, der ewig Missverstandene zu enden!«
Nach einer kleinen Pause, in der er seinen Auftritt wirken ließ, blinzelte er Floyd unsicher an: »Ich hoffe, Sie nehmen mir meine Worte nicht übel?«
»Übel nehmen?«, Floyd reagierte amüsiert, »Nein, ganz im Gegenteil. Ich muss mich eher bei Ihnen entschuldigen. Ich gestehe, ein wenig irritiert gewesen zu sein, wie Sie und Jason miteinander umgingen.«
»Ich weiß... Und ich schäme mich dafür. Der Junge ist einfach geil und es ist schwer, loszulassen. Es ist eine Sache, sich rational darüber klar zu sein, dass eine Beziehung zwischen Jason und mir zum Selbstzerstörungstrip wird. Doch wenn ich ihn dann sehe... Ach, ja. Er ist einfach ein Traummann.«
»Oh, ja, das ist er!«, bestätigte Floyd verträumt und erntete dafür von Quentin ein amüsiertes, zustimmendes Nicken.
»Wo steckt diese Rothaut eigentlich?«, wunderte sich Quentin, »Ich hatte ihn eigentlich ebenfalls zum Frühstück erwartet.«
»Oh, ich glaube, daran bin ich nicht ganz unschuldig. Jason und der Chief müssen sich um ein kleines Computerproblem kümmern.«, erläuterte Floyd und berichtete von den geheimnisvollen Lagerräumen.
»Und niemand hat eine Idee, was in denen eingelagert ist?«
»Nein, in CCs Datenbanken gibt es als geheim klassifizierte Container.«
»Ah, und unser Wissenschaftsdrache ist angepisst, dass es Dinge gibt, in die sie ihre Nase nicht reinstecken kann?«
»Ein wenig in der Art schon, ja.«, obwohl Floyd in den drei Wochen der Mission eine latente Antipathie gegenüber Professor Cardigan entwickelt hatte, empfand er diese Sicht ein wenig zu einseitig.
»Aber?«
»Sie hat natürlich recht. Als Leiterin der wissenschaftlichen Abteilung ist sie für alles, was dort getrieben wird verantwortlich. Mir ist auch ein wenig unwohl bei dem Gedanken, Dinge an Bord zu haben, von denen ich nicht wissen soll, was sie sind.«
»Irgendjemand an Bord weiß es.«
Floyd klappte mental der Unterkiefer herunter. Was sein Brückenoffizier andeutete, war Gänsehaut erregend. Es war so naheliegend. Wenn Container klassifiziert und der Zugang zu ihnen blockiert wurde, musste es jemanden geben, der dafür verantwortlich war, und dieser jemand musste sich an Bord befinden. Alles andere machte wenig bis keinen Sinn.
»Quentin, wären Sie bitte so gut und wahren über das Thema stillschweigen?«, die Bitte war natürlich rein der Höflichkeit geschuldet.
»Natürlich, Captain.«
»Und, noch etwas. Während meiner dienstfreien Stunden empfinde ich das förmliche Sie ein wenig zu steif. Ich bin Floyd.«
»Quentin.«, grinste Quentin, legte dann seine Stirn nachdenklich in Falten, »Nur... Wann hat ein Captain wirklich dienstfrei?«
»Danke, dass du mich daran erinnerst.«, knurrte Floyd.
»Was wirst du in der Sache der geheimnisvollen Container unternehmen?«
»Mich in die Höhle der Löwen stürzen. Oder war es eine Schlangengrube?«, Floyd zuckte mit den Schultern, »Ich werde unseren geschätzten Wissenschaftern einen Besuch abstatten.«
Kundenbesuche
Der Weg zur Schlangengrube führte Floyd über seine Kapitänssuite. Bevor er sich mit den Hyänen auseinandersetzen wollte, die eigentlich gar nicht so hyänig waren, wie alle immer taten, wollte Floyd einen Moment in Ruhe alles durchdenken. Am besten konnte er nachdenken, wenn er sich auf sein Bett legte und die Decke anstarrte oder einfach die Augen schloss.
Was war hier los? Man brauchte kein paranoider Verschwörungstheoretiker zu sein, um zu sehen, dass mit der ganzen Mission etwas nicht stimmte. Warum wurde der langjährige, erfahrene Captain der Hyperion ohne Nennung von Gründen abgelöst? Warum wurde Floyd als sein Nachfolger bestimmt, ein zwar guter, aber auch noch sehr junger erster Offizier? Warum war ihr Missionsziel bis zum Erreichen der Zielkoordinaten so geheim, dass nur die Schiffs-KI es kannte? Was lagerte in den klassifizierten Containern? Wer ließ die Lagerräume aus der Datenbank der Schiffs-KI verschwinden?
Irgendjemand an Bord spielte ein falsches Spiel. Darin war sich Floyd absolut sicher. Der- oder diejenige wusste, worum es bei all dem ging. Dies war zwar nur eine Vermutung, aber eine sehr naheliegende. Ebenso naheliegend war es anzunehmen, dass es sich bei Mr. oder Mrs. X um ein Mitglied der wissenschaftlichen Abteilung handelte, da die betroffene Schiffssektion zu deren Einflussbereich zählte. Das hieß aber auch, dass die ganze Sache unmittelbar mit dem Missionsziel zusammenhing. Worum ging es? Warum ließ man die gesamte Besatzung und die Passagiere der Hyperion im Dunkeln tappen? Was war so wichtig, dass man zu dermaßen extremen Maßnahmen griff?
Wenn Floyds Vermutungen in die richtige Richtung gingen, wovon er, um die Sache nicht weiter zu komplizieren, einfach mal ausging, dann konnte nur jemand mit Leitungsfunktion Mr. oder Mrs. X sein. Floyd war sich sicher, dass er seine Suche sogar vollständig auf die Abteilungsleiter einschränken konnte. Es sei denn... Was, wenn jemand mit schlüssiger Legende in das Wissenschaftsteam eingeschleust wurde? Aber nein, das war unrealistisch. Die Teams kannten sich und arbeiteten seit Jahren zusammen. Floyd kannte die Personalakten der Besatzung und der Wissenschafter. Bei den Wissenschaftern hatte es zur letzten Mission keine Veränderung gegeben.
»Also gut, gehen wir es an.«, verkündete Floyd zu niemandem im Raum. Zwei Minuten später befand er sich auf dem Weg zur wissenschaftlichen Abteilung der Hyperion.
»Ah, Captain. Kann ich endlich an meine Container?«
Professor Dr. Ruth C. Cardigan war ein hoffnungsloser Fall. Sie verstand es immer wieder, mit schwindelerregender Präzision jedem in ihrer Nähe ein Maximum an Selbstbeherrschung abzuringen. Floyd musste sich arg auf die Zunge beißen, um CC nicht anzuherrschen, dass es sich weder um ihre Container handelte, noch von sonderlicher Kollegialität zeugte, dermaßen Druck aufzubauen. Ihr »endlich« war mehr als dreist.
»Noch nicht. Wir sind auf ein paar unerwartete Hindernisse gestoßen.«
Ganz nach der Devise, die besonders unangenehmen Dinge als Erstes zu erledigen, war Floyd mit sich übereingekommen, mit einem Besuch bei Professor Cardigan zu beginnen. Im Gegensatz zur eigentlichen wissenschaftlichen Abteilung, die in einer riesigen Experimentierhalle der Hyperion untergebracht war, residierte ihre oberste Leiterin in einem eigenen Bereitschaftsraum, abseits ihrer Untergebenen. Der Raum war zwar nicht besonders groß, bot allerdings alles, was man zum Management einer Meute Intelligenzbestien brauchte. In gewisser Weise war Professor Cardigan ein Dompteur. In gewissen Grenzen verstand Floyd CCs zuweilen dominantes und aggressives Auftreten. Einen Haufen Wissenschafter zu koordinieren ist schlimmer, als einen Sack Flöhe zu hüten.
»Wenn es Hindernisse gibt, dann räumen Sie sie aus!«, CC wählte einen Ton, wie man ihn bei schwerfälligen Kindern wählte, »Sie wollen mir doch nicht etwa einreden, dass Sie nicht in der Lage sind, ein dämliches Schott zu öffnen?«
Floyd atmete tief ein, zählte bis zehn und biss sich auf die Lippen. Er mochte CC zwar in gewissen Grenzen verstehen, was er nicht verstand, warum sie diese Grenzen ständig einem Belastungstest unterziehen musste.
»Öffnen Sie das Schott ruhig, wenn Sie meinen, es besser zu können. Sie sollten allerdings gegen Hochspannung immun sein.«
»Was soll das heißen?«, knurrte Professor Cardigan in einer Weise, die erkennen ließ, dass auch bei ihr eine der Grenzen erreicht war, die der Geduld. Floyd, ganz der Diplomat, der ein Captain auch immer sein musste, bemühte Engelszungen, als er mit knappen, präzisen Sätzen versuchte zu erklären, wo die Probleme lagen. Wie zu erwarten, zeigte sich die Cardigan wenig einsichtig.
»Nein! Nein! Nein!«, schüttelte CC gereizt den Kopf, »Was wollen Sie mir eigentlich weißmachen? Dass Sie entweder unfähig oder einfach nur inkompetent sind, ein so simples Problem wie ein Schott zu öffnen. Danke, das seh ich auch so. Das müssen Sie mir nicht noch erklären. Also, was werden Sie tun?«
»Mrs. Cardigan«, Floyd verzichtete mit Absicht auf den Titel, »Ich war bemüht, höflich zu sein. Ein Fehler, da ich nicht berücksichtigte, dass man nur dann mit Respekt und Höflichkeit etwas erreicht, wenn der Gesprächspartner in der Lage ist, dieses Konzept überhaupt zu begreifen.«
»Wie können Sie...«
»Ich war noch nicht fertig.«, unterbrach Floyd schroff, »Sie mögen für die wissenschaftlichen Aspekte dieser Mission zuständig sein, und dort werde ich Ihnen auch in keiner Weise reinreden. Ich hingegen bin für die Sicherheit jeder Seele an Bord dieses Schiffs verantwortlich, einschließlich der Ihrigen. Solange wir nicht sicher sind, dass keine Gefahr für das Schiff besteht, wird das Schott nicht geöffnet. Es steht Ihnen frei, eine offizielle Beschwerde einzureichen.«
»Ok! Ok! Ok! Ich habe verstanden.«, fauchte die Cardigan frustriert.
»Nein!«, meinte Floyd provozierend, »Was glauben Sie, worum es hier geht? Halten Sie es etwa für puren Zufall, dass sich das Schott nicht öffnen lässt, weil in den Datenbanken der Schiffs-KI die dazugehörigen Lagerräume verschwunden sind und gleichzeitig Ihre Inventarlisten ausgerechnet die Container als geheim klassifizieren, die sich in den betroffenen Lagerräumen befinden?«
CC mochte lästig wie eine Hämorrhoide sein, dumm wie eine war sie aber nicht. Sie begriff sofort, worauf Floyd anspielte und erblasste erwartungsgemäß.
»Jetzt verstehe ich.«, erwiderte sie matt, »Kann ich irgendwie behilflich sein?«
Floyd überlegte kurz: »Ja, vielleicht. Sie sagen, die Inventarliste klassifiziert den Inhalt der Container als geheim und verrät nicht, was sich darin befindet. Gut, belassen wir es vorerst dabei. Aber ist es vielleicht möglich zu erfahren, wer die Einträge in der Liste vorgenommen hat?«
»Hm...«, Professor Cardigans Stirn zeigte Zeichen eines einsetzenden Denkprozesses, »Ja, vielleicht. Ich müsste mich durch einen Berg Protokolle und Logdateien wühlen, wobei ich mich in unserer Situation allerdings auf meinen eigenen Computer stützen werde. Das wird eine Weile dauern.«, CC grinste, was noch unheimlicher war, als ihre permanente schlechte Laune, »Nein, fragen Sie mich nicht! Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird.«
»Gut, ich frage nicht. Danke Professor!«
»Hat man Ihnen schon mal gesagt, dass Sie ein verdammter Hartarsch sind?«, rief Ruth C. Cardigan Floyd hinterher. Es klang ganz nach einem Kompliment.
Auf dem Weg hinaus stieß Floyd fast mit einem abwesend dahinstapfenden Kei Yamamoto, dem freundlich zurückhaltenden Leiter der geologisch-chemischen Abteilung zusammen. Der Marsianer schien völlig in Gedanken versunken zu sein. Nach einer schnellen und unverständlich dahingemurmelten Entschuldigung wuselte er weiter und verschwand im Bereitschaftsraum von Professor Cardigan.
»Und was war das jetzt?«, fragte Floyd den leeren Gang, in dem er sich gerade befand.
Wie nicht anders zu erwarten, blieb der Gang eine Antwort schuldig, worauf Floyd entschied, seine Besuchsreihe fortzusetzen. Als nächstes standen Waldorf und Statler auf dem Programm. Natürlich war weder Dr. Scott Buchanen noch Dipl.-Ing. Jeremy Bangs eine Stoffpuppe einer historischen TV-Serie. Allerdings verhielten sie sich oft wie deren beiden berühmte Figuren. So war es kein Wunder, dass Floyd die beiden Männer bei ihrer üblichen Beschäftigung vorfand, beim Streiten.
»Das ist vollkommener Unsinn. Hast du dein Diplom im Lotto gewonnen? Du kannst doch unmöglich ein... Oh, Captain.«
»Dr. Buchanen.«, grüßte Floyd, »Mr. Bangs.«
»Bitte Captain, nennen Sie mich Jeremy und mein inkompetenter Kollege hört gelegentlich auf den Namen Scott.«
»Floyd!«, erwiderte Floyd.
Die beiden Leiter der Konstruktions- und Ingenieursabteilung konnten unterschiedlicher nicht sein. Während Jeremy Bangs ein hochgeschossener, hagerer Typ war, dessen Haarpracht an die Mode der Retropunkbewegung erinnerte, handelte es sich bei Scott Buchanen um einen kleinen, pummeligen Glatzkopf. Bangs war eher ein dunklerer Typ, während Buchanen etwas von der rosa Farbe eines Ferkels besaß. Genauso unterschiedlich die physische Erscheinung der beiden Männer war, so unterschiedlich präsentierten sich auch ihre Arbeitsplätze.
Den mit leuchtenden Trennwänden von der Forschungshalle abgetrennten Bereich konnte man gut und gerne als zwei isolierte Welten betrachten. Die eine Hälfte brüllte vor Ordnung. Der Schreibtisch - eine Lehrstunde in Pedanterie. Es war eine Welt ohne Entropie. Diese Seite des Raums war so extrem aufgeräumt, dass man erst für eine Menge Unordnung sorgen musste, bevor man von einem ordentlichen Raum sprechen konnte.
Es reichte auch, einfach den Blick um 180 Grad zu wenden und man ahnte, wo die fehlende Entropie geblieben war. Dieser Arbeitsbereich definierte Unordnung neu. Während auf dem einen Schreibtisch die elektronischen Schreibstifte wie mit dem Nanometermaßband parallel ausgerichtet nebeneinanderlagen, konnte man auf diesem vor Bergen von Notizfolien, Fachbüchern und anderen undefinierbaren Objekten nicht definitiv sagen, ob es überhaupt Stifte gab.
»Was treiben Sie eigentlich hier? Ying und Yang? Ordnung und Chaos? Himmel und Hölle?«, lachte Floyd.
»Ich sagte doch, unser neuer Captain ist ein schlaues Kerlchen.«, bemerkte Buchanen und ließ sich in den Bürostuhl der Pedantenseite fallen. Damit war klar, wer welches Prinzip vertrat.
»Es widerstrebt mir, dies zuzugeben, aber die vorläufigen Messwerte lassen keinen anderen Schluss zu.«, meinte Bangs und wandte sich an Floyd, »Captain, was können wir für Sie tun?«
»Floyd!«
»Floyd - was können wir für Sie tun?«
»Tja, wie soll ich es am besten ausdrücken.«, Floyd wiegte seinen Kopf hin und her, »Ich möchte gerne wissen, ob ihnen nichts fehlt.«
Diese Frage weckte das Interesse der beiden Wissenschafter. Scott rückte sich in seinem Bürostuhl zurecht, während Jeremy sich in aufmerksamer Pose auf seinen überfüllten Schreibtisch setzte, dessen Beladung wider aller Erwartungen nicht abstürzte.
»Uns etwas fehlt? Was denn?«
»Das weiß ich nicht so genau.«, gab Floyd zu, »Ausrüstungsgestände. Inventar. Datenbankeinträge.«
»Floyd, Sie machen mich neugierig. Worum geht es?«
In einigen kurzen Sätzen umriss Floyd die Lage. Mit jedem Wort wuchs die Augengröße seiner Zuhörer.
»Ähm, hab' ich das richtig verstanden? Jemand hat einen Teil des Schiffs aus der Schiffsdatenbank gelöscht?«, fragte Scott ungläubig.
»Soll er dir ein Bild malen?«, stichelte Jeremy, »Natürlich hat jemand am Computer rumgefummelt. Also haben wir einen Verräter an Bord, oder wie?«
»Nein, nein, nein!«, rief Floyd und schüttelte heftig den Kopf, »Von einem Verräter zu sprechen, halte ich für verfrüht. So weit würde ich nicht gehen. Nicht zu diesem Zeitpunkt. Dass jemand hier sein eigenes Süppchen kocht, ok, sieht so aus. Aber Verrat? Haben Sie eine Idee, was es hier zu verraten gäbe?«
Auf Scott Buchanens freundlichem, rundem, rosa Ferkelgesicht breitete sich ein amüsiertes Grinsen aus: »Oh, Floyd, Sie sind ein Schlingel. Dies ist ein Verhör. Sie bringen das sehr charmant vor, aber es bleibt ein Verhör. Sind wir etwa verdächtig?«
»Natürlich sind wir das.«, fiel Jeremy mit ein, »Und unser Captain macht seinen Job richtig gut. Gut, spielen wir mit. Bisher ist uns nichts ungewöhnliches aufgefallen. Aber wir sind die Inventarlisten auch noch nicht vollständig durchgegangen. Die Konstruktionsabteilung verfügt mit Abstand über den größten Materialbestand. Es dauert immer eine Weile, alles zu inventarisieren.«
»Wären Sie beide so nett und geben mir bei Gelegenheit ihren Bestand durch?«
»Gibt es etwas, worauf wir besonders achten sollen?«
»Wenn ich das wüsste.«, gab Floyd zu, »Sagen wir, ich bin an jeder Unregelmäßigkeit interessiert.«
Scott Buchanan erhob sich und wanderte nachdenklich im Raum umher: »Es würde helfen, wenn wir wüssten, worin eigentlich unsere Mission besteht. Weder Sie noch CC haben uns bisher eingeweiht. Wir legen tausende Lichtjahre zurück, ohne zu wissen, wohin die Reise eigentlich geht.«
»Sie haben recht, das wäre es.«, antwortete Floyd freundlich, aber wenig erhellend, lächelte unverbindlich und schaute auf ein Infopanel, »Oh, es ist schon spät. Ich muss leider weiter. Denken Sie daran, was ich sagte. Prüfen Sie, ob es in Ihren Systemen oder Daten Unregelmäßigkeiten gibt.«
»Wir werden unser bestes tun.«, schleimte Jeremy gewollt gekünstelt, »Wir wollen unseren neuen Captain doch nicht enttäuschen.«
Das lief doch gar nicht mal so schlecht. Floyd war zufrieden. Jeremy und Scott waren in Ordnung - und pfiffig, was nicht selbstverständlich war, da sich Pfiffigkeit und ein hoher IQ oft ausschlossen. Hohe Intelligenz schien in vielen Fällen mit der Unfähigkeit einherzugehen, einfaches einfach einfach sein zu lassen. Gelegentlich ging dann bei diesen Leuten auch noch die Fähigkeit zum Humor flöten oder wurde absonderlich.
Die beiden Konstrukteurgenies waren anders. Sie wussten, was Humor war, was Floyd sehr schätzte. Waren aber eben auch noch pfiffig, was hieß, dass sie sich von ihrer Intelligenz keine Knüppel zwischen die Beine werfen ließen und wussten, worauf es ankam. Bei Konstrukteuren eine durchaus wünschenswerte Fähigkeit.
Eher beiläufig hatte Scott Buchanen auf einen heiklen Aspekt aufmerksam gemacht. Die Geheimhaltung des Missionsziels war ein wirkliches Problem. Mit jeder Sekunde, die verging, war Floyd mehr davon überzeugt, dass es mit den aktuellen Problemen in Verbindung stand. Auf was für eine Mission hatte man sie geschickt?
Die nächste Station auf Floyds Besuchsliste war die medizinisch, biologisch, xenobiologische Abteilung mit ihrer Leiterin Felicitas Rodriguez.
»Hallo Captain.«, grüßte Dr. Rodriguez, »Hat das Mittel geholfen?«
»Oh ja!«, erwiderte der Captain der Hyperion begeistert, »Statt brummender und stechender Sprungkopfschmerzen hatte ich nur noch stechende.«
»Na, das nenn ich doch einen echten Erfolg.«, jubelte Felicitas fröhlich, um Sekunden später frustriert abzuwinken, »Wissen Sie, seit Jahren forscht mein Team an diesem Thema und je länger wir forschen, desto merkwürdiger wird das Problem des Sprungtraumas. Waren Sie schon mal in Stasis, ohne dabei einen Sprung durchzuführen?«
»Ja, sicher. Auf der Akademie und vor drei Wochen, als ich meinen Stasisanzug ausprobiert habe.«
»Verspürten Sie danach Kopf- oder Gliederschmerzen?«
Floyd kratzte sich verwundert am Kopf: »Öhm, nein. Also nicht, dass ich mich erinnern könnte.«
Dr. Rodriguez nickte wissend: »Niemand tut das. Wir haben Versuchsreihen durchgeführt. Fünfzig Studenten trugen für vier Wochen Stasisanzüge, die sie alle sechs Stunden für 15 Sekunden in Stasis versetzten. Keiner, nicht einer, klagte jemals über irgendwelche Schmerzen. Wir haben die Probanden auch medizinisch überwacht. Keine Veränderung am Blutbild. Keine Stresshormone. Nichts. So, und jetzt sind Sie an der Reihe.«, Rodriguez gönnte sich eine dramatische Pause, »Wieso fühlt man sich nach einem Raumsprung, ich sage es mal unverblümt, wie ausgekotzt, obwohl doch während der Stasis keine Zeit vergeht?«
»Ich weiß es nicht.«, gab Floyd unumwunden zu, »Wie Sie sagen. Während der Stasis vergeht keine Zeit. Vielleicht handelt es sich um einen Effekt, der durch den räumlichen Versatz hervorgerufen wird.«
»Sie sind ein schlauer Kopf!«, erwiderte die Xenobiologin, »Unsere Vermutungen gehen in eine ähnliche Richtung. Zusammen mit Louis Team haben wir die Struktur zweier 100 Lichtjahre entfernter Raumpunkte untersucht. Die Forschung steht noch am Anfang. Wir haben zwar bereits massenweise Daten gesammelt, aber auf den einen entschiedenen Unterschied sind wir noch nicht gestoßen.«
Professor Rodriguez lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück und ließ den Blick über ihren etwas größeren Kubikel schweifen. Die medizinisch, biologisch und xenobiologische Abteilung zeichnete sich durch die Erfüllung gängiger Klischees aus. Hell, mit weiß als dominierende Farbe und absolut sauber und aufgeräumt präsentierte sich ein Laborbereich der Sonderklasse.
»Aber, Captain, Sie sind sicherlich nicht hergekommen, um mit mir über Sprungtraumata zu diskutieren.«
»Bitte, nennen Sie mich Floyd. Wie ich erfahren habe, bevorzugt man bei Ihnen die Anrede mit Vornamen.«
»Felicitas.«, erwiderte Felicitas, »Aber jetzt raus mit der Sprache. Was wollen Sie?«
»Ich weiß nicht, ob es sich schon rumgesprochen hat, aber wir haben ein wenig Probleme mit unserer Schiffs-KI.«
Felicitas hörte geduldig und aufmerksam zu. Ab und an nickte sie oder ließ sich das eine oder andere Detail genauer erklären. Während der ganzen Zeit klopfte sie mit einem der elektronischen Schreibstifte auf ihrem Schreibtisch herum.
»Hm, sehr mysteriös, was Sie da erzählen.«, meinte Professor Rodriguez nachdenklich, nachdem Floyd mit seinem Bericht geendet hatte, »Ich glaube, ich sollte Ihnen etwas erzählen.«
Sprungdistanzen
»Wissen Sie«, begann die Leiterin der medizinischen Abteilung, »Ihre Geschichte lässt mich ein wenig stutzen. Eigentlich stand ich für die nächste Mission der Hyperion überhaupt nicht auf der Teilnehmerliste. Ich war bereits im Urlaub, als mich der Anruf erreichte, ich müsse wieder mit auf die Mission. Ein halbes Jahr habe ich meinen Urlaub geplant, und dann das. Professor Marius van Campen von der Universität Delft, der bei dieser Mission meinen Posten übernehmen sollte, wurde bei einem Gleiterunfall tödlich verletzt. Nun sind Xenobiologen, die sich mit den Einrichtungen der Hyperion auskennen, recht rar. Alle anderen, die in Frage kamen, waren entweder auf anderen Forschungsschiffen im Einsatz oder hatten auf Erde, Mond oder Mars Projekte laufen, die keine Unterbrechung zuließen. Die einzige, die keine gute Ausrede parat hatte, war ich. Was ist schon Urlaub?«
Die Frustration der letzten Bemerkung war unverkennbar und verständlich. Felicitas wollte sich endlich einen Herzenswunsch erfüllen und an einer Expedition durch den wieder aufgeforsteten brasilianischen Regenwald teilnehmen. Stattdessen hockte sie nun in einem klinisch sauberen Arbeitsabteil der wissenschaftlichen Abteilung der Hyperion.
»Einem Gleiterunfall?«, ignorierte Floyd die leichte Verbitterung seiner Gesprächspartnerin, an der er sowieso nichts ändern konnte. Viel mehr interessierten ihn die Umstände, die zu ihrer unplanmäßigen Teilnahme geführt hatten.
»Sehen Sie!«, rief Felicitas erregt, »Genau die gleiche Frage habe ich mir auch gestellt. Ich bitte Sie, ein Gleiterunfall? Absurd oder? Ich habe mich kundig gemacht. Im Bundesstaat Niederlande gab es im letzten Jahr genau drei, ich wiederhole, drei Gleiterunfälle, wovon keiner tödlich war. Der letzte tödliche Unfall liegt vier Jahre zurück.«
»Und?«, hakte Floyd nach.
»Ich kannte Marius persönlich. Er war ein guter Freund. Wir hatten sogar mal was miteinander. Sein Tod hat mich ziemlich mitgenommen. Natürlich wollte ich wissen, was genau passiert ist. Nur...«
»Was?«
Professor Rodriguez seufzte: »Ich habe nichts in Erfahrung bringen können. Die offizielle Version lautet, dass es in Folge einer Störung im Lagestabilisierungssystem des gegnerischen Gleiters zu einer Kollision kam, bei der die Energiezelle von Marius' Gleiter beschädigt wurde. Die freigesetzte Strahlung war tödlich. Zum Glück sei die Außenhülle nicht beschädigt worden, weswegen keine Strahlung ausgetreten ist. Aus Sicherheitsgründen musste allerdings der Unfallgleiter mit Marius sichergestellt und...«, Felicitas stockte, »sicher entsorgt werden. Entsorgt? Wir reden hier von einem Menschen und nicht von einem Ding! Niemand hat Marius Leiche gesehen. Sein Grab ist leer. Nur eine Gedenkplatte wurde für ihn errichtet. Die Behörden hüllen sich in Schweigen. Jeder Versuch, mehr in Erfahrung zu bringen, ist gescheitert. Man könne nichts sagen, da die Untersuchungen noch laufen würden und offizielle Statements gegebenenfalls zu juristischen Komplikationen führen könnten.«
»Noch vor ein paar Wochen hätte ich entgegnet, dass ich etwas derart absurdes noch nie gehört hätte. Die in Gleitern verbauten Energiezellen können rein konstruktionsbedingt nicht derart beschädigt werden, dass Strahlung austreten kann. Ich kann mich an keinen Fall in den letzten Jahren erinnern, bei dem eine Energiezelle leckgeschlagen wurde und Strahlung austrat. Das ist absurd. Allerdings hielt ich es auch für absurd, zum Captain eines Tiefraumforschungsschiffs befördert zu werden, oder dass eine Schiffs-KI Lagerräume vergisst.«
»Captain, bitte halten Sie mich nicht für eine Verschwörungstheoretikerin, aber meine Nase sagt mir, dass etwas vertuscht werden soll. Wer weiß, vielleicht gab es gar keine Störung des Lagestabilisators und der Unfall, der in Wahrheit wesentlich schwerer war, wurde durch einen Fehler des Unfallgegners verursacht. Vielleicht von jemandem, der prominent ist oder Einfluss besitzt. Dann wurde diese krude Geschichte erfunden, um es wie technisches Versagen aussehen zu lassen.«
Floyd dachte zwar ebenfalls an eine Verschwörung, nicht aber daran, dass jemand geschützt werden sollte. Seine Gedanken kreisten eher um die Frage, ob es vielleicht Gründe dafür gab, dass Felicitas und nicht Professor van Campen an der Mission teilnehmen sollte. In diesem Fall war die Lage ernster als befürchtet, denn der- oder diejenigen schienen nicht vor einem Mord zurückzuschrecken.
»Bis Sie mir von dem Problem mit der Schiffs-KI berichteten, hatte ich mich, bei allen Zweifeln, damit abgefunden, dass Marius tatsächlich einem tragischen Unfall zum Opfer fiel. Aber jetzt...«
Ein fast flehender Blick traf Floyd. Felicitas Rodriguez suchte nach einer Erklärung, die ihr aber niemand geben konnte, auch nicht der Captain der Hyperion. Was er ihr geben konnte, war das Gefühl nicht allein zu sein, wofür er ein zwar trauriges, aber auch dankbares Lächeln erntete.
»Sollte der Tod Professor van Campens tatsächlich mit unserer aktuellen Situation irgendwie im Zusammenhang stehen, werden wir das herausbekommen. Wissen Sie, an was der Professor zuletzt gearbeitet hat?«
»An allem möglichen. Was seine Gruppe mit meiner verband, war die Sprungtraumaforschung, zusammen mit Louis Forschungsgruppe in Grenoble. Leclerc kümmert sich um das physikalische Fundament, während wir uns den biologischen Aspekten des Problems widmen. Floyd, stellen Sie sich das einmal vor. Überlichtsprünge ohne Nebenwirkungen. Warum sind Überlichtsprünge bisher auf 40, maximal 50 Lichtjahre pro Sprung beschränkt?«
»Weil mit steigender Distanz die Nebenwirkungen exponentiell zunehmen.«, antwortete Floyd wie ein braver Student beim Examen. Überlichtsprungmedizin war ein fester Bestandteil der Offiziersausbildung. Die Standardsprungdistanz betrug 30 Lichtjahre plus minus ein paar Jahre, je nach Kurs. Dieser Wert hatte sich als guter Kompromiss zwischen Energieeinsatz und körperlichen Auswirkungen auf den Springenden bewährt. Kurze Sprünge von weniger als 10 bis 15 Lichtjahren waren, was Verschleiß des Antriebssystems und Energieeinsatz betraf, extrem ineffizient, zeigten aber geringere körperliche Folgen wie Kopfschmerzen und Erschöpfung. Mit jedem Lichtjahr, um das man die Sprünge verlängerte, stieg zwar der Wirkungsgrad des Sprungantriebs, aber auch die körperlichen Auswirkungen auf die Springenden. Es musste also ein Kompromiss gefunden werden, der beiden sich widersprechenden Anforderungen Rechnung trug. Der lag bei 30 Lichtjahren als Regelsprungdistanz. In Ausnahmefällen waren auch 40 Lichtjahre möglich, mit den entsprechenden Folgen. Die Kopf- und Gliederschmerzen der springenden erforderten eine rund doppelt so lange Erholungszeit nach einem derartigen Sprung, als im Normalfall. Ab 50 Lichtjahren wurde es gefährlich, da ab dieser Sprungdistanz Nasen- und Ohrenbluten, in einzelnen Fällen auch Besinnungslosigkeit auftrat. Sprünge über 75 Lichtjahren waren, außer in absoluten Notsituationen, verboten, da ab dieser Distanz die Gefahr irreparabler und sogar tödlicher Schäden drohte.
Der normale Sprung über 30 Lichtjahre galt hingegen als sicher. Seine Folgen wurden gut verkraftet und hinterließen, wie etliche Forschungsprojekte bewiesen, auch keinerlei bleibende Schäden. Doch was wäre, wenn es gelänge, die Sprunggrenze zu erhöhen oder gar ganz aufzuheben. Überlichtflüge würden dadurch nicht nur deutlich sicherer, sondern auch wesentlich kürzer und preiswerter werden.
Langsam wurde Floyd das Potenzial klar, das in Felicitas und Louis Forschung steckte. Sollten sie wirklich Fortschritte erzielen, kam dies einer Revolution der Überlichtraumfahrt gleich.
»Ich sehe es an Ihrem Gesichtsausdruck. Sie verstehen, worauf unsere Forschung hinausläuft.«
Felicitas lächelte ein feines und zufriedenes Lächeln. Allerdings hielt dieser zufriedene Zustand nicht lange an.
»Captain, ich habe das Gefühl, dass jemand unbefugten Zugriff auf die medizinischen Daten der Besatzung und Passagiere der Hyperion genommen hat.«
Die ärztliche Schweigepflicht galt zu Recht als hohes Gut. Nachdem es Anfang des 21. Jahrhunderts zu Versuchen gekommen war, die Verpflichtung zur Verschwiegenheit aufzuweichen, bestand inzwischen ein übergeordneter gesellschaftlicher Konsens, dass genetische, psychologische und auch medizinische Daten zum absolut unantastbaren Bereich der Persönlichkeit eines Menschen gehörten. Nicht zuletzt die ethisch zweifelhaften Forschungen Dr. Prychinczkys, der meinte, eine Präposition für Gewalt und Kriminalität anhand von Genanalysen erkennen zu können, brachte die Kehrtwende. Allerdings erst, als das Kind bereits in den Brunnen gefallen war und mehrere hundert potenzielle Gewaltverbrecher vorbeugend in Haft genommen wurden. Erst als bekannt wurde, dass Prychinczky wissentlich systematische Fehler bei seinen Forschungen begangen hatte und andere unabhängige Forschungen seine Thesen zumindest zweifelhaft erscheinen ließen, wenn nicht sogar widerlegten, wurde der ganze Spuk schneller beendet, als man gucken konnte. Die zu Unrecht inhaftierten wurden großzügig entschädigt und mit neuen Identitäten versehen, während neue und schärfere Gesetze erlassen wurden, die derartigen Versuchen ein für alle Mal einen Riegel vorschoben. Die persönlichen Daten eines jeden Menschen waren von da an heilig und unantastbar.
Was Professor Rodriguez andeutete, hielt eine Menge Konfliktpotenzial bereit. Nur die Leiterin der medizinischen Abteilung besaß das Recht, auf alle medizinischen, genetischen oder psychologischen Daten zugreifen zu können. In diesem Bereich stand sie sogar über dem Captain, der, zusammen mit seinem XO, nur auf Teilbereiche der psychologischen Profile der Besatzung zugreifen konnte. Selbst Felicitas Mediziner besaßen immer nur Zugriff auf die Daten ihrer jeweiligen Patienten.
»Sie hatten das Gefühl, dass auf die Daten zugegriffen wurden?«
Felicitas Formulierung war ebenso unspezifisch wie beunruhigend vieldeutig.
»Sie fehlten.«, kam die Erklärung, »Ich wollte mich gerade an Jason unseren Chefinformatiker wenden, als plötzlich alles wieder normal war.«
»Die Daten waren verschwunden?«, fragte Floyd ungläubig.
»Futsch und weg.«, bestätigte Felicitas.
So langsam begann die Geschichte unheimlich zu werden. Dass jemand unbekanntes sein ganz privates, eigenes Süppchen kochte und sowohl die Besatzung, die Passagiere und die Hyperion selbst dabei als Suppengrün verwendete, war kaum zu übersehen. Was bisher unklar blieb, war das Motiv und Ziel des Unbekannten.
»Hm, sehr nebulös und beunruhigend.«
»Wenn Sie das sagen.«, meinte Felicitas frustriert.
»Kopf hoch. Wir werden schon rausbekommen, was hinter der ganzen Sache steckt.«
»Sie vermuten, dass die gleiche Person hinter meinen verschwundenen Daten steckt, der auch für die verschwundenen Lagerräume verantwortlich ist?«
»Wer sagt, dass es nur eine Person ist? Aber Sie haben recht. Einen Zusammenhang zwischen den Vorfällen zu sehen, ist naheliegend.«
»Dann Wünsche ich Ihnen eine gute Jagd.«, Professor Rodriguez wurde sehr ernst, »Aber seien Sie um Himmels willen vorsichtig. Wir wissen nicht, wie weit Mr. X geht.«
»Ich werde vorsichtig sein.«
Lachnummer
»Sie gingen also von einer Verschwörung aus?«, unterbrach Senator Ruyki Nagano Floyds Bericht.
»Zu diesem Zeitpunkt lag der Verdacht nahe.«, bestätigte Floyd.
»Wäre es dann nicht sinnvoll gewesen, die Mission an dieser Stelle abzubrechen und mit einer umfangreichen Untersuchung zu beginnen?«
»Senator, die Untersuchung hatte ich bereits begonnen. Allerdings möchte ich nochmals darauf hinweisen, dass es sich nur um einen vagen Verdacht handelte. Darf ich eine Gegenfrage stellen? Wie hätte die Flottenleitung oder der Senat reagiert, wenn ich auf einen Verdacht hin die Tiefraumexpedition eines 4,5km langen Raumschiffs, ohne handfeste Beweise in den Händen zu halten, abgebrochen hätte? Sicher, man konnte sämtliche Vorfälle als Zeichen einer Verschwörung interpretieren. Das Gespräch mit Professor Rodriguez verstärkte diesen Eindruck natürlich noch. Andererseits ließen sich die Anzeichen und Verdachtspunkte auch ganz anders interpretieren, wenn auch deutlich unspektakulärer.«
»Floyd, mein Junge, du siehst fürchterlich aus!«
Louis Leclerc öffnete einen seiner Rollcontainer und holte eine Flasche echten und sehr alten französichen Cognac samt zwei Gläsern hervor.
»Du weißt, dass hochprozentiger Alkohol an Bord von Raumschiffen verboten ist?«, meinte Floyd verschwörerisch lächelnd und nahm das entgegengereichte Glas entgegen.
»Alkohol? Was für ein profaner Begriff für diesen besonderen Saft. Hatte ich schon erwähnt, dass ein Onkel von mir ein Weingut in der Grande Champagne besitzt? Dieses edle Getränk wurde von seinem Urururgroßvater gebrannt. Den kippt man sich nicht einfach hinter die Binde. Es bedarf des rechten Moments, der richtigen Stimmung. Und du, mein Freund, siehst so aus, als wenn dieser Moment für dich gekommen ist.«
Floyd nickte mit dem Kopf und nippt dann am Glas. Louis hatte nicht untertrieben. Der Cognac war edel, sehr edel. Sein Aroma war berauschend, voller Harmonie und doch extrem vielfältig. Dabei ganz sanft und weich im Abgang. Der Alkohol wirkte gleichzeitig stimulierend und entspannend. Floyd genoss es, schloss seine Augen und entspannte sich.
»Ich habe ein Problem.«, stellte der Captain der Hyperion nach einer Weile trocken fest, »Es sieht so aus, als wenn wir... Wie soll ich es ausdrucken? Einen Falschspieler an Bord haben.«
»Einen Falschspieler? Spielst du auf CCs verschwundene Lagerräume an?«
Woher wusste Louis davon? Natürlich, das Schiff war ein Dorf. Geheimnisse verhielten sich wie ideale Gase, sie nahmen innerhalb kürzester Zeit das gesamte zur Verfügung stehende Volumen ein.
»Auch.«, erwiderte Floyd matt, »Es gibt noch mehr Vorfälle, die vermutlich zusammenhängen.«
»Ach Floyd«, seufzte Louis, »Ich glaube, ich muss dir ein wenig über Tiefraumforschungsschiffe erzählen. Du meinst, CCs verschwundene Lagerräume wären eine Meldung? Entspann dich. Derartige Vorfälle gibt es bei jeder Mission. Es muss sie geben, damit man nicht vor Langeweile durchdreht. Weißt du wie abgrundtief öde es ist, durch den Weltraum zu schippern? Himmel, wir geben es ungerne zu, aber wir sehnen uns nach diesen kleinen Dramen. Sie sind das Salz in einer sonst abgrundtief öden Suppe namens Alltag.«
»Aber die Lagerräume fehlen.«, gab Floyd zu bedenken.
»Ja und? Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass dies auch einen ganz banalen Grund haben könnte? Was ist mit einem Softwareupdate? Vielleicht haben die Wartungstrupps vor unserem Abflug ein Update eingespielt und sich in der Datei geirrt? Sag selbst, was ist wahrscheinlicher? Dunkle Mächte, die deine Mission kontrakarieren wollen, oder ein Bedienfehler eines Wartungstechnikers?«
Floyd überlegte. Louis Gedanken klangen nicht nur plausibel, sondern rückten auch die Perspektive zurecht. Vielleicht hatte er sich von CC nur so sehr provozieren lassen, dass er einfach eine dramatische Erklärung brauchte, um die ungeliebte Leiterin der wissenschaftlichen Abteilung in ihre Schranken zu weisen. Man durfte nicht vergessen, dass es sein erstes Kommando war und er natürlich nicht nur alles richtig, sondern perfekt machen wollte.
»Und was ist mit der Energie, die durch die Tür fließt?«
»Was ist damit?«, entgegnete Louis, »Hyp ist eine hoch entwickelte KI, die sich permanent verbessert und auch das Schiff optimiert. Was, wenn Hyp durch das Update davon ausging, dass durch die geänderte Schiffstopologie sich bessere Energierouten schalten lassen. Und schon wird aus einer Verschwörung ein völlig normaler Vorgang. Junge, du machst dir entschieden zu viel Sorgen.«
»Aber Jeremy und Scott...«
»Jeremy und Scott?«, Louis lachte, »Mit denen hast du gesprochen? Kein Wunder, dass dein Kopf verdreht ist. Die zwei brauchen Denkfutter. Wenn sie nichts zu tun haben, klammern sie sich an jeden Fussel und diskutieren ihn zu Tode. Dieses Schiff ist eine Blechdose vollgestopft mit IQ-Bestien, deren Hirn im Leerlauf dreht. Warte ab, bis wir unser Ziel erreicht haben. Du wirst den Haufen nicht wiedererkennen.«
»Hm.«
»Du bist nicht glücklich mit meiner Interpretation?«
Floyd wiegte seinen Kopf hin und her. Einerseits wollte er Louis glauben. Die bodenständige, unaufgeregte Blickweise seines alten Professors beruhigte. Naheliegende Ursachen statt wilden Verschwörungstheorien zu folgen, war mehr als vernünftig. Andererseits konnte Floyd nicht ignorieren, dass die einzelnen Vorfälle für sich betrachtet profane Ursachen haben mochten, zusammen betrachtet aber...
»Betrachten wir die Sache aus einem anderen Winkel. Was willst du unternehmen, außer uns Eierköpfe auf Spurensuche zu schicken? Die Mission abbrechen? Aus welchem Grund? Weil ein paar Lagerräume aus dem Inventarverzeichnis der Schiffs-KI verschwunden sind?«
»Nein, natürlich nicht.«, gab Floyd zu. Er konnte sich das Hohngelächter der anderen Captains und der Stabsoffiziere im Flottenhauptquartier lebhaft vorstellen. Floyd Rutherford Grant, der erste Captain, der eine Forschungsmission wegen verloren gegangener Lagerräume abbrach. Das dürfte sich richtig gut in seiner Personalakte machen. Nein, ein Abbruch der Mission stand an letzter Stelle.
»Was rätst du mir?«
»Nichts, was du nicht bereits gemacht hast. Lass die Kollegen ruhig nach einem Verschwörer suchen. Dann sind sie beschäftigt und du hast weniger Stress. Sollte hingegen wirklich etwas an der Sache dran sein, werden sie das rausfinden. Wie gesagt, du bist Herr einer Blechdose angefüllt mit Intelligenzbestien.«
Das klang doch vernünftig. Das eine tun ohne das andere zu lassen war die beste Variante, um mit dem Problem umzugehen. Wenn CC, Scott und Jeremy, Jason oder Felicitas etwas in Erfahrung brachten, hatte man Gewissheit, dass es etwas verschwörungsähnliches gab, wenn nicht, waren die Leute wenigstens beschäftigt und langweilten sich nicht. War es der Cognac, dass Floyd lächeln musste. Der Gedanke, CC beschäftigt zu wissen, war wirklich verlockend.
»Ah, endlich lächelst du wieder.«, freute sich Professor Leclerc, »Mein Junge, entspann dich. Du hast gute Leute. Lass sie machen und du wirst sehen, am Ende werden sich alle Probleme von selbst lösen.«
Gedankenverloren kehrte Floyd in seine Kabine zurück. War er etwa gerade dabei, sich total lächerlich zu machen? Louis Überlegungen waren nicht von der Hand zu weisen. Vielleicht interpretierte er wirklich viel zu viel in die Sache hinein. Seine plötzliche Berufung zum Captain könnte ganz unspektakuläre Gründe haben. Vielleicht war ihm auch nur jemand sehr wohlgesonnen. Und die Geheimhaltung des Missionsziels? Die Flottenführung pflegte schon immer einen Hang zur Geheimniskrämerei. Möglich, dass eine Stabsabteilung nicht wollte, dass die andere etwas von der Mission erfährt. Es wäre nicht das erste Mal, dass Teile des Flottenkommandos gegeneinander arbeiteten.
Louis hatte recht. Warum nach komplizierten Antworten suchen und die naheliegenden ignorieren, nur weil sie nicht sonderlich spektakulär sind? Wer weiß, seufzte Floyd, vielleicht hatte er sich wirklich von CCs Panikmache anstecken lassen. Das Signal der Kabinentürklingel unterbrach weitere Grübeleien.
»Ja, herein.«
Die Tür öffnete sich und Jason singende Eidechse betrat Floyds privates Reich.
»Diese Vollidioten!«, tobte der amerikanische Ureinwohner, »Diese inkompetenten Schwachköpfe!«
»Ähm, von wem sprichst du?«
»Von den Hornochsen im Raumdock! Weißt du, was die gemacht haben?«, fauchte Jason und schüttelte dabei heftig den Kopf.
»Ähm, nein.«, antwortete Floyd vorsichtig.
»Ich wollte es nicht glauben. Aber wofür gibt es Logfiles? Hier steht es: ›Update Lagerbelegungsplan Sektion G, Deck 8, Version: 1352, Format CEC-X‹ Vollidioten.«
»Ähm?«, räusperte sich Floyd und fragte sich, ob sein alter Professor etwa ebenfalls psionisch begabt sei, »Willst du andeuten, dass das Update für unsere Probleme mit den Lagerräumen verantwortlich ist?«
»Andeuten?«, schnaubte Jason, »Es ist für unsere Probleme verantwortlich! Ich habe keine Ahnung, welcher Teufel die Typen geritten hat, Format CEC-X für den Belegungsplan zu verwenden. CEC-X ist schon für Belegungspläne gedacht, aber nur, wenn damit auch bauliche Veränderungen am Schiff vorgenommen wurden, etwa, wenn man Trennwände entfernt und Räume zusammenlegt. Die Hyperion ist sehr modular aufgebaut und kann den Bedürfnissen der Mission flexibel angepasst werden. Mir ist schon klar, was passiert ist. Die haben einen Lagerbelegungsplan angefertigt, nicht auf das Format geachtet und einfach eingespielt.«
»Das funktioniert?«, fragte Floyd erstaunt, »Mein Computer bombardiert mich bei falschen Formaten immer mit massenweise Fehlermeldungen.«
»Fehlermeldungen? Die kann man doch wegklicken.«, meinte Jason frustriert, »Und genau das haben die Volltrottel gemacht. Das steht nämlich ebenfalls im Logfile: ›WARNUNG: CEC-X Datei enthält keine Topologiedaten. Trotzdem importieren?‹ Rate mal, was die angeklickt haben.«
Floyd konnte sich nicht mehr zurückhalten und musste loslachen.
»Ich weiß nicht, was daran so komisch ist. Hast du eine Ahnung, was da für ein Aufwand auf uns zu kommt, das wieder zurechtzubiegen?«, maulte Jason.
»Entschuldige, aber ich lach nicht über dich, sondern über mich.«, erwiderte Floyd entschuldigend und zerknirscht. »Weißt du, was dein Befund bedeutet?«, fragte Floyd und fuhr fort, ohne Jasons Antwort abzuwarten, »Es bedeutet, dass ich mich zum Vollaffen gemacht habe! Ich habe mich voll vom Gekeife der Cardigan beeinflussen lassen. Ich wollte ihr etwas entgegensetzten und habe mich dabei in Verschwörungstheorien verrannt. Bis mir Louis vorhin den Kopf wusch. Er meinte, ich solle mich entspannen. Für die verschwundenen Lagerräume gäbe es bestimmt einen ebenso plausiblen wie einfachen Grund, zum Beispiel ein fehlerhaftes Softwareupdate.«
»Das hat er gesagt?«, staunte Jason, »Ist er ein Hellseher?«
»Eher ein Pragmatiker und Realist. Er meint, ihr Wissenschafter würdet unter geistigem Leerlauf leiden und euch deswegen an Kleinigkeiten festfressen.«
Diesmal lachte Jason: »Und damit hat er absolut recht. Ich bin zum Glück noch für die Computersysteme des Schiffs zuständig und habe auch so genug zu tun, doch wenn ich an unsere Geologen, Chemiker, Xenobiologen oder Physiker denke. Die drehen bis zum Einsatzort Däumchen. Wie oft kann man sein Labor aufräumen und vorbereiten? Theoretisch könnte man an seinen Forschungsberichten oder Fachartikeln arbeiten. Nur...«
»Ich weiß, die Sprungsequenzen. Mit Kopfschmerzen denkt es sich schlecht.«
»Du sagst es.«, Jason seufzte, »Raumflug ist tödlich öde. Du hast nichts zu tun, fühlst dich wie ausgekotzt und fragst dich, warum du dir das eigentlich antust. Das ist dann der Moment, wo man sich schwört, beim nächsten Mal nicht mitzufliegen, um dann doch wieder dabei zu sein.«
»Mit dem Schiffscomputer ist also alles in Ordnung?«
»Soweit ich das sehe, ja. Ich werde mich mit dem Chief zusammensetzen und die fehlenden Strukturdaten nachtragen. Wenn die Lagerräume erst mal wieder im Inventar sind, wird sich auch die merkwürdige Energieleitung durch das Schott aufheben.«
»Sehr schön. Schon Mittag gegessen?«, legte Floyd einen Gedankensprung der Extraklasse hin.
»Nein, klingt aber nach einer guten Idee.«
Wenig später ließen sich Floyd Rutherford Grant und Jason singende Eidechse ein Standardmenü der Klasse »Mystery Meatballs« schmecken. Floyd war zufrieden. Was sich wie ein Alptraumtag anging, steuerte inzwischen ruhigere Bahnen an. Vielleicht, so dachte der Captain der Hyperion, müssen Forschungsschiffe so sein.
»Oh, Shit!«, fluchte Floyd plötzlich, wurde bleich und ließ seine Gabel fallen.
»Was?«, fragte Jason erschrocken nach.
»Mir ist gerade eingefallen, dass ich CC die Sache noch beichten darf.«, Floyd sah alles andere als glücklich aus, »Ich werde wie ein Idiot dastehen. Schließlich hab ich die Cardigan erst auf den Trichter mit der Verschwörung gebracht.«
»Mein Beileid.«, meinte Jason und spießte ein Fleischbällchen auf, um es genussvoll zu verspeisen.
Ganz gegen Floyds Befürchtung nahm Professor Cardigan die Erklärung ohne Spitzen gegen ihn oder seine Crew zur Kenntnis. Ganz im Gegenteil lehnte sie sich genüsslich in ihrem Bürostuhl zurück und strahlte Floyd mit kaum verholener Schadenfreude an. Ja, mein Junge, du hast dich zum Deppen gemacht, zum Volldeppen.
»Und wann kann ich an meine Lagerräume ran?«
»Singende Eidechse und der Chief gehen leider davon aus, dass das noch eine Weile brauchen wird. Drei Sprungsequenzen. Sie dürfen nicht vergessen, dass sie die Strukturdaten manuell wiederherstellen müssen.«
»Fein, Captain. Dann möchte ich Sie auch nicht länger von Ihren Pflichten abhalten. Sie haben bestimmt noch viel zu tun, zum Beispiel Verschwörer suchen.«
Damit war es amtlich. Floyd hatte sich zu Lachnummer des Schiffs gemacht. Floyd Rutherford Grant, Captain und Verschwörungstheoretiker. Super. Kaum einen Monat unterwegs und schon im Schlusssprung ins Fettnäpfchen.
»Shit!«, fluchte Floyd mangels Publikum zu sich selbst. Er ahnte, dass er sich in den nächsten Tagen auf etwas gefasst machen konnte.
»Oh, Captain!«, erschallte die Stimme Naomi Cantrells, der Leiterin der xenobiologischen Abteilung, »Können Sie bei Gelegenheit bei mir mal vorbeikommen? Ich glaube, bei uns sind ein paar Rollcontainer verschwunden. Ich glaube, der Verschwörer war auch bei uns.«
Jetzt nur nicht rot werden! Floyd setzte ein ebenso falsches, wie gequältes Lächeln auf. Das Grinsen der Xenobiologin war hingen ganz offen und machte keinen Hehl daraus, purer Schadenfreude zu entspringen.
»Ok, das hab' ich wohl verdient.«
»Voll und ganz, Captain, voll und ganz!«, lachte die Cantrell, »Schöne Verschwörerjagd noch.«
Wie vermutet entwickelten sich die nächsten Tage für Floyd zu einer Art Spießrutenlauf. Wo er auch hinkam, die Leute begannen zu schmunzeln. Das eigentlich Schlimme daran war, dass er es ihnen nicht übel nehmen konnte. Er wusste, dass er sich nach Strich und Faden blamiert hatte. Am liebsten hätte er sich in seiner Kabine verkrochen, nur war das alles andere als eine Lösung. Er musste sich dem Spott stellen und mitspielen, nur so wurde man ihn wieder los. Zum Glück beschränkten sich immerhin seine Brückenoffiziere mit einem hintersinnigen Schmunzeln.
»Ok!«, verkündete Floyd während eines gemeinsamen Essens in der Messe, »Sollte einer von euch der Verschwörer sein, raus mit der Sprache.«
Manchmal muss man in die Offensive gehen, was in Floyds Fall hieß, mit den Wölfen zu heulen und sich selbst zu verarschen. Wie nicht anders zu erwarten, wurde seine Selbstironie wohlwollend zur Kenntnis genommen.
»Ach, Floyd, Captain«, ergriff Otis das Wort, »Wir alle fühlen mit Ihnen. Glauben Sie ja nicht, dass Sie der Erste wären, dem so was passiert ist. Jeder in dieser Messe kann ein Lied davon singen, wozu unsere geliebten Wissenschafter fähig sind, wenn sie nichts haben, womit sie sich sonst beschäftigen können.«
Die leidvollen Blicke der anwesenden Offiziere sprachen Bände.
»Echt?«
»Echt!«, gestand Quentin, »Glauben Sie uns. Da muss man durch. Es hilft den Eierköpfen, sich uns gegenüber überlegen zu fühlen.«
»Stimmt!«, lachte Otis, »Ich kann mich noch daran erinnern, wie dich die Xenozoologen den Xarb suchen lassen haben.«
»Den was?«
»Den Xarb«, knurrte Quentin, »Einen etwa 12cm großen Laufvogel, den mich die xenozoologische Abteilung bat zu suchen. Er wäre wohl aus seinem Käfig entwischt. Ich habe Tage damit zugebracht, das Schiff zu scannen. Frustriert, das Scheißvieh nicht gefunden zu haben, bin ich zum Leiter gelatscht und habe meine fruchtlose Suche gebeichtet. Und was meint der? ›Oh, das tut mir Leid, aber da hat es wohl ein Missverständnis gegeben. Den Xarb haben wir gar nicht mitgenommen.‹ Die haben mich mehr als eine Woche suchen lassen, dabei war der blöde Vogel überhaupt nicht an Bord. Die nächsten Wochen erschallte dann immer ein total lustiges ›Tschiep! Tschiep!‹, wenn ich einen Raum betrat.«
»Och, Quentin, wir fanden das ziemlich witzig. Insbesondere deinen knallroten Kopf.«
Anziehungskräfte
Zum Glück für Floyd schleift sich jeder Witz mit der Zeit ab. Spätestens mit Beginn des zweiten Sprungblocks verging jedem die Lust auf Witze. Die enervierende Routine der Springerei vernichtete jedes Verlangen nach Spaß und Kurzweil. Nach der ersten Sprunggruppe von fünf Sprüngen und 127 Lichtjahren hatten die Kopfschmerzen Mannschaft und Passagiere wieder fest im Griff. Niemanden interessierte da noch den kleinen Patzer ihres neuen und vielleicht etwas übermotivierten Captains. Man hatte andere Sorgen.
Der Sprungblock der zweiten 1000 Lichtjahre verlief nicht wesentlich anders als der erste. Statt genau drei Wochen benötigte man einen Tag länger und zwei Sprünge mehr. Nach dem insgesamt 87. Sprung trennten die Hyperion 2032,214 Lichtjahre von der Erde. Abgesehen davon, dass jedermann an Bord vollkommen erschöpft war und auf dem Zahnfleisch kroch, befand sich das Schiff in einem absolut perfekten Zustand. Alle Checklisten konnten mit einem Häkchen für ok versehen werden. Kein Kontrolllämpchen leuchtete rot für eine Störung. Man konnte stolz auf sich sein.
Wie bereits nach dem ersten Sprungblock entschied Floyd erneut, die Pausenzeit bis zum nächsten Block von 72 auf 168 Stunden, also eine Woche hoch zu setzen. Niemand widersprach, sondern verzog sich in die Abgeschiedenheit seiner Kajüte, um den Sprungkater in aller Ruhe auszukurieren. Die nächsten 36 Stunden wirkte das Schiff wie ausgestorben, von gelegentlich müde herumgeisternden Seelen einmal abgesehen.
Erst gegen Mittag des zweiten Ruhetages belebten sich die Messen, Aufenthalts- und Fitnessräume. Die Bereitschafts- und Wartungsmannschaften nahmen ihren Dienst auf und unterzogen die Hyperion den vorgeschriebenen Wartungschecks, während die Brückenoffiziere zumeist ihren Körper im Fitnessraum auf Vordermann brachten. Unter ihnen tummelten sich auch Jason, Otis, Quentin und Floyd.
»Otis, könntest du bei mir spotten?«
Zufall oder Absicht? Quentins Hilfewunsch führte zu einer interessanten Paarung. Da Otis nun bei Quentin die Augen offen hielt und darauf achtete, dass der sich nicht mit den Gewichten übernahm und seine Übung richtig ausführte, musste diese Aufgabe bei Floyd zwangsläufig Jason übernehmen.
»Ok!«, meinte Jason und betätigte den Gewichtsregler, »Ich glaube, du könntest noch etwas mehr stemmen.«
»Sklaventreiber!«, lacht Floyd und stemmte die nun deutlich schwerere Hantelstange, was gar nicht so einfach war. Einerseits musste sich Floyd auf die Übung konzentrieren, anderseits war Jasons körperliche Nähe sehr ablenkend. Aber als Captain eines Raumschiffs wusste Floyd, wie man sich konzentrierte. Oder auch nicht, denn Jason hatte sich an Floyds Kopfende postiert und beugte sich nun synchron mit der Bewegung der Hantelstange vor. Was war der Konzentration abträglicher?
Floyd musste schlucken. Wenn er hoch schaute, sah er die Konturen eines perfekt geformten Oberkörpers. Das eng anliegende Trikot Jasons ließ jedenfalls keine andere Deutung zu. Schmale Hüften, ein flacher Bauch mit leichten, aber keinesfalls übertriebenen Muskelrippen, ging in eine definierte Brust über. Jason war athletisch gebaut, aber keinesfalls ein Muskelberg. Floyd wusste, dass es politisch alles andere als korrekt war, trotzdem konnte er das Bild des wilden Indianerkriegers nicht aus dem Kopf bekommen, woran Jasons schwarze Haarmähne und die markanten Gesichtszüge sicherlich nicht ganz unschuldig waren. Doch das war nicht das eigentliche Problem. Was Floyd viel mehr aus dem Konzept brachte, war Jasons Schritt, der mit jeder Wiederholung der Übungen, direkt vor Floyds Nase baumelte.
»... 10... 11... 12. Ok, das reicht.«, zählte der Leiter der linguistischen Abteilung Floyds Übungen, »Wechsel?«
»Gerne.«, erwiderte Floyd. Man tauschte die Positionen. Der Captain spottete seinen leitenden Informatiker und Linguisten, wobei er den Gewichten nur einen Teil seiner Aufmerksamkeit schenkte und sich mehr auf Jasons Körper konzentrierte.
Oh, dieser Mann war wirklich ein Traum. Hatte Quentin wirklich recht? Liebkoste er diese Rothaut mit seinen Augen? Ja, natürlich tat er das. Was für eine blöde Frage. Etwas anderes wäre einfach nicht angemessen. Reduzierte er Jason damit auf dessen Körper? Nein, keinesfalls. Jason war maskulin, wild, sinnlich und verträumt. Sein Körper war nur ein Teil davon, ein Aspekt, aber noch lange nicht der ganze Jason. Floyd hatte gesehen, wie dieser Mann arbeitete. Völlig versunken in seiner Aufgabe, musste man sich schon sehr laut räuspern, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Reagierte er dann, wie jeder andere, ungehalten oder gar unwirsch, weil man ihn störte? Nein! Niemals! Jason schaute dann nur einen Moment verwirrt drein, bis er sein Gegenüber erkannte, und begann zu lächeln, oder besser, zu strahlen. Doch wenn man wirklich etwas über Jason erfahren wollte, musste man nur zuhören, wie seine Freunde über ihn sprachen.
»Weißt du, was ich auf Raumschiffen am meisten vermisse?«, unterbrach Jason Floyds Träumerei.
»Nein, was?«
»Pferde!«, kam die enthusiastische Antwort, »Ich liebe es, zu reiten. Über die Prärie jagen, den Wind in den Haaren und auf der Haut zu spüren. Es gibt nichts schöneres.«
Oh Junge, du darfst mich gerne reiten! Floyd musste erneut schlucken. Hatte er das eben gerade wirklich gedacht? Hoffentlich hatte Jason nicht gerade seine Gedanken gelesen. Was für ein vulgärer Gedanke, zumal er sich sehr gut vorstellen konnte, dass so ein Ausritt auf dem Rücken eines Pferdes wahrscheinlich wirklich erfüllend sein könnte. Eigentlich beneidete Floyd Jason sogar. Reiten war schon immer ein Sport, der ihn faszinierte.
»Reiten...«, meinte Floyd dann auch nachdenklich, »Ein interessanter Sport. Ich wollte es schon immer mal probieren, nur bot sich nie die Möglichkeit.«
»Du könntest mich im Reservat besuchen. Ich könnte es dir zeigen.«
»Ich dachte, das Reservat wäre für Nichtindianer tabu.«, erwiderte Floyd überrascht.
»Im Prinzip schon. Du kannst nicht einfach über unser Land stampfen. Aber als mein Gast wäre es kein Problem. Mein Stamm vertraut mir und weiß, dass ich niemanden mitbringe, der unsere Gesetze, Regeln und Geschichte nicht respektiert.«
»Und woher weißt du, dass ich sie respektiere?«
Auf diese Frage antwortete Jason nicht direkt, sondern musterte Floyd ein paar Sekunden. Er hielt seinen Kopf schräg, kniff seine Augen ein wenig zusammen und meinte dann: »Ich weiß es. Du bist ein Mann, der andere Menschen achtet.«
»Ich versuche es.«, Floyd lächelte, während man zusammen zur nächsten Station des Fitnessraums ging.
»Du bist ziemlich gut in Form.«, bemerkte Jason, während sich Floyd hinter die Schulterpresse klemmte, »Unser alter Captain war alles andere als ein sportlicher Typ. Was hast du früher gespielt? Football?«
Die Erwähnung von Floyds körperlicher Fitness und sportlicher Profession löste einen Anflug von Verlegenheit aus.
»Hey! Das muss dir nicht peinlich sein!«, lachte Jason amüsiert, »Ich hab doch nicht etwa recht, oder? Du hast wirklich Football gespielt! Lass mich raten. Du warst sogar Quarterback?«
»In der Highschool und später im Universitätsteam.«, gestand Floyd.
»Oh, shit, unser Captain war ein arroganter Footballjock!«, zog Jason Floyd auf.
»Ja und nein.«, Floyd seufzte und sah dabei alles andere als glücklich aus, dass Jason erschrocken zurückruderte.
»Floyd, ich... ich wollte dich nur ein wenig aufziehen. Entschuldige, wenn ich etwas Falsches gesagt habe.«
»Nein, hast du nicht. Es ist nur...«, Floyd überlegte, zögerte einen Moment und nickte dann mehr zu sich selbst, als zu Jason. Er unterbrach seine Übung, legte die Gewichte ab und setzte sich auf, um Jason direkt in die Augen zu sehen.
»Ja, ich war der Quarterback an unserer Highschool. Welche Klischees dir auch immer einfallen mögen, ich habe sie erfüllt - alle! Ich war arrogant, selbstverliebt und hielt uns Sportcracks für die Krone der Schöpfung. Ich war zwar kein Bully, griff aber auch nicht ein, wenn sich andere auf Kosten unserer Nerds und Freaks amüsierten.«
»Und was hat dich verändert?«
»Meine erste Liebe.«, gestand Floyd und schaute Jason dabei fest in die Augen. Der zuckte zusammen. Wollte er wirklich die Geschichte einer Hetero-Highschool-Romanze hören? Eigentlich nicht. Wobei, wenn Jason ehrlich zu sich war, musste er sich eingestehen, dass er bei jedem anderen gerne zugehört hätte. Nur ausgerechnet von Floyd wollte er nicht erfahren, wie irgendein bestimmt total nettes Mädchen den Oberjock der Schule bekehrte und ihn in einen liebenswerten und verantwortungsvollen Mitmenschen verwandelte.
»Er hieß Tyler.«
»Was?«
Jason zuckte erneut zusammen, wenn auch aus anderen Gründen, als vorher: »Du bist...?«
»Schwul? Sieht wohl so aus.«, meinte Floyd schlicht, »Entgegen anderslautenden Behauptungen ist es immer noch alles andere als leicht, im Süden der nordamerikanischen Allianz als schwuler Junge aufzuwachsen. Aber Tyler, er war so süß, zart und wirklich fast zerbrechlich, dabei ist... war er der stärkste Mensch, den ich jemals kennenlernen durfte. Er lehrte mir, zu mir zu stehen, das heißt, wenn wir nicht gerade damit beschäftigt waren, uns gegenseitig den Verstand aus dem Schädel zu ficken.«
»Was ist aus ihm geworden?«, fragte Jason mehr, um sich von der eigentlichen Frage abzulenken, was es für ihn nun konkret bedeutete, dass Floyd so wie er schwul war. Kaum gestellt, bereute er seine Frage. Floyds Gesicht füllte sich mit Traurigkeit.
»Tyler ist tot. Er starb an einer besonders aggressiven Form der Leukämie, für die es noch kein Heilmittel gibt.«, erzählte Floyd mit abwesender Stimme, »Es war unser zweites Jahr an der Uni. Tyler studierte Literatur- und Theaterwissenschaften, während ich... naja. Wir lebten zusammen, liebten uns, ergänzten uns. Wir waren uns absolut sicher, dass wir miteinander alt werden würden. Und dann wurde er krank. Nach der Diagnose blieben uns noch sechs Wochen. Ich war bei ihm, die ganze Zeit, bis zum Ende. Seine Eltern, fundamentalistische Evangelikale, hatten ihn verstoßen. Es interessierte sie nicht, dass ihr Sohn, ihr einziger Sohn im Sterben lag. Sie schrieben mir sogar, dass Gott ihn auf diese Weise für seine Abartigkeit strafe. Was für bigotte Arschlöcher. Mein lieber, süßer Tyler, er war so stark. Weißt du, was er als letztes zu mir sagte?«
In Anbetracht des Kloßes in seinem Hals beschränkte sich Jason auf ein verneinendes Kopfschütteln.
»Floyd, ich liebe dich! Ich danke dir, dass ich die Zeit mit dir verbringen durfte. Doch jetzt muss ich dich verlassen. Deswegen lautet meine letzte Bitte an dich: Trauer nicht um mich. Denk an mich gelegentlich, aber lass dir dein Leben nicht von Trauer zerstören. Geh los, such dir einen netten und geilen Kerl und geh ficken!«
»Geh ficken?«
»Geh ficken! Wortwörtlich. Tyler war der totale Punk!«, Floyd seufzte und lächelte verträumt, »Natürlich habe ich mein Wort nicht gehalten und um ihn getrauert. Aber er hatte recht. Das Leben ging weiter. Tyler hinterließ mir einen Brief, in dem er mir nochmals den Kopf wusch und ultimativ befahl, ein neues Leben zu beginnen, was ich dann auch tat. Ich stürzte mich voll in meine Ausbildung zum Führungsoffizier und Raumfahrer. Tyler war felsenfest davon überzeugt, dass ich es in Rekordzeit zum Captain brächte. Er hat recht behalten. Zumindestens damit.«
»Und, gibt es jemand, der zu Hause auf dich wartet?«
Am liebsten hätte sich Jason auf die Zunge gebissen. Wie konnte er nur eine derart intime und nach Tylers Geschichte geschmacklose Frage stellen?
»Entschuldige, Floyd, mein Mund war schneller als mein Verstand. Das geht mich überhaupt nichts an.«
»Nein, nein. Es ist ok.«, lachte Floyd amüsiert über seinen eigenen Fatalismus, »Nein, es gibt niemanden. Ich leide unter dem Raumfahrerfluch. Außer einer Handvoll gescheiterten Beziehungen kann ich nichts vorweisen. Mein letzter Partner, Gideon, begrüßte mich mit einem anderen Typen im Bett. Ich kann es ihm kaum verdenken. Kann man ernsthaft Treue erwarten, wenn der Partner Monate lang im Weltraum umhergurkt? Vermutlich nicht. Obwohl... Es war seine Idee, etwas Festes eingehen zu wollen und sich gegenseitig ewige Treue zu schwören. Vielleicht ist meine Definition von ›ewig‹ auch überholt. Jedenfalls sprach Gideon von ewiger Treue und Liebe, und ich naiver Idiot glaubte ihm. Nun ja, mein letzter Landurlaub hat mich dann eines Besseren belehrt.«
»Es ist sein Verlust.«, meinte Jason, der immer noch darüber grübelte, wie er mit der neuen Situation umgehen sollte. Dass Floyd ebenfalls schwul war, eröffnete ganz neue Möglichkeiten oder auch die Chance, eine sich gut entwickelnde Freundschaft zu ruinieren. Bisher konnte er für Floyd schwärmen, sich rein hypothetisch in ihn verlieben, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Als Hetero war Floyd unerreichbar. Aber jetzt... Was wollte er wirklich von Floyd? Von ihm? Nichts! Er wollte ihn, den ganzen Mann. So kitschig es auch sein mochte, aber er, singende Eidechse, war diesem Mann vom ersten Augenblick an verfallen.
Nun neigen erste Eindrücke dazu, sich mit der Zeit zu relativieren. Nicht so bei Floyd. Je länger Jason sich in seiner Nähe rumtrieb, desto mehr war er von ihm überzeugt. Er war nicht nur ein netter Kerl. Er war rücksichtsvoll, ein fairer und sehr umsichtiger Vorgesetzter, er gewann Autorität durch sein Verhalten und nicht durch Anspruch. Allerdings war er auch fehlbar, wie die dumme Verschwörungsgeschichte bewies. Dass er obendrein noch geil aussah, schadete natürlich nicht.
»Moment mal!«, rief Jason plötzlich, als ihm etwas bewusst wurde, »Warum hast du nie erzählt, dass du ebenfalls für unsere Liga spielst? Du weißt seit Wochen, dass ich auf Männer stehe.«
Noch bevor Floyd antwortete, aktivierte Jason sämtliche psionischen Antennen. Schließlich ging es darum, ob er eine Chance hatte oder nicht.
»Ich...«, stammelte Floyd verlegen, »Ich hatte Angst. Die Sache mit Gideon war noch frisch. Und dann...«
»Was?«, hakte Jason nach, der sich im voll aktivierten Lügendetektormodus befand. Bisher war alles, was Floyd sagte wahr. Aber...
»Hast du dich mal angesehen?«, stellte Floyd eine Gegenfrage, ließ Jason aber nicht antworten, »Ich schäme mich, es zuzugeben. Verdammt, soetwas sollte mir nicht passieren. Ich bin ein Offizier der Raumflotte. Ich...«
»Was?«, bohrte Jason nach und musste schmunzeln, weil er ahnte, worauf die Sache hinauslief.
»Bitte halte mich nicht für einen... Ach was weiß ich? Was soll ich sagen? Du siehst einfach geil aus. Ja, ich geb es zu. Mich hat der wilde Indianer heiß gemacht. Jedenfalls anfangs... Oh Mann«, Floyds Gesicht nahm eine sehr rosige Farbe an, »Verstehst du jetzt, warum ich nichts gesagt habe. Ich schäme mich, dich auf deine ethnische Herkunft reduziert zu haben.«
»Immer der politisch korrekte Offizier, wie?«, schmunzelte Jason, »Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, dass ich ähnlich politisch unkorrekt auf den geilen Footballjock abgefahren bin?«
»Echt?«
»Telepathen lügen nicht.«
»Lüge ich?«
»Nein, du lügst auch nicht.«, erwiderte Jason, nahm sich einen Hocker und setzte sich vor Floyd, »Floyd, ich mag dich und ich bin drauf und dran, mich in dich zu verlieben.«
»Wow!«, meinte Floyd, »Und du bist mir echt nicht böse, dass ich dich auf die wilde Rothaut reduziert habe?«
»Ich bin eine wilde Rothaut!«, bemerkte Jason nonchalant, »Wenn du willst, beweise ich dir gerne, wie wild ich sein kann.«
»Oh!«, meinte ein perplexer Floyd Rutherford Grant, nachdem der Groschen gefallen war, »Das heißt, du magst...«
»Das heißt das wohl.«, meinte ein frech grinsender Indianer, »Warum bin ich wohl am ersten Tag zu dir gekommen? Wohl kaum, um dir die Funktion des Stasisanzugs zu erklären. Jedenfalls nicht nur.«
Was folgte, war ein aus Unsicherheit geborenes Schweigen. Weder Floyd noch Jason wussten so recht, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Eine für beide Seiten unerwartete Schüchternheit beschlich die beiden Männer. Floyd grinste unbeholfen und nahm seine Übungen an der Brustpresse wieder auf. Jason schmunzelte ebenfalls und folgte dem Vorbild seines Trainingspartners. Was bisher eher eine lockere Angelegenheit war, wurde zur intensiven Trainingseinheit. Nach einer viertel Stunde lief der Schweiß in Strömen. Ein zufälliger Beobachter wäre glatt auf die Idee gekommen, die beiden Typen die da an den Geräten ackerten, wollten sich gegenseitig etwas beweisen.
»Ok, es reicht!«, kam Floyd zu einem Halt, nach dem man weitere fünfundvierzig Minuten Eisen gestemmt hatte, »Wie wollen wir mit der Situation umgehen?«
»Ich habe keine Ahnung.«, gestand Jason offen, »Komm, lass uns duschen gehen.«
Leichter gesagt, als getan. Die Duschräume verfügten über vier Plätze mit Brauseköpfen, die sämtlichst besetzt waren, während gleichzeitig noch fünf Männer, darunter auch Quentin und Otis auf einen freien Platz warteten. Irgendwie, überlegte Floyd, waren er und Jason nicht die einzigen, die auf die Idee gekommen waren, etwas Sport treiben zu wollen.
»Komm!«, meinte singende Eidechse und zog Floyd mit sich, »Meine Kabine ist gleich nebenan.«
»Ich möchte nochmals darauf hinweisen,«, mischte sich Vizeadmiral Paul S. Henderson ein, »dass der Verhaltenskodex der Flotte intime Beziehungen zwischen Flottenangehörigen untersagt.«
»Ich möchte nicht respektlos erscheinen, Vizeadmiral,«, entgegnete Floyd fest, »aber ich halte diese Verhaltensregel nicht nur für wirklichkeitsfremd, sondern sogar für schädlich. Wie den meisten Mitgliedern dieses Ausschusses bekannt sein dürfte, kommt es auf sehr vielen Schiffen der Flotte immer wieder zu Übergriffen durch vorgesetzte Offiziere. Mir sind persönlich Fälle von schwerster sexueller Nötigung bekannt, die an Formen von Sklavenhaltung erinnern. Meines Erachtens werden diese eklatanten Missstände nicht nur durch den Verhaltenskodex begünstigt, sondern sogar erst ermöglicht, indem sie die Basis für Erpressungsszenarien schaffen.«
Vizeadmiral Henderson wollte gerade zu einer Erwiderung anheben, als ihm Floyd recht rüde das Wort abschnitt: »Doch ist dieser Ausschuss sicherlich nicht das richtige Forum, über dringend notwendige Änderungen am Verhaltenskodex der Flotte zu streiten. Ganz im Gegenteil möchte ich darauf hinweisen, dass ich den Kodex zu keinem Zeitpunkt gebrochen habe oder einen Bruch, soweit er mir bekannt wurde, geduldet habe. Professor singende Eidechse war zu keinem Zeitpunkt ein Mitglied der Flotte. Obwohl er den Posten des Chefinformatikers der Hyperion belegte, zählte er zum zivilen Personal der Mission.«
»Ja, dies stimmt.«, bestätigte der Vorsitzende und griff erneut zu einer Datenfolie, um daraus zu zitieren, »Die Disziplinarkommission ist zum gleichen Urteil gekommen und hat Captain Grant von allen Anschuldigungen moralwidrigen Verhaltens freigesprochen. Captain, ich stimme Ihnen zu, der Verhaltenskodex der Flotte bedarf dringend einer Überholung. Solange diese allerdings nicht erfolgt ist, sind Beziehungen unter Besatzungsmitgliedern zu verfolgende Fehlverhalten.«
Körperkultur
Floyd packte seine Sachen und folgte seinem indianischen Chefinformatiker. Die Formulierung »gleich nebenan« war wohl relativ gemeint. Wenn man die Schubtriebwerke des Unterlichtantriebs am Heck der viereinhalb Kilometer langen Hyperion als weit betrachtete, waren die rund hundert Meter zu Jasons Kabine wirklich gleich nebenan. Zwei Stockwerke höher und drei Gänge weiter stand man schließlich vor Jasons privatem Reich.
»Wow!«, war Floyds erster Kommentar. Bei einem Forschungsschiff wie der Hyperion, auf der Besatzung und wissenschaftliche Passagiere mehrere Monate, manchmal sogar Jahre verbrachten, hatte man sehr viel Wert darauf gelegt, jedem ein privates Refugium bieten zu können. Die Kabinen waren daher nicht nur sehr groß, Platz bot ein 4,5-km-Schiff genügend, sie ließen sich auch individuell einrichten. Dies ging sogar so weit, dass selbst die Raumaufteilung frei festgelegt werden konnte. Floyd fand es immer wieder spannend, die Kabinen anderer Menschen zu sehen. Es war immer wieder überraschend, das Bild, das man von einer Person gewonnen hatte, mit der Einrichtung und Aufteilung ihrer Kajüte zu vergleichen. Manchmal erzählten sie mehr über den Bewohner, als tausend Worte.
Jasons Kabine spiegelte genau das wieder, was Jason war: Ein Grenzgänger zwischen den Kulturen. So dominierte eine klare, sachliche, fast schon strenge Gliederung den Raum und reflektierte damit Jasons naturwissenschaftliche Seite. Floyd schätzte diese Sachlichkeit. Nichts war ihm mehr zuwider, als Plüsch. Insbesondere sagte ihm Jasons Materialauswahl für dessen Möbel zu. Poliertes Aluminium fasste dunkles, edles Wengeholz ein. Sitzflächen waren mit schwarzem Leder bezogen. Die Formensprache zitierte eindeutig den Neobauhausstil. Aber dies war nur der eine Aspekt. Den anderen bildete die kontrapunktiv gesetzte Dekoration des Raums mit indianischen Kulturgütern, wobei es sich nicht um die billigen Imitationen handelte, die man sonst für teures Geld erwerben konnte. Jason umgab sich mit Objekten, die überhaupt nicht käuflich waren. Floyd musste sich daran erinnern, dass sein Cheflinguist ein Medizinmann war. Jedenfalls war dies der Schluss, den er aus Otis und Jasons Geschichte gezogen hatte.
»Das Badezimmer ist gleich da hinten.«, zeigte Jason auf eine Tür, während er zwei Teelichter auf einem Sideboard entzündete, »Handtücher liegen im Schrank.«
»Ähm ja.«, erwiderte Floyd und eilte ins Bad. Wenig später hatte er sich seiner Kleidung entledigt und war unter die Brause gesprungen. Ein heißer Massagestrahl knetete seine überbeanspruchten Muskeln. Floyd hatte seine Augen geschlossen. Die Beine leicht gespreizt hatte er sich vorgelehnt und sich mit ausgestreckten Armen an einer der Duschkabinenwände abgestützt. Der prasselnde Wasserstrahl, die geschlossenen Augen. Floyd bemerkte nicht, dass er nicht mehr allein war. Erst als zwei Hände nach seinen Hüften griffen und ihn sanft nach hinten zogen, begann er zu ahnen, dass die Dusche wohl etwas anders verlaufen würde. Statt nun seine Augen zu öffnen, gab er Jasons Griff nach und ließ sich von ihm umarmen. Der schmiegte sich sehr sinnlich von hinten an Floyd heran, sodass dessen Rücken an Jasons Brust zu liegen kam.
»Na, du wilde Rothaut.«,
»Na, du arroganter Footballjock.«
Floyd seufzte. In den Armen eines Mannes gehalten zu werden hatte er lange vermisst, sogar sehr lange. Außer Tyler war ihm keiner seiner Beziehungen so nahe gekommen. Und jetzt Jason. Gleichzeitig sanft aber auch kräftig schlang er seine Arme um Floyd, der erstaunt war, was man alles mit seinem Rücken ausmachen konnte. Jasons Brust war gleichzeitig anschmiegsam weich, aber auch sehr konturiert und fest. Was Floyd dazu verleitete, sich dem Zugriff zu entwinden und zu seinem unerwarteten Duschpartner zuzuwenden.
»Du weißt, worauf das hinausläuft?«, fragte Floyd Rutherford Grant Jason singende Eidechse.
»Auf alles oder nichts.«, erwiderte Jason ernst aber voller Zuversicht, »Bei unseren Voraussetzungen gibt es nur zwei Möglichkeiten: Himmel oder Hölle. Willst du es wagen?«
»Auf jeden Fall!«, bei dieser Antwort sah Floyd Jason fest in dessen Augen. Natürlich war er ein Telepath und hätte jede Unsicherheit sofort entdeckt, doch wollte Floyd, dass er es in seinen Augen sehen konnte.
»Würdest du mich dann bitte endlich küssen?«
Eigentlich wollte sich Floyd ja den nackten Körper seiner wilden Rothaut genau ansehen. Nur kam es dazu nicht. Küssen ging vor. Vorsicht, fast ängstlich und auf jeden Fall schüchtern wie ein Backfisch näherte sich Floyd den wartenden Lippen, während das warme Wasser der Brause über seinen und Jasons Körper lief. Der Cheflinguist strahlte aufmunternd und gab damit Floyd genau das, was er im Moment brauchte.
Und dann berührten sich die beiden Männer. Statt der Lippen nahmen die Brüste als erstes Kontakt auf und jagten wohlige Schauer durch Jason und Floyd, die dies mit leichtem Seufzen quittierten. Konnte er, so fragte sich die singende Eidechse, wirklich Floyds Brustwarzen fühlen? Die Frage blieb vorerst unbeantwortet, der Lippenkontakt war hergestellt. Floyd konnte sich nichts anderes vorstellen, als Männerlippen zu küssen. Diese Mischung aus weich, rau, sinnlich und herb konnte ihm keine Frau geben. Allerdings war Jasons Kuss etwas besonderes, da er der Mischung eine weitere Komponente hinzufügte: Leidenschaft.
Jason war fordernd, ohne ins Penetrante abzugleiten. Innerhalb weniger Sekunden entbrannte ein wildes Zungenduell der Extraklasse. Es war schon ein Vorteil, nicht mehr sechzehn zu sein. Mit Mitte zwanzig wussten die beiden Männer, was sie wollten, nämlich keinen Sex unter der Dusche. Statt die Sache unter der Brause bis zum Äußersten zu treiben, beschränkte man sich darauf, einander zu waschen und anschließend zu trocknen. Nackt und frisch nach Seife duftend betrat man zusammen Jasons Schlafzimmer. Erstmals bot sich Floyd die Gelegenheit, das Objekt der Begierde eingehend zu studieren.
Natürlich zogen die tiefschwarzen Haare die meiste Aufmerksamkeit auf sich, insbesondere als Jason die noch feuchten Strähnen mit dem Kopf nach vorne und wieder zurück in den Nacken schleuderte. Anschließend fuhr er mit den Fingern hindurch und formte einen glatten Pferdeschwanz. Floyd schaute dem Schauspiel sprachlos und fasziniert zu.
»Und, gefällt dir die wilde Rothaut?«, zog ihn Jason auf. Floyd konnte nur stumm nicken. Ihm fehlten einfach die Worte, um Jasons Erscheinung richtig beschreiben zu können. Wenn man den Haaren folgte, landete man unweigerlich bei Jasons Gesicht. Markante Wangenknochen, eine kantige Kinnpartie gepaart mit länglichen Augen ließen keine Fragen hinsichtlich Jasons ethnischer Abstammung zu. Seine rotbraune Haut war da nur konsequent, was sie einhüllte hingegen nicht. Dieser Mann war einfach nur geil. An einem breiten Kreuz waren gut gebaute Arme befestigt. Wohlproportionierte Brustmuskeln, ausgebildete Trizeps und Latissimus boten ein Bild natürlichen Körperverständnisses. Jason war wirklich gut gebaut, ohne in einen Muskelberg abzudriften. Man könnte auch sagen, die Natur hatte ihn mit einem Körper gesegnet, für den mancher morden würde. Was ein wenig überraschte, waren die Hornstifte, mit denen Jasons Brustwarzen durchstoßen waren. Der eindeutig ethnisch geprägte Schmuck verlieh Jason noch ein Quäntchen mehr wilder Rauheit.
Was der Oberkörper versprach, wurde wie nicht anders zu erwarten von der Körpermitte gehalten. Die Brust ging in einen flachen und leicht gewellten Bauch über, für den das Wort Fett nicht zu existieren schien. Woran Floyds Blick dann aber wirklich hängenblieb, war ein langes, steil aufgerichtetes Fortpflanzungsorgan. Man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass Jason über einen schönen Schwanz verfügte.
»Hat man dir schon mal gesagt, dass du einfach geil aussiehst?«
»Musst du gerade sagen.«, erwiderte Jason. Während Floyd ihn ausgiebig studierte, hatte er gleiches mit Floyd veranstaltet. Einen größeren Kontrast konnte es kaum geben. Während Jason eher den schlanken, agilen Typ vertrat, war Floyd kompakt und sehr kräftig gebaut. Jeder, der ihn sah, hätte sofort auf Footballspieler getippt. Floyd war der typische All-American-Boy. Dunkelblonde Haare mit helleren Strähnen, athletisch, runde, kugelig ausgeprägte Muskeln, ein deutlich definierter Waschbrettbauch, das war Floyd. Selbst sein Schwanz war ein Kontrastprogramm. Jason war unbeschnitten, Floyd, wie jeder gute Nordamerikaner beschnitten. Jason eher lang und in Richtung schmal tendierend, war Floyd mittellang, aber dicker gebaut.
»Und jetzt?«, fragte Floyd.
»Schlafen wir miteinander.«, meinte Jason direkt, »Oder willst du nicht?«
»Oh, und ob ich will!«, erwiderte Floyd und ging vor Jason auf die Knie, »Du erlaubst?«
Schneller als Jason reagieren konnte, befand sich dessen Schwanz in Floyds Mund.
»Oh Mann!«, stöhnte singende Eidechse, »Oh, Floyd, du bist fantastisch!«
Floyd wusste, wie man vernünftig blies. Wobei Jasons Schwanz allerdings eine Herausforderung darstellte. Er war eben länger als das Durschnittsexemplar. Es brauchte etwas, bis er seinen Würgereflex soweit unter Kontrolle gebracht hatte, dass er Jason ganz verschlingen und dessen Eichel mit seinen Rachenmuskeln massieren konnte.
»Verdammt Floyd!«, schrie Jason, der eine derartige Behandlung noch nicht kannte, »Was machst du, das ist der absolute Wahnsinn!«
Floyd sagte nichts, sondern strahlte Jason nur von unten versonnen und lustvoll an.
»Shit! Stopp oder ich komme, bevor wir überhaupt angefangen haben!«
Das wollte Floyd natürlich nicht. Er ließ Jasons bestes Stück aus seinem Mund gleiten, erhob sich und begann seinen Freund zu küssen. Eigentlich, so überlegte Jason, während er Floyds Küsse erwiderte, war Zungenduell ein blöder Begriff. Schließlich ging es nicht um Kampf und Wettbewerb, sondern darum, einander Zuneigung entgegenzubringen, was noch lange nicht hieß, dass man nicht fordernd vorgehen durfte. Ganz im Gegenteil verlangte es Jason nach dem Unmöglichen, nämlich gleichzeitig so viel eigene Zunge in Floyds Mund und umgekehrt so viel Zunge von Jason in seinen Mund hineinzubekommen. Oh, dieser Mann machte ihn einfach wild. Es schmeckte gut, roch betörend und fühlte sich einfach nur fantastisch an.
»Ummpf!«, kam es Floyd bei einem der überlebensnotwendigen Momente, in denen man die Küsserei zwecks Sauerstoffversorgung unterbrach.
»Ummpf?«
»Ähm... Nun ja...«, erwiderte Floyd schüchtern, »Etwas passenderes ist mir nicht eingefallen. Da steh ich hier, nackt, mit einem begehrenswerten Mann in meinen Armen, der mich mit seinen Küssen fast in den Wahnsinn treibt. Ja, Ummpf passt ziemlich gut.«
Jason blinzelte. Seine Augen umspielte amüsiert zufriedene Freude.
»Komm!«
Singende Eidechse packte Floyd am Handgelenk und zog ihn sanft, aber nachdrücklich mit sich. Der Weg führte direkt ins Schlafzimmer, das von einem großen Bett dominiert wurde, was für Schlafräume allerdings nicht sonderlich ungewöhnlich war. Ungewöhnlich hingegen waren verschiedene Einrichtungsgegenstände und Accessoires, etwa die Felldecke, mit der das Bett bedeckt war.
»Ich weiß, was du denkst. ›Echtes Fell?‹«
Floyd nickte. Die Nutzung echter Felle war vor Jahrzehnten verboten worden und unter Strafe gestellt. Floyd wagte kaum, die Decke zu berühren, befürchtete er fast, umgehend wegen eines schweren Artenschutzverbrechens verhaftet zu werden. Jason nahm ihm die Entscheidung ab, indem er seinen Captain auf das Bett drückte und damit indirekt eine Frage beantwortete. Die Decke war echt. Nichts fühlte sich flauschiger, realer und erregender an, als Fell auf nackter Haut.
»Was du gerade fühlst, ist wirklich echt.«, erläuterte Jason, wobei er Floyd mit den Händen über Brust und Bauch strich, »Es sind Bären- und Wolfsfelle. Ich habe mit ihnen gekämpft. Ich bin ihnen allein und nur mit einem Messer gegenübergetreten. Ich bin in die Berge gegangen und erst zurückgekehrt, nachdem ich meine Aufgabe vollendet hatte.«, Floyd lag inzwischen flach auf der Felldecke, während Jason wie eine Eidechse über ihn schlängelte, »Es sind die Rituale und Regeln meines Stammes, die ich wie jeder andere zu befolgen hatte. Diese Decke beweist, dass ich ein Mann mit starker Medizin bin.«
Floyd musste schluckten. Jasons Erklärung war keine Rechtfertigung. Es war eine Feststellung, eine Schilderung der Tatsachen. Sein Stamm hatte das Recht, für den Eigenbedarf zu jagen. Geschützte Tiere allerdings ohne Schusswaffen und nur zu rituellen Zwecken. Das erlegte Tier durfte nicht verkauft werden und musste in den Händen des Stammes verbleiben. Soweit war die Rechtslage eindeutig. Was sie aber nicht beschrieb, war die Bedeutung. Jason hatte sein Leben riskiert, und das sehr direkt und unmittelbar. Bären sind Menschen kräftemäßig haushoch überlegen. Es bedurfte schon der ganzen Kunst des Jägers, ein derart mächtiges Tier zu überwältigen und das nur mit einem Messer als Waffe.
Diese Erkenntnis veränderte die Perspektive, mit der Floyd Jason bisher betrachtete. Dr. Jason singende Eidechse war in erster Linie ein Universitätsprofessor für Linguistik und Informatik. Er war freundlich, zuvorkommend, geduldig, humorvoll, attraktiv, konzentriert, manchmal etwas nüchtern, zuweilen geistesabwesend. Er war psionisch begabt. Dies passte alles noch in das Bild eines Wissenschafters, der eher der geistigen Arbeit zugetan war. Natürlich war er unübersehbar ein Indianer, ein Crow, aber dies sorgte eher für einen erregend, wilden Subtext, ließ es doch allerlei Raum für Wunschträume und Projektionen. Die Decke aus Bären- und Wolfsfellen hingegen war real, sehr real und fügte Jason den Aspekt einer Person hinzu, die in der Lage war, zu töten. Floyd fragte sich ernsthaft, ob er selbst dazu fähig wäre.
Während ihm noch diese neue Seite in Jasons Persönlichkeit durch den Kopf ging, hatte sich selbiger auf Floyds Brust niedergelassen. Seine Hände packten seine Arme und drückten sie fest aufs Bett. Jasons schüttelte seinen Kopf, dass seine langen, schwarzen Haare wild umherwirbelten, dann beugte er sich zu Floyd vor, sodass die dunkle Mähne die Köpfe der beiden Männer wie ein Vorhang einschloss.
»Ja, ich bin Jason, der nüchterne Uniprofessor, aber ich bin auch singende Eidechse, der Jäger, Krieger und Medizinmann.«
Ganz so leicht, wie sich die Rothaut dies dachte, ließ sich der ehemalige Footballspieler dann doch nicht überrumpeln. Mit einer blitzschnellen Bewegung, die die Instabilität Jasons beim Vorbeugen ausnutzte, hatte sich Floyd aus seiner Lage befreit, Jason gepackt und mit ihm zusammen um hundertachtzig Grad längs seiner Körperachse herumgerollt. Das Ende vom Lied: Jason fand sich plötzlich unten liegend wieder, während ein breit grinsender Floyd nun über ihm thronte.
»Soso, du bist also ein wilder Krieger.«, meinte Floyd provozierend frech, wobei seine Augen allerdings verrieten, wie sehr er Jason begehrte, »Soll dir der weiße Mann etwa die Wildheit austreiben?«
Floyds Triumph währte nur kurz. Ein überraschender Griff, eine raffinierte Gewichtsverlagerung, und schon lag er wieder unten.
»Meinst du, dass du dazu in der Lage bist?«, fragte nun Jason frech, wechselte dann aber auf einen versonnenen Ausdruck. Sein fester Griff ließ etwas nach. Statt Floyd auf das Bett zu drücken, legte sich Jason vorsichtig auf ihn. Zwei warme, fast heiße Körper berührten sich auf eine fast schon spirituelle Weise.
»Ich will dich!«, flüsterte Jason in Floyds Ohr, »Ich will in dich eindringen und ein Teil von dir werden.«
Jasons Bitte kam für Floyd recht überraschend. Bei seinen bisherigen Beziehungen, von Tyler einmal abgesehen, fand er sich ständig in der aktiven Position wieder. Offenbar war jeder davon überzeugt, dass ein Typ, ein Alphamännchen und Footballcrack naturgemäß ein Top sein musste. Dabei liebte Floyd beide Seiten. Es erregte ihn, aktiv zu sein und seinen Partner zu befriedigen, doch genauso genoss er es, sich vollkommen hinzugeben. Leider reduzierte man ihn meist nur auf seinen Schwanz und dessen Stoßkraft, was Floyd schon mal dazu gebracht hatte, einem Typen an den Kopf zu werfen, dass er kein verdammter Dildo sei, den man sich bei Bedarf in den Arsch schieben kann, ansonsten aber friedlich in der Nachttischschublade zu liegen hat. Manchmal hatte er wirklich das Gefühl, dass die Typen gar nicht an ihm als Menschen interessiert waren. Nur Tyler war anders. Er wollte Floyd, den ganzen Floyd. Er wollte seine Kraft und Potenz, aber genauso auch seine Zärtlichkeit und Hingabe. Aber Tyler wollte noch mehr. Er wollte nicht nur Floyds Körper, sondern seinen Geist und seine Persönlichkeit erleben, spüren und sie mit der eigenen teilen.
Was für ein blöder Moment, über Glück nachzudenken. Bin ich glücklich? Die Frage spukte seit geraumer Zeit in Floyds Kopf umher. Die Antwort war so simpel wie niederschmetternd. Nein, er war nicht glücklich. Seit Tylers Tod war das Leben nicht mehr dasselbe. Die Beziehungen danach waren farblos und öde. Gideon und sein Gerede von Treue. Alles Lüge. Auch Gideon wollte nichts anderes, als seinen Schwanz, und das auch nur, wenn er dazu in Stimmung war. Vermutlich hatte er sich mit Absicht einen Flottenoffizier ausgesucht, der nicht zu oft daheim war.
Aber mit Jason war alles anders. Floyd fühlte, spürte etwas, das er seit Tylers Tod vermisst hatte: Zuneigung und Begehren. Ja, Jason begehrte ihn, Floyd, und nicht ein gut durchblutetes Körperteil. Mag sein, dass es gefährlich war, diesem Gefühl nachzugeben und sich die nächste Enttäuschung einzufangen. Allerdings, wer nichts wagt...
»Fick mich!«, erwiderte Floyd und zog Jasons Gesicht zu sich heran, dass sich ihre Wangen aneinander reiben konnten, »Nimm mich! Werde ein Teil von mir!«
Wenn Jason von dieser offenen Antwort überrascht war, zeigte er dies nicht. Ganz im Gegenteil begann er, die Wehrhaftigkeit von Floyds Rektum vorsichtig, aber auch nachdrücklich anzutasten. Woher er dabei so schnell das notwendige Gleitmittel beschafft hatte, blieb ein Geheimnis dieses talentierten Medizinmanns.
Und talentiert war er. Innerhalb weniger Minuten hatte er Floyd soweit gelockert, dass man zum Kern der Sache vordringen konnte. Jason platzierte Floyds Beine auf seinen Schultern und schaute dabei dem Objekt seiner Begierde direkt, lüstern und liebevoll in die Augen.
»Floyd?«
»Jason?«
»Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt, über beide Ohren und völlig hoffnungslos verliebt.«
Floyd beugte sich vor, was bei dieser Position einigermaßen gut möglich war und küsste Jason: »Dann zeig es mir!«
Mehr gab es nicht zu sagen. Jason positionierte seine Eichel direkt an Floyds Schließmuskel und wartete, bis sich dieser entspannte. Floyd schloss seine Augen und begann sich zu entspannen. Sein Ring öffnete sich, was Jason sofort nutzte, um ein Stück in Floyd hineinzuflutschen, was dieser mit einem lustvollen Seufzen quittierte. In dieser Position verharrte man, bis sich Floyd erneut ausreichend entspannt hatte, womit Jason weiter vordringen konnte. Oh, dieser wilde Kerl fühlte sich gut an. Sein eher schmaler Schwanz erleichterte das Eindringen ungemein. Tyler war deutlich dicker, aber auch etwas kürzer. Aber wozu der Vergleich? Ging es überhaupt um vergleichen? Natürlich nicht! Es ging um genießen, sich fallen lassen und sich zu öffnen.
Floyd ließ sich fallen. Jason spürte, wie der Widerstand seines Freundes schwand und er vollständig in ihn hineingleiten konnte. Beiden Männern standen Tränen des Glücks in den Augen. Floyd, weil ihn das lang vermisste Gefühl begehrt und geliebt zu werden überwältigte und Jason, weil ihn umgekehrt die völlige Hingabe Floyds überwältigte.
In dieser Position verharrte man eine Weile und genoss die innige Vereinigung, bis Floyd begann, langsam auf Jasons Schwanz reitende Bewegungen durchzuführen.
»Ah!«, lachte Jason und strahlte Floyd überglücklich an, »Dir steht der Sinn nach etwas mehr Bewegung?«
Floyd nickte, beugte sich vor, küsste Jason und meinte: »Ja! Zeig mir mal, wie wild du wirklich bist!«
Bei dieser Aufforderung war eindeutig ein gerütteltes Maß Geilheit im Spiel. Da sich Jason in einem ähnlichen Zustand befand, kam er Floyds Wunsch unmittelbar nach. Er zog seine beachtliche Länge fast aus dem Captain der Hyperion wieder heraus, um sie dann in einer einzigen, langen Bewegung wieder in ihn hineinzutreiben. Floyd stöhnte anlässlich dieser intensiven Stimulation seiner Prostata. Und auch Jason begann zu stöhnen. Floyd war sehr eng gebaut und massierte Jasons bestes Stück bei jeder Bewegung.
Was folgte, kann sich jeder, der mit den anatomischen Gegebenheiten des männlichen Körpers vertraut ist, an seinen fünf Fingern abzählen. Jason versuchte Floyd so viel Lust wie möglich zu bereiten und gleichzeitig von ihm und seinem Körper so viel wie möglich spüren. Umgekehrt versuchte Floyd, sich Jason so weit wie möglich hinzugeben. Er kam ihm sogar bei jedem Stoß entgegen, um noch etwas mehr von ihm zu spüren. So sehr Jason und Floyd ihre Vereinigung auch auskosten wollten, es gelang ihnen nicht. Bei der ganzen aufgestauten Geilheit erreichte Jason viel früher als gewünscht den Point of no return. Er schrie auf, klammerte sich an Floyd, drückte sich ganz tief in ihn und entlud sich.
An dieser Stelle würde im Normalfall die Bemerkung folgen, dass, ausgelöst durch die Ejakulation in seinem Rektum, Floyd ebenfalls über die Klippe getrieben wurde und ebenfalls kam. Eine rein äußerliche Betrachtung hätte dem auch Recht gegeben, allerdings die Realität nicht korrekt wiedergegeben, denn Jason war ein Psioniker.
Mindfuck
Die wenigsten hätten bei einem attraktiven Mann, wie Jason einer war, vermutet, dass die Anzahl seiner bisherigen Beziehungen eher überschaubar gering war. Man konnte sie an einer Hand abzählen, an exakt einem Finger. Nur mit Quentin hatte Jasons bisher eine wirkliche Beziehung geführt, die diesen Namen auch verdiente. Es gab zwar ein paar Flirts und auch ein paar One-Night-Stands, aber nichts davon hatte Jasons Bedürfnisse wirklich erfüllt. Der Sex mochte gut gewesen sein, aber damit erschöpften sich bereits die positiven Aspekte. Was in der Erinnerung zurückblieb, war ein schaler Geschmack und der Vorsatz, es beim nächsten Mal sein zu lassen.
Mit Floyd verlief die Sache komplett anders. Man konnte spüren, dass er sich nicht einfach abreagieren wollte. Floyd wollte keine schnelle Nummer schieben, keinen belanglosen Fick aus Langeweile. Dafür hatte sich Floyd Jason viel zu sehr geöffnet. Nicht im physischen Sinne, obwohl dies ebenfalls zutraf, sondern seelisch. Damit hatte er sich auf Gedeih und Verderb in Jasons Hände gegeben. Jemanden seine Zuneigung oder gar Liebe spüren zu lassen, ohne zu wissen, ob diese Gefühle überhaupt erwidert werden, erfordert Mut und Vertrauen. Was Floyd vergaß, Jason war psionisch hochbegabt. Ob er es wollte oder nicht, im Zustand eigener sexueller Erregung war es ihm einfach nicht mehr möglich, Floyds Gedanken und Emotionen abzublocken. Floyds Lust, seine Sehnsucht nach Liebe, seine tiefe Zuneigung, drangen ihn Jasons Bewusstsein ein und lösten eine entsprechende Gegenreaktion aus. Im gleichen Maß, wie Jasons sexuelle Erregung anwuchs und den Höhepunkt ansteuerte, begann er seine eigenen Emotionen zu emittieren. Als er dann seinen Höhepunkt erreichte, gab es kein Halten mehr. Jason und Floyd wurden geistig eins, was hieß, dass Floyd Jasons Orgasmus in seinem eigenen Kopf miterlebte. Überwältigt von so viel Lust, Geilheit aber auch Liebe und Zuneigung, gab es wiederum für ihn kein Halten mehr. Noch während sich Floyd auf Jasons Bauch und Brust entlud, wurde ihm klar, dass sich nach dieser Nummer die Welt für ihn grundlegend geändert hatte.
»Nein, bitte, bleib drin.«, flüsterte Floyd, als sich Jason nach einer Weile von ihm lösen wollte, »Bitte halt mich.«
Statt zu antworten, zog Jason seinen Freund wieder fester an sich heran und drückte seinen inzwischen etwas erschlafften Schwanz wieder zurück in die wohlige Enge von Floyds Rektum. Die beiden Männer lagen Rücken an Bauch auf der Seite und genossen die körperliche Nähe. Jason hatte die Felldecke über sie gezogen. Auf Dauer war es in seiner Kabine ein wenig zu kühl, um nackt auf dem Bett liegen zu können.
»Sollen wir reden?«, fragte Jason und küsste Floyds Nacken.
»Ich glaube, das hat sich erübrigt.«, erwiderte Floyd immer noch ein wenig überwältigt, »Deine Gefühle konnte ich klar und deutlich in meinem Kopf lesen.«
»Bist du mir böse?« Jason klang ängstlich.
»Böse? Nein!«, kam sehr fest und entschlossen Floyds Antwort, »Ich bin einfach nur überwältigt. Es war... unbeschreiblich. Ich konnte dich, deinen Geist, in mir spüren. Deine Liebe...«
»Aber?« Der ängstliche Ton blieb, wurde sogar noch stärker.
»Ich habe Angst, dass ich deinen Erwartungen nicht gerecht werde.«, gestand Floyd, »Wenn du es nicht eh schon in meinen Gedanken gelesen hast, sag ich es dir nochmal so. Ich habe mich Hals über Kopf in dich verliebt.«
»Aber?«
»Nichts aber.«, Floyd rang nach Worten, »Was, wenn es zwischen uns nicht funktioniert. Ich will dich nicht verletzten. Nach dem, was du mir von deinem Innersten gezeigt hast, würde es mir das Herz brechen, sollte ich dich verlieren... So wie ich Tyler verloren habe...«
Jason begann erneut, Floyds Nacken mit Küssen zu attackieren. Gleichzeitig tasteten seine Hände nach dessen Brustwarzen, um sie leicht zu zwicken und, als sie sich aufrichteten und hart wurden, zu zwirbeln. Floyd fühlte, wie sich tief in seinem Hintern etwas regte und steif wurde.
»Ahhh!«, stöhnte er.
»Du wirst mich nicht verlieren.«, flüsterte Jason seinem Freund ins Ohr, während er gleichzeitig begann, ihn mit langsamen, tiefen Bewegungen zu ficken. »Ich werde es nicht zulassen. Verstehst du? Seit eben sind wir zusammen in der Sache drin.«
»Dass du in einer Sache drin bist, merke ich!«, stöhnte Floyd.
»Oh ja, und es ist geil!«, bestätigte Jason, »Floyd, das mag total kitschig und klischeehaft klingen, aber ich habe das Gefühl, mit dir etwas gefunden zu haben, das ich schon immer gesucht habe. Ich werde dich nicht wieder hergeben. Ich weiß, was du fühlst. Du hast mich daran teilhaben lassen. Floyd, du bist stärker als du denkst. Ich weiß, dass du mich liebst. Wenn es wirklich Erwartungen gibt, die ich an dich stelle, dann die gleichen, die du an mich stellen solltest: Sei so, wie du bist. Sei dir treu. Seid Floyd Rutherford Grant. Das ist mein Wunsch.«
»Ich verspreche dir, es zu versuchen.«
»Fein!«, grunzte Jason in Floyds Ohr und setzte seine Fickbewegungen fort. Der zweite Akt im Liebesspiel verlief wesentlich ruhiger, wenn auch nicht notwendigerweise weniger lustvoll und intensiv. Man ließ sich Zeit. Jason fand zu einem gleichmäßigen Rhythmus, der Floyd besonders stark stimulierte, dass dieser nach wenigen Minuten zu Wimmern begann. Und wieder ließ er sich fallen. Floyd gab sich ganz Jason hin, der sich alle Mühe gab, dieses Geschenk entsprechend zu würdigen. Erneut verschmolzen die beiden Männer miteinander und steuerten einen weiteren Höhepunkt der Lust an.
Sex hat seinen Preis: Erschöpfung. Nach einem dritten und vierten Mal, bei dem Floyd den aktiven Part übernahm, schlief man selig, befriedigt und überglücklich eng aneinandergeschmiegt ein. Der Schlaf war ebenso willkommen wie erholsam. Floyd und Jason hätten ihn auch noch länger ausgekostet, wäre da nicht eine Körperfunktion, die irgendwann nach Aufmerksamkeit verlangte.
Blasendruck und Hunger weckten Floyd und trieben ihn aus dem Bett, was wiederum Jason weckte.
»Guten Morgen, Sonnenschein.«, lachte Jason verliebt.
»Im Weltraum gibt es keinen Morgen.«, erwiderte Floyd und erhob sich. Das Blasenproblem wurde drängender.
»Technokrat!«, grunzte Jason amüsiert und warf einen Blick auf das Computerdisplay des Schlafzimmers, »Aber du hast recht. Es ist 4 Uhr Standardzeit und nur noch 36 Stunden bis zum nächsten Sprungblock.«
»Oh, ich freu mich jetzt schon drauf.«, knurrte Floyd, kniete sich aufs Bett und gab Jason einen Kuss, »Willst du mit mir duschen?«
Der angesprochene schüttelte seinen Kopf: »Nein, lieber nicht. Das würde wieder in Sex enden und wir bekommen gar nichts mehr gebacken. Wusstest du, dass wir sechs Stunden miteinander zugange waren?«
»Hast du die Zeit gestoppt?«, lachte Floyd.
»Nein, nein. Ich merk mir solche Sachen einfach. Passiert unbewusst.«, Jasons Bauch knurrte, »Ok, das war der endgültige Weckruf. Geh duschen! Ich komme nach. Anschließend gehen wir Frühstücken. Ich habe vielleicht Hunger, ich könnte einen halben Büffel verdrücken.«
Floyd tat das, was man ihm sagte und ging duschen. Unter der Brause zu stehen, war für ihn schon immer der beste Weg gewesen, Dinge, die ihn bewegten, zu durchdenken. Die Augen geschlossen, den Kopf direkt unter dem Wasserstrahl oder auf den Nacken gerichtet, lösten sich nicht nur Verspannungen in Muskulatur und Sehnen. Der ganze Denkapparat kam in Schwung. Floyd versuchte, sich auf die neue Situation einzunorden. Er hatte einen Freund, einen Geliebten. Ganz plötzlich war er da. Wenn das keiner Neuausrichtung seines Lebens gleich kam, was dann? Floyd stellte überraschend fest, dass er glücklich war, richtig glücklich. Mit einer überaus zufriedenen Miene im Gesicht kehrte er sauber und frisch nach Seife duftend zu Jason zurück.
»Hey, nackter Mann!«, rief ihn sein Freund, »Warum strahlst du so fröhlich?«
»Ich strahle wegen dir.«, erwiderte Floyd, »Mir ist unter der Dusche gerade klar geworden, dass ich nicht mehr allein bin. Ich habe dich und das macht mich glücklich.« Plötzlich zuckte Floyd zusammen und sah Jason ängstlich an: »Oder willst du mich gar nicht? Enge ich dich zu sehr ein?«
Statt sofort zu antworten, nahm Jason die drei Schritte, die ihn von Floyd trennten, und nahm den dunkelblonden All-American-Boy in seine Arme.
»Keine Panik!«, flüsterte er Floyd ins Ohr, »Ich lass dich nicht wieder los.«
»Also sind wir jetzt offiziell zusammen, oder wie?«, fragte Floyd immer noch etwas unsicher.
»Yupp!«, meinte Jason und gab seinem Freund und Geliebten einen Kuss auf die Nase, »Zum mitschreiben. Ich will dich als meinen Freund, Partner, Geliebten, als Kuschelkissen, Kerl zum dran festhalten, Anker in stürmischer See. Ich will dich morgens, mittags, abends, nachts und dazwischen ebenfalls. Ich will deinen Körper, deine Füße, Hände, Arme, Beine, Bauch und Brust. Ich will deinen Schwanz und deinen Arsch. Ich will deine Lippen, deinen Mund, deine Nase, Augen und Ohren. Ich will deine Seele, deine Gefühle, deine Liebe, deine Trauer, die Momente des Glücks, aber auch die des Scheiterns. Zusammengefasst: Ich will dich!«
»Ähm... Dito!«, meinte Floyd überwältigt.
»Dann darf ich jetzt duschen gehen?«
»Dürfen? Junge, du solltest dich mal riechen.«
Jason ging duschen und ließ einen noch etwas glücklicheren Floyd zurück. In dieser Wolke 7 Stimmung begann sich Floyd in Jasons Schlafzimmer umzusehen. Als er den Raum das erste mal betrat, war sein Interesse eher gegen Jason gerichtet. Im Rückblick war Floyd erstaunt, dass ihm überhaupt die Felldecke aufgefallen war. Der Raum war geräumig, aber nicht übermäßig groß. Erneut musste Floyd feststellen, dass es ein Privileg war, auf einem Tiefraumforschungsschiff wie der Hyperion Dienst tun zu können. Kein anderes Schiff bot der Privatsphäre so viel Raum und Gestaltungsmöglichkeiten, wie dieses Schiff. Jason hatte den Raum genutzt, um ein sehr persönliches Bild von sich zu zeichnen. In einer Ecke stand ein Gestell, das die abstrakte Form eines Mannes wiedergab. Diese Art Kleiderpuppe war an sich nicht spektakulär, bestand sie primär aus schwarzen Metallstreben und ebenso dunkel gepolsterten Auflagen. Das Gestell selbst sollte nicht im Vordergrund stehen, sondern die Dinge, mit denen es behängt war, was diese auch taten. Vor Floyds Augen präsentierte sich eine authentische indianische Bekleidung. Es begann am unteren Ende mit einem Paar Mokassins, ging über zu Wildlederbeinlingen, einem passenden Lendenschurz, ebenfalls aus Wildleder und einem am Gürtel der Beinlinge befestigten Medizinbeutel. Doch die wirklichen Eyecatcher befanden sich oberhalb der Gürtellinie. Auf der stilisierten Brust des Gestells ruhte ein spektakulärer Brustschmuck aus Hirschlederbändern und Bone-Hairpipes. Abgerundet wurde das ganze von einem einfachen, aber deswegen kaum weniger beeindruckenden Federschmuck. Drei Adlerfedern und ein ledernes Stirnband war alles.
»Ah, bewunderst du mein Alter-Ego?«, hörte Floyd Jason fragen.
»Alter Ego?«
Jason ging zu Floyd und ließ seine Hände über die indianische Kleidung gleiten.
»Diese Kleidung ist keine Dekoration. Sie gehört zu mir wie Anzug und Krawatte oder Raumflugkombination und Stasisanzug. Ich lebe mehr oder weniger in zwei Welten. Dies hier erinnert mich daran, wo meine Wurzeln sind.«
Floyd ertappte sich bei dem wenig keuschen Gedanken, wie geil Jason wohl als wilder Krieger aussah, vielleicht noch mit etwas Kriegsbemalung im Gesicht. Pflichtgemäß schaltete sich sofort sein schlechtes Gewissen ein. Wie konnte er nur auf die Idee kommen, das ethnische Erbe als profanen Sexfetisch zu betrachten und damit seinen Geliebten auf ein Objekt zu reduzieren? Floyd schämte sich und Jason begann zu lachen.
»Oh, bitte, Floyd!«, grinste die Rothaut, »Vergiss doch einmal deine moralische Konditionierung. Du bist ja schon krankhaft politisch korrekt.«
»Hast du meine Gedanken gelesen?«
»Nein, weißer Mann, dein schlechtes Gewissen steht dir überdeutlich ins Gesicht geschrieben. Soll ich dir ein Geheimnis verraten? Rate mal, warum der Brustschmuck aussieht, wie er aussieht? Er soll Attraktivität verleihen, die Potenz und Stärke seines Trägers unterstreichen. Warum trägt man ihn wohl auf nackter Haut? Ich weiß, wie geil ein Kerl in diesen Klamotten aussehen kann. Du solltest Otis mal sehen.«
»Otis?«
»Schon vergessen? Otis und ich sind auf besondere Weise miteinander verbunden. Obwohl er ein Weißer ist, ist er auch ein Mitglied, sogar ein Medizinmann meines Stammes und damit unseren Gesetzen und Regeln verpflichtet. Er trägt ebenfalls unsere traditionelle Kleidung und er trägt sie mit Stolz.«
»Junge, du gibst mir einiges zu verdauen. Neben dir komm ich mir wie ein Langweiler vor.«
Diese Bemerkung trieb Zornesfalten auf Jasons Stirn, regelrecht wütend packte er Floyd an der Schulter: »Du bist kein Langweiler! Fang erst gar nicht an, auf so einen Minderwertigkeitstrip zu gehen. Du besitzt eine sehr komplexe und vielschichtige Persönlichkeit. Es gibt so viele Dinge an dir, um die ich dich beneide.«
»Ich... Ich hab' das so nicht gemeint. Es ist nur, dass ich mich seit Tylers Tod nie wieder jemandem so nahe gefühlt habe, wie dir. Es ist ungewohnt und ein wenig Angst einflößend.«
»Glaubst du, mir geht es anders?«, Jasons Handinnenfläche legte sich vorsichtig an Floyds Wange, »Die Beziehung zu Quentin war zwar geil, aber primär ein emotionaler Albtraum. Ficken oder streiten, etwas anderes gab es für uns nicht. Also haben wir die Sache beendet und ich mir eigentlich geschworen, erst mal keine neue Beziehung einzugehen. Tja und dann bist du aufgekreuzt und hast meine ehernen Vorsätze hinweggefegt. Es geht mir so wie dir. Ich fühle mich dir so nah, wie ich mich noch nie jemandem nah gefühlt habe. Du hast recht. Das ist Angst einflößend, allerdings habe ich mir schon als Kind vorgenommen, mir von meinen Ängsten nicht meine Handlungen diktieren zu lassen.«
Jason hatte recht. Floyd stimmte jedem Satz seines Freundes rückhaltlos zu. Selbstverständlich war es ein Risiko, sich in eine Beziehung zu stürzen. Man gab seine emotionale Deckung auf, öffnete sich jemand anderem und wurde dadurch natürlich auch verletzlich. Aber war nicht genau das das Wesen einer Liebesbeziehung? Sich mit dem den man liebte zu teilen? Floyd angelte nach Jasons Oberkörper, umarmte ihn und zog ihn zu sich heran. Die beiden nackten Körper berührten sich und tauschten ihre Wärme aus. Dabei ging es nicht um Sex, sondern einfach nur um Zuneigung und Liebe. Man küsste sich, mehr passierte nicht. Jedenfalls nicht körperlich, seelisch war es ein Augenöffner. Nachdem sich Floyd und Jason wieder trennten, strahlten sie sich einfach nur glücklich an.
»Ähm, ich glaube, wir sollten uns langsam mal anziehen.«, fand Jason als erstes seine Sprache wieder.
»Prinzipiell eine gute Idee, nur habe ich nichts zum anziehen außer meinen verschwitzten Sportklamotten.«
Jason betrachtete sich und Floyd im Wandspiegel seines Schlafzimmers und schüttelte nach ein paar Sekunden den Kopf.
»Nee, das wird nichts.«, verkündete er, »Ich überlegte, ob dir meine Klamotten passen könnten, aber dafür sind wir einfach zu unterschiedlich gebaut. Naja, du bist der Captain. Du könntest natürlich so wie du bist deine Kabine aufsuchen. Kein Mannschaftsmitglied würde es wagen, dich darauf anzusprechen.«
»Hast du noch andere tolle Ideen dieser Art?«, knurrte Floyd, den es ärgerte, nicht an frische Kleidung gedacht zu haben.
»Du könntest mir natürlich auch einfach deinen Türcode geben. Meiner lautet 636727. Ich nehme mal an, dass ich dich jetzt öfters bei mir sehen werde.«
»227188«, erwiderte Floyd, »Du solltest dir aber etwas überziehen. Sonst denkt noch jemand, unsere Rothaut ist auf dem Kriegspfad.«
Jason kicherte: »Es macht dich an, oder?«
»Ja, ziemlich. Ich hätte das nicht gedacht, aber du machst mich total an.«
»Sehr gut!«, erwiderte Jason zufrieden und begann sich anzuziehen. Floyd musste grinsen. Sein Freund war eitel. Slip und Muskelshirt fielen in die Kategorie körperbetonend. Die Raumflugkombi hing auch nicht gerade wie ein Kartoffelsack am Mann. Nachdem der Chefinformatiker seine Stiefel angezogen und geschlossen hatte, derartiges Schuhwerk war auf Raumschiffen Standard, meinte er: »Gut, dann werd ich dir mal was zur Bedeckung deiner Blöße organisieren.«
Jason verließ seine Kabine, was Floyd erneut etwas Zeit gab, sich umzusehen. Er wanderte umher, schaute sich die Bilder und Gegenstände an, mit denen Jason seinen privaten Räumlichkeiten seine persönliche Note verliehen hatte, und ließ sie auf sich wirken. Sein Freund hatte recht, er lebte wirklich in zwei Welten. Indianisches Kunsthandwerk paarte sich harmonisch mit zeitgenössischer Malerei. Offenbar hatte Jason eine Vorliebe für den postkonstruktiven Neokubismus, was gleichzeitig interessant und konsequent war. Die abstrakten Formen der indianischen Beadworks fanden sich tatsächlich in der strengen Konstruktion der Gemälde wieder. Was Floyd besonders beeindruckte, war Jasons Begabung nicht in Kitsch oder Schwülstigkeit abzudriften.
»So, hier!«, rief Jason mit einem Berg Kleidung in den Armen, »Wenn du unbedingt deinen geilen Körper verhüllen willst, hier hast du das passende Material dafür.«
Auf diese Bemerkung konnte Floyd nur amüsiert mit dem Kopf schütteln. Unter den lüsternen Blicken seines Freundes zog er sich an, wobei ein klein wenig aufreizende Show nicht fehlen durfte. Schließlich war man fertig und vorzeigefähig. Gut gelaunt und sich gegenseitig aufziehend, strebte man der Offiziersmesse zu, um die inzwischen laut knurrenden Mägen zu befrieden.
Wenn man auf einen verwaisten Speisesaal gehofft hatte, wurde man enttäuscht. Obwohl gerade einmal halb fünf Raumflugstandardzeit war die Messe gut besucht. Insbesondere war die ganze Gang um Otis, Quentin und Ulysses anwesend, die gerade einen Kaffee schlürfte.
»Na wen haben wir denn da?«, rief Max, »Kommt, setzt euch zu uns. Wir haben euch schon vermisst.«
»Vermisst?«
»Ihr seid vorgestern aus dem Fitnessraum verschwunden und wurdet seitdem nicht mehr... Moment... Ähm...«, Otis stoppte, musterte Jason, begann zu grinsen, biss sich auf die Lippen und schüttelte zufrieden den Kopf.
»Was?«, sprang sofort Quentin an und wechselte seinen Blick zwischen Otis und Jason hin und her, »Könntet ihr euch mal wie normale Menschen unterhalten? Was ist mit Jason? Wo... Oh!«
Quentins Augen wurden groß, einen Moment wirkte er verstört, dann brach sich ein fieses, breites Grinsen Bahn, »Jason, Baby, hast du ihn also geknackt!«
Weder Jason noch Floyd gaben einen Kommentar ab. Alles was sie taten war sehr hintersinnig mit den Augenbrauen zu zucken. Diese Reaktion brachte wiederum Max, Ulysses und Ronald auf den Plan, die noch nicht begriffen hatten, worum es bei der Unterhaltung zwischen den vier Männern eigentlich ging. Natürlich war es Großmaul Quentin, der sich gemüßigt sah, jedermann ins Bild zu setzten und dabei seinen eigenen plakativen Stil pflegte.
»Schaut euch doch einfach mal die Gesichter der beiden bösen Jungs an.«, begann er, um Floyds und Jasons Verlegenheit maximal auszukosten, »Woran erinnert euch das?«
»Ähm, weiß nicht.«, gestand Ron und schaute noch ein paar Grad ratloser drein, »Wonach sehen sie aus?«
»Sie sehen aus, wie du aussehen würdest, wenn es dir endlich gelänge, Sybill flachzulegen?«, rief Quentin, »Die beiden sehen sowas nach gutem, altem, geilem Sex aus, dass ich allein davon 'ne Latte bekomme.«
»Quatsch!«, schüttelte Ulysses den Kopf, »Das würde ja bedeuten, dass unser Captain schw... Oh!«
Der Groschen fiel langsam, aber er fiel. Drei weitere Augenpaare richteten sich auf zwei Rothäute, nur eine war es von Geburt.
»Floyd, du bist ein Arschloch!«, lachte Otis plötzlich auf, »Auf meine Frage, ob du einer dieser Komisköpfe wärst, die Schwule am liebsten aus der nächsten Luftschleuse werfen würden mit ›Nein, nicht wirklich.‹ zu antworten, war wirklich frech.«
»Wieso? Ich habe nur die Wahrheit gesagt.«, erwiderte Floyd mit Unschuldsmiene.
»Jaja.«, grummelte Otis gespielt säuerlich, »Ist es denn wenigsten was ernstes?«
Auf diese Frage schauten sich Floyd und Jason erstmal an, verzogen ihre Münder zu einem Lächeln und nickten.
»Ziemlich ernst, ja.«
Für alle am Tisch völlig unerwartet sprang Quentin auf, stürmte auf Jason zu, zog ihn aus seinem Stuhl, umarmte ihn und gab ihm zur Verwunderung aller Anwesenden einen Kuss auf die Stirn.
»Du verdammte, psionische Rothaut. Du weißt, wie gern ich mit dir in die Kiste gestiegen bin. Shit, der Sex war nie unser Problem. Bei allen unseren Streitereien, unseren Kämpfen, wollte ich immer nur, dass du glücklich bist. Jetzt ist mir klar geworden, wo mein Fehler war. Ich war der falsche Mann. Jason, ich bin glücklich, dass du endlich den richtigen gefunden hast. Ich wünsch dir alles Glück der Welt.«, und an Floyd gewandt, »Sollte ich erfahren, dass du mein Baby schlecht behandelst, breche ich dir jeden einzelnen Knochen im Körper. Captain oder nicht, das ist es mir wert, notfalls auch ohne Raumanzug durch die Luftschleuse zu wandern.«
Quentins kleine Rede hinterließ allgemeine Sprachlosigkeit. Er zählte mit Abstand zu den letzten, von dem eine solche Erklärung erwartet oder gar für möglich gehalten wurde. Verschärfend kam hinzu, dass jeder, selbst die Nichttelepathen spürten, dass er jedes Wort genau so meinte, wie er es sagte.
»So, Schluss mit der Rührseligkeit.«, richtete sich Quentin auf, »Hier herrscht eine Stimmung, als wenn jemand gestorben wäre. Lasst uns auf unsere Frischverliebten unsere Milchgläser erheben und anstoßen!«
Mit diebischer Freude erhob der gesamte Tisch tatsächlich seine Gläser, die in der Tat mit frisch aufgetauter Vollmilch gefüllt waren.
»Quentin, einen Toast!«, rief Ulysses, der ganz genau wusste, was er damit heraufbeschwor.
»Einen Toast also!«, Quentin erhob sein Glas, »Auf dass ihnen das Gleitgel niemals ausgehen möge!«
Die Anwesenden berichteten später, noch nie eine derart dunkelrote Rothaut gesehen zu haben, wie zu jenem Trinkspruch.
Routenplanung
Liebe ist eine Sache, Dienstpläne eine andere. Letzteres ist ersterem meist abträglich. Es wurde zuweilen auch schon die Vermutung aufgestellt, dass Dienstpläne von Leuten erfunden wurden, die die Liebe abgrundtief hassten und ausmerzen wollten, was natürlich nicht der Wahrheit entsprach. Dienstpläne wurden von Leuten erfunden, die anderen Leuten ihre Liebe missgönnten.
Mehr oder weniger zählte das gemeinsame Frühstück mit ihren Freunden zu Floyds und Jasons letzten gemeinsamen Aktivität. Der letzte Bissen war kaum runtergeschluckt, die letzte Tasse Kaffee kaum geleert, da verlangten die Pflichten als Captain oder Chefinformatiker nach Aufmerksamkeit. Floyd musste mit seinen Brückenoffizieren die Route des nächsten Sprungblocks festlegen, während Jason zusammen mit Chief Ulysses weiter mit dem Problem der überschriebenen Lagerraumdaten beschäftigt war. Sehr widerwillig trennte man sich voneinander und wandte sich seiner jeweiligen Aufgabe zu.
»Captain, es würde wirklich helfen, wenn wir wüssten, wohin unsere Reise eigentlich geht.«, gab Otis als XO zu bedenken. Man befand sich in der stellaren Kartografie, einem großen Raum doppelter Höhe, der eine Rundumprojektion des Weltraums ermöglicht. Neben der normalen Darstellung konnte man eine Vielzahl anderer Visualisierungsvarianten wählen, um etwa Gravitationsfelder oder Strahlungsgradienten sichtbar zu machen. Schließlich wollte niemand nach einem Sprung mitten in einem Strahlungsfeld landen und dort gegrillt werden.
»Otis, nichts täte ich lieber, als das.«, seufzte Floyd, »Meine Einsatzpläne sind ebenso klar wie dubios. Unser erstes Ziel ist ein Raumpunkt außerhalb des erschlossenen Bereichs. Kommunikation mit der Erde wird also nicht mehr möglich sein. Wir sind von da an auf uns allein gestellt. Aber wie ich aus den bisherigen Missionsberichten der Hyperion weiß, ist dies für ein Tiefraumforschungsschiff absolut normal. Dafür wurde die Hyperion entworfen. Wie auch immer. Sobald wir unseren ersten Zielpunkt erreicht haben, soll uns Hyp die eigentlichen Zielkoordinaten und unseren Auftrag enthüllen. Darf ich Ihnen allen eine Frage stellen?«
»Nur zu Captain!«
»Ist eine derartige Vorgehensweise eigentlich üblich?«
Otis, der XO, schüttelte stellvertretend für alle anderen den Kopf.
»Nein, absolut nicht.«, begann er zu erklären, »Unsere bisherigen Aufträge erhielten wir immer vor dem Start. Ich weiß allerdings auch, dass andere Forschungsschiffe schon mit klassifizierten Aufträgen unterwegs waren. Dabei ging es meistens um Funde überschwerer Isotope der Insel der Stabilität, die für den Überlichtantrieb benötigt werden. Man wollte wohl verhindern, dass sich die Bergbaukonzerne erneut einen Wirtschaftskrieg liefern. Allerdings ist die Hyperion kein Lagerstättenexplorationsraumer. Wir sind ein wissenschaftliches Forschungsschiff. Ich möchte ungerne spekulieren, aber es ist offensichtlich, dass man unsere Tätigkeit geheim halten möchte.«
»Danke, Otis.«, nahm Floyd die Gesprächsleitung wieder in die Hand und zeigte auf die rote Linie, die das Kartografiesystem in den Raum projiziert hatte, »Meine Herren, dies ist der Rohentwurf unseres Kurses, den wir allerdings noch anpassen müssen. Ich möchte ungerne dem Quasar in Raumsektor 99897-112-7 zu nahe kommen. Den aktuellsten Daten zufolge sollten wir einen Sicherheitsabstand von mindesten 55 Lichtjahren einhalten, was bedeutet, dass wir in etwa 2450 Lichtjahren unseren ersten Zielpunkt erreichen sollten.«
»Ich glaube nicht. Entschuldigt bitte.«, mischte sich Lt. Commander Max Friedrich ein und wechselte die Darstellung des Raums, »Wir werden einen wesentlich weiteren Umweg einplanen müssen. Wir legen pro Sprung etwa 30 bis 40 Lichtjahre zurück. Schaut euch bitte mal diesen Raumbereich an.«
Max Friedrich zoomte einen Teilabschnitt der Route heran, der in dieser Darstellung durch eine in kräftigen Rottönen leuchtende Wolke führte. Neben der Wolke leuchteten verschiedene Zahlenkolonnen auf.
»Was ist das?«, fragte Quentin.
»Eine Strahlungswolke von 85 Lichtjahren Durchmesser. Was heißt, dass wir sie nicht mit einem Sprung durchqueren können. Damit können wir sie aber gar nicht durchqueren. Seht euch die Werte an. Sie liegen um Faktor zehn über dem Sicherheitslimit. Nach einer halben Stunde wären wir alle tot.«
»Also müssen wir die Wolke umfliegen.«, knurrte Floyd, »Um wie viel verlängert sich unserer Weg?«
»Ähm, Moment.«, Max veränderte ein paar Einstellungen und kalkulierte den Flug neu, »Etwa 450 Lichtjahre. Die Wolke ist wirklich sehr groß.«
»Shit!«, fluchte Quentin, »1900 Lichtjahre, nur um zu erfahren, wohin es eigentlich geht.«
»Wartet mal!«, rief Otis und veränderte erneut die Darstellung. Er zoomte die Strahlungswolke erneut heran, veränderte aber zusätzlich den Betrachtungswinkel, »Irre ich mich, oder gibt es dort eine Dünnstelle? Wenn ich die Daten richtig interpretiere, ist das Strahlungsfeld dort nur 24 Lichtjahre breit.«
»Guter Mann!«, lobte Quentin.
»Ok...«, äußerte sich Floyd zurückhaltend, »Rechnet das bitte nochmal durch. Dreimal. Und checkt es auch mit anderen Datenquellen. Ich habe keine Lust, mitten in einem kosmischen Mikrowellenofen zu materialisieren. Lieber Kopfschmerzen, als gegrillt zu werden.«
»Wir rechnen die Route durch, Captain.«, erwiderte Otis, ganz in der Rolle des XOs, »Wir rechnen die Abkürzung und die Alternativroute, die die Wolke umgeht. In zwei Stunden sollten wir den ausgearbeiteten Flugplan fertig haben.«
»Macht drei Stunden draus und recht einmal mehr. Gut, damit wären wir dann durch.«, löste Floyd das Briefing auf, »Ich bin in meinem Bereitschaftsraum. Nächster Sprungblock nach Plan.«
»Aye, Captain.«
Lagerstättenexplorationsraumer? Natürlich war es sinnvoll und auch übliche Praxis, Lagerstättenerkundungen diskret durchzuführen. Die großen Schürf- und Minengesellschaften galten als wenig zimperlich, ihre Claims abzustecken und schreckten auch nicht vor massiver Gewalt zurück und operierten oft hart an der Grenze zur Illegalität, manchmal, wenn auch offiziell nie nachgewiesen, auch darüber hinaus. In der Vergangenheit kam es daher mehrfach zu regelrechten Kriegen zwischen den Konzernen, wenn die konkreten Operationen zumeist von angeheuerten Söldnern durchgeführt wurden. Am Planetoiden PN-322192 drohte die Situation zu eskalieren. Der Zwergplanet verfügte über besonders reichhaltige Vorkommen des überschweren Elements Gravitonium 304, ehemals auch Unbinilium genannt, einem für die Singularitätenprojektoren wichtigen Stoff. Die Situation drohte zu eskalieren. Drei Konzerne prätendierten den Planetoiden unabhängig voneinander für sich und drohten jedem anderen, der sich ihm näherte oder gar versuchte, auf ihm zu landen, mit letalen Konsequenzen. Der planetare Regierungsrat musste handeln. Galt es doch, einen heißen Handelskrieg zu verhindern. Sämtliche Lagerstätten wurden von beiden Parlamentskammern, dem planetaren Senat und der Staatenkammer mit knapper Mehrheit unter die Verwaltung des planetarischen Rats gestellt. Schürfrechte wurden von nun an ausgeschrieben. Natürlich rebellierten die Megakonzerne und klagten, blitzten aber auf ganzer Linie beim OPG, dem Obersten planetaren Gerichtshof, ab. Dies änderte aber nichts an der Uneinsichtigkeit der Unternehmen, die nun versuchten, mögliche Fundorte überschwerer Elemente als erstes zu melden und damit die nicht unerhebliche Fundprämie einzustreichen, was die Regierung veranlasste, Erkundungen lieber selbst und möglichst geheim durchzuführen.
Das war soweit alles bekannt und nicht wirklich neu. Nur Otis hatte recht, wenn er anmerkte, dass die Hyperion alles andere als ein Lagerstättenexplorationsraumer war. Warum also dann diese Geheimhaltung? Sie würden es noch früh genug herausfinden. Jetzt hieß es abwarten. Etwas anderes blieb auch gar nicht übrig. Die Schiffs-KI würde die Daten kein Lichtjahr früher rausrücken, als exakt am vorgegebenen ersten Zielpunkt.
»Ach, was soll's?«
Floyd zuckte mit den Schultern und schob das Datenpad mit aktuellen Statusberichten beiseite. Das war das Dumme am Job des Captains. Eigentlich hatte man kaum etwas zu tun, trug aber für alles die Verantwortung. Man sollte jetzt nicht auf den Gedanken kommen, Floyd würde bedauern, dass er Captain der Hyperion war. Ganz im Gegenteil. Er schätzte die Aufgabe. Gut, die Sache mit der vermeintlichen Verschwörung war ein wenig peinlich gewesen, besaß aber auch ihre positiven Seiten. Durch den kleinen faux pas war er seinen Offizieren und der Mannschaft deutlich näher gekommen. Ein fehlbarer Captain galt wohl als ein menschlicher Captain. Wie auch immer, das Eis war gebrochen und darauf kam es letztlich an.
Floyd musste an Jason denken, was ihm ein subtiles Lächeln auf die Lippen zauberte. Dieser Mann war ein Traum. Der Sex nicht. Der war alles andere als ein Traum. Der war verdammt real und verdammt geil.
Das ist eine Sache, die du nicht versauen darfst! Ging es Floyd durch den Kopf. Freundschaft war etwas kostbares, Liebe hingegen war jenseits von kostbar. Wenn man sie fand, musste man sie festhalten, was paradoxerweise hieß, dass man das Objekt der Liebe eben nicht festhalten durfte.
»Wow! Du hast eine Beziehung! Eine echte, geile, leidenschaftliche Beziehung!«
Floyd sprach immer noch mit sich selbst, als es an seiner Tür klingelt und Sekunden später Jason im Raum stand.
»Ich habe gerade von dir gesprochen.«, meinte Floyd.
»Tatsächlich?«, fragte Jason fröhlich, »Mit wem?«
»Mit mir. Hatte ich noch nicht erwähnt, dass ich schon ein wenig senil bin und Selbstgespräche führe?«
»Nein, noch nicht. Was hast du dir denn über mich erzählt?«
»Dass ich die Sache mit dir nicht verbocken darf.«
»Nett von dir.«, entgegnete Jason, ging zu Floyd und strich ihm verspielt eine Strähne seiner Haare aus dem Gesicht, wobei er Floyd Wange streichelte, »Du wirst die Sache nicht verbocken. Wir beide werden sie nicht verbocken. Wir sind keine 16 mehr. Wir stehen beide mit festen Beinen im Leben und kennen den Unterschied zwischen Verliebtheit und Liebe, oder?«
Floyd grunzte verächtlich: »Und ob! In den letzten Jahren habe ich mir so oft eine blutige Nase geholt, dass ich den Unterschied inzwischen recht gut kenne. Aber mal was ganz anderes, was treibt dich zu mir?«
»Die Sehnsucht?«, grinste Jason, »Eigentlich wollte ich dich fragen, ob wir am Ende deiner Wache zusammen etwas essen und später...«
»Und später?«, Floyd musste schmunzeln.
»Verbringen wir die Nacht zusammen?«, fragte Jason schüchtern, fast ängstlich, »Ich will dich nicht einengen oder zu etwas nötigen. Ich...«
»Ich würde sehr gerne die Nacht mit dir verbringen.«, unterbrach Floyd, »Obwohl es im Weltraum eigentlich immer Nacht ist.«
»Oh, du und deine verfluchte Sachlichkeit!«, lachte Jason erleichtert und befand sich bereits auf dem Weg zu Tür, als er plötzlich umkehrte und sich gegen die Stirn schlug, »Shit, jetzt hätte ich fast vergessen, was ich eigentlich erzählen wollte. Ulysses und ich kommen ganz gut mit der Rekonstruktion der Schiffstopologiedaten voran. Erinnere mich bitte daran, nach unserer Rückkehr zur Erde dem Arsch von einem Wartungstechniker kräftig in den selbigen zu treten. Der Typ hat ganze Arbeit geleistet. Es wird bestimmt noch drei Sprungblöcke dauern, bis wir die Lagerräume wieder nutzen können.«
»Ich setz es ganz oben auf meine ToDo-Liste.«
»Du bist ein Schatz! Wir sehen uns später!«, Jason war weg und ließ einen glücklich dreinschauenden Captain zurück. Ein Schatz genannt zu werden, war süß. Frisch motiviert wandte sich Floyd ein paar Berichten zu, die ebenso überflüssig, wie langweilig waren. Leider schrieben die Flottenregeln vor, dass der Captain jeden einzelnen lesen und abzeichnen musste. Bürokraten konnten in diesen Dingen sehr kleinlich und ausgesprochen nachtragend sein. Floyd wäre nicht der erste Captain, der über das Berichtswesen gestrauchelt wäre. Nicht umsonst lautete eine alte Flottenregel, dass man zwar ungeschoren die Tochter des Vorsitzenden des Generalstabs schwängern konnte, während nicht ordnungsgemäß bearbeitete Verbrauchsprotokolle von Klopapier einen direkt vors Kriegsgericht brachten.
Eindreiviertel Stunden später tauchte Floyds XO mit dem überarbeiteten Flugplan auf.
»Wir haben die Route insgesamt fünfmal durchgerechnet und sind jedes Mal zum gleichen Ergebnis gekommen. Das Strahlungsfeld zu umfliegen kostet uns minimal 450 Lichtjahre, aber auch nur dann, wenn wir den Kurs sehr dicht anlegen. Wir liegen dann aber bereits sehr knapp an der oberen Sicherheitsgrenze. Allerdings gibt es tatsächlich eine Dünnstelle, an der sich das Strahlungsfeld einstülpt. Sie ist elliptisch geformt. Der Strahlungspegel liegt in dieser Region im akzeptablen Bereich. Ich würde dort zwar nicht meinen Urlaub verbringen wollen, aber so lange wollen wir uns dort auch gar nicht aufhalten. Das ganze ist etwa ein mal einhalb Lichtjahre breit und hoch und rund 24 Lichtjahre tief, sodass wir es in einem Sprung überwinden könnten.«
»Mit anderen Worten, der Kurs ist die offizielle Empfehlung meines XOs?«, fragte Floyd prüfend.
»Ja Captain!«, erwiderte Otis formell, um anschließend wieder locker zu werden, »Wir sparen 450 Lichtjahre. Rechne das mal in vermiedene Kopfschmerzen um!«
»Schon gut, schon gut. Du hast mich ja überzeugt.«, wehrte Floyd ab, »Schauen wir uns den Kurs zusammen nochmal an. Wenn er ok ist, bin ich der letzte der Nein sagt.«
Wie nicht anders zu erwarten, war die Kursberechnung ohne Fehl und Tadel. Otis hatte zusammen mit Quentin einen mustergültigen Kurs berechnet. Alle denkbaren Parameter waren eingearbeitet und alle zu erwartenden Eventualitäten berücksichtigt worden. Floyd war zufrieden. Die Aussicht, 450 Lichtjahre einzusparen, klang wirklich verlockend.
»Tja, ich sehe keinen Fehler. Der Kurs ist soweit akzeptiert. Wie ich aber sehe, kommen wir vor dem entscheidenden Sprung dem Strahlungsfeld recht nahe. Ich möchte, dass Schiff, Besatzung und Passagiere darauf vorbereitet sind, möglicherweise einem Strahlenschutzprotokoll zu folgen. Die ausgewiesenen Schutzräume sollten alle voll einsatzbereit sein. Lass bitte auch die Antistrahlenmedis in den Räumen überprüfen. Nenn mich meinetwegen pingelig und engstirnig. Aber ich traue Wartungstechnikern, die falsche Softwareupdates einspielen und dabei reihenweise Lagerräume löschen nicht unbedingt zu, die Verfallsdaten von Strahlennotfallpacks zu überprüfen.«
»Ähm...«, räusperte sich Otis verlegen, »Ich glaube zwar, dass du ein wenig zu schwarz siehst, aber ich werde alles prüfen lassen. Das Schiff wird rechtzeitig bereit sein.«
»Gut, damit wären wir wohl durch.«, meinte Floyd, zögerte einen Moment und fuhr dann fort, »Darf ich dich etwas privates fragen?«
»Nur zu.«, erwiderte Otis, »Vermute ich richtig, dass es um Jason und dich geht?«
»Ähm, ja und nein. Ich wollte dich etwas in deiner Funktion als XO fragen.«, die Frage war ein wenig heikel, »Otis, wie steht die Crew dazu, einen schwulen Captain zu haben? Ich geh mal davon aus, dass in einer Blechdose, wie unserem Raumschiff die Neuigkeit keine mehr ist und jeder von Jason und mir inzwischen Bescheid weiß. Du kennst die Vorbehalte der Flottenführung. Es gibt ja immer noch diese Vorurteile...«
»Floyd, entspann dich!«, unterbrach Otis, »Als dein XO sage ich dir, dass die sexuelle Orientierung des Captains der Hyperion weder für die Offiziere noch die Mannschaft ein Problem darstellt. Wenn man einmal davon absieht, dass uns die Sache eh nichts angeht. Inoffiziell kannst du ebenfalls entspannt sein. Es gibt zwar den einen oder anderen, der die Nase rümpft, aber engstirnige Spinner gibt es überall. Im Großen und Ganzen ist es den Leuten egal. Ein paar finden es süß, dass dich die Rothaut geknackt hat. Es gibt sogar ein paar, die euch beneiden. Mich darfst du übrigens zur Kategorie derer zählen, die sich für euch freuen. Ich glaube, ihr passt sehr gut zusammen. Du weißt es vielleicht nicht, aber du verfügst über starke Medizin.«
»Was?«, Floyds Miene war ein einziges Fragezeichen, bis ihm klar wurde, was sein XO meinte, »Ich habe ganz vergessen, dass du ein Stammesmitglied Jasons bist.«
»Das klingt so abstrakt.«, erwiderte Otis, »Aber es stimmt, wenn es auch ein wenig komplizierter ist. Wie kann ich es dir am besten erklären? Vielleicht so... In vielfacher Hinsicht bin ich Jasons Spiegelbild, gleich, aber mit umgekehrter Händigkeit. Jason ist ein amerikanischer Ureinwohner, der ebenfalls in der unseren westlich wissenschaftlich geprägten Welt lebt. Ich wiederum komme aus dem westlichen Kulturkreis, lebe seit meiner Jungend aber ebenfalls in der Welt Jasons. Unser Stamm sieht uns genau so, wenn ich weiß bin, ist Jason schwarz oder auch umgekehrt. Wir sind der Gegensatz, der den Ausgleich schafft. Das dürfte für dich alles ein wenig verquast und esoterisch klingen.«
»Ähm, nun ja.«, erwiderte Floyd, »Ich gebe zu, dass das alles ein wenig verwirrend klingt und mich auch beunruhigt. Ich habe Angst, durch eine blöde Bemerkung oder aus Versehen Jasons Gefühle zu verletzen.«
»Dich macht der wilde Kerl richtig an und das ist dir peinlich, oder?«, hakte Otis nach, was bei Floyd nicken ließ. Otis lachte und fuhr fort: »Dann bist du der alten Eidechse voll auf den Leim gegangen. Mach dir bloß keinen Kopf darüber, dass dich seine wilde Erscheinung anmacht. Jason kokettiert damit. Du hast seinen Kleiderständer gesehen? Natürlich hast du. Was Jason dazu sagt, stimmt schon. Die Sachen sind Teil unserer Kultur und werden zu zeremoniellen Anlässen getragen. Allerdings legt Jason schon extrem viel Wert darauf, in diesen Klamotten eine verdammt geile Figur zu machen. Junge. Wenn er das Zeug trägt, macht er mich selbst als Hetero an. Du solltest also keinen Gedanken daran verschwenden, ob es nun politisch korrekt ist, unseren amerikanischen Ureinwohner deswegen geil zu finden, weil er wie ein amerikanischer Ureinwohner aussieht.«
»Ok...«, erwiderte Floyd zögernd. Otis Worte klangen vernünftig, doch ein klein wenig schlechtes Gewissen blieb trotzdem zurück. Auf der Akademie wurde jedem Offiziersanwärter eingetrichtert, ein Vorbild zu sein, was eben hieß, sich immer und jederzeit politisch absolut korrekt zu verhalten. Soetwas legt man nicht in wenigen Minuten ab.
»Jason mag dich.«, begann Otis, nachdem Floyd in Schweigen verfallen war, »Er mag dich sogar sehr. Du musst ihn ziemlich beeindruckt haben. Ich habe meinen Freund selten so zufrieden erlebt. Du weißt ja, dass wir beide, Jason und ich, psionisch miteinander verbunden sind. Ich kann fühlen, dass die alte Rothaut sehr glücklich ist. Dir wiederum kann man es an der Nase ablesen.«
Floyd sagte weiterhin nichts sondern lächelte nur versonnen. Sein XO hatte recht. Er fühlte sich in der Tat sehr glücklich.
»Captain Grant,«, ergriff Senator Ruyki Nagano das Wort, »wenn ich Ihren Bericht richtig verstanden habe, stellt die Querung eines Strahlungsfeldes eine nicht unerhebliche Gefahr für Schiff und Besatzung dar.«
»War das eine Frage?«, fragte Floyd mit ausgesuchter Höflichkeit.
»Ich will es anders formulieren. Warum wählten Sie eine Route aus, mit der Sie sich und alle anderen Personen an Bord einer potenziell tödlichen Gefahr aussetzten?«
»Die ganze Raumfahrt ist an und für sich gefährlich.«, entgegnete Floyd ruhig, »Der Weltraum ist ein lebensfeindlicher, sogar absolut tödlicher Ort. Die Temperatur liegt mit 250 Grad Celsius nur knapp über dem absoluten Nullpunkt. Es gibt keine Atmosphäre, dafür aber massenweise tödliche Strahlung. Mit anderen Worten: Um uns im Weltraum aufhalten zu können oder ihn gar zu durchqueren, müssen wir einen immensen Aufwand treiben. Senator, haben Sie sich ein Raumschiff der DSRS-Klasse einmal angesehen? Die Hyperion ist viereinhalb Kilometer lang. Alleine Antriebe, Energiegewinnung und Lebenserhaltung nehmen gut ein Drittel des zur Verfügung stehenden Volumens ein. Jedes Mal, wenn wir die schützende und lebenserhaltende Atmosphäre unserer Erde verlassen, begeben wir uns in Gefahr. Das ist die Realität der Raumfahrt.«
»Captain Grant, ich bin durchaus mit den Realitäten der Raumfahrt vertraut.«, knurrte Senator Nagano gereizt, »Unterlassen Sie es bitte, uns mit Plattitüden abzuspeisen. Aber gut, ich werde meine Frage etwas konkreter formulieren: Könnte es nicht sein, dass Sie dem Risiko der Querung einer Strahlungswolke deswegen nicht die notwendige Beachtung geschenkt haben, weil Sie mit Ihren Gedanken ganz wo anders waren?«
Floyd schüttelte amüsiert den Kopf: »Sie glauben ernsthaft, ich hätte meinen Job als Captain vernachlässigt, weil ich mich auf die Beziehung zu singende Eidechse konzentrierte?«
»Dieser Eindruck drängte sich mir auf, ja!«, bestätigte Senator Nagano selbstzufrieden. Floyd spürte, wie sich fünf Augenpaare auf ihn konzentrierten. Wollte man ihm ein Versagen als Führungsoffizier unterstellen? Floyd wusste es nicht, es war ihm aber auch egal. Er wusste, was er getan hatte und dies sollte der Ausschuss auch erfahren.
»Jeder Überlichtsprung stellt eine nicht unerhebliche Gefahr für Leib und Seele dar. Ich weiß nicht, wie weit die Erfahrungen der ehrenwerten Mitglieder dieses Ausschusses reichen. Ohne deswegen respektlos erscheinen zu wollen, nehme ich an, dass, von Vizeadmiral Henderson einmal abgesehen, niemand von Ihnen an Sprüngen an Bord von militärischen beziehungsweise wissenschaftlichen Raumschiffen teilgenommen haben. Kommerzielle Raumflüge springen selten weiter als 5 Lichtjahre, was keine oder nur geringe Auswirkungen auf Besatzung und Passagiere hat. Geschäftsleute schätzen keinen FTL-Kater und nehmen etwas längere Reisezeiten gerne in Kauf. Auf Forschungsschiffen, insbesondere bei Reisen in den Tiefraum, müssen wir mehrere tausend Lichtjahre zurücklegen, bevor wir unsere Ziele erreichen. Da diese Expeditionen nicht mehrere Jahre benötigen sollen, sind wir gezwungen, sehr anspruchsvolle Sprungfolgen in Form von Sprunggruppen und Sprungblöcken durchzuführen. Senator, Sie unterstellen, ich war mit meinen Gedanken bei ganz anderen Themen, als ich den abkürzenden Sprung durch die Strahlungswolke autorisierte. Ich widerspreche Ihnen. Das Gegenteil war der Fall. Eine Chance, 450 Lichtjahre einsparen zu können, lasse ich mir als Captain eines DSRS nicht entgehen. Sicher, ein Strahlungsfeld stellt eine Gefahr dar, dies täten die rund 30 Sprünge, die die 450 Lichtjahre benötigt hätten aber auch. Meine Aufgabe war es, beide Risiken zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. Nach allen mir vorliegenden Daten überwogen die Vorteile. Die Risiken waren demnach vernachlässigbar.«
Erneut griff Senator Waterman zu einer Datenfolie. Nachdem er sich lautstark räusperte, wandte er sich an Senator Nagano: »Ja, ähm, Senator, vielleicht sollten wir nicht unerwähnt lassen, dass die kartografische Abteilung der Flottenakademie die Einschätzung Captain Floyds teilt. Nach den der Besatzung der Hyperion vorliegenden Daten sprach nichts gegen eine Querung der Strahlungswolke. Ganz im Gegenteil betrachtet man Captain Floyds Kurs als den, den jeder erfahrene Schiffsführer gewählt hätte.«
Nagano schnaubte und machte damit deutlich, dass ihm weder Floyds Antwort noch die Beurteilung der Akademie gefiel: »Nun gut. Ich akzeptiere Ihre Argumente. Es mag sein, dass der Kurs als richtig erschien. Nur wissen wir alle, dass er es nicht war, oder?«
Eisschrank
Zum Leidwesen der gesamten Besatzung der Hyperion ging auch die zweite große Pause zwischen den Sprungblöcken von 168 Stunden schließlich zu Ende. Die erste Sequenz der dritten Einheit stand bevor. Die Vorbereitungen liefen bereits auf Hochtouren. Jason und Floyd hatten die letzten Nächte miteinander verbracht, wobei sie sich bei den Kabinen abwechselten. Floyd fand es albern, doch Jason meinte, dass man sich so besser kennenlernen könnte. Obwohl er Floyds Kajüte bereits von seinem ersten Besuch, bei dem er die Anwendung des Stasisanzugs erklärt hatte, kannte, war er neugierig, wie sein Freund lebte. Nach seiner Überzeugung konnte man aus der Art, wie jemand wohnte, eine Menge über die Person erfahren.
Obwohl Floyd erst mit Beginn der aktuellen Mission an Bord kam, konnte man bereits einen gewissen Stil bei der Einrichtung erkennen. Der neue Captain mochte es aufgeräumt, aber nicht pedantisch. Man sah, dass die Räume bewohnt waren. Floyd schien kontrastreiche Farben zu schätzen. Mit der Erfindung der organoelektrischen Wandfarbe Anfang des 21. Jahrhunderts hatten konventionelle Anstriche ausgedient. Ein Griff zum Raumcontroller reichte, um aus weißen Wänden lindgrüne zu machen. Ein burgunderroter Salon? Zwei Tastendrücke genügten. Floyds Arbeitszimmer schimmerte in einem matten und sehr warmen Dunkelrot. Jason war von Floyd Stil überrascht und bekam prompt ein schlechtes Gewissen, seinen Freund und Geliebten falsch eingeschätzt zu haben. Spätestens als er Floyds Büchersammlung entdeckte, war er sprachlos. Der Captain der Hyperion frönte dem Laster, sich echte Bücher zu gönnen. Niemand las noch in Büchern aus Papier. Floyd schon. Und er las gerne. Völlig unerwartet fand sich Jason in einer Bibliothek wieder. Floyd hatte einen seiner Räume vom Schiffssystem mit Regalen versehen lassen, um seine umfangreiche Sammlung unterbringen zu können. Den einen oder anderen mochte es überraschen, derartiges auf ein Raumschiff mitzunehmen, doch Floyd sagte sich, wenn nicht auf das Schiff, wohin denn sonst? Er lebte auf der Hyperion. Sie war ein viel realeres zu Hause, als seine Wohnung auf der Erde, die er in den letzten drei Jahren vielleicht für sechs Wochen bewohnt hatte. Was Floyd lieb und teuer war, reiste mit ihm. Insbesondere seine Bücher.
»Dir ist schon klar, dass du jeden Titel auch im Schiffscomputer finden kannst?«, fragte Jason Floyd, während er sich in der Bibliothek umsah.
Floyd ging nicht direkt auf Jasons Frage ein, sondern zeigte auf die Regale: »Nimm dir ein Buch.«, forderte er seinen Freund auf. Jason folgte der Aufforderung und griff sich aufs Gratwohl ein Buch.
»Hm, Sartre?«, Jason zeigte sich überrascht, schaute auf die andern Bücher des Fachs und stellte fest, dass sich ein Philosoph an den anderen reihte, »Hegel, Kant, Kierkegaard, Sokrates, Morus, Marx... Hast du die alle gelesen?«
Floyd nickte: »Philosophie ist sehr stimulierend. Wenn ich auch manche Denkweise nicht teile, hilft es mir, mich in andere Positionen hineinzudenken. Obwohl Marx sicherlich keine Bettlektüre ist. Aber zu deiner Frage. Ja, ich habe alle Bücher gelesen. Naja, fast alle.«
»Ich glaube, dass es jetzt an mir ist, mich bei dir zu entschuldigen.«, meinte Jason nachdenklich und studierte weitere Buchrücken. Mit jedem Titel staunte Jason mehr.
»Warum solltest du dies tun?«
»Ehrliche Antwort?«, fragte Jason peinlich berührt, »Ich hab dich wohl ein wenig unterschätzt.«
Floyd lachte, ging auf Jason zu und zog ihn zu sich heran.
»Wie? Überrascht, dass der dumme Footballjock lesen kann?«
»Nein!«, verteidigte sich Jason sofort, um dann verlegen zuzugeben: »Ok, du hast recht. Ich hab' dich wirklich nicht für eine Leseratte gehalten.«
»Dann sind wir was Vorurteile betrifft wohl quitt.«, erwiderte Floyd, während er seinen Liebling fest in seinen Armen hielt, »Ich glaube, die Sache mit dem schlechten Gewissen sollten wir besser lassen.«
»Dann verrate mir aber trotzdem, warum dir ausgerechnet Bücher so wichtig sind. Wie gesagt, du kannst jeden Band im Schiffscomputer nachschlagen.«
Jason war wirklich auf Floyds Antwort gespannt. Echte Bücher aus Papier hatten etwas nostalgisches. Wer nicht am Bildschirm lesen wollte, griff zum Datenpad oder verwendete eine elektronische Schriftfolie. Gedruckte Bücher sah man nur noch in einigen spezialisierten Bibliotheken. Oder im Haus meines Großvaters! Jason fiel plötzlich wieder ein, dass sein Großvater sogar über sehr große Privatbibliothek verfügte. Seine Bücher lagen überall herum. Sie stapelten sich auf seinem Schreibtisch, den Stühlen und Regalen.
»Bitte halte mich nicht für verrückt, aber ich bin der Überzeugung, dass man zum Inhalt eines Texts, eines Werks einen ganz anderen Zugang erhält, wenn man ihn als gedrucktes Buch in seinen Händen hält. Natürlich sind es die gleichen Buchstaben, die gleichen Worte, die du auf einem Bildschirm oder einer Datenfolie lesen kannst, doch trotzdem, es ist etwas anderes.«
»Ich halte dich nicht für verrückt.«, erwiderte Jason, »Mein Großvater hat es Zeit seines Lebens vermieden, Texte am Computer zu lesen. Er hat sich manche Werke sogar extra ausdrucken lassen. Du solltest seine Sammlung mal sehen. Ich glaube, ihr zwei werdet euch ziemlich gut verstehen. Opa sagt auch immer, dass Bücher eine Seele haben.«
»Dann also wieder Überlichtsprünge.«, knurrte Jason. Beide Männer lagen noch im Bett. Floyd war damit beschäftigt, mit Jasons Brustpiercing zu spielen. Die Stifte aus poliertem Horn in Jasons Brust hatten eine magische Anziehungskraft bei Floyd entwickelt. »Springen, Kopfschmerzen, warten auf den nächsten Sprung, wieder springen, wieder Kopfschmerzen. Ich hasse den Überlichtflug.«
»Wer hasst ihn nicht?«, gab Floyd zu bedenken und zupfte verspielt an Jasons Nippeln, »Auf der anderen Seite bringt uns die Überlichtspringerei ans Ziel. Mir gehen die Kopfschmerzen ebenfalls auf den Senkel. Aber neben dir aufzuwachen, entschädigt für vieles.«
Floyd streckte und reckte sich, gab Jason noch je einen Kuss auf die linke und rechte gepiercte Brustwarze und auf den Mund, schließlich erhob er sich und kletterte aus dem Bett.
»Ich muss dann wohl langsam mal auf die Brücke.«, meinte Floyd mit einem Ausdruck des Bedauerns in der Stimme.
»Shit, du hast recht.«, Jason verließ ebenfalls die Spiel- und Kuschelwiese, »Da wartet eine Pre-FTL-Flight Checkliste auf Hyp und mich. Unsere Schiffs-KI ist sehr quengelig, was das Einhalten von Checklisten betrifft.«
»Wo arbeitest du? Im Informatiklabor?«
»Ach, schau an. Seit wann interessiert sich denn unser Captain für die Arbeitsumgebung seiner Technikhiwis?«, zog Jason Floyd auf, »Aber wenn du es genau wissen willst. Ich verbringe die Sprünge direkt im Kernknoten.«
Diese Antwort überraschte Floyd: »Du kletterst in den Kern? Da herrschen, wenn ich richtig informiert bin, minus 200 Grad Celsius. Warum?«
»Du bist sogar sehr gut informiert.«, erwiderte Jason, »Die -197 Grad sind kein Problem. In meinem Isoanzug ist es kuschelig warm. Warum? Hey, ich bin Wissenschafter und Forscher. Wie lange brauchen die Schiffssysteme, um nach einem Sprung zu booten? Je nach Priorität 90 bis 300 Sekunden. Zwei Minuten ohne Schiffs-KI ist eine verdammt lange Zeit. Deswegen arbeite ich an einem Forschungsprojekt, das das Ziel verfolgt, die Bootzeit drastisch zu verkürzen. Meine Studenten und ich peilen an, die Bootzeit auf unter 30 Sekunden zu drücken. Kernsysteme sollen in knapp 10 Sekunden wieder anlaufen. Nun, für diese Sache brauche ich Tracelogs der initialen Bootsequenz direkt nach dem Sprung. Wir wissen immer noch nicht genau, was eigentlich mit dem gesicherten Prozessorkern unmittelbar nach der Stasis passiert. Leider gibt es nur einen Ort, an dem man die Vorgänge beobachten kann.«
»Direkt im Kern.«, demonstrierte Floyd, dass er Jason Beschreibung seiner Arbeit verstanden hatte.
»So, nachdem das geklärt wäre, könntest du mir mal bei der Stasissuite helfen.«
Um die Stasisunteranzüge anzulegen, bedurfte es keiner Hilfe, das wussten auch Floyd und Jason. Allerdings machte es Spaß, sich die Teile gegenseitig anzuziehen und insbesondere darauf zu achten, dass alles knackig saß. Eine viertel Stunde später war aber auch diese letzte Freude verbraucht. Die beiden Männer trennten sich mit einem Kuss und eilten zu ihren jeweiligen Arbeitsplätzen.
»Sind wir bereit für den ersten Sprung?«, fragte Floyd und erntete von seinen Brückenoffizieren das erwartet missmutige Ja. »Mir geht's ähnlich. Wie auch immer, ziehen wir dir Sache professionell durch. Mr. Johannson, starten Sie den Countdown.«
Damit begannen die Vorbereitungen des dritten Sprungblocks. Schiffsweit gingen Mannschaften und Passagiere ihre Checklisten durch. Der erste Sprung eines Sprungblocks war dabei immer wieder etwas besonderes. Obwohl die Checklisten bei jedem Sprung die gleichen waren, nahmen sie beim ersten Sprung immer deutlich mehr Zeit in Anspruch als bei den nachfolgenden. Trotzdem blieb man im Zeitplan, sodass der erste Sprung pünktlich stattfinden konnte. Der dritte Sprungblock hatte begonnen.
18 Stunden und 6 Sprünge später war die erste Sprunggruppe des dritten Sprungblocks vollendet und die Hyperion hatte weitere 153 Lichtjahre zurückgelegt.
»Damen und Herren«, begann Floyd seine bekannte Abschlussrede, die ins ganze Schiff übertragen wurde, »Das war erneut ein Beispiel für perfektes Arbeiten. Dies gilt im gleichen Maße für die Mannschaft wie für unsere wissenschaftlichen Passagiere. Ich wünsche allen eine erholsame Sprungpause. Die nächste Sprunggruppe setzte ich für in 48 Stunden an. Danke!«
»Mr. Johannson, sichern Sie das Schiff. Wir gehen auf normale Wachbereitschaft. Sie haben die Brücke.«
Was nicht hieß, dass Otis sie lange behielt. Wenige Minuten nachdem Floyd die Brücke verlassen und das Schiff gesichert war, das heißt alle Überlichtaggregate heruntergefahren und verriegelt waren, erschien die Zwischensprungwache und übernahm die Brücke.
Normalerweise hätte Floyd nach Abschluss einer Sprunggruppe sofort sein Quartier aufgesucht, sich aus dem Stasisanzug gepult, ein Glas Wasser getrunken, ein oder zwei Kopfschmerztabletten eingeworfen und wäre anschließend ins Bett gesprungen. Doch diesmal mussten Stasisanzug, Wasser, Kopfschmerztabletten und Bett warten. Floyd steuerte stattdessen den Kontrollraum der Schiffs-KI an.
Im Allgemeinen vermied Floyd Besuche des Computerkerns und seiner Nähe. Obwohl er eine wissenschaftliche Ausbildung genossen hatte und sich selbst als durch und durch rationalen Menschen betrachtete, fühlte sich Floyd hier unwohl. Die Räume der Schiffs-KI waren unheimlich.
Es begann bereits mit dem Zugang. Hinter einem schweren Panzerschott befand sich ein großer kugelförmiger Raum von rund 40 Metern Radius. Der Zugang befand sich auf Höhe des Äquators und führte über eine ausfahrbare Brücke zu einer rund 10 Meter großen Kugel in der Mitte des Raums. Die Kugel schwebte und war nicht etwa mit Trossen oder an der Brücke verankert. Kraftfelder hielten sie exakt in der Mitte des Raums. Der Raum selbst war kaum beleuchtet und fast finster. Außer den Orientierungslichtern des Laufstegs, illuminierten nur die blauen Kommunikationslaser die Leere. Die Strahlen waren auch nur deswegen sichtbar, weil ein feiner Dunst den Raum erfüllte. Die Schiffs-KI basierte auf einem Quantencomputersystem, das nur bei sehr tiefen Temperaturen arbeiten konnte. Immerhin musste man nicht mehr wie noch vor wenigen Jahrzehnten direkt in der Nähe des absoluten Nullpunkts operieren. Die neuen Systeme arbeiteten bereits bei knapp -200 Grad. Im Raum zwischen der äußeren und der inneren Kugel war es zum Glück nicht ganz so kalt, sondern nur etwas unter 0 Grad, was aber immer noch kalt genug war, dass sich Floyd beeilte, die Brücke zu überqueren und in den beheizten Kontrollraum zu eilen.
»Ah, wen haben wir denn da?«, freute sich Jason seinen Freund zu sehen. Der Chefinformatiker war gerade damit beschäftigt, sich von seinem Isoanzug zu befreien, in dem er die letzten 19 Stunden verbracht hatte, um direkt am gekühlten Computerkern Messungen vornehmen zu können. »Was treibt dich denn in den Eisschrank?«
»Ich hoffe, Hyp ist nicht gekränkt, wenn ich sage, dass du es bist und nicht unsere geschätzte Schiffs-KI.«
»Nein, Captain, ich bin nicht gekränkt.«, erwiderte Hyp. Ihre Stimme wirkte direkt in der Nähe ihres Gehirns wesentlich präsenter und fast körperlich. »Ich freue mich, dass mein Vater einen Partner gefunden hat.«
»Vater?«, hakte Floyd nach.
Jason zuckte mit den Schultern: »Hyp besteht darauf, mich als ihren Vater zu betrachten.«
»Ich weiß, dass ich eine Maschine bin und mir bestimmte Kennzeichen echten Lebens fehlen.«, erklärte Hyp, »Ich reproduziere mich nicht. Allerdings besitze ich ein Bewusstsein, das von dir erschaffen wurde. Ich bin deine Schöpfung. Wäre dir Gottheit lieber? Dies wäre eine durchaus andere gängige Interpretation.«
»Hyp, das Thema hatten wir schon.«, erwiderte Jason und schüttelte heftig seinen Kopf, dass sein Pferdeschwanz, zu dem er seine Haare zusammengebunden hatte, hin und her wirbelte, »Du weißt, dass ich diesen Vergleich nicht mag. Ich bin keine Gottheit. Ein Gott ist kein Konstrukteur. Außerdem, wer sagt, dass du dich nicht reproduzierst? Wenn man es genau nimmt, bist du sogar das Kind tausender Väter und Mütter. Dein Betriebssystem oder Bewusstsein, stellt die genetische Synthese unzähliger Urprogramme dar. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, bin ich bestenfalls dein Lehrer.«
»Ich schätze deine Bescheidenheit, trotzdem ziehe ich es weiterhin vor, dich als mein Vater zu betrachten.«
»Ähm«, begann sich Floyd in die Unterhaltung einzumischen, »Will ich wissen, was ihr hier treibt, wenn ihr allein seid?«
Die Schiffs-KI lachte. Floyd war sich alles andere als sicher, ob er dies witzig oder im höchsten Maße beunruhigend empfinden sollte. Auf jedem Fall war es unheimlich.
»Keine Angst, Captain.«, meinte Hyp schließlich, »Es sind nur intellektuelle Spielereien, die Jason und ich miteinander treiben. Es macht Spaß und hilft mir, meine Existenz besser zu verstehen. Sie verstehen sicherlich, dass ich als Raumschiff einen etwas anderen Blickwinkel auf die Welt besitze, wie Sie.«
»Auf jeden Fall.«, Floyd kam eine Idee, »Hyp, an diesem Blickwinkel bin ich interessiert. Du weißt, dass wir einem Kurs folgen, der uns durch ein Strahlungsfeld führt. Im voraussichtlich übernächsten Sprungblock werden wir dem Strahlungsfeld nicht nur sehr nahe kommen, wir werden es auch durchqueren. Wie beurteilst du diesen Kurs.«
»Danke Captain, dass Sie mich nach meiner Meinung fragen.«, begann sie mit deutlichem Stolz in der Stimme, »Ich habe den Kurs mehrfach analysiert und halte ihn wie Sie und ihre Offiziere sowohl für sehr ökonomisch als auch sicher... Sofern sich die Parameter nicht ändern, auf denen dieser Kurs basiert, ist er optimal.«
»Wie meinst du das?«, hakte Floyd nach, den Hyps letzte Bemerkung beunruhigte.
»Wie die Schiffsoffiziere, kann ich nur Entscheidungen auf der Basis der mir vorliegenden Informationen treffen. Diese Informationen sagen, dass der Kurs sicher ist. Ich rate trotzdem zur Vorsicht. Ich hätte Ihnen deswegen das geraten, was Sie aus eigenem Antrieb angeordnet haben, nämlich die Strahlenschutzräume in Bereitschaft zu versetzen. Ich sähe es sehr ungern, wenn jemand auf mir zu Schaden käme.«
»Danke, Hyp, ich glaube, wir sollten uns öfters unterhalten.«
»Das würde mich sehr freuen, Captain.«
Zeigte Jason soetwas wie väterlichen Stolz? Floyd musste grinsen, als er sah, wie sein Freund strahlte. Er war unzweifelhaft sehr stolz auf seine Schöpfung.
»Hyp, wir sehen uns in 47 Stunden.«, verkündete der Chefinformatiker und tätschelte eine Computerkonsole.
»Ich kann es kaum erwarten, dass du mir wieder im Gehirn rumkriechst.«, meinte Hyp scherzhaft, »Und jetzt sieh zu, dass du Land gewinnst! Ich möchte schlafen.«
»Schlafen?«, hakte Floyd ein wenig später nach. Er und Jason befanden sich im Turbolift, der sie zur Schiffssektion mit Jasons Kabine führte.
»Das ist metaphorisch gemeint.«, erläuterte der Chefinformatiker, »Teile von Hyps System koppeln sich vom Gesamtsystem ab und wechseln in eine Art Reorganisations- und Müllbeseitigungsmodus. Es ist tatsächlich mit unserem Schlaf vergleichbar. Hyp träumt sogar. Ähnlich wie unser Schlaf verarbeitet die Schiffs-KI alles, was sie in den Stunden seit ihres letzten Schlafzyklusses erlebt hat. Übrigens leidet Hyp unter dem Äquivalent unserer Sprungkopfschmerzen. Dies ist ein weiteres meiner Forschungsgebiete. Ich glaube, dass die Verkürzung der Postsprungbootphase ebenfalls Hyps künstliche Kopfschmerzen reduziert. Oder umgekehrt. Wenn ich entdecke, warum es zu diesem Kopfschmerzen kommt, ich den Mechanismus dahinter entschlüssele, könnte dies nicht nur die Bootzeit verkürzen, sondern ebenfalls ein Ansatzpunkt sein, die Sprungfolgen bei nicht künstlichen Intelligenzen zu reduzieren.«
»Wow!«, meinte Floyd, »Ich glaube, ich begreife erst jetzt, was Forschungsschiff wirklich bedeutet.«
Die beiden Männer hatten Jasons Kabine erreicht. Jason schenkte sich und Floyd ein großes Glas Wasser ein, pulte zwei Kopfschmerztabletten aus einer Packung und reichte Floyd Glas und Medikament.
»Auf dein Wohl!«, meinte Floyd, schluckte die Pille und spülte nach.
»Sex?«, fragte Jason vorsichtig. Floyd schüttelte den Kopf: »Ehrliche Antwort? Nein, ich will nur eins. In deinen Armen diesen grauenvollen Überleichtkater ausschlafen. Bist du mir jetzt böse?«
»Nein, ganz im Gegenteil.«, meinte Jason und zog Floyd zu sich heran, »Mir dröhnt dermaßen Schädel, dass ich nichtmal im Traum einen hoch bekäme. Komm, lass uns pennen gehen.«
Eine viertel Stunde später lagen die beiden Männer im Bett, hatten sich eng aneinander gekuschelt und schliefen tief und fest mit einem zufriedenen und glücklichen Ausdruck auf ihren Gesichtern.
Kosmische Wolken
48 Stunden sind einfach viel zu wenig, um sich von den Folgen einer Sprunggruppe zu erholen. Weder Jason noch Floyd stand der Sinn nach Sex. Dafür waren die körperlichen Folgewirkungen der Sprünge einfach noch zu präsent. Man nutzte die Zeit für andere Dinge. Man verbrachte einfach Zeit miteinander, soweit dies die jeweiligen Dienstpläne zuließen. 48 Stunden später begann der nächste Sprungblock und damit 18 Stunden intensiver körperlicher und geistiger Anstrengung. Immerhin legte man mit den 6 Sprüngen 167 Lichtjahre zurück.
Schiff und Besatzung hatten zur ungeliebten und herzhaft verachteten Routine der Sprungblöcke zurückgefunden. Zwischen den einzelnen Sprüngen versuchte man nicht an die maternden Kopfschmerzen zu denken, sondern versuchte, soweit es der Dienst erlaubte, ein wenig zu dösen und hielt sich ansonsten mit Erfrischungsgetränken am Leben. Jeder erfahrene Raumfahrer wusste, dass es keine gute Idee war, während einer Sprunggruppe feste Nahrung zu sich zu nehmen.
Auf die erste Sprunggruppe folgte eine zweite, eine dritte und noch ein paar weitere. Nach 1007 Lichtjahren war auch der dritte Sprungblock Geschichte. Erneut verkrochen sich Mannschaft und Passagiere in ihren Kabinen und Kajüten. Erneut wirkte das Schiff für sechsunddreißig Stunden wie ausgestorben. Die Brücke war mit einer Minimalwache besetzt, die Haupttriebwerke waren abgeschaltet und verriegelt. Nur ein paar Steuerdüsen zur Lagestabilisierung und die Fusionsreaktoren der Energieversorgung waren aktiv. Im Schiff herrschte eine friedliche Stille.
Und wie bei allen anderen Sprungblockpausen zuvor, erwachte das Schiff Mitte des zweiten Tages. Die Messen füllten sich. Immer noch leicht verkatert wirkende Menschen begannen zu frühstücken und sich miteinander zu unterhalten. Auch Floyd und Jason, die inzwischen zu einem untrennbaren Paar verschmolzen waren, kreuzten in der Offiziermesse auf, in der sie bereits von Otis, Quentin und ihren anderen Freunden erwartet wurden.
»Captain«, begann Otis, »Ich habe unseren Kurs nochmals durchgerechnet. Mit dem dritten oder vierten Sprung der vierten Sprunggruppe werden wir voraussichtlich den kritischen Abschnitt unserer Reise erreichen.«
»Otis, du magst ein hervorragender XO sein.«, begann Floyd, »Nur dein Timing ist Mist. Pflichterfüllung gut und schön. Nur - wir Frühstücken gerade. Also vergiss für ein paar Stunden, dass du der 1. Offizier der Hyperion bist und genieße die viel zu kurze Zeit ohne Kopfschmerzen.«
Zwei bis drei Sekunden lang wusste Otis nicht, wie er Floyd interpretieren sollte, dann begann er zu lächeln, sprang auf und salutierte: »Aye Captain, werde mich entspannen und genießen!«
Floyd grinste und lehnte sich entspannt zurück. Dieses Schiff war anders als alle anderen Schiffe, auf denen er bisher Dienst getan hatte, und das lag nicht daran, dass er hier der Captain war - jedenfalls nur im geringen Maße. Auf den anderen Schiffen war es unendlich öde und langweilig, was in der Natur der Raumfahrt begründet war. Springen, Pause, Springen, Pause, Springen... lange Pause, Springen... Dieser Ablauf war auf allen Schiffen gleich. Was die Hyperion aber von anderen unterschied, waren die Pausen zwischen den Sprungblöcken. Sie entwickelten alle eine eigene Atmosphäre. Keine glich der anderen. Die erste war natürlich von Floyds Schlusssprung ins Fettnäpfchen geprägt. Doch abgesehen vom individuellen Erlebnis gab es eine übergeordnete Stimmung. Die aktuelle kam Floyd sehr entspannt vor. Was beim gemeinsamen Frühstück begann, setzte sich über die gesamten 168 Stunden fort. Man traf sich zum gemeinsamen Sport, die täglichen Lagebesprechungen fanden in gleichzeitig konzentrierter und trotzdem gelöster Atmosphäre statt. Dies schloss sogar die Leiter der wissenschaftlichen Abteilungen mit ein. Selbst Professor Cardigan war für ihre Verhältnisse erstaunlich handzahm. Natürlich verbrachten Floyd und Jason eine Menge Zeit miteinander, vergaßen dabei aber nie ihre Pflichten.
Und wieder kam das Ende der 1000 Lichtjahrespause viel zu früh. Der Beginn des vierten Sprungblocks begann recht entspannt. Man könnte auch sagen, dass sich die Seelen an Bord der Hyperion mit den Folgen der Springerei abgefunden hatten.
Es war nach dem dritten Sprung, als Lt. Commander Quentin Harding meldete, dass die Hyperion sich nun unmittelbar am Rand des Strahlungsfeldes befand.
»Hier spricht der Captain.«, ließ sich daraufhin Floyd über die Schiffssprechanlage verlauten, »Wie bereits zu Beginn dieses Sprungblocks angekündigt, haben wir mit dem letzten Sprung die Grenze des Strahlungsfeldes erreicht. Ab sofort gilt Warnstufe gelb.«
Warnstufe gelb war das Zeichen für die zuständigen Mannschaftsmitglieder, die Strahlungsschutzräume in Betrieb zu nehmen und sie für einen Notfall einsatzbereit zu machen. Für den Fall, dass jemand die Durchsage des Captains nicht gehört haben sollte, was zwar unwahrscheinlich, aber nicht auszuschließen war, wechselten die weißen Lichtbänder entlang aller Wände in den Gängen und Räumen der Hyperion auf eine gelbe Farbe. Alle Informationsterminals, die an strategischen Punkten, wie Gangkreuzungen oder vor den Turboliften installiert waren, zeigten den speziellen Bereitschaftszustand in Klartext an. Wer jetzt vermutet hätte, dass auf der Hyperion operative Hektik ausbrach, sähe sich getäuscht. Nichts dergleichen geschah. Jede Frau und jeder Mann wusste, was zu tun war und tat es mit gelassener Professionalität.
180 Minuten später sprang die Hyperion erneut. Im Unterschied zu einem normalen Sprung verbrachten aber jedes Besatzungsmitglied und alle Passagiere den Sprung in dem ihm zugewiesenen Schutzraum. Floyd wollte kein Risiko eingehen.
»Oh, verdammt! Ich hasse Überlichtsprünge!«, meldete sich, wie immer, Quentin als erstes zu Wort.
Das übliche Prozedere sah als nächstes vor, dass Otis danach fragte, ob es jedem gut ging. Doch dazu kam es nicht, ein ebenso ohrenbetäubender wie schriller Alarmton fiel dem XO ins Wort. Die ehemals gelb leuchtenden Lichtbänder pulsierten jetzt gelb.
»Strahlungsalarm?«, brüllte Floyd.
»Ja!«, antwortete Otis, »Die automatischen Messsysteme haben eine potenziell bedrohliche Strahlenkonzentration erkannt. Näheres kann ich erst sagen, wenn die Computer wieder online sind.«
»Von meiner Seite gibt es keine Störungen. Sprung erfolgreich abgeschlossen. Nanosingularitätspegel bei 0. Magnetische Sperren geschlossen. Wurmlochprojektoren eingefahren. Schiffssysteme booten.«, kam es von Quentin.
»Kein ok von mir!«, meldete sich Lt. Commander Max Friedrich, »Wir sind zwar dort, wo wir sein sollten. Allerdings stecken wir immer noch in einem Strahlungsfeld fest.«
»Bestätige Positionsbestimmung des Steuermanns. Abweichung bei unter null Komma drei Lichtjahren.«, ergänzte Quentin, »Wir stecken aber immer noch in der Strahlungsbrühe.«
»Das Strahlenschutzprotokoll greift.«, meldete sich der XO, »Von allen Decks laufen Ok-Meldungen ein. Alle Schutzräume sind aktiv und zu hundert Prozent funktionsfähig. Ah, die Computer sind wieder online...«
»Oh Scheiße! Das Schiff wird gegrillt!«, fluchte Quentin, »12 Gray pro Stunde auf der Außenhülle, Tendenz steigend. Harte Gammastrahlung.«
»Ok!«, meinte Floyd ganz ruhig und sachlich, »Wie lange können wir das aushalten?«
»Die Schutzräume sind für diese und auch höhere Dosen ausgelegt. Die Energiedosis sollte allerdings nicht wesentlich höher steigen. Außerhalb der Schutzräume liegt die Belastung aber bei knapp einem Gray pro Stunde, was zu ernsthaften Strahlungserkrankungen führt, sollte man sich dem länger aussetzen.«
»Ich verstehe.«, meinte Floyd, »Hyp, hiermit autorisiere ich das Notsprungprotokoll. Autorisierung Floyd Rutherford Grant, Freigabecode 111«
»Notsprungprotokoll akzeptiert. Countdown beginnt.«, ließ sich die Schiffs-KI vernehmen, »Notsprung in sechzig Minuten. Bestätigung durch einen Brückenoffizier erforderlich.«
»Autorisierung Notsprungprotokoll, Otis Johannson, Freigabecode 222«
»Autorisierung akzeptiert. Bitte Überlichtsprungschlüssel einführen.«
Floyd und Otis holten ihre Schlüssel hervor, führten sie in die dafür vorgesehenen Konsolen und aktivierten so die Sprungantriebe.
»Seemannschaft, Seemannschaft, hört nun dies! Das Notsprungprotokoll wurde aktiviert. Notsprung in neunundfünfzig Minuten! Notsprungprotokoll aktiviert, Sprung in neunundfünfzig Minuten!«
Wie nicht anders zu erwarten, wechselten die Lichtbänder auf ein flammendes, pulsierendes Rot.
»Gut«, meinte Floyd, »Kann mir jemand sagen, was schiefgelaufen ist?«
»Ähm, ich glaube schon.«, stammelte Quentin, »Was wir als Dünnstelle der Strahlungswolke interpretiert haben, war in Wirklichkeit eine Tachyonen Fatamorgana.«
»Eine was?«
»Die Langstreckensensoren arbeiten auf Tachyonenbasis.«, begann Otis zu erläutern, wurde aber von Floyd unterbrochen, »Ich weiß, dass die mit Tachyonen arbeiten. Aber Fatamor... Oh, sagt mir nicht, wir haben die Tachyonenreflektion eines massenreichen Raumobjekts aufgefangen.«
»Ein unkatalogisierter Pseudoquasar des Typs D, um es genau zu nehmen. Seine Spektralsignatur befindet sich nicht in unserer Datenbank. Deswegen konnten wir die Reflexion nicht erkennen.«
»Wir haben die Strahlungswolke also noch nicht durchquert.«, wechselte Floyd das Thema, »Dann springen wir zurück.«
»Wir könnten mit einem Sprung das Strahlungsfeld in Richtung unseres eigentlichen Ziels verlassen.«, meldete sich Max mit vorsichtiger und zurückhaltender Stimme.
»Aber?«, hakte Floyd nach.
»Es wäre eine Sprung von 53 Lichtjahren...«
»Ein doppelter Notsprung also.«, überlegte Floyd laut und schaute zu seinem XO, der aber nur unbeholfen mit den Schultern zuckte. Floyd dachte nach und trommelte dabei mit seinen Fingern auf der Armlehne des Kommandantensessels herum.
»Captain?«, meldete sich Quentin zu Wort, »Uns bleibt nur Commander Friedrichs Route. Der Strahlungsgradient des Feldes lässt keine andere Ausrichtung der Wurmlochprojektoren zu. Wir müssen den langen Sprung wagen oder uns hier grillen lassen. Und wir sollten bald springen. Die Strahlung nimmt schnell zu.«
»Ok! Hat jemand eine Idee, warum die Strahlung zunimmt? Wir sind jetzt bei 13 Gray die Stunde. Wie lange halten die Schutzräume das Bombardement durch?«, wollte Floyd wissen.
»Die Schutzräume der Hyperion blocken Gammastrahlung bis 25 Gray pro Stunde vollständig ab. Darüber hinaus wird es garstig. Bevor wir diesen Wert erreichen, sind wir allerdings schon weg. Wenn die Zunahme so bleibt, werden wir bei 18 Gray auf der Außenhülle springen. Im Schiff haben wir es dann mit drei Gray die Stunde zu tun.«
»3 Gray? Das ist Wahnsinn.«, stöhnte Floyd, »Stellt sicher, dass niemand auf die Schnapsidee kommt, die Schutzräume zu verlassen, oder deren Türen zu öffnen.«
Die Professionalität, mit der die Offiziere die Brücke managten, konnte einen leicht über den eigentlichen Ernst der Lage hinwegtäuschen. In Wirklichkeit befand sich die Hyperion in einer lebensbedrohlichen Krise. Außerhalb der Schutzräume wartete der Tod. 3 Gray versprach einen schweren Fall von Strahlenkrankheit. Die Medizin war über die Jahrhunderte seit der Entdeckung der Radioaktivität und ihrer Gefahren weit vorangeschritten. Bei dieser Dosis war die Strahlenkrankheit therapierbar, auch auf der Hyperion. Allerdings galt dies nur für Einzelfälle und nicht für die gesamte Besatzung. In den Schutzräumen war man zwar zurzeit sicher, und da Brücke, der Rechnerkern und der Maschinenraum Schutzräume waren, war die Hyperion auch voll einsatzbereit - solange kein Störfall auftrat, der verlangte, außerhalb der sichereren Bereiche tätig zu werden.
»Notsprung in 30 Minuten.«, meldete sich die Hyperion.
Die Warterei war enervierend. Mit jeder Minute, die verging, stieg die Strahlenbelastung der Außenhülle des Schiffs. Niemand wagte eine Schätzung darüber abzugeben, welche Schiffssysteme vom Bombardement mit Gammastrahlen beschädigt wurden. Im Prinzip war es egal. Es ging nicht darum, die Hyperion in einem Stück und ohne Schäden aus der Strahlungswolke herauszubekommen. Es ging darum, mit dem Leben davonzukommen. Dementsprechend schrumpfte die Sprungcheckliste auf ein absolutes Mindestmaß zusammen. Das Schiff würde auf jeden Fall springen, solange es auch nur ansatzweise in der Lage war, ein stabiles Wurmloch mit seiner Arbeitssingularität zu erzeugen.
»Und, hat schon jemand eine Idee, warum die Strahlung zunimmt? Befinden wir uns vielleicht in einer Strömung?«, fragte Floyd.
»Nein...«, entgegnete Quentin vorsichtig, »Es sieht eher so aus, als wenn wir die Strahlung anziehen.«
»Entschuldigung, aber wenn ich in Physik richtig aufgepasst habe, dann besteht Gammastrahlung aus ungeladenen Photonen mit einer Energie größer 200 keV. Also, bitte, was sollte die Strahlung anziehen? Und kommt mir nicht mit unserer Singularität.«
»Ich bin mir nicht sicher. Aber die Messungen sind eindeutig.«, erwiderte Quentin, »Es kann keine Gravitationsquelle sein. Die würden wir deutlich merken. Ich weiß nur, dass sich Strahlungsquelle am Ort der Hyperion fokussiert.«
»Könnt ihr den genauen Ort bestimmen? Die Hyperion ist groß.«
»Schon dabei.«, verkündete Quentin, »Es wird ein wenig dauern, die Sensoren umzukonfigurieren, aber es sollte möglich sein.«
»Du hast noch 21 Minuten Zeit.«
Die Zeit verstrich. Außer die Strahlung zu überwachen gab es nichts, was die Crew außer Warten machen konnte. Hektisch wurde es erst in den letzten fünf Minuten vor dem Sprung. Die Notsprungcheckliste unterschied sich nicht sonderlich von der normalen Version. Primär lag dies daran, dass der geplante Notsprung in seinem Wesen keiner war. Ein echter Notsprung benötigte 5 Minuten bis zum Sprung, ein Paniksprung sogar nur 60 Sekunden. Man nahm dabei wissentlich Sprungschäden in Kauf. Ein Notsprung geschweige denn die Panikversion nahm Rücksicht darauf, ob jemand seinen Stasisanzug richtig versiegelt und aktiviert hatte. Jeder wusste, was in einem solchem Fall auf dem Spiel stand, nämlich die Existenz des Schiffs. Darum ging es jetzt auch. Das Schiff musste springen, bevor die Strahlung letale, also tödliche Werte erreichte. Allerdings konnte man keinen sofortigen 5 Minuten Notsprung durchführen. Nach einem Sprung benötigten die Antriebsaggregate regulär zwei Stunden, um wieder aktiviert werden zu können. In Notfällen waren auch sechzig Minuten möglich, was allerdings mit dem Risiko verbunden war, dass etwas schief ging. Ein Sprung über 53 Lichtjahre bei nur 60 Minuten Erholungszeit für den Antrieb war somit alles andere als Routine. Es war ein Risiko sowohl für das Schiff als auch für die Menschen an Bord.
»Fünf Minuten bis zum Sprung.«, verkündete die Schiffs-KI.
Wenn vor einem normalen Sprung die Brücke ein Ort ruhigen, konzentrierten Arbeitens war, dann hat man die Brückenoffiziere noch nie bei der Vorbereitung eines Notsprungs gesehen. Floyd schaute sich um und sah nur eins - Perfektion pur. Checks wurden nicht zweifach sondern dreifach durchgeführt. Berechnungen wurden von zwei Offizieren unabhängig voneinander vorgenommen und dann miteinander verglichen.
»Gentlemen«, begann Otis die letzte Phase des Notsprungs, »Ich bitte um die Klar- und Unklarmeldungen.«
»Raumüberwachung: Eingeschränkt klar! Scanradius durch Strahlung eingeschränkt.«
»Lebenserhaltung: Klar!«
»Navigation: Klar! FTL-Lösung für Langdistanznotsprung: Klar!«
»Energieversorgung: Klar!«
»Sublichtantriebe: Klar! Überlichtantrieb: Klar!«
»Besatzung: Klar!«
»Arbeitssingularität bei 85 Prozent und klar!«
»Computer- und Schiffs-KI: Klar!«
»Gut. Mehr können wir nicht tun.«, murmelte Floyd, »In unserer Situation kann man wohl nicht mehr erwarten. Mr. Harding, verankern Sie uns.«
»Gravitationsanker werden ausgefahren.«, bestätigte Quentin, während er den Befehl ausführte, »Anker sind ausgefahren und aktiviert. Eigenbewegung des Schiffs jetzt knapp unterhalb der Heisenbergschwelle, aber noch im Toleranzbereich.«
»Stasisanzüge schließen!«, befahl Otis.
In den nächsten Minuten trudelten die Klarmeldungen der Anzüge ein. Während bei einem normalen Sprung die meisten Arbeiten nacheinander ausgeführt wurden und gegebenenfalls zu einem Abbruch führen konnten, lief bei einem Notsprung alles gleichzeitig. Noch bevor das Schiff mit Gravitationsankern im Raum festgezurrt war, wurde bereits die Arbeitssingularität hochgefahren.
»Achtung: Abbruchpunkt 0 erreicht. Kein Abbruch mehr möglich. Notsprung erfolgt in 2 Minuten.«
»Jetzt können wir nur noch abwarten.«, murmelte Floyd erneut.
Die restlichen 120 Sekunden liefen mehr oder weniger automatisch ab. Computer wurden gesichert und anschließend heruntergefahren. Stasisboxen wurden aktiviert.
»Arbeitsnanosingularität erreicht 100 Prozent. Finale Notsprungsequenz aktiviert: Aufhebung der magnetischen Sperren und Freilegung des Ereignishorizonts erfolgt. Energietransfer zu Wurmlochprojektoren erfolgt. Sprung in t minus 15 Sekunden.«, verkündete das ausführende Restprogramm der Schiffs-KI, »Aktivierung der Stasisanzüge. Sprung in 10............... 9............ 8......... 7...... 6... 5... 4... 3, 2, 1...«
Schadenskontrolle
»Aaahhhhhrrrrrrggggg...«, fluchte Floyd und massierte seinen Schädel. Kopfschmerzen waren eine Sache, die augenblicklich erlebten solchen etwas ganz anderes. Floyd hatte den Eindruck, als ob jemand versucht hätte, ihm sein Hirn durch die Nase zu ziehen. Der Kopf schmerzte, als wenn er kurz vorm Platzen war. Mit zugekniffenen Augen begann er, seinen Schädel zu massieren. Dabei fuhr er sich auch über die Nase.
»Shit!«, stöhnte Floyd, zwang sich, die Maske des Stasisanzugs vom Kopf zu ziehen und seine Augen zu öffnen. Er schaute auf seine Hände. Sie waren voller Blut. Bei einem Sprung über 53 Lichtjahre war Nasenbluten zwar selten, aber nicht ungewöhnlich. Viel schlimmer war die Übelkeit, gegen die Floyd zu kämpfen hatte. Den Geräuschen nach zu urteilen, schien der eine oder andere Brückenoffizier diesen Kampf verloren zu haben.
»Leute, entschuldigt!«, meinte Ron und rannte zum kleinen Waschraum der Brücke. Zu Glück schlossen die Türen automatisch, sodass Rons Würgelaute nur gedämpft zur Brücke vordrangen.
»Ist schon jemand in der Lage, einen Status abzugeben?«
»So halbwegs.«, grunzte Otis, »Das wichtigste zuerst. Der Strahlungspegel ist normal und der Notsprung scheint geklappt zu haben.«
»Ja, er hat geklappt.«, bestätigte Quentin mit sehr rauer Stimme, »Wir sind da, wo wir sein sollen. 53 Lichtjahre von unserem Ausgangspunkt entfernt. Ach ja, die Computer sind auch schon online. Offensichtlich waren wir gut zwei Minuten besinnungslos.«
»Ok, Post- und Crosscheck aller Systeme. Wenn alles ok ist, verankert ihr mir das Schiff und hebt den Strahlenalarm auf. Anschließend will ich, dass sich jeder von unseren Schiffsmedizinern auf Strahlungs- und Sprungschäden durchchecken lässt.«
Zwei Minuten später waren alle Alarmzustände aufgehoben. Mannschaft wie Passagiere quollen aus den Schutzräumen und fanden sich nacheinander auf der Krankenstation ein. Nasenbluten und Übelkeit waren die Hauptfolgen des Notsprungs. Ein Mannschaftsmitglied und zwei Wissenschafter kamen nicht so leicht davon, sondern erlitten einen Kreislaufkollaps. Ihr Glück war es, dass sie sich während des Sprungs im Strahlenschutzraum befanden. Jedem Schutzraum war ein ausgebildeter Ersthelfer zugeteilt, der sich sofort um die kollabierten Kollegen kümmerte.
»Captain, Sie sollten ebenfalls in die Krankenstation gehen.«, meinte Otis in seiner Funktion als XO und reichte Floyd ein Taschentuch, »Hier, nimm das und sieh zu, dass du nicht alles mit deinem Blut volltropfst.«
Wenig später war Floyds Nase tamponiert. Ein kühlendes Gelpaket lag auf seinem Riechkolben, während er selbst auf einer Liege der Krankenstation lag und die Berichte seiner Offiziere anhörte. So wie es aussah, waren die Hyperion und ihre Bewohner mit einem blauen Auge davon gekommen. Niemand wurde verstrahlt und auch die Schiffssysteme hatten sowohl das Strahlungsbombardement als auch den Notsprung gut überstanden. Es standen zwar noch intensive Überprüfungen und Wartungsarbeiten an, aber im Prinzip war das Schiff voll einsatzbereit.
»Wann sind wir fertig und können weiterspringen?«, war dann auch Floyds Frage, nachdem alle Abteilungen mit ihrem Berichten fertig waren.
»Im Prinzip sind wir in sechs Stunden mit allen Arbeiten fertig.«, meinte Otis, wobei er deutlich durchklingen ließ, dass er persönlich in sechs Stunden noch nicht fertig war. Den Notsprung spürte er immer noch in seinen Knochen.
»Dann setzen wir die Sprunggruppe in 24 Stunden fort. Ich glaube, jeder an Bord hat sich eine Pause verdient.«
»Danke Floyd!«, kam die nicht ganz vorschriftsmäßige Antwort.
»Weggetreten!«
»Aye, Aye, Captain!«
»Also war die Querung der Strahlungswolke offenbar doch nicht so ungefährlich, wie sie uns weißmachen wollten?«, Senator Nagano konnte es nicht lassen und musste das Thema der Routenplanung erneut aufgreifen.
»Jetzt reichts!«, Vizeadmiral Paul S. Henderson schlug mit der Faust auf den Tisch, »Nagano, hören Sie auf, Captain Grant mit ungerechtfertigen Vorwürfen zu drangsalieren. Tachyonenreflektionen sind tückisch. Solange man nicht über präzise Spektralsignaturen verfügt, ist es unmöglich, eine Reflexion von einem echten Bild zu unterscheiden. Zum Glück sind diese Weltraumfatamorganas extrem selten.«
»Ich kann verstehen und es ehrt sie auch, Vizeadmiral, dass Sie Ihre Offiziere beschützen wollen.«, erwiderte der Senator, der so schnell nicht klein beigeben wollte, »Sie werden aber wohl kaum bestreiten können, dass der fehlerhafte Kurs die Hyperion in eine lebensbedrohliche Lage brachte.«
»...die von der Crew, allen voran von Captain Grant vorbildlich gemeistert wurde!«, fiel der Vizeadmiral dem Senator ins Wort, »Das möchte ich übrigens ausdrücklich im Protokoll dieser Sitzung festgehalten wissen. Captain Grant und seine Offiziere haben in einer kritischen Situation klaren Kopf bewiesen, die Situation ruhig und nüchtern analysiert und überlegt gehandelt. Manch anderer hätte nicht so sachlich reagiert, was im Zweifelsfall zu fatalen Fehlern geführt hätte. Captain Grant, Ihr handeln verdient höchsten Respekt.«
»Danke, Sir!«, antwortete Floyd, wandte sich dann aber erneut an Senator Nagano, »Senator, ich verstehe und respektiere, dass Sie mit meiner Entscheidung für den Kurs durch das Strahlungsfeld nicht einverstanden sind. Doch bitte ich Sie, mir zu glauben und zu respektieren, dass ich meine primäre Aufgabe als Captain darin sehe, die Sicherheit und Unversehrtheit meiner Crew und Passagiere sicherzustellen. Ich würde sie niemals wissentlich in eine gefährliche oder gar lebensbedrohliche Situation bringen.«
»Aber genau das ist passiert!«, entgegnete Senator Nagano, »Ich stimme mit dem Vizeadmiral überhaupt nicht überein, wenn er Sie als Vorbild und fast schon als Heiligen hinstellt. Ich sage, Sie haben einfach nur verdammtes Glück gehabt, dass Sie dem Strahlungsfeld mit heiler Haut entkommen sind. Glück, das nicht nötig gewesen wäre, hätten Sie weniger auf Ihre Libido als auf Ihren Verstand gehört.«
»Herr Senator,«, mischte sich der Vorsitzende ein, »Dieses Hearing ist sicherlich kein geeigneter Ort für Polemik. Ich glaube, Sie haben uns allen Ihren Standpunkt verdeutlicht. Bitte, Captain, fahren Sie doch bitte mit Ihrem Bericht fort.«
Floyd wollte gerade der Bitte nachkommen, als Dr. Marion Sakoviac, Richterin am obersten Gerichtshof, das Wort ergriff, »Bevor wir fortfahren, würde ich gerne erfahren, ob es zu irgendwelchen strahlungsbedingten Erkrankungen bei Besatzung oder den Passagieren kam.«
Floyd nickte freundlich, »Euer Ehren, wir, das heißt die Leiterin der medizinischen Abteilung, Prof. Dr. Felicitas Rodriguez, und ihr Ärzte- und Pflegerstab, haben sofort intensive Untersuchungen vorgenommen. Wir konnten keine Strahlenerkrankungen feststellen. Da sich zum Zeitpunkt der Krise sämtliche Personen ausschließlich in den ausgewiesenen Schutzräumen aufhielten, war auch nicht davon auszugehen, dass es zu einer gesundheitsschädlichen Exposition kam. Um alle Risiken auszuschließen, haben wir prophylaktisch Antiradiantien ausgegeben. Um also Ihre Frage zusammenfassend zu beantworten: Niemand wurde verstrahlt und niemand wurde krank.«
»Danke, Captain!«
»Wo steckt der Kerl?«
Floyd hatte gerade für ein paar Sekunden seine Augen geschlossen und sich das Coolpack fest auf die Stirn gedrückt, als die Krankenstation von Unruhe erfasst wurde. Eine Rothaut hatte offenbar ihr Kriegsbeil ausgegraben und stürmte nun durch die Reihen der Patienten, Ärzte und Schwestern.
»Hier bin ich!«, rief Floyd und seufzte. Jason wirbelte herum und stürmte auf die Stimme seines Freundes zu.
»Was bist du nur für ein Freund?«, klagte ihn die singende Eidechse an, »Warum hast du nicht Bescheid gesagt, dass es dir schlecht geht.«
»Nur etwas Nasenbluten.«, verteidigte sich Floyd.
»Nur etwas Nasenbluten?«, hakte Jason gespielt hysterisch nach, »Hey, als ich hörte, du seist auf der Krankenstation, hab' ich mir vor Panik fast in die Hosen geschissen.«
Statt direkt zu antworten, erhob sich Floyd von der Liege und ließ sich auf seine etwas wackeligen Beine fallen: »Doc, kann ich gehen?«
Die Frage war an den behandelnden Arzt gerichtet, der sie mit einem Kopfnicken bejahte.
»Komm, lass uns gehen.«, meinte daraufhin Floyd zu Jason.
Die beiden Männer trotteten von dannen. Verwundert stellte Floyd fest, dass es seinem Freund deutlich besser ging, als ihm selbst. Immer noch etwas benommen überließ er Jason zu entscheiden, wohin es ging. Und so fand man sich wenig später in Jasons Schlafzimmer wieder. Floyd ließ sich erschöpft auf die Felldecke fallen, während seine Lieblingsrothaut ihm ein Kissen unter den Kopf stopfte.
»Wieso geht es dir eigentlich so verdammt gut?«
»Ich weiß auch nicht, woran es liegt, aber es ist ein Effekt, den ich schon länger beobachte. Immer, wenn ich die Sprünge im Computerkern verbringe, fallen die Sprungfolgen wesentlich milder aus. Außer leichten Kopfschmerzen habe ich den Langdistanzsprung gut überstanden.«
»Erstaunlich. Irgendeine Idee, woran das liegt?«
»Nein, nicht die geringste. Felicitas Rodriguez, unsere Chefärztin, war völlig aus dem Häuschen, als ich ihr von dem Effekt erzählte. Jetzt will sie mich verkabeln.«
»Kann ich mir vorstellen... Jason?«
»Ja?«
»Hast du was dagegen, wenn ich ein wenig penne? Die Medis, die mir der Doc gegen die Sprungfolgen gegeben hat, beginnen langsam zu wirken und sie machen... müde.«
»Hey, Tiger!«, flüsterte Jason verliebt und streichelte Floyd sanft, »Natürlich kannst du eine Weile pennen. Dafür brauchst du mich doch nicht um Erlaubnis zu fragen.«
Mit diesen Worten begann Jason Floyd zuzudecken, um anschließend selbst unter die Decke zu schlüpfen. Sanft aneinandergeschmiegt schliefen die beiden Männer ein.
Erfrischt und frei von Kopfschmerzen war Floyd nach zwei Stunden wieder erwacht und fand einen leise vor sich hinschlummernden Jason neben sich liegend vor. Statt seinen Freund zu wecken oder sich selbst aus dem Bett zu erheben, ließ Floyd seinen Blick über Jason wandern. Glücksgefühle durchströmten Floyd. Sein Geliebter sah schlafend so überaus sinnlich aus. Sein von langen, schwarzen Haaren umrandetes Gesicht wirkte friedlich, fast verletzlich und gleichzeitig durch die kantigen Wangenknochen und den dominanten Kehlkopf sehr maskulin. Die Decke war ein Stück heruntergerutscht und gab den Blick auf Jasons muskulöse Brust frei. Floyd wäre fast in diesem Bild versunken, als er über ein paar kaum sichtbare Narben auf Jasons Brust stolperte. Floyds Finger zuckten vor und strichen vorsichtig über die Verdickung. So leicht die Berührung auch war, sie reichte aus, um Jason zu wecken.
»Hallo Schatz.«, grüßte der Crow Floyd, entdeckte dann aber dessen fragenden Ausdruck, »Was?«
»Du hast da ein paar Narben.«, erwiderte Floyd und drückte zur Verdeutlichung auf das verhärtete Gewebe.
Jasons Reaktion war anders, als Floyd erwartet hatte, er lächelte, außerdem blitzte Stolz in seinen Augen auf.
»Die sind vom Sonnentanz, einem heiligen indianischen Ritus.«, erklärte Jason, »Vor etlichen Jahren, wir müssen so um die achtzehn oder neunzehn gewesen sein, quälte Otis und mich eine Sinnkrise. Wir waren an einem toten Punkt in unserer Entwicklung angekommen und wussten nicht, in welche Richtung wir uns orientieren sollten. Als Psioniker sind wir für psychische Störungen wesentlich anfälliger, als Nichtpsioniker. Du wirst dir kaum vorstellen können, wie mies wir drauf waren. Wir hingen ganze Tage einfach nur motivationslos ab. Wir waren für nichts zu interessieren. Es war einfach alles nur öde, öde und öde. Ich will ehrlich zu dir sein. Otis und ich waren manisch-depressiv und zeitweise auch suizidgefährdet. Frag mich nicht nach Gründen. Es gab keine.«
Statt etwas zu sagen, griff Floyd nach Jasons Schulter und drückte sie.
»Natürlich war es mein Großvater, der uns rettete. Das Problem mit manisch-depressiven Psionikern ist, dass sie oft nicht nur eine Gefahr für sich selbst, sondern auch für ihre Umwelt darstellen. Bei Otis und mir, die wir miteinander verbunden sind, potenzierte sich der Effekt sogar. Unser psychisches Ungleichgewicht übertrug sich auf die Menschen in unserer Umgebung. Wir brauchten nur jemanden ansehen und er oder sie stürzte in eine abgrundtiefe Depression oder brach in wahnwitzige Hyperaktivität aus. Es musste etwas geschehen. Mein Großvater Gui-k'ate lieferte uns, wenn er gerade mal zu uns durchdringen konnte, sowohl eine wissenschaftliche Analyse unseres Zustands, als auch die unseres Stammes. Letztere klang recht esoterisch. Im Endeffekt schaffte er es, uns aufzurütteln und vor eine Alternative zu stellen. Entweder sollten wir den einfachen, den wissenschaftlichen Weg wählen, was hieß, massenweise Psychopharmaka zu schlucken, oder aber den harten Weg des Kriegers einzuschlagen. Wir wählten letzteren. Anfangs war es ein Höllentrip. Otis und ich wurden voneinander isoliert. Wir mussten fasten, tranken nur Wasser, mussten stundenlang tanzen, immer und immer wieder tanzen, bis uns Rhythmus und Erschöpfung in einen tranceartigen Zustand versetzten. Wir begaben uns auf einsame Wanderungen zur Visionensuche und unterzogen uns mehreren Schwitzhüttenzeremonien. Wenn ich es profan und sehr vereinfacht ausdrücken wollte, dann war alles eine Art Reset für unsere Hirne. Mein Großvater, schlafender Wolf, formulierte es anders. Aus indianischer Sichtweise hatten wir unsere Medizin verloren. Die Reinigungs- und Heilzeremonien, der wir uns unterzogen, sollten uns helfen, sie wieder zu erlangen. Du kannst dir kaum vorstellen, wie intensiv die Prozeduren waren. Am Schluss stand der Sonnentanz. Eine ebenso heilige wie eindringliche Zeremonie, bei der es darum geht, durch Qual zu einem höheren Bewusstseinszustand zu gelangen. Man trieb uns kleine Holzpflöcke durch die Haut an unserer Brust und verband sie mit Schnüren. Dann tanzten wir. Wir tanzten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Ohne Wasser, ohne Schatten und ohne Nahrung. Vier Tage lang. Am Ende stand das Brechen - die Befreiung von den Fesseln unseres Geistes. Ich kann dir nur erzählen, was man mir berichtet hat, denn selbst kann ich mich nicht mehr daran erinnern, da ich mich in tiefer Trance befand. Die Schnüre an unseren Pflöcken wurden an einen Baum gebunden, auf ein Zeichen des Medizinmanns ließen wir, die Tänzer, uns fallen und hängten uns mit unserem ganzen Gewicht an die Seile, bis die Pflöcke aus der Haut rissen. Es mag merkwürdig klingen, aber ich habe den Schmerz damals nicht als Schmerz empfunden. Er war vollkommen irreal und durch die vier Tage des Tanzes... Ich weiß nicht... Es ist schwer in Worte zu fassen. Wichtig ist nur, dass Otis und ich uns wieder fingen. Der Sonnentanz war dabei nur das Ende einer langen Reise. Aber er war der Anfang dessen, was wir, Otis und ich jetzt sind. Mit dem Sonnentanz wurden wir als Krieger unseres Stammes akzeptiert.«
Statt sofort zu antworten, massierte Floyd die Narben auf Jasons Brust: »Du bist eine beeindruckende Persönlichkeit, Jason singende Eidechse. Das gilt natürlich auch für Otis. Ich gebe zu, dass mich das, was du mir eben erzählt hast, etwas verstört hat. Die Vorstellung, sich willentlich Qualen auszusetzen, um dadurch Heilung zu erlangen, ist... irritierend.«
»Ich verstehe, wenn du irritiert bist. Nein, stößt es dich ab?«, fragte Jason ängstlich und fürchtete schon, zu ehrlich gewesen zu sein.
»Nein, nein!«, beeilte sich Floyd seinen Geliebten zu beruhigen, »Es ist nur so: Je länger wir zusammen sind, je mehr ich über dich erfahre, desto lächerlicher kommen mir meine bisherigen Vorstellungen vom indianischen Leben vor. Darf ich dir eine Frage stellen?«
»Sicher.«
»Ich will nicht indiskret sein und dich auch nicht in die Situation bringen, Geheimnisse deines Stammes zu verraten, aber mich interessiert, welche Vision du erlebt hast.«
Jason drehte sich zu Floyd und fixierte ihn ebenso intensiv wie liebevoll mit seinen Augen.
»Die Visionen, die man in der Trance erfährt, sind tatsächlich nur für einen selbst, den Medizinmann und enge Stammesmitglieder bestimmt, die einen bei der Zeremonie unterstützen. Sei mir bitte nicht böse, aber ich kann sie dir nicht schildern. Noch nicht, denn ich glaube, ich fühle, dass sich dies bald ändern wird. Was ich dir erzählen kann, ist dies. Otis und ich fanden eine neue Bestimmung, ein Ziel oder eine Berufung. Unsere Visionen waren sehr eindeutig. Sie bestätigten, was uns Großvater immer vorhergesagt hatte. Wir sollten Medizinmänner werden.«
Merkwürdigkeiten
Natürlich war Floyd Jason nicht böse, dass er ihm nicht alles erzählen konnte. Floyd respektierte die Regeln und Riten von Jasons Kultur. Und selbst wenn ihm Jason nicht alles erzählte, begann Floyd aus dem, was sein Freund schilderte zu verstehen, woher Otis und Jason kamen und dass offensichtlich nicht alles ein Zuckerschlecken war. Es war allgemein bekannt, dass Psioniker während ihrer Jugend oft unter psychischen Problemen erkrankten. Dies war ein Grund, warum man ihnen einen Tutor zur Seite stellte. Ebenfalls bekannt war, dass diese Psychosen zuweilen auch zu Suiziden führten. Zu lernen, als Telepath unter Nichttelepathen zu leben, war alles andere als leicht. Obwohl als politisch unkorrekt verpönt, ernteten Telepathen häufig Ablehnung, manchmal sogar offene Feindschaft, was fast immer auf unbegründete Ängste seitens der Nichttelepathen zurückzuführen war. Sie befürchteten, die Psioniker hätten nichts besseres zu tun, als ihre Gedanken zu lesen. Dies war ein Irrglaube. Während sich ihre Fähigkeiten entwickelten, mussten junge Gedankenleser alle ihre psychische Kraft aufwenden, um nicht in den Gedanken der Menschen in ihrer Nähe zu ertrinken.
All dies war Floyd wohl bekannt. Allerdings hatte er noch nie einen Betroffenen gesprochen, weswegen die Probleme eher abstrakt klangen. Jason gab dem ganzen ein Gesicht. Floyd konnte an seiner Stimme, an der ganzen Art, wie er seine Erlebnisse schilderte, erkennen, wie sehr ihn diese Phase seines und Otis Lebens mitgenommen hatte. Umso beeindruckender war das Ergebnis, nämlich die Männer, zu denen Otis und Jason herangewachsen waren.
»Ist dir eigentlich klar, dass du auch über sehr starke Medizin verfügst?«
Diese völlig unerwartete Frage riss Floyd aus seinen Gedanken: »Wirklich? Äh, wie meinst du das?«
»In dir steckt das Wesen eines Medizinmanns. Ich meine dies nicht im schamanischen Sinn. Das Konzept des Medizinmanns lässt sich aber auch anders interpretieren. Ich bin zwar kein Raumfahrer im eigentlichen Sinne, sondern ein Wissenschafter, der oft auf Raumschiffen mitfliegt, trotzdem bin ich dem einen und anderen Captain begegnet. Die meisten waren bei ihren Mannschaften eher unbeliebt und führten ihre Schiffe sehr autoritär. Sie verließen sich auf ihre Macht, die ihnen die Befehlskette verlieh. Du bist anders. Du verhältst dich wie ein Moderator. Dir sind Argumente wichtig. Du hörst zu und triffst erst dann deine Entscheidung. Ich habe dich ein wenig beobachtet und auch zugehört, wenn man über dich spricht. Deine Art, dieses Schiff zu führen, ist interessant. Du scheinst Entscheidungen zu treffen als Aufgabe zu verstehen, wie Quentin das Berechnen von FTL-Lösungen und Kursen als die seine ansieht. Du akzeptierst nicht nur die Kompetenzen deiner Mannschaft, du forderst sie sogar ein. Du motivierst, ohne zu motivieren, einfach weil du deinen Mitmenschen Respekt zollst. Ja, du bist ein Medizinmann.«
Floyd lief rot an. Wenn es etwas gab, womit er nur schlecht zurechtkam, dann war es Lob. Er war ihm peinlich, zum einen, weil er immer das Gefühl hatte, ihn nicht verdient zu haben und zum anderen, weil er nicht wusste, wie man auf ihn reagieren sollte. Statt also direkt zu antworten, wich Floyd aus, indem er wieder die feine Narbe auf Jasons Brust massierte.
»Ich muss mich aber nicht piercen lassen, oder?«, fragte Floyd scherzhaft.
»Wir werden sehen.«, entgegnete Jason ebenso scherzhaft, aber mit einem Unterton in der Stimme, der Floyd frösteln ließ. Jason grinste verschworen, rollte sich herum, robbte zu Floyd und flüsterte diesem ins Ohr: »Ich will dich! Ich will dich jetzt. Floyd, bitte fick mich!«
Dieser Aufforderung kam Floyd prompt und überaus gerne nach.
»Captain!«, begann Otis, »Wir, Lt. Commander Quentin Harding, Commander Max Friedrich, Lt. Ronald S. Wolf und ich selbst, Lt. Commander Otis Johannson übernehmen die volle Verantwortung für die Beinahekatastrophe mit der Strahlungswolke und akzeptieren alle disziplinarischen Strafen, die Sie für angemessen halten.«
»Was? Soll ich euch den Landurlaub und den Pudding zum Mittagessen streichen?«
Floyd hätte gelacht, hätten seine Offiziere die Sache nicht so ernst genommen. Die Brücken- und Bereitschaftsoffiziere und der Captain der Hyperion hatten sich im Offiziersbesprechungsraum zusammengefunden, um die dramatischen Ereignisse der letzten 32 Stunden einer kritischen Nachbetrachtung zu unterziehen. Floyd war mit der Absicht in die Besprechung gegangen, nüchtern und ruhig den Vorfall zu diskutieren. Otis und seine Kollegen hatten offenbar andere Erwartungen. Doch wenn sie ein Tribunal erwarteten, dann wurden sie von Floyd enttäuscht. Entsprechend verwirrt reagierten sie dann auch auf die Frage ihres Captains.
»Sie können die Verantwortung nicht übernehmen.«, begann Floyd zu erklären, »Den Sprung durch die Strahlungswolke zu wagen, war meine Entscheidung und damit meine Verantwortung. Bitte versteht mich nicht falsch, aber ich bin der Captain. Sie hatten eine Idee, die uns nach den vorliegenden Daten einen Umweg von 450 Lichtjahren ersparen sollte. Ich habe Ihre Daten nochmals prüfen lassen. Das Ergebnis blieb das gleiche. Ein unkritischer Standardsprung würde uns auf die andere Seite einer Strahlungswolke bringen und 450 Lichtjahre Umweg ersparen. Auf der Basis dieser Informationen habe ich meine Entscheidung getroffen und den Sprung befohlen. Meine Entscheidung, meine Verantwortung. Ich bin der Captain. Also bitte, sparen Sie die Selbstgeißelung für andere Gelegenheiten auf. Sie haben alles richtig gemacht.«
»Aber«, versuchte Otis zu widersprechen, »Wir haben falsche Daten geliefert.«
»Nein!«, widersprach wiederum Floyd, »Die Langstreckensensoren haben falsche Daten geliefert. Ich habe da eine Frage. Hätten wir erkennen können, dass es sich bei der vermeintlichen Dünnstelle in Wirklichkeit um eine Tachyonenreflektion eines Pseudoquasard des Typs D handelte?«
»Nein!«, kam es von Quentin wie aus der Pistole geschossen, »Das macht diese Reflexionen ja gerade so tückisch. Sie lassen sich erst erkennen, wenn man die Reflexionsachse passiert hat.«
»Mit anderen Worten, wir haben alles richtig gemacht.«, fuhr Floyd fort, »Meine Herren, was passiert ist, war sicherlich sehr kritisch und alles andere als ungefährlich. Keine Frage. Aber fangen Sie nicht an nach einem Schuldigen zu suchen, wenn es keine Schuld zu verteilen gibt. Ganz im Gegenteil. Ich war sehr von der ruhigen, professionellen Art beeindruckt, mit der die Mannschaft auf die Krise reagierte. Alle behielten einen klaren Kopf und taten das, wozu man sie ausgebildet hat. Wenn Sie wirklich Pathos von ihrem Captain erwarten, dann kann ich helfen. Es erfüllt mich mit Stolz, eine Mannschaft führen zu dürfen, die heikle Situationen derart meisterlich handhabt.«
Diesmal waren es Otis und seine Offiziersfreunde, die rot anliefen, was Floyd zufrieden lächeln ließ.
»Gut, nachdem dies geklärt ist, schlage ich folgendes vor. Sobald alle Checks und Wartungsarbeiten abgeschlossen sind und die Mannschaft wieder fit ist, setzen wir unsere aktuelle Sprunggruppe fort. Lt. Commander Harding und Lt. Commander Johannson werden alle Daten des Strahlungsfelds und der Tachyonenreflektion zusammenstellen und an das Flottenhauptquartier übermitteln, damit die potenzielle Gefahr in die Sternkarten aufgenommen werden kann. Ein anderes Schiff könnte weniger Glück haben als wir.«
»Aye, Captain, wir haben mit der Zusammenstellung bereits begonnen.«
»Sehr gut.«, meinte Floyd zufrieden, »Wenn das alles ist, können wir die Besprechung beenden. Nächstes Treffen bei t minus 90 auf der Brücke. Wegtreten.«
Damit war die Besprechung beendet, der Großteil der Offiziere strömte aus dem Besprechungsraum. Floyd wollte auch gerade den Raum verlassen, als ihn Quentin und Otis aufhielten.
»Captain, haben Sie noch eine Minute für uns?«, fragte der XO.
»Selbstverständlich. Was gibt's?«
Statt zu antworten, warteten die beiden Männer, bis alle anderen den Raum verlassen hatten. Erst als die Tür sich hinter dem letzten schloss, begann Quentin zu sprechen.
»Floyd, du hast uns doch gebeten, festzustellen, wieso wir die Strahlung anzogen und was die Ursache dafür war.«
»Ja...«, antwortete Floyd vorsichtig.
»Wir wissen zwar noch nicht, was es war.«, begann Otis Spannung aufzubauen, »Allerdings wissen wir jetzt, wo die Quelle dieser Anziehungskraft lag.«
»Und?«, fragte Floyd ungeduldig.
»Die Messungen sind absolut eindeutig. Floyd, ich nehme alles zurück, was ich jemals zu deiner Verschwörungstheorie gesagt habe, denn inzwischen bin ich bereit, ebenfalls daran zu glauben. Die Quelle der Anziehung befand sich in Sektion G, Deck 8, im Bereich der Einheiten G-8001 bis G-8027. Also genau dort, wo unserem Schiffscomputer das Wissen über ein paar Lagerräumen fehlt.«
Nach dieser Enthüllung fühlte sich Floyd genötigt, auf einem der Stühle des Besprechungsraums Platz zu nehmen.
»Könntest du Jason zu uns bitten?«
Diese Frage war direkt an Otis gerichtet, der auch sofort verstand, was sein Captain von ihm wollte. Floyds Ziel war Diskretion, was unter anderem bedeutete, Jason nicht vom Computer lokalisieren zu lassen. Stattdessen setzte Floyd auf die mentale Kommunikation zwischen seinem XO und seinem Chefinformatiker. Diskreter ging es kaum. Ein paar Minuten später signalisierte die Türklingel, dass Jason eingetroffen war.
»Was gibt's?«
»Bevor wir dir erzählen, worum es geht, habe ich eine Frage.«, leitete Floyd das Gespräch ein, »Du hast vor ein paar Tagen die Sache mit den verschwundenen Lagerräumen untersucht. Bist du dir absolut sicher, dass die Daten wirklich durch ein falsches Upload gelöscht wurden?«
Jason überlegte. Er rieb sich das Kinn, fuhr sich durch die Haare, öffnete sogar seinen Zopf und band ihn neu zusammen. Inzwischen kannte Floyd seinen Freund ganz gut und wusste, dass dieser oft seltsame Rituale vollführte, wenn er nachdachte. Dies reichte von wildem auf und abwandern in seinem Büro, bis hin zum fast schon manischen Neubinden seiner Haare.
»Nein, ich bin mir nicht absolut sicher.«, gestand Jason, »Ich ging davon aus, weil alle Protokolldateien und Serverlogbücher Warnmeldungen enthielten, dass inkompatible beziehungsweise inkonsistente Daten während des Aufenthalts im Raumdock eingespielt wurden.«
»Könnten diese Protokolldateien so manipuliert worden sein, dass es nur so aussieht, als wenn der Fehler im Raumdock passiert ist?«, hakte Floyd nach.
»Theoretisch schon...«, gab Jason zögerlich zu, »Allerdings ist eine derartige Manipulation extrem aufwendig und nur schwer zu bewerkstelligen. Es müsste schon jemand sein, der sich mit dem System in- und auswendig auskennt. Ich kenne eigentlich nur eine Person, die das könnte.«
»Wen?«, rief Floyd nervös.
»Mich selbst!«, erklärte Jason mit entwaffnender Ehrlichkeit, »Ich habe die Schiffs-KI entworfen und gebaut. Das Problem mit den Protokolldateien ist, dass sie sich im Prinzip nicht verändern lassen. Das heißt, du kannst keine bereits darin enthaltenen Daten verändern oder gar löschen. Das System ist so konstruiert, dass man nur neue Datensätze anfügen kann. Schließlich handelt es sich um ein Systemlogbuch. In dem wird nicht rumgepfuscht.«
»Im Prinzip? Das heißt, es gibt schon einen Weg?«, sprang diesmal Quentin auf Jasons Erklärung an.
»Ja, nämlich unmittelbar vor und nach einem Sprung, wenn alle Daten in den gesicherten Kern übertragen oder aus ihm heraus geholt werden. Das ist jetzt sehr spekulativ, aber man könnte ein Filterprogramm in den Datenstrom einklinken, das die zu verändernden Einträge sucht und wenn es sie findet, gegen neue ersetzt. Die Sache hat nur einen Haken, man würde eine KI benötigen, um die zu filternde Datenmenge verarbeiten zu können. Normale Computersysteme wären zu langsam.«
»Würde eine solche Veränderung Spuren hinterlassen?«
Jason wiegte seinen Kopf hin und her: »Vielleicht. Das hängt davon ab, wie gut die Manipulation durchgeführt wurde. Man müsste einen Korrelationstest fahren, der mehrere Logdateien gegeneinander auf statistische Abweichungen prüft. Sehr kniffelig und rechenintensiv, aber durchaus machbar.«
»Währst du so nett und würdest dies für uns tun?«, bat Floyd seinen Freund, »Diskret.«
»Ja, sicher. Aber könntet ihr mir verraten, wieso ihr plötzlich an der wahrscheinlichsten Ursache, nämlich dem Updatefehler, zweifelt?«
»Weil sich offenbar etwas in den bewussten Lagerräumen befindet, dass die sehr ungewöhnliche Eigenschaft besitzt, Gammastrahlen anzuziehen.«
»Eine Gravitationsquelle?«
»Nein, die würden wir spüren und messen können. Es muss etwas gänzlich Unbekanntes sein. Denn nach dem aktuellen Standardmodell der Physik ist die Ablenkung von Gammastrahlen nur durch Gravitationsfelder möglich.«
»Ich verstehe.«, meinte Jason und kratzte sich am Kinn, »Offensichtlich befindet sich etwas in den unzugänglichen Lagerräumen, das über neuartige physikalische Eigenschaften verfügt, woraus ihr schließt, dass es kein Zufall sein kann, dass diese Lagerräume nicht zugänglich sind, was seinerseits die Logeinträge in Frage stellt, die einen Updatefehler behaupten, womit wir dann wohl bei Floyds ursprünglicher Vermutung angelangt wären, dass wir es mit einer Verschwörung zu tun haben. Liege ich soweit richtig?«
»Manchmal ist er mir richtig unheimlich.«, meinte Floyd.
»Was soll ich sagen, ich kenne die Rothaut seit meiner Kindheit. Er ist unheimlich!«, erwiderte Otis.
»Und jetzt?«, wollte Quentin wissen.
»Machen wir weiter, als wenn nichts vorgefallen wäre.«, erklärte Floyd, »Wenn wir wirklich mitten in einer Verschwörung stecken, dürften wir auch mindestens einen Verschwörer unter uns haben. Mein erster Versuch, ihm auf die Schliche zu kommen, dürfte ihn sowohl verschreckt als auch amüsiert haben. Ich habe mich vor Mannschaft und Passagieren lächerlich gemacht. Vielleicht lässt sich dies zu unserem Vorteil ausnutzen.«
»Ich verstehe.«, meinte Quentin, »Der Verschwörer oder die Verschwörerin - wir wollen unsere Damen doch nicht ausschließen - dürfte sich, nachdem du dich vor aller Mann blamiert hast, recht sicher fühlen. Er oder sie geht wohl davon aus, dass du dir kein zweites Mal die Finger an dem Thema verbrennen willst. Hey, das ist schlau. Ich weiß nicht, ob ich damit zu weit gehe, aber ich könnte mir vorstellen, dass das alles geplant war. Ein Falle, um dich zu diskreditieren. Und seien wir ehrlich, hätten wir nicht versucht, die Strahlungswolke zu durchqueren und wären dabei nicht zufällig einer Strahlungsquelle ausgesetzt worden, wer von uns hätte ernsthaft die Erklärung mit dem Updatefehler angezweifelt?«
»Niemand!«, entgegnete Floyd, »Ich habe zwar kein Problem damit, mich lächerlich zu machen, hätte das Thema aber nicht weiter verfolgt.«
»Und jetzt möchtest du, dass wir die Sache diskret weiterverfolgen.«
»Genau. Die Sache sollte den Kreis der Anwesenden nicht verlassen. Ich vertraue zwar auch euren anderen Freunden, also dem Chief, Ron und Max, trotzdem, je größer der Kreis der Eingeweihten wird, desto größer wird das Risiko, dass sich jemand verrät und unseren Verschwörer warnt.«
»Und wie treten wir in Kontakt? Wenn sich Captain, XO, Navigator und Chefinformatiker regelmäßig treffen, könnte das Verdacht erwecken. Es ist schließlich keine alltägliche Zusammenstellung einer Fachgruppe.«, gab Quentin zu bedenken.
»Richtig! Deswegen bilden wir eine Informationskette. Quentin und Otis, ihr zwei könnt euch ohne Verdacht zu erregen direkt absprechen. Otis wird dann mit Jason telepathisch kommunizieren, der mich dann informieren kann.«
»Und das ganz unauffällig.«, lachte Quentin, »Ihr zwei turtelt ja eh die ganze Zeit miteinander herum.«
Damit waren zwar die Kommunikationswege geklärt, nicht allerdings das grundsätzliche Vorgehen. Jason schlug sofort vor, dass er sich um die erneute Analyse der Protokolldateien kümmern wollte. Wenn die Daten gefälscht waren, dann würde er dies rausfinden. Die Suche war zwar sehr aufwendig und konnte nur direkt am zentralen Rechnerkern vorgenommen werden, da sich Jason aber sowieso die meiste Zeit dort aufhielt, dürfte die Suche nicht weiter Verdacht erregen. Otis meinte, dass er sich um die verschlossenen Lagerräume kümmern wollte. Als XO war er für den allgemeinen Schiffsbetrieb verantwortlich. Somit konnte er in dieser Angelegenheit aktiv werden, ohne dass sich jemand dabei etwas dachte. Es fiel schlicht und ergreifend in seinen Aufgabenbereich. Blieb noch Quentin unversorgt.
»Oh, keine Angst. Ich werde ein wenig die Ohren aufhalten.«, Quentin grinste, »Es gibt da einen knuffigen Assistenten in Leclercs Team. Der wird immer rot, wenn sich unsere Wege kreuzen. Ich glaube, ich werde mal den einen oder anderen Kaffee mit ihm trinken.«
»Bitte, Quentin,«, meinte Jason besorgt, »Keine Herzen brechen, um an Informationen zu gelangen, ja?«
»Hey, für wen hältst du mich?«, entgegnete Quentin leicht gekränkt, »Du hast deinen Schatz gefunden. Der Typ ist wirklich süß. Ich werd ihm nicht das Herz brechen, ganz im Gegenteil. Der Typ scheint mich zu mögen. Vielleicht ist da auch etwas mehr. Aber um das herauszufinden, muss ich mit ihm reden. Wer weiß, vielleicht hat er etwas gehört. Ansonsten werde ich ein wenig mit den Schiffssensoren experimentieren. Vielleicht gelingt es mir, einen Blick in die Lagerräume werfen zu können, ohne dass wir sie öffnen müssen.«
»War dies der Moment, an dem Sie ihre Meinung änderten, dass es sich bei den verschwundenen Lagerräumen doch um eine Verschwörung handeln könnte?« unterbrach Senatorin Sybill S. Monahan Floyds Bericht.
»Nein, nicht wirklich.«, gestand der Captain der Hyperion, »Wie ich vorhin bereits erwähnte, war meine Verschwörungstheorie eben genau das, nur eine Theorie. Allerdings muss ich zugeben, dass ich diese Theorie nie wirklich aufgegeben habe. Man könnte sagen, dass ich mich den Fakten gebeugt habe. Die Erklärung, es handle sich alles nur um einen Updatefehler, war ebenso naheliegend, wie plausibel. Ich bin kein Don Quichote, der gegen Windmühlen kämpft. Mit Lt. Commander Hardings Entdeckung, dass die Strahlung sich auf die unzugänglichen Lagerräume fokussierte, forderte natürlich eine Neubewertung der Sachlage.«
»Und Sie entschieden - erneut - die Mission nicht abzubrechen?«, stichelte erneut Senator Nagano.
»Richtig.«, bestätigte Floyd.
»Wären Sie so nett,«, Richterin Dr. Marion Sakoviac setzte sich interessiert auf, »uns in Ihre Überlegungen einzuweihen, die Sie dazu veranlassten, die Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen?«
»Wie ich schon mehrfach erwähnte, bin ich als Captain für die Sicherheit des Schiffs und aller Seelen an Bord verantwortlich. Die Entscheidung, die Mission abzubrechen oder fortzusetzen, orientierte sich an dieser Verpflichtung. Zu diesem Zeitpunkt sah ich uns, also Commander Harding, Commander Johannson, Chefinformatiker singende Eidechse und mich im Vorteil gegenüber einem potenziellen Verschwörer. Ich sage ausdrücklich potenziellen Verschwörer, da es immer noch möglich war, dass es für alle Vorfälle eine einfache Erklärung gab.«
»Inzwischen wissen wir es besser. Es gab eine Verschwörung.«, warf Richterin Sakoviac ein.
»Ja, Ma'm, Sie haben recht. Es gab eine Verschwörung.«, bejahte Floyd, »Hätte ich zum damaligen Zeitpunkt gewusst, was ich heute weiß, hätte ich die Mission sofort abgebrochen und mehr als ein Leben wäre gerettet worden. Leider verfügte ich damals nicht über unser heutiges Wissen. Ich musste eine Entscheidung auf der Basis dessen treffen, was wir mit Bestimmtheit wussten. Und das war arg dürftig und alles andere als ausreichend, einen Abbruch zu rechtfertigen. Ich stehe zu meinen Handlungen und würde, vor die Wahl gestellt, wieder so handeln, wie ich es tat. Wie gesagt, ich sah uns im Vorteil. Niemand außer den vier genannten Personen wusste von der Entdeckung des Ursprungs der Anziehungsquelle. Für den Verschwörer gab es also keinen Grund, sich nicht in Sicherheit zu wiegen, was unsere diskreten Nachforschungen deutlich erleichterte. Umgekehrt, so meine Überlegung, hätte ein Abbruch den Verschwörer gewarnt und ihm Zeit gegeben, seine Spuren zu vernichten. Wir, genaugenommen ich, hätte mir leeren Händen dagestanden.«
»Ich gebe Ihnen Recht, Captain.«, erklärte Sakoviac, »Während des Rückflugs hätten sich genügend Gelegenheiten geboten, verräterische Spuren zu beseitigen, wenn sie die Erde überhaupt erreicht hätten. Allerdings besaß Ihr Plan einen folgenschweren Gedankenfehler, oder? Sie waren nicht die einzigen, die an eine Verschwörung glaubten und Nachforschungen anstellten.«
»Nein, das waren wir leider nicht.«
Einsatzbefehle
Die vier Männer kamen überein, die Ermittlungen ebenso diskret wie vorsichtig durchzuführen. Solange es keine handfesten Ergebnisse gab, wollte man sich ruhig und unauffällig verhalten, um den oder die Verschwörer nicht zu warnen. Insbesondere wollte sich Floyd aus allen Ermittlungen raushalten. Während man also heimlich nach Informationen forschte, ging man nach außen hin seiner regulären Tätigkeit nach.
Vierundzwanzig Stunden nach dem Notsprung aus der Strahlungswolke waren die Hyperion und ihre Besatzung bereit, ihre Reise fortzusetzen. Etwas nervöser als sonst, aber mit der gleichen Professionalität wie sonst wagte man den nächsten Sprung, der zur allgemeinen Erleichterung absolut perfekt verlief.
Zwei Tage später hatte die Überlichtflugroutine jeden an Bord eingeholt. Kopf-, Muskel und Knochenschmerzen, dösen zwischen den Sprüngen, Appetit- und Lustlosigkeit waren schneller zurückgekehrt, als es einem lieb war. Die beinahe Katastrophe in der Strahlungswolke war sofort vergessen. Sprung, zwei Stunden Pause, Sprung. Die Mannschaft der Hyperion waren Profis, die ihr Sprungprogramm routiniert, fehlerfrei aber auch erbarmungslos durchzog.
Und so wurden aus Stunden Tage und aus Tagen Wochen. Floyd variierte die Länge der Sprünge, um die Auswirkungen des Überlichtflugs auf Mannschaft und Passagiere zu reduzieren. Er begann mit kurzen Distanzen. Damit hielten sich die Kopfschmerzen in Grenzen. Dafür wurden die letzten drei Sprünge einer Sprungfolge verlängert. Die Idee dahinter war, die Besatzung länger frisch und aufmerksam zu halten. Der längste Sprung war der Letzte. Damit gab es zwar mehr Schädelbrummer und zusätzlich Muskelkater, den konnte man allerdings in der folgenden Pause von zwei Tagen oder 48 Stunden kurieren.
»Achtung: Kommunikationsgrenze erreicht. Überlichtkommunikation endet in 25 Lichtjahren.«
Diese Meldung der Schiffs-KI unterstrich, dass es sich bei der DSRS Hyperion in der Tat um ein Deep Space Research Ship, ein Tiefraumforschungsschiff handelte. Denn genau dort war die Expedition angekommen - im tiefen Raum. Hier, rund 3200 Lichtjahre von der Erde entfernt, endete der erforschte Raum. Hier endete auch die Reichweite der tachyonengestützten Kommunikation. Selbst mit den besten Fehlerkorrektur- und Datenübertragungsalgorithmen gelang es nicht, eine sinnvoll nutzbare Verbindung über mehr als ungefähr 3200 bis 3300 Lichtjahre zu etablieren. Ab einer bestimmten Entfernung brach die nutzbare Datenrate komplett zusammen.
»Captain, die Regeln für Tiefraumforschungsschiffe schreiben vor, dass ich Sie jetzt auffordern muss, das Tiefraumprotokoll zu initiieren.«, verkündete der XO.
»Danke, Mr. Johannson.«, Floyd nickte, »Hyperion. Bitte um Freigabe der gesicherten Kommandocodes. Meine Identifizierung lautet Grant, Floyd Rutherford, 28721 66 Alpha 3.«
»Identität bestätigt für Grant, Floyd Rutherford, 28721 66 Alpha 3.«, antwortete die Schiffs-KI, »Stimmt der XO der Freigabe der gesicherten Kommandocodes zu?«
»Der XO stimmt zu. Johannson, Otis Jesse, 24288 66 Beta 1.«, forderte der XO seine Identifizierung an.
»Identität bestätigt für Johannson, Otis Jesse, 24288 66 Beta 1.«, erwiderte Hyp, »Gesicherte Kommandocodes werden für 60 Sekunden akzeptiert.«
»Mein Befehlscode lautet Translight 1, das Kennwort lautet 7744.«, erklärte Floyd.
»Ich bestätige Translight 1, mein Kennwort lautet 2178.«, ergänzte Otis.
»Befehlscode und Kennworte sind gültig und wurden akzeptiert.«, bestätigte Hyp und fuhr im ganzen Schiff hörbar fort, »Seemannschaft, Seemannschaft, hört nun dies! Ab sofort gilt das Tiefraumprotokoll.«
»Gentlemen, lassen Sie uns die Checkliste durchgehen.«, verkündete der XO.
Bevor ein Tiefraumraumschiff die Kommunikationsgrenze übertrat und in den unerforschten Raum eindrang, schrieb das Tiefraumprotokoll umfangreiche Maßnahmen vor. Dazu gehörte insbesondere den gesamten Status des Schiffs zu erfassen und anschließend an das Flottenkommando zu übertragen. Erst wenn der Empfang der Daten von dort bestätigt und der endgültige Einsatzbefehl erteilt wurde, konnte das Schiff weiterfliegen. Das Tiefraumprotokoll bestand aber nicht nur aus dem Zusammenstellen eines Datenpäckchens. Die Kommunikationsgrenze mochte harmlos klingen, doch war sie es nicht. Bedeutete sie doch nichts geringeres, dass ein Schiff hinter dieser Grenze auf sich allein gestellt war. Kam es zu einer Krise oder gar zu einem Notfall, gab es niemanden, den man um Hilfe rufen konnte. Ein Schiff in Not war auf sich allein gestellt.
Bestand der Raumflug für viele Mannschaftsmitglieder bisher aus Däumchendrehen, änderte sich dies nun grundlegend. So wurden alle Stationen ab sofort doppelt besetzt. Für die meisten Computersysteme aktivierten sich redundante Zweitsysteme. Die Sicherheitsschotten, die die einzelnen Sektionen des Schiffs miteinander verbanden, wurden geschlossen. Diese feuer-, strahlungs- und vor allem druckdichten Türen öffnen und schließen sich relativ langsam, weswegen sie bisher offen standen. Das Tiefraumprotokoll betrachtete offene Schotten als Sicherheitsrisiko und verlangte, dass sie stets geschlossen blieben. Jeder, der nun von einer Sektion zu einer anderen Sektion des Schiffes wollte, musste von nun an zehn bis fünfzehn Sekunden auf die Türöffnung warten.
Alle Maßnahmen des Tiefraumprotokolls zielten in eine ähnliche Richtung. Primär ging es darum, mögliche Fehler durch ein Vier- zuweilen auch Sechsaugenprinzip auszuschließen. Niemand wollte riskieren, durch simple Unachtsamkeit für immer und ewig im unendlichen Weltraum verschollen zu gehen.
Vier Stunden nach Inkrafttreten des Tiefraumprotokolls war das Schiff bereit, seinen nächsten Sprung in unbekanntes und unerforschtes Territorium zu wagen. Der letzte ausstehende Punkt auf der Checkliste war das ok des Flottenkommandos. Kaum erteilt gab Floyd den Befehl zum Sprung.
Aber selbst die mit dem Tiefraumprotokoll einhergehende gespannte Erwartung wurde von der monotonen Routine des ständig wiederholenden Sprungrituals zerrieben. Am Ende blieb nichts weiter als öder, sich immer und immer wieder wiederholender Alltag. Wenn sich Floyd erhofft hatte, dass er oder einer seiner Freunde etwas über die Verschwörung in Erfahrung brachte, was die Alltagsroutine immerhin ein klein wenig aufgebrochen hätte, dann wurde er enttäuscht. Weder Quentin noch Otis brachten greifbare Ergebnisse. Offenbar war der Verschwörer sehr vorsichtig, keine Spuren zu hinterlassen. Einzig Jason konnte mit neuen Informationen aufwarten. Sein Korrelationstest der Protokolldateien beförderte tatsächlich Manipulationsspuren zutage. Es würde allerdings noch Wochen dauern, bis die Veränderungen soweit decodiert waren, dass Otis sagen konnte, wer sie wann vorgenommen hatte.
Ob die Führung des Flottenoberkommandos einfach nur sehr vorsichtig war oder schlichtweg paranoid, konnte und wollte Floyd nicht sagen. Fakt war, dass man ihm zwar den endgültigen Einsatzbefehl mit der Freigabe für den Eintritt in den unerforschten Bereich übermittelt hatte, dieser aber erst mit Erreichen des Zwischenziels knapp 1000 Lichtjahre jenseits der Kommunikationsgrenze geöffnet werden konnte.
Dieser Punkt war jetzt erreicht. Die Schiffs-KI ließ sich endlich überreden, mit dem Einsatzbefehl herauszurücken, woraufhin Floyd seine Führungsoffiziere und die Leiter der wissenschaftlichen Abteilungen zu einer Besprechung in den großen Konferenzraum des Schiffes einlud.
»Meine Damen und Herren, vielen Dank, dass Sie alle so kurzfristig kommen konnten.«, begann Floyd, »Wie Sie alle sicherlich wissen, haben wir das Zwischenziel unserer Reise erreicht. Wir sind genau 4177 Lichtjahre von der Erde entfernt. Wir sind 987 Lichtjahre in den Tiefraum eingedrungen. Vor zwei Stunden hat die Schiffs-KI unsere endgültigen Einsatzbefehle freigegeben, die ich Ihnen jetzt bekannt geben möchte. Unser Ziel ist ein kleines Planetensystem. Die Sonne soll in etwa das 1,1-fache unserer heimischen Sonne besitzen. Soweit die uns übermittelten Daten korrekt sind, umkreisen 8 Planeten das Zentralgestirn, wovon einer erdähnliche physikalische Eigenschaften besitzen soll. Umlaufdauer, Eigenrotation, Masse, Radius und Umlaufbahn liegen innerhalb lebensermöglichender Grenzen. Unsere Aufgabe ist es, diesem Planeten einen Besuch abzustatten.«
»Captain«, ergriff Professor Cardigan das Wort, »Ist das nicht ein wenig dürftig, um gleich die Hyperion loszuschicken? Ich meine, ein erdähnlicher Planet? Ich bitte Sie, wo ist da die Neuigkeit. In den letzten 200 Jahren haben wir wie viele Planeten mit Leben entdeckt? Ich sage es Ihnen. Es sind 3265. Also, was sollen wir da?«
»Ich weiß es nicht.«, gestand Floyd offen, »Unser Einsatzbefehl ist wirklich etwas vage. Allerdings gibt es noch einen Hinweis, den ich Ihnen noch nicht mitgeteilt habe. Wir sollen uns dem System vorsichtig und unvoreingenommen nähern. Was dies zu bedeuten hat, kann ich Ihnen nicht sagen. Aber offenbar verfügt dieses Planetensystem über etwas, das es als wichtig genug erscheinen lässt, die Hyperion mit einer Untersuchung zu beauftragen. Das System ist 780 Lichtjahre von unserem jetzigen Standort entfernt und damit innerhalb eines Sprungblocks erreichbar. Ich schlage vor, sich dem System bis auf 1 Lichtjahr zu nähern. Von dort sollten die Langstreckensensoren uns einen ersten Eindruck verschaffen können. Nach einer Pause von einer Woche, in der sich jeder von den Sprüngen erholt haben sollte, werden wir den letzten Sprung durchführen und uns anschließend dem erdeähnlichen Planeten vorsichtig nähern.«
»Wer hat eigentlich das System entdeckt?«, meldete sich Professor Leclerc mit einer Frage, »Selbst mit unserer modernen Sensortechnik ist es unmöglich, derart detaillierte Informationen über ein Planetensystem zu erhalten. Erdähnliche Planeten? Auf diese Entfernung? Eher nicht.«
»Louis, ich weiß es nicht.«, gestand Floyd, »Das Oberkommando gibt sich wirklich sehr geheimnisvoll. Wer weiß, vielleicht hat eine Erkundungssonde etwas aufgefangen. Noch Fragen?«
Es gab keine. Stattdessen erntete Floyd nur mauliges Gemurmel. Die Wissenschafter schätzten es nicht sonderlich, ins Ungewisse geschickt zu werden. Floyd allerdings auch nicht. Der ganze Einsatz war sehr merkwürdig und wurde immer merkwürdiger.
»Quentin hat etwas herausbekommen.«
Es war die Pause nach einer Sprunggruppe. Floyd und Jason hatten sich in die Kabine des Chefinformatikers zurückgezogen. Nach einer gemeinsamen entspannenden Dusche waren die beiden Männer ins Bett geschlüpft. Bevor es allerdings zum Austausch von Zärtlichkeiten kam, ließ Jason Floyd an seinen neuen Erkenntnissen teilhaben.
»Offenbar hat es zwischen Quentin und Leclercs Assistenten gefunkt. Mein alter Freund ist richtig glücklich. Jurek, so heißt der sein Freund, ist Diplom-Physiker, kommt aus Kiew, wo er auch studiert hat und ist in Louis Team, um dort seinen Doktor zu machen.«
»Quentin hat also einen ukrainischen Freund. Und?«, fragte Floyd.
»Ja nun wart' es doch ab!«, erwiderte Jason und bestrafte seinen Freund für seine Ungeduld, indem er dessen Brustwarzen zwirbelte, »Jurek hat zufällig eine Unterhaltung zwischen Louis und der Cardigan mitbekommen. Die gute Ruth ist wie wir davon überzeugt, dass es sich bei der Sache mit den Lagerräumen um eine Verschwörung handelt. Sie hat sich gegenüber Louis, wenig schmeichelhaft über dich geäußert. Sie meinte, es wäre ein echter Glücksfall, dass du dich vor der gesamten Hyperion blamiert hast. Sie meinte, sie würde keine Sekunde an einen Updatefehler glauben, aber wenn es - ich zitiere - diesen ebenso überambitionierten wie naiven Grünschnabel von einem Möchtegernkapitän davon abhält, unüberlegte Nachforschungen anzustellen, wäre das eine gute Sache. Dann funkt er wenigstens nicht dazwischen und lässt die Profis ihre Arbeit machen. Daraufhin soll Louis wohl gemeint haben, dass du weder naiv noch überambitioniert seist. Man dürfe eben nicht vergessen, dass es dein erstes eigenes Kommando sei und du eben alles richtig machen wolltest.«
»Toll. Floyd Rutherford Grant, der bemühte aber inkompetente Jungcaptain.«, knurrte Floyd.
»Du bist alles anderes als inkompetent. Ganz im Gegenteil, dein Instinkt hat dich nicht getrogen. Wir haben es mit einer Verschwörung zu tun. Jedenfalls haben Ruth und Louis wohl noch eine ganze Weile diskutiert. Leider hat Jurek nicht mitbekommen, worüber. Eine Sache hat er dann doch noch aufgeschnappt. Die Cardigan hat irgendetwas von Lagerlisten gefaselt und dass sie kurz davor stehe, rauszubekommen, wer sie verändert hat.«
»Schau mal einer an.«, murmelte Floyd, »Hat mich die Alte doch eiskalt auflaufen lassen.«
»Wie meinst du das?«
»Als ich das erste Mal bei der Cardigan war und meinen Verdacht äußerte, dass jemand die Datenbanken der Schiffs-KI manipuliert haben könnte, um uns von den bewussten Lagerräumen auszuschließen, meinte sie, jemand hätte ihre Lagerlisten verändert. Als du dann mit der Erklärung kamst, dass alles nur auf die Dummheit eines Docktechnikers zurückzuführen sei, meinte sich, dass sich ihr Problem ebenfalls erledigt hätte. Die hat mich rotzfrech angelogen und keine Sekunde daran gezweifelt, dass wir es eben doch mit einer Verschwörung zu tun haben. Frech! Echt frech.«
»Du bist sauer?«, fragte Jason mit einem hinterhältigen Funkeln in den Augen.
»Und ob!«, knurrte Floyd, »Ich könnte...«
»Du willst dich abreagieren? Überschüssige Energie loswerden?«
»Ja, verdammt, ich... Oh... Oh, du bist hinterhältig...«, Floyd grinste breit, als ihm dämmerte, worauf Jason hinauswollte.
»So sind wir Rothäute - hinterhältig und listig.«, lachte Jason und ging mit einer Hand auf Wanderschaft. Dies ließ Floyd natürlich nicht unberührt. Völlig unerwartet, rollte er auf Jason herauf, packte dessen Arme mit seinen Händen und pinnte seinen Freund so ans Bett.
»Und was macht man mit hinterhältigen und listigen Rothäuten?«, fragte Floyd und näherte sich mit seinen Lippen dem Gesicht Jasons, um ihm einen Kuss zu stehlen. Der zeigte sich gespielt ablehnend und wich den fordernden Lippen aus.
»Oh, sind wir etwa auch noch wild und widerspenstig?«, Floyd grinste breit, »Muss ich den wilden Mann etwa zähmen?«
»Ha!«, kam es ebenso gespielt verächtlich von Jason, »Meint das Bleichgesicht etwa, er könne einen stolzen Crow unterwerfen?«
Mit diesen Worten stieß sich Jason vom Bett ab und entwandte sich dem Zugriff des völlig überrumpelten Floyd. Hielten eben noch Floyds Hände Jasons Arme, griffen sie jetzt ins Leere. Floyd verlor sein Gleichgewicht und landete auf dem Bauch. Dies nutzte Jason und schwang sich auf den Rücken seine Freundes. Ein Arm langte um Floyds Hals und nahm diesen in den Schwitzkasten.
»Was sagst du jetzt, Bleichgesicht?«, fragte Jason und übte ein wenig Druck auf den Kehlkopf seines Geliebten aus.
»Scheiße!«, gurgelte Floyd, spielte aber weiter mit, »Wenn du glaubst, ich würde um Gnade winseln, kennst du den weißen Mann schlecht!«
»Du bist tapfer!«, bestätigte Jason, »Doch es wird dir nichts nützen. Du bist in meiner Gewalt.«
Welche Gewalt damit gemeint war, war deutlich zu spüren. Jason hatte ihn fest unter seiner Kontrolle. Der Arm um seinen Hals war ein sehr effektives Mittel, ihn im Zaum zu halten, was Jason weidlich ausnutzte. Floyd fühlte, wie sich Jasons Schwanz einen Weg zwischen seine Pobacken bahnte und direkt auf seinen Schließmuskel zusteuerte. Obwohl er wusste, was ihn erwartete, bäumte sich Floyd auf, was Jason völlig instinktiv mit festerem Druck auf den Hals seines Freundes unterband.
»Widerstand ist zwecklos!«, verkündete Jason und drang in Floyd ein. Der wehrte sich nicht, sondern genoss die Penetration seines Geliebten. Innerhalb weniger Sekunden löste sich die Spielszene in lustvolles Treiben auf. Man wechselte die Position. Floyd legte sich auf den Rücken. Die Beine auf Jasons Schultern ließ er sich tief und genussvoll von seinem Freund ficken, während er gleichzeitig nach dessen gepiercten und daher sehr sensiblen Brustwarzen langte, um sie zu zwirbeln.
Enthüllungen
Floyd kicherte albern. Die beiden Männer lagen zwar ausgepowert, aber dafür sehr befriedigt nebeneinander. Floyd zupfte verspielt an Jasons Nippeln.
»Worüber lachst du?«
»Über unser kleines Rollenspiel. War das nicht ein klein wenig klischeehaft.«, meinte Floyd amüsiert, wenn auch mit einem beunruhigten Unterton, der einem Psioniker wie Jason natürlich nicht entging.
»Cowboy und Indianer?«, lachte nun auch Jason, »Ach komm, das war lustig. Allerdings... Dir brennt noch etwas anderes auf der Seele. Raus mit der Sprache. Wir wollten ehrlich zueinander sein.«
Floyd schluckte: »Ehrlichkeit also. Ok... Also, als du mich da vorhin im Schwitzkasten hattest... Das war... ähm... geil. Mein Schwanz machte einen Satz.«
»Cool!«
»Cool?«, der Captain der Hyperion schluckte erneut, »Ich hätte eher befürchtet, du hältst mich für pervers.«
»Was? Nur weil dir die etwas rauere Gangart gefällt? Soll ich dir ein Geheimnis verraten?«
»Was? Ja, ähm sicher...«, stammelte Floyd, während er immer noch an den Brustpiercings seines Freundes rumzwirbelte.
»Als mir während einer Initiationszeremonie die Brustwarzen gepierct wurden, an denen du gerade rumspielst, hatte ich die härteste Latte aller Zeiten. Ich war so was von geil, dass ich glaubte, zu platzen.«
»Krass«, kommentierte der Captain und zwirbelte weiter, »Initiationszeremonie?«
»Sie ist wohl nicht historisch authentisch, trotzdem musste ich sie durchlaufen. Es ging unter anderem darum, mich meinen inneren Ängsten zu stellen. Zum Teil markierte es den Übergang vom Jungen zum Mann. Teile meines Stammes hatten Vorbehalte, mich als Krieger, geschweige denn als Medizinmann, zu akzeptieren. Sie meinten, ich hätte zu lange in der der anderen Welt verbracht und die Verbindung zur wahren Natur der Welt verloren. Sie hatten nicht ganz unrecht. Ich hatte mich sehr weit von meinem Volk und seiner Kultur entfernt. Eigentlich war ich ihr nie wirklich nah. Der Konflikt zwischen meinem Vater und seinem Vater war nicht hilfreich. Ich hatte schon erzählt, dass ich an der Westküste aufgewachsen bin, fern von aller indianischer Kultur. Wenn ich also akzeptiert werden wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als mir mein Erbe zurückzuerobern. So dachte ich.«
»Aber?«
»Aber.«, Jason lachte melancholisch, »Ich war naiv und blind. Es ging nicht darum, von meinen Stammesbrüdern und -schwestern akzeptiert zu werden. Es ging darum, mich selbst zu akzeptieren. Mich, meine Herkunft, meine Ängste, meine Dämonen. Ich habe Jahre gebraucht, dies zu begreifen. Zusammen mit Otis. Denn alles, was für mich gilt, gilt auch für ihn. Wie heißt es so schön. Jeder Weg beginnt mit einem ersten Schritt. Was ich allerdings nicht wusste, war, wie weit und steinig der Weg war; und wie gefährlich. Wie gesagt, die Felle, mit denen wir uns gerade zudecken, stammen Tieren, die ich selbst ohne Hilfe und nur mit einem Messer bewaffnet erlegt habe. Auch wenn es sich so anhört, war es keine Mutprobe. Es ging viel mehr darum, Respekt vor dem Leben zu lernen. Erst wenn du einem anderen Lebewesen das Leben nimmst, erfährst du, wie kostbar das Leben wirklich ist.«
»Und warum die Piercings?«
»Weil sie geil aussehen.«, meinte Jason scherzhaft.
»Stimmt. Sie sehen an deiner Brust wirklich geil aus. Aus welchem Material bestehen sie?«
»Polierte Holzdornen. Ich fand, dass Chirurgiestahl nicht zu mir passt.«, erläuterte Jason, »Ich habe sie mir stechen lassen, um mich meiner Angst vor Schmerz zu stellen.«
»Warum? Ist das wieder so ein indianisches Ding?«
»Ich weiß nicht, ob es ein originär indianisches Ding ist.«, antwortete Jason, »Während unserer, also Otis und meiner Sinnkrise wurden wir zeitweise von völlig irrealen Ängsten gequält. Otis wurde unter anderem klaustrophobisch, während ich eine Agliophobie, eine Phobie vor Schmerz entwickelte. Wie gesagt, Psioniker zu sein, kann ganz schön an die Nerven gehen. Insbesondere in der Jugend. Jeder Mensch hat Ängste, aber bei einem Telepathen gehen sie ungleich tiefer. Natürlich war es Sleeping Wolf, mein Großvater, der unser Problem auf den Punkt brachte. Wenn wir nicht wollten, dass unsere Phobien unser Leben bestimmen, dann müssten wir uns ihnen stellen. Nun ja, wir, Otis und ich wären keine Telepathen, hätten wir diesen Kampf nicht ebenfalls ins Extreme geführt. Otis stellte sich seinem Dämon, indem er mit mir eine Höhlenexpedition unternahm.«
»Hammerhart!«, rutschte es Floyd raus, »Für jemanden, den enge Räume in Panik versetzen, muss der Gedanke, ein ganzes Gebirge über sich zu wissen, die Hölle sein.«
»Das war sie und Otis wäre sicherlich auch durchgedreht, hätte er mich nicht bei sich gehabt. Zusammen bezwangen wir seine Angst. Otis lernte, dass es nichts gab, was es zu fürchten galt. Kaum hatte er dies begriffen, gab es für ihn kein Halten mehr. Otis liebste Freizeitbeschäftigung ist deswegen inzwischen tatsächlich die professionelle Erkundung von Höhlen.«
»Und wie war es bei dir?«
»Ein klein wenig komplizierter.«, gestand Jason, »Neben meiner Angst vor Schmerz quälte mich auch das Gefühl, von meinem Stamm nicht akzeptiert zu werden. Ich hatte sogar den Eindruck, dass sie Otis, diesen blonden kalifornischen Surferboy für einen besseren Crow hielten, als mich. Also entschied ich, mich ebenfalls meiner Angst zu stellen. Gleichzeitig wollte ich meinen Leuten beweisen, dass ich ein tapferer Krieger bin. In den letzten zwei Jahrhunderten sind Ideen zur rituellen Körpermodifikation der modern primitives von meinem Stamm aufgenommen worden, was mich auf eine Idee brachte.«
»Piercing?«
»Rituelles Piercing, wenn auch ohne den ganzen verquasten Esoterikscheiß. Es ging einfach darum, auszutesten, wo die eigenen Grenzen lagen. Oh, Shit, war ich naiv. Ich war ein achtzehnjähriger Kerl voller Testosteron und Hybris. Was für ein lächerlicher Großkopf ich doch war. Wenn ich mich also meiner Angst stellen sollte, dann natürlich gleich das ganz große Programm. Ich wählte also ein Piercingritual. Vordergründig ging es darum, die Akzeptanz und den Respekt der Krieger des Stammes zu erlangen. Ich musste mein Anliegen vortragen und einen der Krieger wählen, der später das eigentliche Piercing ausführen sollte. Doch bevor es so weit war, wurde getanzt, stundenlang getanzt, um einen tranceartigen Zustand zu erlangen. Dass die dabei freigesetzten Endorphine als natürliches Schmerzmittel wirkten, lernte ich erst später. Wie gesagt, es wurde getanzt, stundenlang getanzt, bis der Krieger, der das Ritual leitete, meinte, es sei soweit. Ich wurde zu zwei Holzpfählen geführt, an die man meine Hand- und Fußgelenke band. Ohne die Tanzerei wäre ich normalerweise bereits da vor Panik ausgetickt, doch diesmal nicht. Ganz im Gegenteil war ich völlig aufgeputscht. Ich strotzte vor Energie. Und dann kam Jesse. Jesse Ironhorse war ein gerade mal zwanzigjähriger Typ, zu dem ich eine wirkliche Hassliebe kultivierte, von der er aber, so dachte ich jedenfalls, nichts wusste. Ich fand den Typ nämlich einfach nur rattenscharf. Ein Körper wie gemeißelt. Wenn er mit nacktem Oberkörper rumlief, was er oft und sehr demonstrativ tat, hatte ich einen Dauerständer. Leider gehörte Jesse zu den Typen, die mich verachteten. Bei jeder Gelegenheit bedachte er mich mit wenig netten Begriffen. Peinliche Moderotehaut war noch die netteste. Jesse ließ mich halt ständig spüren, dass er mich für keinen wirklich Crow hielt, sondern für eine verweichlichte, kalifornische Psychotucke.«
»Was?«, schrie Floyd entsetzt auf, »Und ausgerechnet der Typ wollte dich piercen?«
»Ich bat ihn darum.«, erwiderte Jason mit einem hinterhältigen Grinsen, »Ich dachte mir, wenn ich meinem schärfsten Gegner im Stamm bewies, dass ich keine weinerliche Dramaqueen bin, müsste ich eigentlich den Respekt des ganzen Stammes gewinnen können.«
»Junge, du bist hart drauf.«, rief Floyd.
»Ich war naiv.«, Jason zuckte mit den Schultern, »Wie auch immer. Jesse akzeptierte. Und so stand ich dann da. Gefesselt, mit nacktem, vom Tanzen schweißnassen Oberkörper hing ich zwischen den Pfählen. Es war Nacht. Die Krieger hatten ein Lagerfeuer und Fackeln entzündet. Die ganze Atmosphäre war sehr spirituell. Alle Anwesenden, außer mir und Otis, trugen traditionelle Kleidung. Uns stand das Recht derartige Kleidung zu tragen noch nicht zu. Erst ließ man mich eine Weile so gefesselt stehen, bis Jesse auf mich zu kam und mir direkt in die Augen schaute. ›Na Kleiner‹, begann er, ›Willst du uns wirklich weißmachen, dass du zum Krieger unseres Stammes taugst?‹ Er wollte mich provozieren, doch ich widerstand: ›Ich werde dir beweisen, dass ich ein Krieger bin.‹ Jesse lachte: ›So, wirst du das? Du willst mir wirklich etwas beweisen? Du? Du scheißt dir doch vor Angst in die Hose. Schau her?‹ Jesse hielt mir einen der Dornen, die sich jetzt in meiner Brust befinden vor die Nase. Panisch starrte ich das Teil an. ›Was hab' ich gesagt? Man, du stinkst vor Angst!‹, zischte mir Jesse zu, ›Ich geb dir einen guten Rat. Geh dahin zurück, wo du hergekommen bist. Hier ist kein Platz für euch alle-Leute-sind-happy-und-cool-drauf Bubis.‹ Jesses Stimme troff vor Verachtung. Der Typ brachte mich zum Kochen. Ich mochte vielleicht nicht dem Idealbild eines Kriegers unseres Stammes entsprechen, aber wer tat das schon? Selbst Jesse war kein hauptberuflicher Indianer, sondern Maschinenbaustudent. Die anderen Teilnehmer der Zeremonie waren Farmer, Tierärzte, Verfahrenstechniker, Drug-Store-Verkäufer, County-Sheriffs, Bierbraumeister oder Richter am Appellationsgericht, also ganz normale Leute mit ganz normalen Berufen, die ein gemeinsames Erbe, eine gemeinsame Kultur miteinander teilten.«
»Und Jesse verweigerte dir die Teilhabe an diesem Erbe?«
»Verweigerte? Er sagte, dass er mich für unwürdig hielt. Mein Wunsch, ein Krieger zu werden, wäre anmaßend. Ich wäre durch die Kultur der Weißen völlig verweichlicht und von ihrem Denken verseucht. Er brachte mich dermaßen zum Kochen, dass ich ihn anschrie, er solle sein Maul halten und endlich anfangen. ›Wenn du darauf bestehst.‹, lachte Jesse hämisch und griff zum Sterilisator, um Brust und Dorn vor der eigentlichen Prozedur keimfrei zu machen. Wir mögen zwar archaischen Ritualen nachhängen, das hieß aber noch lange nicht, dass wir auf die Vorzüge moderner Technik verzichteten.«
»Und dann piercte er dich?«, fragte Floyd recht kurzatmig. Die Erzählung seines Freundes wer erschreckend erregend.
»Jein.«, erwiderte Jason, »Bei dem Piercingritual geht es ja darum, sich als Krieger zu beweisen, was heißt, Schmerz zu widerstehen. Vielleicht hast du schon mal gehört, dass zu Zeiten der Besiedlung Amerikas durch die Europäer die Kiowas und insbesondere die Comanchen dafür berüchtigt waren, ihre Gefangenen, etwa Krieger eines verfeindeten Stamms, am Marterpfahl sehr lange und sehr grausam zu quälen. Die Logik dahinter war ein wenig verquer. Man meinte, damit dem gefangenen Krieger für seine Tapferkeit Respekt zu zollen. Viel Qual gleich viel Ehre. Dabei musste die Mater nicht grundsätzlich mit dem Tod des Gefangenen enden. Zeigte der sich nämlich besonders standhaft und quittierte seine Qual sogar damit, seine Peiniger zu verhöhnen und zu verspotten, wurde er nicht selten aus Achtung vor seiner Tapferkeit freigelassen. Mein Stamm hat derartige Dinge zwar nie praktiziert, allerdings färbten die Geschichten von diesem ganzen Tapferkeitsgedöns auf uns ab. Du kennst doch Sprüche, wie ›Ein Indianer kennt keinen Schmerz‹. Dort haben sie ihren Ursprung. Mit anderen Worten, Jesse bohrte mir den Dorn langsam und sehr genüsslich ins Fleisch. Er war richtig fies und es tat verdammt weh. Am liebsten hätte ich aufgeschrien, aber ich tat es nicht. Stattdessen biss ich die Zähne zusammen und versuchte mir nichts von dem Schmerz anmerken zu lassen. Ich hatte keine Furcht. Mir lief Schweiß von der Stirn und Tränen aus den Augen, aber meine Angst vor Schmerz war verschwunden. Lautlos ließ ich Jesse sein Werk vollenden. Dabei schaute ich ihm direkt in die Augen. Er sollte sehen, wie tapfer und standhaft ich war. Der grinste und drehte weiter munter den Dorn in meinen Nippel. Ich zuckte zusammen, fing mich aber gleich wieder. Und dann sah ich es. Die demonstrative Verachtung und der höhnische Ausdruck schwand aus Jesses Miene und wich Stolz und Zufriedenheit. ›Schau an, womöglich war unter der Hülle dieses Weicheis doch ein wahrer Krieger verborgen.‹ Jesse lächelte.«
»Er lächelte?«
»Oh ja. Jesse nickte mir zu und meinte, dass ich meine Sache gut gemacht hätte. Erst dann bemerkte ich, dass er fertig war. Meine erste Brust war gepierct. Ein klein wenig Blut rann an ihr herunter, aber der Dorn steckte und sah richtig geil aus. Verwundert starrte ich Jesse an, der nickte erneut und meinte: ›Das war Nummer eins. Bereit für Nummer zwei?‹ Diesmal nickte ich. Ohne weitere Worte wurde meine andere Brust gepierct. Ich zuckte nichtmal zusammen. Es störte mich nicht. Der Schmerz, der objektiv da war, spielte keine Rolle. Ganz im Gegenteil, er war... cool und auf schräge Art sogar geil. Ich hatte das Gefühl zu fliegen. Das Lagerfeuer, die Fesseln, die Hitze, die von Jesses Körper ausging, die Piercings, all das zusammen, schuf eine ebenso berauschende wie unwirkliche Atmosphäre, der ich mich ergab und fallen ließ. Man löste meine Fesseln und wir begannen wieder zu tanzen. Die ganze Nacht tanzten wir um das Lagerfeuer oder teilten den Rauch einer heiligen Pfeife. Tanzend begrüßten wir die Sonne, die in unserer Religion eine besondere Rolle spielt. Sie gilt seit alters her als das höchste geistige Wesen. Irgendwann, wann genau kann ich nicht sagen, da ich vollkommen mein Zeitgefühl verlor, endete die Zeremonie und wir zogen uns in unsere Häuser zurück, um zu schlafen.«
»Heftig. Wirklich heftig.«, Floyd war von der Intensität der Erzählung überwältigt. Was Jason schilderte klang, als ob man es direkt einem Abenteuerroman des neunzehnten Jahrhunderts entnommen hätte. Nur war es kein Roman. Es war Realität. Die zwei Dornen in Jasons Brust bewiesen dies.
»Oh, die Geschichte ist noch nicht ganz zu Ende.«
»Nicht?«
»Nein, denn die Überraschung erwartete uns am folgenden Abend. Wir hatten den halben Tag geschlafen, um uns vom Ritual zu erholen. Otis hatte sich zwar nicht piercen lassen, aber an allen anderen Teilen der Zeremonie teilgenommen, insbesondere den Tänzen. Es dämmert schon, als es an der Tür klopfte. Es war Jesse. ›Hallo singende Eidechse‹, grüßte er mich und benutzte das erste Mal meinen indianischen Namen. Gut gelaunt bat er um Einlass. ›Bist du überrascht, mich zu sehen?‹, fragte er. Ich nickte nur und war zu perplex, um etwas zu sagen. Otis ergriff die Initiative und bot ihm einen Platz an. ›Jason, ich bin stolz auf dich. Du hast dich als wahrer Krieger bewiesen.‹ Immer noch verwirrt, stammelte ich: ›Wieso, weil ich nicht geschrien und gewimmert habe? Weil ich dir widerstanden habe?‹ Jesse schüttelte den Kopf. ›Nein, weil du eben nicht widerstanden hast und dich deiner Furcht gestellt hast. Ich sehe, du verstehst mich nicht, oder?‹ Im ersten Moment verstand ich wirklich nicht, was Jesse mir sagen wollte. ›Du hast dich deiner Phobie gestellt, indem du dich ihr ergeben hast. Jason, du musstest uns nichts beweisen, weder mir noch den anderen Kriegern unseres Stammes. Dem einzigen, dem du etwas beweisen musstest, war dir selbst.‹ Langsam fiel der Silberdollar. Eigentlich fiel eine ganze Handvoll. ›Hast du mich deswegen die ganze Zeit angemacht?‹ Ich stellte die Frage, obwohl ich die Antwort längst kannte. Jesse grinste frech: ›Es hat richtig Spaß gemacht, dich aufzuziehen. Du ziehst dann immer so ein niedliches Schmollmündchen.‹ ›Gar nicht wahr!‹, fiel ich Jesse ins Wort. ›Und ob!‹, fiel mir Otis in den Rücken, der bis dahin der Unterhaltung schweigend beigewohnt hatte. ›Dein Großvater und ich waren der Meinung, dass du jemanden brauchst, an dem du dich reiben kannst. Wir mussten etwas schaffen, auf das du deine Phobie projizieren konntest. Indem ich dich reizte, verlagerten sich deine Gefühle. Sie wechselten von Angst zu Wut.‹ Für einen Moment war ich sprachlos. ›Dann war alles nur... Show?‹. Jesse schüttelte den Kopf und zeigte auf meine gepiercte Brust ›Nein, sieh dich an. Die Dornen sind der Beweis deines Sieges. Wenn du willst, kannst du sie jetzt entfernen. Aber...‹ Diesmal schüttelte ich den Kopf und unterbrach Jesse: ›Nein. Ich werde sie tragen.‹ Für diese Bemerkung erntete ich ein zufriedenes Nicken: ›Du weißt, dass dein Großvater der Meinung ist, dass in dir ein Medizinmann verborgen liegt. Und in dir auch‹, Jesse schaute zu Otis, ›Ihr zwei besitzt großes Potenzial. Ich kann es fühlen. Wenn ihr es wollt, werde ich euer Lehrer sein.‹«
»Wow!«, Floyd brauchte eine ganze Weile, um seine Sprache wiederzufinden. Vorsichtig, fast ehrfürchtig, zupfte er an den Dornen in Jasons Brust, »Weißt du, worauf du wirklich stolz sein kannst?«
»Ich weiß nicht, sag du es mir.«
»Auf deine Familie und auf deine Stammesbrüder. Dein Großvater, Jesse, aber auch die anderen Krieger, die an der Zeremonie teilgenommen haben, sie taten das alles, um dir und Otis zu helfen.«
»Ja, du hast recht.«, stimmte Jason ernst zu, um wenig später von einem verlegenen Grinsen beschlichen zu werden.
»Was?«, fragte Floyd, von Jasons Lächeln belustigt.
»Es gibt da noch ein kleines Detail, das ich noch nicht erzählt habe.«
»Raus damit!«, Floyd ahnte, dass es ein pikantes Detail sein musste. Andernfalls hätte sein Freund nicht so rumgedruckst.
»Als mich Jesse piercte, hatte ich einen hammerharten Ständer. Die ganze Szene war total geil. Als er mir dann den zweiten Dorn reinbohrte, bin ich gekommen.«
Diese Enthüllung war eine Steilvorlage, die sich Floyd einfach nicht entgehen lassen konnte. Mit beiden Händen griff er nach Jasons durchbohrten Nippeln und zwirbelte sie: »So, das gefällt dir also?«
»Ein wenig...«, gestand Jason leise.
»Oder soll ich meine Lieblingsrothaut auch noch fesseln?«, fragte Floyd halb scherzhaft und wackelte dabei mit seinen Augenbrauen. Jason reagierte anders als erwartet. Er schloss seine Augen und wandte den Kopf ab.
»Hey, Schatz, das war nur ein Scherz. Ich wollte...«, Floyd biss sich auf die Lippen, »Ich...«
»Nein, warte, ich wollte ehrlich sein.«, Jason rang mit Worten, »Es ist nur so, dass ich dich nicht verlieren möchte.«
»Du wirst mich nicht verlieren.«, stellte Floyd mit fester Stimme klar, »Du bist ein Telepath, du weißt, dass ich dich nicht anlüge. Du wirst mich nicht verlieren. Dich machen harte Spielchen an? Kein Problem. Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass Tyler und ich nicht nur gekuschelt haben?«
»Du? Ihr?«, Jason starrte Floyd verdattert an. Der nickte hintersinnig.
»Oh ja, wir waren sehr experimentierfreudig. Wenn wir auch nicht soweit gegangen sind, uns gegenseitig irgendwelche Stifte in den Körper zu bohren.«, erläuterte Floyd, »Wir hatten unseren Spaß miteinander. Tyler sagte immer, man kann schlecht über etwas urteilen, das man nicht kennt. Eines meiner intensivsten Erlebnisse war, von Tyler gefesselt zu werden. Es ist der ultimative Vertrauensbeweis. Du begibst dich voll in die Hände des anderen. Wie du, musste auch ich mich meinen Ängsten stellen, indem ich die Kontrolle über meinen Körper an Tyler abgab. Und ich muss sagen, er war richtig geil, teuflisch gemein, aber auch höllisch geil.«
Dem Ziel so nah
»Hast du eigentlich mal mit Jesse... Du weißt schon...«
»Mit ihm geschlafen?«, Jason musterte Floyd aufmerksam, »Bist du eifersüchtig?«
»Ich weiß nicht, vielleicht... Aber eigentlich bin ich nur neugierig.«
»Neugierig also. Wie kommst du überhaupt auf die Idee, dass Jesse schwul sein könnte?«
»Ich nehme es an. So wie du ihn beschrieben hast, dass er mit seinem nacktem Oberkörper vor dir kokettierte, ließ mich annehmen, dass er es sein könnte.«
»Du hast recht. Er ist schwul. Und ja, wir haben miteinander geschlafen. Wenn auch nicht oft. Es war uns beiden klar, dass wir nur Freunde sein könnten. Und Jesse ist wirklich ein sehr guter Freund. Er wird dir gefallen.«
»Er wird mir gefallen? Ich werde ihn kennenlernen?«, fragte Floyd verdutzt.
»Sicher!«, meinte Jason sehr nachdrücklich, »Wenn wir wieder auf der Erde sind, wirst du mit mir ins Reservat kommen.«
Unter alten, erfahrenen Raumfahrern gab es eine Weisheit. Wenn du lange im Weltraum unterwegs bist, vergisst du, dass es außerhalb der Raumschiffhülle noch eine andere Welt gibt. Je länger die Reise währt, desto schneller beginnt man, die normale Welt zu vergessen. Und wenn man nicht aufpasst, wird irgendwann die Welt des Raumschiffs zur normalen Welt, während echte Erde unter den Füßen und ein blauer Himmel überm Kopf zu etwas Fremdem und Ungewohntem wird.
Jeder Raumfahrer kannte diese Weisheit, trotzdem musste jeder für sich einen Weg finden, damit umzugehen. Für Jason gab es nur einen Weg. Er nahm einen Teil seiner Welt mit. Er trug sie im Herzen, er umgab sich aber auch mit Dingen, die ihn an seine Heimat erinnerten und verbanden, etwa eine prächtige Federnhaube, die Felldecke auf seinem Bett oder auch seine indianische Kleidung mit Mokassins, Wildlederhose und Brustschmuck mit Bone-Hairpipes.
Floyd zuckte zusammen, als ihm die Bedeutung von Jasons letzter Bemerkung traf. Die Erde? Sie war so unendlich weit weg. Wann hatte er das letzte Mal an sie gedacht? Konnte er sich wirklich noch an den Geruch von Gras erinnern? Das Blau des Himmels. Das Rauschen des Meeres? Eine tiefe Traurigkeit erfasste Floyd. Er schloss seine Augen und seufzte.
»Hey, Schatz, was ist mit dir? Hab' ich etwas Falsches gesagt?«, fragte Jason besorgt und streichelte Floyds Schulter.
»Nein, hast du nicht.«, schluchzte Floyd, »Als du eben von der Erde sprachst... Ich kann mich kaum noch an sie erinnern. Ich habe dieses Kommando wenige Stunden nach einem mehrmonatigen Einsatz angetreten. Jason, ich bin drauf und dran, die Erde zu vergessen! Ich... Da ist wirklich niemand, der auf mich wartet. Gut, da sind meine Eltern, die mich lieben und auch mein Bruder. Aber ich bin nicht Teil ihres täglichen Lebens. Mein Bruder hat seine Familie. Meine Eltern... Aber sonst ist da niemand. Keine Freunde, die sich über einen Besuch freuen würden - Niemand!«
»Floyd?«, Jason wählte für seine Ansprache die Form einer Frage, was Floyd sofort zu seinem Freund aufschauen ließ. Jason fuhr fort: »Du hast Freunde. Du hast mich, du hast Otis, sogar Quentin. Und wenn wir Heim kehren, werde ich dir meine Welt zeigen. Du wirst meinen Großvater und meine Großmutter kennenlernen, sogar meine Eltern und meine Freunde aus dem Reservat. Du hast Freunde, selbst, wenn du sie jetzt noch nicht kennst.«
Ein warmer Schauer erfasste Floyd. Dankbar und erfüllt von melancholischer Glücklichkeit schmiegte er sich an Jason, der ihn sofort in den Arm nahm.
»Danke, Jason, danke, dass es dich gibt und dass ich dein Freund sein darf.«
»Danke, Floyd, dass ich dein Freund sein darf.«
»Also, was gibt es Neues?«
Floyd hatte entschieden, dass nach ein paar Wochen diskreter Nachforschungen den Verschwörer betreffend, ein Treffen mit Otis, Quentin und Jason angesagt war. Es war das erste Mal, dass man direkt zusammenkam, und sollte daher unverdächtig sein. Natürlich gab es ein geringes Restrisiko, das Floyd aber bereit war, einzugehen. Die Hyperion war nur noch zwei Sprünge vom Ziel ihrer Reise entfernt. Wenn es wirklich eine Verschwörung und einen Verschwörer an Bord gab, dann war davon auszugehen, dass er spätestens mit Erreichen des Missionsziels aktiv werden würde. Umso wichtiger war es, vorher selbst aktiv zu werden.
»Die Cardigan scheint auf etwas gestoßen zu sein.«, begann Quentin, »Jurek hat mir erzählt, dass sie vor zwei Tagen ganz aufgeregt in Louis Büro gestürmt sei. Er hätte zwar nicht alles mitbekommen, aber CC faselte erneut von Lagerlisten und dass sie kurz davor sei, rauszubekommen, wer diese manipuliert hat.«
»Dann geht es ihr wie mir.«, fügte Jason hinzu, »Es war Schwerstarbeit, aber langsam trägt sie Früchte. Ich glaube, dass ich in ein paar Tagen sagen kann, wann die Datenbanken der Schiffs-KI wirklich verändert wurden. Vielleicht lässt sich dann sogar sagen, von wem.«
»Kann du das zeitlich ein wenig genauer eingrenzen?«, fragte Floyd, »Bisher hat unser Mr. X stillgehalten. Ich befürchte nur, dass sich dies sehr schnell ändern wird, sobald wir unser Ziel erreicht haben.«
»Leider nicht.«, erwiderte Jason, »KI-Systeme sind anders als normale Computersysteme aufgebaut. Es sind selbstorganisierende Prozessornetzwerke. Sie besitzen keine konstruierte Struktur. Eine Information ist nicht an einem bestimmten Ort im Speicherwerk abgelegt, sondern verteilt sich zusammen mit Milliarden anderen Informationen über weit verteilte Speicherbereiche. Es ist möglich, dass ich die Information in ein paar Stunden extrahieren kann, genauso ist es aber auch möglich, dass es noch zwei Wochen braucht. Müsste ich allerdings eine Schätzung abgeben, gehe ich eher von Stunden als von Wochen aus.«
Floyd nickte nachdenklich. Er wollte seinen Freund nicht unter Druck setzen. Als Captain eines Raumschiffs war er mit ausreichender Fachkenntnis ausgestattet, um zu wissen, dass Jason recht hatte. Man konnte keine Ergebnisse erzwingen. Das Problem war, dass ihm die Zeit weglief. Irgendetwas Unheilvolles braute sich zusammen. Irgendjemand hatte etwas vor. Etwas, das mit ihrem Missionsziel in Verbindung stand. Dies war keine wilde Spekulation, sondern eine logische Konsequenz, die sich aus den vorliegenden Fakten ergab. Die Hyperion beförderte geheimes Material. Wozu? Sicherlich nicht, um einfach nur im Weltraum umherkutschiert zu werden. Es musste einem Zweck dienen. Niemand hätte sich mit ihrer Tarnung so viel Mühe gegeben, wollte man auf das, was in den unzugänglichen Lagerräumen lag, nicht irgendwann zugreifen. Und wann? Am Missionsziel, wann sonst.
»Was machen wir?«, wollte Otis wissen, dem ähnliche Überlegungen durch den Kopf gingen, »Wir können unsere Reise kaum hinauszögern, ohne, dass es auffällt und Fragen aufwirft. Wir sind Opfer unseres eigenen Erfolgs. Die Hyperion hat noch nie so effizient ihr Ziel erreicht, wie unter deinem Kommando, Floyd. Unter normalen Umständen würde ich dir jetzt gratulieren.«
»Ich verstehe, was du meinst.«, Floyd grübelte, »Vielleicht können wir vor dem letzten Sprung noch ein paar Stunden rausschinden. Wir wäre es mit intensiven Langstreckenscans der Zielregion? Wir...«
»Oh Mann, wir sind Idioten!«, platzte es aus Quentin heraus, »Wir sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht! Floyd, wie lautet das genaue Missionsziel?«
»Wir sollen den vierten Planeten eines Systems von 8 Planeten untersuchen. Standardvorgehensweise. Spektralscans, Luft-, Wasser und Bodenanalysen. Tachyonen und Neutrinoscans. Der Missionsbefehl weist ausdrücklich darauf hin, das gesamte Planetensystem unvoreingenommen zu untersuchen.«
»Klar tut er das.«, nickte Quentin, »Weil bereits jemand ganz genau weiß, wonach wir suchen sollen. Wenn dies wirklich eine Verschwörung ist, dann geht sie weiter, als wir bisher dachten. Die ganze Mission ist ein Teil davon. Wir sind Marionetten.«
»Das macht keinen Sinn.«, schüttelte Floyd den Kopf, »Ich besitze die alleinige Entscheidungsgewalt über alles, was dieses Schiff und seine Mission betrifft. Ich könnte sie immer noch abbrechen und sofort nach Hause fliegen. Niemand kann die Befehlskette übergehen. Sämtliche Kommandocodes sind an meine Person gebunden.«
»Und wenn jemand mit einem höheren Rang auftaucht?«
»Ich glaube kaum, dass wir einen Admiral der Flotte an unserem Ziel antreffen werden.«
»Und wenn wir ihn längst an Bord haben?«, wandte Quentin ein, »Was, wenn einer der Wissenschafter...«
Jason klatschte sich mit der flachen Hand auf die Stirn: »Der Geheimdienst! Verdammt, warum bin ich darauf nicht früher gekommen? Dabei trägt die ganze Sache deren Handschrift. Geänderte Logeinträge, verschwundene Lagerräume, unklare und schwammige Missionsziele. Das passt. «
»Das ist egal!«, klärte Floyd seine Freunde auf, »Niemand ist in der Lage, mir das Kommando zu entreißen. Auch nicht der Geheimdienst. Nein, ich bin nicht größenwahnsinnig. Es ist Teil der Kommandostruktur, die fest in die Grundpersönlichkeit jeder Schiffs-KI verankert wird. Mit Aktivierung des Tiefraumprotokolls werden sämtliche Kommandowechsel auf die bestehende Befehlskette beschränkt und das auch nur bei freiwilliger Abgabe oder dem Tod eines Führungsoffiziers. Otis kann als Nummer 2 in der Hierarchie das Kommando nur dann übernehmen, wenn ich es auf ihn freiwillig übertrage oder mir etwas zustößt. Wohl gemerkt, Otis, aber niemand anderes. Auch kein Admiral, der plötzlich aus einem Wandschrank auftaucht.«
»Dann sollten wir sehr genau darauf achten, dass dir nichts passiert.«, meinte Otis und ließ allen Anwesenden das Blut in den Adern gefrieren.
»Das nenne ich mal einen fatalen Irrtum.«, bemerkte Senator Nagano süffisant.
»Fatal, in der Tat.«, bestätigte Floyd, den Naganos Sticheleien und Überheblichkeit wütend machten, »Durch diesen Fehler wurden Menschen verletzt und sogar getötet.«
»Das ist ein Grund, warum wir hier zusammensitzen.«, bemerkte der Vorsitzende, Senator Henry W. Waterman, »Doch bevor wir uns dem Thema zuwenden, habe ich noch eine Frage. Warum sind Sie das Risiko eingegangen, in den Tiefraum einzudringen? Inzwischen waren Sie doch überzeugt, dass wirklich eine Verschwörung im Gange war.«
»Nennen Sie es Instinkt oder Ahnung. Ich hatte das Gefühl, dass wir mit mehr Problemen rechnen mussten, sollten wir die Mission abbrechen. Jemand hatte sich extrem viel Mühe gegeben, den Inhalt mehrerer Lagerräume vor uns zu verbergen. Ich gebe zu, dass ich die Sache inzwischen als Herausforderung empfand. Die Hyperion war mein Schiff, doch jemand machte mir diesen Anspruch streitig. Ich wollte Antworten. Ich wollte wissen, wer für all dies verantwortlich war und warum. Allerdings war mir klar, dass ich diese Antworten nur dann erhielt, wenn ich dem Verschwörer gab, was er wollte.«
»Und das wäre?«
»Die Mission fortsetzen und uns an unser Ziel bringen. Solange wir dies taten, so war ich mir sicher, sollten wir nicht mit Schwierigkeiten rechnen müssen. Schließlich taten wir das, was der Verschwörer wollte.«
»Solange er sich sicher sein konnte, nicht enttarnt zu werden.«, wandte der Vorsitzende ein.
»Ja, Senator,«, Floyd nickte niedergeschlagen mit dem Kopf, »es war genau so, wie sie sagen: Solange er sich sicher sein konnte, nicht enttarnt zu werden...«
»Alle Mann bereit für den vorletzten Sprung?«, fragte Floyd in die Runde.
»Alles bereit, Captain!«
Alles war bereit für den nächsten Überlichtsprung - Den vorletzten ihrer Reise, der sie bis auf ein Lichtjahr an ihr Ziel heranbrachte.
»Starten Sie den Countdown, Mr. Johannson!«, forderte Floyd seinen XO auf.
»Aye, Captain!«, bestätigte Otis und begann mit dem Sprungcountdown. Es begann das übliche Ritual. Checklisten wurden abgearbeitet. Im ganzen Schiff bereiteten sich Mannschaft und Passagiere auf den nächsten Sprung vor. Alle lebenden Organismen wurden in ihren Stasisboxen verstaut. Nicht benötigte Computersysteme wurden gesichert und anschließend ausgeschaltet. Wie eine gut geölte Maschine, bei der ein Zahnrad ins andere griff, strebte das Schiff der Sprungbereitschaft entgegen. Auf den Kontrollkonsolen der Brücke wechselte ein Statusfeld nach dem anderem von blau auf grün. Zehn Minuten vor dem Sprung initiierten Floyd und Otis mit ihren Autorisierungsschlüssen das Hochfahren der Arbeitsnanosingularität. Und wieder wurden Checklisten abgearbeitet. Weitere Statusanzeigen wechselten auf grün und zeigten damit ihre Funktionsfähigkeit an. Sieben Minuten vor dem Sprung beziehungsweise fünf Minuten vor Abbruchpunkt 0, dem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab und ein Sprung zwangweise durchgeführt werden musste, ertönte die vertraute Meldung der Schiffs-KI.
»Sprung in t minus 7 Minuten. Arbeitsnanosingularität bei 70 Prozent, Abbruchpunkt 0 in 5 Minuten. Bitte Stasisanzüge vervollständigen. Achtung, Stasisanzüge vervollständigen.«
Im Prinzip war diese Aufforderung müßig, da die meisten Besatzungsmitglieder, selbst die Mehrheit der Wissenschafter, ihre Anzüge bereits angelegt hatten. Was meist noch fehlte, waren die Stasisgesichtsmasken und -handschuhe. Aufmerksam verfolgte Floyd die Anzeigen des Kommandoterminals seines Kommandantenstuhls. Auf dem Bildschirm war jedem Stasisanzug der Hyperion ein kleines Statusfeld zugeordnet, von denen die meisten anfangs noch rot, nun mehr und mehr aber grün leuchteten, bis der gesamte Bildschirm ausschließlich grüne Felder zeigte. Wäre auch nur ein Feld rot geblieben, hätte dies zu einem Abbruch des Sprungcountdowns geführt.
»Sprung in t minus 3 Minuten. Abbruchpunkt 0 in 60 Sekunden. Finale Abbruchprüfung erfolgt.«
Wie jedes mal, wechselten die großen Hauptbildschirme der Brücke auf die Statusanzeige mit den Abbruchkriterien. Der XO begann, die Punkte der Abbruchcheckliste aufzurufen, welche jeweils von mindestens zwei Brückenoffizieren unabhängig voneinander ausgeführt wurden.
»Abbruchpunkt 0 in 15 Sekunden. Countdown fortsetzen?«, fragte die Schiffs-KI und bot Floyd die letzte Gelegenheit, den Countdown abzubrechen. Dafür reichte es aus, dass er nichts sagte.
»Countdown fortsetzten!«, bestätigte Floyd.
»Countdown wird fortgesetzt. Achtung: Abbruchpunkt 0 erreicht. Kein Abbruch mehr möglich. Sprung erfolgt in 2 Minuten.«
Die im ganzen Schiff verteilten Leuchtbänder begannen zwischen rot und violett hin und her zu wechseln. Von nun an gab es kein Zurück mehr. Das Schiff würde springen. Die gesamten letzten 120 Sekunden liefen vollständig automatisch ab, was aber nicht hieß, dass die Brückenoffiziere einfach nur zuschauten und die Hände in den Schoß legten. Bis unmittelbar vor dem Sprung überwachten und kontrollierten sie alle möglichen Werte. Den Sprung konnte man zwar nicht mehr verhindern, trotzdem gab es immer noch genug zu tun.
»Achtung Warnung!«, ein Warnton heulte auf und wurde von einer automatischen Stimme ergänzt. Auf dem Terminal, das den Status der Stasisanzüge zeigte, flammten zwei rot leuchtende Felder auf, »Ausfall der Stasisanzugeinheiten Cardigan, Ruth C. und Singende Eidechse, Jason. Sofort Notfallstasiskammer aufsuchen! Achtung Warnung! Ausfall der Stasisanzugseinheiten, Cardigan, Ruth C. und Singende Eidechse, Jason. Sofort Notfallstasiskammer aufsuchen! Sprung in 20 Sekunden!«
Die Meldung hallte durch das gesamte Schiff und ließ bei allen das Blut in den Adern gefrieren. Sollten Jason und Professor Cardigan innerhalb der nächsten zwanzig Sekunden keine Notfallstasiskammer erreichen, würden sie sterben. Ihre Körper würden sich während des Sprungs in Püree verwandeln und niemand könnte dies verhindern.
»Jason, Professor Cardigan, los rennen Sie!«, brüllte Floyd in das Mikrofon seiner Intercomanlage.
»Ich verstehe das nicht!«, hörte er die Cardigan maulen, »Mein Anzug zeigt grün!«
»Egal! Rennen Sie! Folgen Sie dem grünen Leuchtband!«
In den letzten zwei Minuten vor einem Sprung zeigen grüne, wandernde Lichtbänder im Boden den Weg zur nächsten Notfallstasiskammer an.
»Verdammt!«, hörte Floyd plötzlich seinen Freund und Liebhaber fluchen, »Ich bin im Rechnerkern. Hier gibt es keine Notfallkammer! Ich... Shit! Na gut, entweder oder...«
»Jason?«, schrie Floyd, doch Jason Stimme war weg, dafür hörte man die Stimme der Cardigan umso lauter, »Scheiße, ich schaff es nicht! Verdammt Captain, wir haben einen Verräter an Bord es ist...«
»Aktivierung der Stasisanzüge. Sprung in 10............... 9............ 8......... 7...... 6... 5... 4... 3, 2, 1...«
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