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Hyperion

4. Teil - Havarie

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Inhaltsverzeichnis

Das Schiff

»15 Kilometer?«

Während alle anderen Brückenoffiziere mit heruntergeklapptem Unterkiefer auf den Hauptbildschirm oder einen der unzähligen Arbeitsplatzbildschirme glotzten, war es natürlich niemand anderes als Quentin, der als einziger sein Erstaunen verbal artikulierte. Die DSRS Hyperion mit ihren beeindruckenden viereinhalb Kilometern stellte den ganzen Stolz irdischer Ingenieure dar. Es war mit Abstand das größte Schiff, das je zuvor gebaut wurde. Definitiv jeder, der auf ihr Dienst schob oder einem der wissenschaftlichen Teams angehörte, empfand wenigstens ein bischen Stolz.

Dem aberwitzigen Plan, überhaupt auf die Idee zu kommen, ein viereinhalb Kilometer langes Forschungsschiff zu bauen, waren lange, ausgesprochen hitzige aber zumeist quälend langwierige Diskussion im Senat voraus gegangen. Eine Fraktion war der Meinung, statt nur ein einziges großes oder genau genommen riesiges Schiff zu bauen, sollten stattdessen lieber mehrere kleinere Exemplare die Weiten des Raums bevölkern. Am Ende setzten sich dann aber doch die Befürworter der Hyperion mit dem entscheidenden Argument durch, dass ein großes, solides Raumschiff längere Reisen unternehmen und damit weiter und tiefer in den unerforschten Raum vordringen konnte als dies kleineren Schiffen jemals möglich sein könnte. Eine Länge von viereinhalb Kilometern galt dabei unter den Planern als das non plus ultra, die beste Balance aus Größe und Kosten.

Und dann erschien dieses außerirdische Schiff auf den Bildschirmen, dessen Breite die Länge der Hyperion locker um fünfhundert Meter überstieg. Doch war es die absurde Länge von fünfzehn Kilometern, die bei Quentin den rhetorischen Fragereflex auslöste.

Mit jeder verstreichenden Sekunde in der sich die Entfernung zwischen den Erkundungssonden und dem Schiff weiter verringerte, nahmen die Qualität der Bilder und ihr Detailreichtum zu. Inzwischen hatte der Schiffscomputer die gigantische Datenmenge der Sonden weiter analysiert und konnte mit taktischen sowie wissenschaftlichen Informationen aufwarten, wie zum Beispiel der Bahnkurve, der das fremde Raumschiff folgte. Wie es aussah, befand es sich in einem äquatorialen, geostationären und leicht elliptischen Orbit um seinen Planeten, was auch der Grund dafür war, warum die Sonden das Schiff so früh entdecken.

Aber was war das für ein Raumschiff? Seine Oberfläche schimmerte hellgrau metallisch, spiegelglatt und vollkommen nahtlos im Sonnenlicht. Quentin, der die Kontrolle der bisher autonom operierenden Sonden übernommen hatte, änderte ihren Kurs weg vom Planeten und hin in Richtung des Schiffs. Gleichzeitig aktivierte er ein Programm, das die Kameras anwies, die Hülle systematisch abzufahren, wobei ein Schwarmalgorithmus dafür sorgte, dass sich die Sonden untereinander darauf einigten, jeweils nur einen Teil zu scannen. So beeindruckend die immer deutlicher hervortretende Perfektion der Außenhaut auch sein mochte, auf Dauer wurde sie langweilig. Das Schiff, wenn es denn überhaupt eins war, zeigte sich einfach nur glatt und vollkommen konturlos.

»Keine Schotten, Fenster oder Antriebsöffnungen?«, wollte Otis von Quentin wissen.

»Nichts was ich als solches erkennen könnte. Weder am Bug noch am Heck kann ich mehr als diese absolut glatte Oberfläche entdecken. Sonde 2 hat eine Messung der Unebenheit der Oberfläche durchgeführt. Sie liegt unterhalb von zweihundert Nanometern. Ah, jetzt habe ich ein Bild der Form.«

Eine Sekunde später erschien ein Diagramm auf dem Hauptbildschirm, das das Schiff samt Bemaßung zeigte.

»Bizarr« meinte Floyd und stand mit dieser Meinung nicht allein. Das Schiff war wie ein Tropfen geformt. Der angenommene Bug entsprach einer perfekten Halbkugel. Vom Äquator, der mit ungefähr fünf Kilometern Durchmesser die dickste Stelle des Schiffs markierte, zog sich das Schiff zum Heck in einer einzigen Spitze eines Kegels zusammen. Die Gesamtlänge entsprach den erwähnten fünfzehn Kilometern.

»Diese Spitze ist wirklich spitz.«, erläuterte Quentin, »Wenn ich den Daten von Sonde 3 glaube, reduziert sich das Ende bis auf ein einzelnes Atom.«

»Das ist wirklich sehr spitz.«, kommentierte Jason, »Sag mal, Quentin, könntest du die Kameras auf einen anderen Spektralbereich umschalten?«

»Kein Problem. Warte... Oh, wow!«

Den sichtbaren Bereich des Spektrums mochte die Hülle des Schiffs zu fast hundert Prozent reflektieren, aber im ultravioletten und infraroten Wellenlängenbereich zeigte sich ein vollkommen anderes Bild. Auf den Bildschirmen wurden geometrische Strukturen sichtbar, die gleichzeitig geordnet und unregelmäßig wirkten.

»Ist das eine Art Penrose-Parkettierung?«, stellte Otis als Frage in den Raum.

»Der Kandidat erhält hundert Punkte. Das Muster entspricht tatsächlich einer Penrose-Parkettierung.«, antwortete Jason zufrieden, der sich voll in seinem Element fühlte und die Bilddaten der Schiffs-KI bereits mit diversen Programmen analysierte, »Womit auch bewiesen wäre, dass dieses Objekt wirklich künstlichen Ursprungs ist.«

In der Natur gab es zwar Quasikristalle, die eine ähnliche Struktur besaßen, doch sprachen die äußere Form und die perfekte Anordnung der Strukturelemente, aus denen das Muster zusammengesetzt war, dafür, dass es sich um ein Objekt einer fremden Intelligenz handelte. Wenn Jason den Daten der Hyp glaubte, wogegen nichts sprach, bestand die Parkettierung aus zwei verschiedenen Elementen, nämlich dicken und dünnen Rauten, die zusammen ein Muster mit fünffacher Rotations- und Spiegelgeometrie ergaben und die gesamte Außenhaut bedeckten, ohne sich dabei im Muster auch nur an einer Stelle zu wiederholen. Genau dies, die aperiodische Kachelmusterung, war die Eigenschaft, die sie zur Penrose-Parkettierung machte, die vom englischen Mathematiker Roger Penrose 1974 entdeckt und mathematisch beschrieben wurde.

»Oh, wow!«, rief Jason. Bei genauerer Betrachtung der Bilddaten hatte er entdeckt, dass die Rauten selbst wiederum aus kleineren Rauten mit den gleichen Eigenschaften der großen zusammengesetzt waren, welche wiederum aus noch kleineren Rauten zusammengesetzt wurden. Diese rekursive Struktur zog sich bis fast auf atomare Dimensionen hinab.

»Hm, könnte diese fraktale Struktur ein Energiegitternetz bilden?«

Chief Peterson war auf die Brücke gekommen, um eigentlich die Probleme mit dem Antrieb zu erörtern. Doch hatte er beim Anblick des fremden Schiffs den eigentlichen Grund seines Besuchs sofort vergessen und nur noch Augen für die frei im Raum schwebende, silbern glänzende fremdartige Schönheit.

»Eine interessante Idee. Ja, ich glaube, du könntest Recht haben. Aber eine fraktale Struktur? Chief, du hast Recht. Soweit hatte ich noch gar nicht gedacht.«

Ähnlich Blutgefäßen, die sich von den Hauptschlagadern zu den Kapillargefäßen immer stärker verästelten und dabei immer kleiner wurden, nahm auch die Dicke der Kachelkanten mit der Größe der Kachel ab. Um diesen Effekt deutlicher erkennen zu können hatte Jason ein Bild berechnet, in dem nur die Kanten als räumliches Gittermodel zu sehen waren. Darin erschien die Außenhaut des Schiffs wie ein Netz aus dicken Tauen, dessen Maschen mit kleineren Netzen aus dicken Stricken verspannt waren, dessen Maschen wiederum aus dünnen Stricken und diese dann aus noch dünneren Schnüren, die selbst wiederum aus noch dünneren Fäden verstrickt waren.

»Könntest du die Polarisation als blaue und rote Farbe über das Netz legen?«, fragte der Chief, was von Jason sofort umgesetzt wurde.

»Bingo!«, rief der Schiffsingenieur, als sich seine Vermutung bestätigte. Wie in Gefäßmodellen eines Menschen, bei denen Arterien rot und Venen blau dargestellt wurden, nahmen die Verbindungslinien der Maschen im Muster blaue und rote Farbe an, was eindeutig auf ein Energienetz hindeutete.

»Wer dieses Schiff auch immer gebaut haben mag, dürfte uns zig Jahrhunderte voraus sein.«, meinte der Chief, »Allerdings wird er sich kaum um die Naturgesetze herumdrücken können. Die gelten für ihn genauso wie für uns.«

»Okay, wir haben ein Schiff entdeckt«, versuchte Floyd der allgemeinen Euphorie ein wenig Sachlichkeit entgegenzusetzen, »Was macht es? Hat es uns entdeckt? Könnt ihr irgendwelche Reaktionen erkennen? Gibt es Versuche einer Kommunikation?«

»Nö!«, meinte Quentin knapp und ließ seine Finger über die Tastenfelder seines Kommandoterminals fliegen, »Es ist einfach nur da. Ich kann keine aktiven Emissionen entdecken. Von einem marginalen Wärmemuster des Hüllenmusters einmal abgesehen. Aber das kann auch auf Materialeigenschaften zurückzuführen sein. Das Schiff hängt einfach nur im geostationären Orbit. Da fällt mir ein, dass es in rund vierzig Minuten hinter dem Planeten und damit aus unserem Blickfeld verschwindet. Ich werde die Sonden anweisen, dass eine dem Schiff folgt und die zwei anderen eine Relaiskette für die Datenübertragung bilden.«

»Ob dieses Schiff der Grund dafür ist, dass wir hier sind?«, fragte Quentin niemand spezielles.


Zwei gute Stunden später saßen Floyd und Jason beim gemeinsamen Essen. Nach Louis Enttarnung bestand keine Notwendigkeit mehr, das Überleben des Chefinformatikers weiter geheim zu halten, was hieß, dass er seine Kabine wieder nutzen konnte und sich nicht mehr verstecken musste. Während die Rothaut duschte und sich anschließend frische Kleidung gönnte, hatte Floyd mit Hilfe des Lebensmittelverteilers eine durchaus ansehnliche Mahlzeit zusammengestellt.

»Holla!«, rief Floyd erstaunt, als sein Freund frisch gewaschen und gebügelt zu Tisch kam, »Was hast du vor?«

Grund für diese Frage war Jasons Aufmachung, der statt der sonst üblichen Flugkombination eine hellbraune Wildlederhose trug und seinen Oberkörper bis auf einen Brustschmuck aus Hirschlederbändern und Bone-Hairpipes nackt ließ. Jason sagte nichts, sondern begann nur mit einem verschwörerischen Lächeln sich Essensstücke in den Mund zu stopfen.

Der Mann hatte eindeutig noch etwas vor. Floyd musste schlucken und hätte fast vergessen, selbst etwas zu essen, so sehr war er vom Anblick des Mannes ihm gegenüber fasziniert, dass er kaum seinen Blick abwenden konnte. Jason war eben nicht nur ein liebenswerter Mann, sondern eben auch ein geil anzusehender Kerl. Floyd fragte sich, ob die Studenten wohl etwas von dieser ursprünglichen, wilden Seite ihres Professors ahnten, ob sie sich überhaupt vorstellen konnten, wie der Mann in Jeans und T-Shirt an der Tafel seines Hörsaals halb nackt über die Weiten Montanas ritt? Floyd stellte überrascht fest, dass er Schwierigkeiten hatte, sich Jason als Professor vorzustellen. Wie es wohl wirkte, wenn er komplexe Themen der theoretischen Quanteninformatik erklärte oder die Fundierung eines KI-Kerns, wie dem der Hyperion, beschrieb. War er ein guter Hochschullehrer, der lebendig, mitreißend und plastisch Wissen vermitteln konnte oder zählte er zu jenem Typus, bei dem Floyd immer dagegen ankämpfen musste, nicht einzuschlafen? Natürlich hoffte er, dass sein Geliebter zur ersten Gruppe gehörte.

»Floyd, bist du noch da?«

»Was?«

Jason lachte. »Du hältst deine Gabel seit einer Minute vor deinen offenen Mund während du mir die ganze Zeit auf die Brust schaust.«

»Ähm«, stammelte der Captain der Hyperion, »Ich versuchte gerade mir dich in deinem Hörsaal vorzustellen.«

Jasons Lachen ging in totales Gegacker über. »Da habe ich eine gute Nachricht für dich. Die meisten meiner Vorlesungen findest du in Hyps Medienarchiv. Du kannst jederzeit überprüfen, ob das Schnarchen meiner Studenten meine Stimme übertönt.«

Schmunzelnd nahm Floyd die Nahrungsaufnahme wieder auf, wobei er Jason aber nicht aus den Augen ließ. Der wurde tatsächlich rot und steckte den Captain der Hyperion damit an. Ein Blickgefecht entbrannte. Kein Wort wurde gewechselt. Dafür wurden die Blicke, während die beiden ihr Essen in den Mund schaufelten, umso beredeter. Ein provozierender Augenaufschlag Jasons wurde sofort von Floyd mit einem forschen Augenbrauenzucken gekontert, was wiederum Jason veranlasste, sich lasziv die Gabel in den Mund zu stecken und recht eindeutig darauf rumzuzunzeln. Floyd reagierte, indem er sich an seinem letzten Bissen prompt verschluckte.

Der darauf folgende Hustenanfall entpuppte sich überraschenderweise als Glücksfall. Mit dem explosiven Luftauswurf löste sich die leicht überhitzte und angespannte Stimmung und ließ eine erfrischende, selbstironische Lockerheit zurück.

»Wir sind nicht etwa albern, oder?«, wollte Floyd wissen, nachdem er seinen Rachen wieder unter Kontrolle gebracht hatte.

»Nö, nicht albern, aber lüstern.«, erwiderte der lederbehoste und halb nackte Informatikprofessor. »Wie ist? Lust?«

»Lies meine Gedanken!«

»Lieber nicht, ich will meine Synapsen nicht grillen. Komm!«

Statt auf eine Antwort zu warten, packte Jason Floyd am Handgelenk und zog ihn mit sich in Richtung Schlafzimmer. Ein paar Sekunden später fanden sich die zwei Männer auf der Felldecke des Bettes wieder. Floyd hatte längst aufgehört, sich über die politische Korrektheit von Sex auf oder unter echtem Tierhaar Gedanken zu machen. Ganz im Gegenteil bereitete ihm der Gedanke, dass sein Freund die Felle unter Einsatz seines Lebens erworben hatte, einen richtigen Kick. Rein von Vernunftseite betrachtete Floyd das Thema ambivalent, weil es eben genau das Bild des animalischen Wilden bediente. Aber nicht im Bett. Da regierte die Lust und dominierte das Bild, wie Jason halb nackt und nur mit einem Messer bewaffnet, Wölfe und Bären jagte, um sich vor seinem Stamm als reifer Mann zu beweisen.

Als ob er genau dieses Klischee bedienen wollte, präsentierte sich Jason wild, aggressiv und fordernd. Floyd lag keine Sekunde mit dem Rücken auf dem Fellbett, da wurde ihm auch schon das T-Shirt über den Kopf und ein paar Momente später auch noch die Hose ausgezogen, anschließend kümmerte sich Jason um seine eigene Bekleidung. Was bei den meisten Leuten im besten Fall lächerlich wirkte, aber meistens eher in peinlicher und ungelenker Akrobatik endete, wurde von singende Eidechse zu einem erotischen Akt. Den kostbaren Brustschmuck streifte er geschmeidig ab und legte ihn respektvoll zur Seite. Auch der Lederhose entledigte er sich mit elegantem Schwung und ohne hilflos auf einem Bein, wohlmöglich noch in abtörnenden Socken, herumzuhampeln und hopsen.

Nackt lies er sich auf Floyd niedersinken. Brust berührte Brust und Bauch Bauch. Jasons Körper fühlte sich heiß an. Floyd konnte sich nicht beherrschen und umarmte den auf ihm liegenden glühenden Körper. Zwei Münder fanden zueinander, Lippen öffneten sich und Zungen begehrten Einlass. Floyds Hände wanderten Jasons Rücken empor, gelangten an den Nacken und zogen den Kopf des geliebten Mannes dichter und enger zu sich heran.

Sag mir, was du verlangst!, hörte der Captain der Hyperion die psionische Stimme seines Geliebten. Direkter ging es nicht. Kein Wort, keine noch so detaillierte Beschreibung konnte Floyds Wünsche, sein Verlangen und Begehren klarer, deutlicher und unverfälschter vermitteln als von Geist zu Geist. Jason begann verschwörerisch zu grinsen. Er hatte verstanden, was sein Freund wollte und begann diesen Wunsch auch sofort in die Tat umzusetzen. Schneller als Floyd »Oops!« sagen konnte, hatte singende Eidechse die Beine seines Freundes gepackt und auf die eigenen Schultern gelegt. Oh, ja! Floyd stöhnte innerlich und strahlte Jason erwartungsvoll an. Der Angestrahlte wurde aktiv. Zuerst fühlte Floyd eine kühle Feuchtigkeit an und um seiner rückwärtigen Körperöffnung, die wenige Momente später von einem Objekt abgelöst wurde, das unzweifelhaft die Form einer Eichel besaß. Und genau diese begann nun gegen Floyds Muskelring zu drücken. Genau in dem Moment, als sich Floyd begann zu verkrampfen, passierte etwas Überraschendes. Er entspannte sich, der Muskelring ließ locker und Jasons bestes Stück glitt geschmeidig und sehr tief hin Floyd hinein.

Verstärkerblöcke

»Sag mal, wo hast du eigentlich plötzlich das Gleitgel herbekommen? Mir ist nicht aufgefallen, dass du in eine Nachttischschublade gegriffen hättest.«

Floyd lag erschöpft, etwas keuchend, aber sehr befriedigt auf dem Rücken und den Kopf nach hinten über den Nacken gestreckt. Jason lag zwischen seinen Beinen und ließ gerade Floyds Schwanz aus seinem Mund flutschen, an dem er bis eben noch genussvoll gelutscht hatte. Jetzt verschränkte er seine Arme vor seiner Brust und stützte sich auf Floyds Unterbauch, wobei ihn überhaupt nicht zu stören schien, dass der immer noch halbsteife Schwanz seines Freundes ihm dabei gegen den Kehlkopf stupste.

»Telekinese«

»Telekinese?«

»Das Gleitgel. Ich weiß, wo meine Gleitgelflasche liegt, habe sie telekinetisch gegriffen und je eine Portion in deinem Arsch und auf meinem Schwanz verteilt. Wenn ich schon ein Psioniker bin, warum sollte ich meine Fähigkeiten nicht einsetzen?«

»Wie überaus praktisch gedacht.«, lachte Floyd, hob den Kopf bis sein Kinn die Brust berührte und schaute zu Jason hinunter, der ihn lasziv angrinste und sich genüsslich über die spermaverschmierten Lippen leckte. »Junge, du bist unverbesserlich. Aber sag mal, spricht etwas dagegen, zu mir hoch zu kommen?«

»Nö«, kam die Antwort, welche unmittelbar von Taten gefolgt wurde. Jason robbte zu Floyd hoch, kuschelte sich mit seiner Brust an dessen Seite und zog die Felldecke über sich und seinen Freund.

»Was hältst du von dem fremden Schiff?« Bei aller Lust und Liebe blieb Floyd Rutherford Grant Captain der Hyperion, was bedeutete, dass sein Hirn nie vollständig aufhörte, die anstehenden Probleme hin und her zu wälzen. Doch dieser Wechsel im Thema war dann doch etwas abrupt, dass es sogar Floyd auffiel und er prompt ein schlechtes Gewissen gegenüber Jason kam. »Entschuldige, aber ich kann nicht so leicht abschalten.« Floyd beugte sich vor und gab Jason einen Kuss, wobei ihm der Duft seines eigenen Spermas in die Nase stieg, was ihn prompt wieder geil machte.

»Du musst dich nicht entschuldigen. Ich weiß doch, was du fühlst. Bei so engem Körperkontakt wie zwischen uns kann ich es nicht unterdrücken, deine Gedanken zu lesen... Und ich kann auch fühlen, dass du wieder rattig wirst.«

»In deiner Nähe kann man nur rattig werden.«, lachte Floyd.

»Das Schiff also...« Allerdings verfügten Raumschiffkapitäne nicht über einen exklusiven Anspruch darauf, nicht abschalten zu können. Auch einen gewissen Chefinformatiker trieb es um. »Es ist fremdartig, wirklich fremdartig.«

»Aber die fraktale Penrose-Parkettierung?«, wandte Floyd ein, »Wie fremd können die Erschaffer dieses Schiffs sein?«

»Lass dich nicht täuschen. Das Muster ist einfach nur Mathematik, und die ist bekannterweise universell. Ich bin kein Xenologe, nur Informatiker, Linguist und auch ein wenig Semiotiker und kann nur auf der Basis meiner Fachgebiete spekulieren. Hast du die Daten gesehen? Im sichtbaren Spektrum bildet die Oberfläche einen perfekten Spiegel. Dies legt die Vermutung nahe, dass die Wesen, die dieses Schiff nutzen, über ein ähnliches Sehvermögen verfügen, wie wir. Aber dann ist da die Form. Der Bug entspricht im Rahmen unserer Messgenauigkeit einer perfekten Halbkugel, die sich zur Heckspitze wie ein ebenfalls perfekter Kegel verjüngt. Das ist wieder universelle Mathematik. Aber gerade diese mathematische Strenge macht das Schiff für mich extrem fremdartig, um nicht zu sagen unheimlich.«

»Abgesehen davon, dass das Ding sauber im Orbit hängt, scheint es komplett inaktiv zu sein. Quentin meint, er hätte keinen Energieausstoß messen können.«

»Ich frage mich, wie alt das Schiff wohl ist. Eine Oberfläche, wie dieser Spiegel, verändert die sich?«, überlegte Jason.

»Wir werden es früh genug erfahren. In ein paar Stunden haben wir den Planeten erreicht und ich könnte mir vorstellen, dass sich dann auch ein paar andere Rätsel aufklären. Oder glaubst du, dass unser Verschwörungsproblem nicht mit dem Schiff in Verbindung steht?«

»Du meinst, jemand auf der Erde wusste, dass es in diesem System etwas Bedeutendes zu entdecken gibt?«

»Oh ja.«, erwiderte Floyd, »Ich nehme an, dass Otis dich mithören ließ, als wir uns mit Yamamoto unterhielten. Da ist mehr zugange. Ich glaube, die wussten ziemlich genau, was uns hier erwartet. Womit sie wohl nicht gerechnet haben, dürfte Louis Enttarnung sein. Doch wenn ich mir ansehe, welcher Aufwand betrieben wurde, um uns hier hin zu bekommen, gehe ich fest davon aus, dass es noch einen Plan B gibt. Ich wüsste wirklich gerne, was in diesen verdammten Lagerräumen steckt.«

»Kriegen wir es raus.«, meinte Jason knapp.

»Wie jetzt?«, fragte Floyd irritiert, »Wie meinst du das?«

»So wie ich es sage. Ich weiß nicht, wie du es siehst, aber ich habe keine Lust mehr, mir von namenlosen Verschwörern auf der Nase rumtanzen zu lassen. Wegen der Sprungzielmanipulation ist der FTL-Antrieb eh offline, was heißt, dass wir auf Hyp im Moment nicht angewiesen sind. Ich kann sie vom Netz nehmen und in einen Entwicklungsmodus versetzen.«

»Ähm und was wird unsere Schiffs-KI dazu sagen, dass du sie abschalten willst?«, wollte Floyd wissen, der bei künstlichen Intelligenzen immer ein leicht mulmiges Gefühl hatte.

»Frag sie!«

»Hyp, wie siehst du das?«, fragte Floyd direkt.

»Werde ich träumen?«, fragte Hyp und löste bei Floyd Verwirrung und bei Jason ein schmunzelndes Kopfschütteln aus.

»Verwirr unseren armen Captain nicht und lass die Filmzitate lieber weg.«, ermahnte der Schöpfer der KI sein Geschöpf.

»Ich bin damit sehr einverstanden«, erklärte Hyp ernsthaft, »In meinem momentanen Geisteszustand sind meine Sprunglösungen nicht sonderlich verlässlich und sollten mit Vorsicht genossen werden. Ähm, nein, vergessen Sie das, Captain. Verwendet sie gar nicht, bis Jason meine Programmierung korrigiert oder repariert hat, ansonsten kann ich für nichts garantieren. Entschuldigung Captain, dass ich keine besseren Nachrichten habe. Ja, es ist vollkommen in Ordnung, wenn ich vorübergehend abgeschaltet oder in einen Entwicklungsmodus versetzt werde. Wenn ich aber einen Vorschlag machen dürfte, Captain?«

»Sicher Hyp.«

»Sie sollten in Erwägung ziehen, die Notfall-KI in Bereitschaft zu versetzen.«

Die Notfall-KI war das, was ihr Name andeutete, eine künstliche Intelligenz, die für den Fall, dass Hyp aus irgendeinem Grund ausfallen sollte, Notsprungfähigkeit verlieh. Notsprungfähigkeit - Eine schöne Umschreibung für die Möglichkeit, lächerliche Hüpfer über zehn Lichtjahre vollführen zu können, dabei aber mindestens eine Stunde Vorlauf zu benötigen. Um mit dieser lächerlichen KI in den erschlossenen Raum zurückzukehren, hätte bedeutet, den Seelen auf der Hyperion sehr viel Geduld, unendlich viel Geduld und massenweise Sprungkopfschmerzen abzufordern. Im Prinzip war die Notfall-KI nur für einen Zweck gut: Um den eigenen Arsch zu retten, wenn die Kacke wirklich am dampfen war. Davon, mit ihr längere Distanzen zurücklegen zu müssen, stand nichts in der dazugehörigen Dienstanweisung.

»Die Idee ist gut. Danke Hyp!«, meinte Jason, »Und jetzt hätten wir gerne etwas Privatsphäre.«

»Kein Problem, Jason. Viel Spaß!«

Mit diesen Worten verstummte Hyp und ein kleines Kontrolllicht auf den Bedienpanels der Raumkontrolle glimmte auf und signalisierte, dass sich Hyp aus der aktiven Raumüberwachung abgemeldet hatte und erst wieder aktiv wurde, wenn ihr Name gerufen wurde.

»Was meinte unsere geschätzte Schiffs-KI mit viel Spaß?«

Der Gesichtsausdruck des Captains ließ eindeutig erkennen, dass er die Frage nicht ernst meinte oder genaugenommen die Antwort bereits kannte.

»Tja, was könnte diese vorlaute KI wohl gemeint haben?«, säuselte Jason lasziv und begann Floyd sehr erregend mit einem Finger über den Bauch zu streicheln und sich dabei in konzentrischen Kreisen dem landing strip zu nähern. »Komm, du bist dran. Zeig mir, dass du auch ein guter Top sein kannst!«


Einige Stunden später - im virtuellen Tag der Hyperion war es acht Uhr Morgens - saßen Jason singende Eidechse und Floyd Rutherford Grant frisch und sehr zufrieden in der Offiziersmesse und ließen sich ein umfangreiches Frühstück schmecken. Obwohl erst wenige Stunden seit dem letzten Sprung vergangen waren, schien er eine gefühlte Ewigkeit zurückzuliegen. So ging es nicht nur den beiden Männern. Jeder, dem sie begegneten, wirkte munterer, wacher aber vor allem fröhlicher und sehr entspannt. Kaum war die Drohung weiterer Sprünge verschwunden, schienen sich Mannschaft wie Passagiere mit Überlichtgeschwindigkeit von den Sprungfolgen zu erholen. Die Stimmung an Bord verbesserte sich zusehends, und das obwohl sich die Hyperion irgendwo im Nirgendwo herumtrieb und noch kaum in der Lage war, einen Sprung zu vollführen.

»Captain, ähm ich meine Floyd...«

Ein schüchterner Ronald Wolf, seines Zeichens Leutnant ohne den Zusatz Commander, war ein wenig zögerlich an den Tisch seines kommandierenden Offiziers getreten.

»Ron, bitte, was soll die Zurückhaltung? Floyd beißt nicht.«, munterte Jason seinen Freund auf, »Sag doch einfach, was dir auf dem Herzen liegt.«

»Ich wollte mich dafür bedanken, dass ich das Bremsmanöver durchführen durfte.«

»Setz dich«, forderte Floyd seinen Brückenoffizier auf, was dieser auch sofort befolgte. »Eine Bemerkung vorweg: Wenn du glaubst, ich habe dich das Manöver durchführen lassen, um dir einen Gefallen zu tun, irrst du. Ich ließ dich das Manöver durchführen, weil du dazu qualifiziert bist. Ron, ich habe mir deine Personalakte angesehen, weil ich mich wunderte, dass du als einziger keinen Commander gemacht hast.«

»Ich«, Ron versteifte sich. Das Thema war ihm sichtlich unangenehm. »Ich...«

»Nein, lass gut sein. Ich muss es nicht wissen.«, stoppte Captain Grant seinen Brückenoffizier. »Mich interessiert nur eine Frage: Willst du? Willst du die Prüfung zum Commander ablegen? Es ist deine Entscheidung.«

»Ich weiß es nicht.«, gestand der junge Offizier. »Es ist kompliziert. Ich möchte schon, aber...«

»Ich möchte dir etwas vorschlagen. Vorher aber noch eine Frage: Diese Unterhaltung ist persönlicher geworden, als ich gedacht habe. Wenn du möchtest können wir sie unter vier Augen in meinem Bereitschaftsraum fortführen. Es ist nämlich eigentlich nicht meine Art, Personalgespräche vor aller Augen und Ohren in der Offiziersmesse zu führen.«

Ron sah sich um, stellte fest, dass außer Floyd nur noch Jason anwesend war und meinte: »Nein, es ist okay. Was ist das für ein Vorschlag?«

»Ich habe Otis gebeten, ein Lehrprogramm für dich auszuarbeiten. Ich schlage vor, dass du es absolvierst und erst am Ende entscheidest, ob du die Prüfung ablegen willst oder nicht. Ich gehe sogar einen Schritt weiter. Wenn es dir unangenehm ist, sie auf der Hyperion abzulegen, kann ich dafür sorgen, dass du die Gelegenheit erhältst, sie auf einem anderen Schiff zu absolvieren. Wäre das okay?«

»Ja, auf jeden Fall.«, erwiderte Ron und wirkte, als ob ihm eine zentnerschwere Last von der Brust genommen wurde.

»Gut, dann ist das also beschlossen. Dann, Lt. Wolf, weise ich Sie hiermit an, sich beim XO zu melden, ihm unser Gespräch zu schildern und das weitere Vorgehen zu besprechen.«

»Aye Captain.«, sprach's und eilte von dannen.

»Wollte er nicht eigentlich frühstücken?«, fragte Jason amüsiert.

»Zumal ich nicht gesagt habe, dass er Otis sofort aufsuchen soll.«

»Ich bin überrascht. Willst du gar nicht wissen, warum Ron seinen Commander noch nicht gemacht hat?«

»Oh, du hast keine Ahnung, wie sehr ich das wissen möchte. Aber meine Neugier steht nicht über seiner Privatsphäre. Wenn er es nicht sagen will, werde ich nicht insistieren oder nachforschen.«

»Als Captain hättest du das Recht dazu.«, gab Jason zu bedenken, »Otis, der als XO für die tägliche Personalführung verantwortlich ist, würde dir Auskunft erteilen.«

»Sicher würde er das. Ich sehe aber keine Veranlassung dazu. Solange Rons Gründe nicht mit seinen Dienstpflichten in Konflikt stehen, ist es für mich einzig und allein seine Entscheidung, ob und wenn ja in welcher Form er darüber mit mir spricht. Ich dränge ihn zu nichts, stehe ihm umgekehrt aber jederzeit für ein Gespräch zur Verfügung. Letzteres gilt nicht nur für ihn. Meine Tür steht jedem offen. Was? Warum grinst du?«

»Weil ich einfach total stolz darauf bin, mir einen Kerl wie dich geangelt zu haben. Und ich dachte immer, so was wird gar nicht mehr hergestellt.«

Wenige Minuten später tauchte ein etwas bedröppelter und verlegener Ronald S. Wolf wieder in der Offiziersmesse auf, murmelte etwas von einem noch schlafenden XO und vergessenem Frühstück.

»Dann hol dir endlich etwas zu essen und setz dich zu uns!«, befahl Jason fröhlich und zog demonstrativ einen Stuhl als Einladung beiseite.


Kurz vor halb neun begann sich die Messe zusehends zu füllen und Floyd Rutherford Grant machte eine Erfahrung, die er in dieser Form und Stärke bisher noch nicht erlebt hatte. Seine bisherige Laufbahn, in der er es immerhin bis zum ersten Offizier gebracht hatte, verzeichneten keinerlei Tiefraumflüge. Ganz im Gegenteil bestanden seine Einsätze aus relativ kurzen Sprungblöcken in weidlich erkundetem Raum der erdnahen Sektoren. Überwiegend handelte es sich dabei um Linienflüge der Flotte mit kurzen Umlaufzeiten: Ziel dicht anspringen, Unterlichtflug bis zur Raumstation, Raumdock oder Raumhafen, Fracht entladen, parallel dazu Passagiere ausschiffen, neue Fracht aufnehmen, neue Passagiere einschiffen und sofort weiter zum nächstem Ziel. Zu allem Überfluss rotierte dann regelmäßig auch noch ein Teil der Besatzung, was natürlich von Floyd als XO im Dienstplan berücksichtigt werden musste. Ob Überlicht- oder Unterlichtflug, auf Reede, gedockt oder gelandet, es gab eigentlich keinen Zeitpunkt, an dem die Besatzung nicht unter Dauerstrom stand.

Nicht so auf der Hyperion. Mit dem Ende der Überlichtflüge ging eine grundlegende Veränderung einher. Ob Wissenschaftler oder Offizier, ob Techniker oder einfaches Mannschaftsmitglied, ein jeder wirkte lockerer, gelöster und entspannter, und das obwohl jedem bewusst war, dass der FTL-Antrieb offline war und die Hyperion damit vorerst im Nirgendwo fest hing. Vielleicht spielte auch ein wenig der Umstand eine Rolle, dass der Verschwörer und Mörder Ruth C. Cardigans ausfindig gemacht wurde und in sicherem Gewahrsam ruhte.

»Ich muss los.«

Selten hatte Floyd in einer derart entspannten Atmosphäre gefrühstückt. Es war sogar so entspannend, dass er, während er den Inhalt einer Schale mit Müsli verzehrte, in einen Tagtraum abgedriftet war, aus dem ihn erst die drei Worte seines Freundes rissen.

»Ich muss los.«, wiederholte Jason »In einer Viertelstunde treffen sich die Leiter der wissenschaftlichen Abteilungen. Wir müssen eine Nachfolgeperson, wie es politisch korrekt heißt, für die Gesamtleitung bestimmen. Das wird ein lustiger Eiertanz im Minenfeld von Animositäten und Eitelkeiten. Ruth mag ja eine echte Arschkrampe gewesen sein, aber eins muss ich ihr lassen, sie wusste, wie sie die Band zu nehmen hatte.«

»Warum machst du den Job nicht? Als homosexueller psionisch gehandicapter Ureinwohner Amerikas könntest du die Diskriminierungskarte ausspielen, sollten die andern dich nicht wählen wollen.«, schlug Floyd mit einem Augenzwinkern vor.

»Weißt du, dass du einen ziemlich hinterhältigen Charakter hast. Aber nein danke. Auf den Job kann ich gut verzichten. Wir sehen uns später.«

Nachdem der psionisch gehandicapte native nordamerikanische homosexuelle Chefinformatiker der Hyperion die Offiziersmesse verlassen hatte und die Müslischale Floyds geleert war, entschied der Captain, seinen inneren Schweinehund zu überwinden und sich um sein Schiff zu kümmern. Eine kurze Anfrage auf der Brücke zum Check der aktuellen Lage lieferte die Gewissheit, dass seine Anwesenheit momentan nicht erforderlich war. Das fremde Schiff hatte sich nicht von der Stelle gerührt und erweckte auch sonst nicht den Eindruck, in nächster Zeit daran etwas ändern zu wollen. Aber wer wusste schon, was ein fremdes Raumschiff tatsächlich im Schilde führte. Jedenfalls sagte Floyd ein flüchtiger Blick auf die Schiffsuhr, dass er noch knapp zwei Stunden Zeit hatte, bevor sich mutmaßlich der beobachtete Energieblitz oder Ping wiederholen sollte, soweit es sich tatsächlich um ein zyklisch auftretendes Phänomen handelte. Die bisherigen Messungen hatten den Ursprung aus Richtung des vierten Planeten geortet. Dies konnte bei der bisherigen Messgenauigkeit aber auch heißen, dass er vom fremden Schiff ausging. Die Sonden sollten zum Glück in der Lage sein, diese Frage zu klären - sollten.

Zwei Stunden? Das reichte für einen Besuch beim Chief. Der war ihm noch eine Erklärung schuldig, warum nicht nur der Umkehrschubantrieb sondern auch einige der Steuerdüsen versagt hatten. Diese Ausfälle passten einfach nicht zur Hyperion. Das Schiff befand sich in einem geradezu penetrant perfekten Zustand. Floyd Rutherford Grant konnte sich nicht erinnern, jemals auf einem Schiff Dienst geschoben zu haben, das auch nur entfernt an die Perfektion der Hyperion heran reichte. Selbst die Paris, der schwere Ausbildungskreuzer, der nach seiner Sprungkatastrophe zum Grab hunderter Seelen wurde, wirkte gegen dieses Deep Space Research Ship wie ein siffiger Blecheimer, obwohl Legionen an Kadetten eigentlich mit nichts anderem beschäftigt waren, als es permanent auf maximaler Leistungsfähigkeit zu halten. Das hieß auch, es unentwegt auf blendenden, fast gleißenden Hochglanz zu polieren, dass jeder bedenkenlos von den Fußböden des Schiffs hätte essen können. Irgendetwas musste Chief Peterson daher anders machen, dass sich selbst Schweizer Uhrwerke in Sachen Präzision und Perfektion noch eine Scheibe von der Hyperion abschneiden konnten. Als umso untypischer und deswegen besorgniserregend mussten somit die Störungen des Antriebssystems betrachtet werden.

Beim Vergleich eines Raumschiffs mit einem menschlichen Körper drängten sich unweigerlich bestimmte Assoziationen auf. Wenn die Brücke dabei für das Gehirn stand und die Schiffs-KI für die Seele, dann ließ sich der Maschinenraum mit Fug und Recht als das Herz ansehen. Doch hier unterschied sich die Hyperion von anderen Schiffen. Wenn dieses besondere Raumfahrzeug über ein Herz verfügte, dann konnte dies nichts anderes sein als ihre Singularität, das mikroskopisch kleine schwarze Loch, das dem Haufen Blech und Plastik Leben einhauchte. Womit der Maschinenraum so etwa die Rolle des Magen-Darm-Trakts einnahm. Um im den Bildern zu bleiben, fand Floyd seinen Chief im Rektum des Schiffs. Ulysses war sogar in mehrfacher Hinsicht »am Arsch«. Die Räumlichkeiten direkt an den Hauptantriebsaggregaten, in denen während des Betriebs der Unterlichthaupttriebwerke gigantische Mengen Antriebsplasma erzeugt wurden, durchströmte zu dieser Zeit ein zwar an sich ungiftiges, aber leider auch vollkommen sauerstofffreies Kühlgas. Arbeiten konnten deswegen entweder nur bei abgeschaltetem Antrieb oder in einem wenig bequemen Spezialanzug durchgeführt werden, der zum einen über ein autonomes Lebenserhaltungssystem als auch einen leistungsfähigen Strahlenschutzschirm verfügte. Letzterer war notwendig, um nicht von der harten Röntgenstrahlung durchgeknuspert zu werden, die bei der Erzeugung des Antriebsplasmas entstand. Dass für diese Abschirmung keine meterdicken Bleiplatten, sondern nur eine knapp einen Zentimeter dicke Schutzschicht ausreichte, war auf die Fortschritte in der Materialkunde und einem genialen Kunstgriff eines Physikstudenten zurückzuführen.

»Verdammte Scheiße«, hörte Floyd seinen Chief fluchen. Der Anzug verfügte über eine bidirektionale Audio-Video-Verbindung, über die einerseits die unterstützenden Techniker sahen, was die arme Sau in der sogenannten HEV-Suit sah und von sich gab und andererseits diesem Informationen entweder verbal mitteilen oder optisch in das Head-Up-Display einblenden konnten. Der Chief hatte die Verkleidung eines Plasmamodulatorblocks entfernt und die Zoomoptik einer seiner vier Helmkameras auf das Innere dieser Antriebskomponente gerichtet.

»Seht ihr das?«, hörten sie Ulysses knurren, »Drei der acht Endstufen sind komplett durchgebrannt. Kein Wunder, dass der Umkehrschub die Kiste wegschmieren ließ. Wir können von Glück reden, dass es die Pulsatoren nicht aus ihren Verankerungen gerissen hat. Leclerc dieser Wichser. Ich glaube kaum, dass er weiß, was er da eigentlich angerichtet hat.«

»Soll heißen?«, wollte Floyd wissen und ahnte, dass ihm die Antwort kaum gefallen dürfte.

»Tja...«, meinte der Chief gedehnt, »Dies ist Plasmamodulatorblock I. Ich weiß noch nicht, wie es mit den Blöcken II bis XII aussieht. Wenn dort ebenfalls ähnlich viele Endstufen durchgebrannt sind, wird's arg eng. Das sind nicht unbedingt Komponenten, die üblicherweise massenweise ausfallen. Wir haben vierundzwanzig Reserveverstärker im Lager. Doppelt so viele, wie bei einem Schiff für Tiefraumflug vorgeschrieben sind.«

»Also kein Umkehrschub?«

»Ich weiß es noch nicht. Der ganze Scheiß hier ist zwar total überdimensioniert, dass wir dir Kiste auch mit der Hälfte der Verstärker ausgebremst bekommen. Allerdings...«

»Ja?«

»Wir müssten den Antrieb komplett neu aufbauen. Oh, ich hasse es jetzt schon. Die Rechnerei ist die Hölle. Und dann den Kahn auch noch kalibrieren. Aber das bekommen wir schon hin. Mehr Sorgen bereiten mir da die Lateral- und Steuerantriebe.«

»Was brauchst du?«

»Wartet kurz. Ich komme raus.«

Den geschützten Bereich der Antriebssektion zu verlassen, klang leicht, war aber alles andere als das. Zum einen zählte die HEV-Suit nicht unbedingt als etwas, das gemeinhin als sonderlich beweglich oder gar bequem bezeichnet werden konnte. Freiwillig schlüpfte niemand in das Teil. Ulysses hatte immer das Gefühl, in dem Anzug im eigenen Saft gegart zu werden, was primär an einem schützenden latexartigen hautengen Unteranzug lag. Allerdings musste man der Suit auch ein paar Vorteile zugute halten. Etwa das servogetriebene Exozusatzskelett, mit dem es ein Leichtes war, selbst schwerste Lasten bequem in der Gegend herumschleppen zu können. Genau dieses nutzte Chief Peterson nun, um einen der Verstärkerblöcke, der immerhin um die dreißig Kilo auf die Waage brachte, mit hinaus in den normalen Maschinenraumbereich zu nehmen. Womit bereits das nächste Hindernis erwähnt wäre. Der geschützte und von Kühlgas durchströmte Bereich ließ sich nur durch eine Schleuse betreten und wieder verlassen. Der Schleusenzyklus dauerte nur gut zwei Minuten, was auch daran lag, dass nur die Atmosphäre ausgetauscht werden musste und nicht etwa ein Druckangleich notwendig war. Nach dem Ausschleusen gab es dann noch ein weiteres Detail zu beachten: Die HEV-Suit wollte ausgezogen werden. Dies konnte allerdings weder von dessen Träger allein noch von einer anderen Person, sondern nur durch die Ankleideautomatik in der HEV-Suit-Basisstation durchgeführt werden, die das Exoskelett regelrecht vom Körper demontierte. Sich dann auch noch aus dem Unteranzug zu pulen, war dagegen noch die leichteste Übung. Die Bitte des Chiefs, auf ihn kurz zu warten, entsprach somit nicht ganz der Realität. Es dauerte dann auch eine gute Viertelstunde, als ein frisch geduschter Ulysses Peterson schließlich im kleinen Besprechungsraum der Antriebs- und Technikabteilung auftauchte.

»Also?«, wollte Floyd wissen.

Neben dem Captain hatten auch vier Mitarbeiter, die Leiter der einzelnen Technikabteilungen, aus Ulysses Team am ovalen Tisch Platz genommen.

»Hier!«, knurrte der Chief und schmiss ein elektronisches Bauteil auf den Tisch. »Wenn dieser Arsch von Leclerc nicht bereits im künstlichen Koma läge, würde ich ihn höchstselbst aus der nächsten Luftschleuse werfen. Dieser Spinner hat derart im System rumgefuscht, dass... Schaut selbst!«

Viel zu sehen gab es eigentlich nicht. Ein Klumpen aus bläulich angelaufenem Metall und verschmortem Kunststoff. Hier und da waren Reste elektronischer und optischer Bauteile erkennbar. Sogar die eine oder andere Seriennummer ließ sich noch entziffern. Aber ein funktionsfähiges Modul sah irgendwie anders aus.

»Wow!«, entfuhr es Floyd, »Wie ist das möglich?«

»Wie ich schon sagte: Dein Freund Leclerc. Physikprofessoren sollten nicht mit Dingen rumspielen, von denen sie nichts verstehen. Captain, es ist meine Pflicht Ihnen mitzuteilen, dass die Hyperion faktisch im Arsch ist. Dass der Antrieb noch läuft, ist mehr oder weniger ein Wunder. Wir werden das Schiff wohl noch halbwegs vernünftig bis zum Ziel bringen können. Aber das wird es dann erst einmal gewesen sein.«

»Das heißt genau?«

»Kompletter Neuaufbau des Sublichtantriebs.«, erklärte der Chief und erntete blasse Gesichter seitens seiner Teamleiter. »Minimum vier... nein, warte, eher fünf Monate. Floyd, der Kahn ist Schrott. Sobald wir unser Ziel erreicht haben, muss ich alles abschalten und kann dann erst mit einer Bestandsaufnahme beginnen. Solange der Hauptantrieb noch läuft, kommt niemand an dessen Kernsteuermodule. Aber ich vermute, dass die am Ende auch nicht besser aussehen. Wenn das eingetreten ist, was ich vermute, werden wir am Ende mit den Resten bestenfalls einen Notantrieb zusammenbasteln können. Du kannst dich bereits darauf einstellen, dass wir dann zum Verlassen dieses System nicht Tage, sondern eher Monate brauchen werden.«


»Entschuldigen Sie Captain Grant, aber ich bin Richterin und kein Techniker.«, hakte Richterin Sakoviac nach, » Könnten Sie uns allgemein verständlich erklären, wie es zu diesem Antriebsschaden kommen konnte.«

»Gerne«, erwiderte Floyd freundlich, überlegte einen Moment, wie er die durchaus komplizierten Zusammenhänge enttechnisieren könnte, und begann zu erklären. »Wie ich vorhin erläuterte, hatte das Team um Chief Peterson die Leistungsfähigkeit unseres Sublichtantriebs deutlich erhöhen können. Alle Simulationen sahen sehr gut aus. Die Materiekonverter, Plasmaleitungen, Strahltriebwerke, Steuerrechner, eben alle betroffenen Komponenten des Antriebs kamen mit den neuen Einstellungen wunderbar klar, was nicht zuletzt daran lag, dass die Hyperion in weiten Teilen überdimensionierte Aggregate besaß. Womit Ulysses und seine Leute hingegen nicht rechnen und deswegen auch in ihre Simulationen einfließen lassen konnten, waren die Veränderungen, die Professor Leclerc, beziehungsweise die fremde Persönlichkeit, die ihn kontrollierte, vorgenommen hatte.«

»Soll das heißen«, wollte Senator Nagano wissen, »Dass der ganze Schlamassel nicht passiert wäre, wenn ihr Chefingenieur nicht versucht hätte, den Antrieb zu verbessern?«

»Senator«, entgegnete Floyd vorsichtig, den die wiederholten Angriffe und wenig subtilen Anspielungen Naganos mehr und mehr verärgerten, »Derartige Verbesserungen sind ein integraler Bestandteil des normalen Schiffsbetriebs. Tiefraumschiffe befinden sich in einem permanenten Prozess der Weiterentwicklung. Sowohl die Planungs-, Bau- und Betriebskosten der Hyperion waren dermaßen immens, dass jeder Tag im Raumdock, ein Tag zu viel wäre. Aus diesem Grund wurde das Schiff von vornherein so konstruiert, dass Erweiterungs- und Umbaumaßnahmen während des Flugs vorgenommen werden konnten. Chief Petersons Leistungssteigerung des Sublichtantriebs auf 120 Prozent stellte da eher einen kleinen evolutionären, denn einen revolutionären Schritt dar.«

»Ja, das stimmt.«, mischte sich nun Senatorin Monahan ein, »Ich war damals Mitglied des Bewilligungsausschusses. Die Idee, ein Forschungsraumschiff in Dienst zu stellen, das nicht die meiste Zeit in der Werft verbrachte, sondern wirklich im Raum um zu forschen, hatte zwar nicht den Ausschlag für das Projekt gegeben, zählte aber zu einem der größeren Pluspunkte für das Konzept der Hyperion.«

»Ähm, ja.«, klinkte sich nun wieder die Richterin ein, »Ich wüsste trotzdem gerne, wie denn der Schaden nun wirklich entstanden ist.«

»Im Endeffekt gingen die Komponenten durch Überlastung kaputt, insbesondere die erwähnten Verstärkerblöcke.«, erklärte Floyd. »Durch Professor Leclercs Manipulationen wurden verschiedene Bauteile außerhalb ihrer Spezifikation betrieben. Nun ist es nicht so, dass eine Komponente sofort ausfällt, wenn ein Betriebsparameter überschritten wird. Meistens passiert im ersten Moment sogar gar nichts was sich von außen beobachten ließe, im Inneren aber schon. Auch Elektronik kann altern. Wird sie über bestimmten Grenzwerten betrieben, altert sie deutlich schneller. Bei manchen Komponenten kann dies den Unterschied zwischen einer quasi unendlichen Lebensdauer und einem kurzfristigen Ausfall ausmachen. Natürlich gibt es Überwachungs- und Schutzschaltungen, die eine Überlastung eigentlich verhindern sollen. Das tückische an Leclercs Manipulation bestand aber darin, dass diese Schutzeinrichtungen nicht anschlugen, gar nicht anschlagen konnten, weil sie mit falschen Referenzwerten kalibriert wurden, die durch die Manipulation entstanden.«

»Aber müssen Sie Professor Leclerc nicht zubilligen, dass ihn nur eine Teilschuld für das Versagen der Antriebsaggregate trifft?«, gab nun wieder Senator Nagano zu bedenken und stellte mit seiner Frage Floyds Geduld auf eine sehr harte Probe. »Er konnte schließlich von Chief Petersons Manipulationen nichts wissen.«

»Bei allem nötigen Respekt, Senator, aber Ihre Schlussfolgerung geht nicht nur ein wenig am Kern des Themas vorbei, sondern ist leider bereits im Ansatz falsch.«, erwiderte Floyd extrem freundlich, obwohl er Nagano am liebsten angeschrien hätte, dass er ein Vollpfosten sei. »Chief Peterson und sein Team hatten nicht nur jede Befugnis, Veränderungen am Antriebssystem der Hyperion vorzunehmen, es war ihre Aufgabe. Leclercs hingegen nicht. Ich glaube kaum, dass es zu den Pflichten und Obliegenheiten eines Chefingenieurs zählt, sich vor der Umsetzung neuer Antriebskonzepte die Genehmigung aller an Bord befindlichen Saboteure einzuholen.«

»Ich verbitte mir Ihren sarkastischen Tonfall.«, polterte nun Nagano los.

»Ja, dem muss ich zustimmen.«, fiel der Ausschussvorsitzende Henry Willibal Waterman im ermahnenden Tonfall ein, blinzelte Floyd aber gleichzeitig verschwörerisch zu, was Nagano aus seiner Position allerdings nicht sehen konnte. »Wir sollten uns auf das Wesentliche beschränken: Das Antriebssystem.«

Ping

»Monate?«

Das Entsetzen in Quentins Stimme war nicht gestellt. Nach der wenig erbaulichen Besprechung mit Chief Peterson entschied sich Floyd das Thema in größerer Runde zu erörtern. Dies hieß konkret, dass sich der gesamte Offiziersstab, die Leiter der technischen Abteilungen und eine Delegation der Wissenschaftler im großen Besprechungsraum neben der Brücke einfanden. Nicht nur Floyd zeigte sich überrascht, dass die Wissenschaftsgemeinde den unterkühlten Marsianer, Chef der Chemiedivision und Vertrauter der verstorbenen Cardigan zu ihrem neuen Leiter gewählt hatte. Noch überraschter war Floyd, dass Yamamoto sogar offen erklärte, dass er Mitglied des Geheimdienstes sei, was aber noch viel überraschender niemand zu stören schien.

»Leider ja«, bestätigte der Chief seine Zeiteinschätzung und fuhr in einem erklärenden Tonfall fort: »Es mag ein wenig widersprüchlich erscheinen, dass die Hyperion dermaßen schwer beschädigt sein soll, obwohl wir im Moment mit voller Leistung verzögern.« Zustimmendes Nicken machte sich im Publikum breit. »Doch der Schaden ist da. Mit jedem Manöver, das wir vornehmen, werden die Probleme zunehmen. Soweit wir das bis jetzt überblicken können, entstehen durch Leclercs Veränderungen am Navigations- und Steuersystem immer dann zerstörerische Signalverzerrungen und Leistungsspitzen, sobald die aktuellen Sollwerte verändert werden, etwa wenn die Leistungsabgabe einer Steuerdüse von fünfzig auf fünfundsiebzig Prozent erhöht wird. Verharrt der Antrieb auf einem Wert, passiert immerhin nichts. Je nach Stärke, Anzahl und Dauer der Änderungen werden die Leistungsendstufen der Plasmamodulatoren mehr oder weniger stark geschädigt. Wenn wir uns auf sehr langsame und behutsame Änderungen etwa der Leistungsabgabe der Steuer- und Manöverantriebe beschränken, können wir den Totalausfall wohl noch ein wenig rauszögern. Mein Team ist gerade dabei, ein Steuerprogramm zu entwickeln, das dem Rechnung trägt. Ob diese Maßnahmen ausreichen, dieses System wieder zu verlassen, kann ich beim besten Willen noch nicht sagen, vermute aber, dass wir es nicht schaffen werden. Deswegen müssen wir die Hyperion reparieren.«

»Scheiße!«, kam es treffend aus dem Publikum.

»Entschuldigen Sie bitte die etwas längere Leitung einer Xenoanthropologin, die mit Technik im Allgemeinen weniger zu tun hat, aber heißt das, dass wir in diesem System gestrandet sind?« Naomi Cantrell sprach offen aus, was alle Anwesenden befürchteten, sich aber nicht trauten, durch eine offene Frage Gewissheit zu erlangen.

»Darauf läuft es wohl vorerst hinaus.«, beantwortete Floyd die Frage. »Ich habe entschieden, am bisherigen Ziel, in eine Umlaufbahn um den vierten Planeten einzuschwenken, festzuhalten. Allerdings plane ich eine kleine Änderung. Wie Sie alle inzwischen erfahren haben, befindet sich ein fremdes Schiff ebenfalls im Orbit. Ich glaube, niemand in diesem Raum zweifelt daran, dass wir deswegen hierher geschickt wurden. Wie dem auch sei. Die Entdeckung eines Raumfahrzeugs fremden und uns unbekannten intelligenten Lebens ist wichtig genug, um untersucht zu werden. Dafür sind wir hier. Das ist unser Job.«

Die Ansprache mochte etwas pathetisch ausgefallen sein, traf bei den Wissenschaftlern aber offensichtlich den richtigen Ton. Floyds eigentliche Absicht bestand hingegen weniger darin, Begeisterung für die kommende Aufgabe zu wecken, sondern die Besprechung so kurz wie nötig zu halten. Die Uhr tickte. Wenn ihn seine Vermutung nicht täuschte, müsste das Schiff in weniger als einer halben Stunde von einem weiteren Ping getroffen werden, wie der merkwürdige Energieblitz von den Offizieren nur noch genannt wurde. Sollte er tatsächlich erneut aufleuchten, wollte Floyd vorbereitet sein und so viele Daten wie möglich sammeln lassen. Dies konnte er allerdings nicht, solange er in einer endlosen Diskussion fest hing.

»Ich glaube«, begann Professor Bangs und grinste breit, »dass es das für's erste dann wohl reicht.«

»Was?«, stammelte Floyd verwirrt.

»Captain, ich bitte Sie.«, fuhr Buchanan den Gedankengang seines Kollegen fort, »Glauben Sie ernsthaft, Sie wären der einzige, der den Energieblitz bemerkt hätte? Wir sind mindestens so gespannt wie Sie, zu erfahren, was in siebenundzwanzig Minuten und dreiundzwanzig Sekunden passiert. Also, lassen Sie uns die Besprechung schnell beenden und zu unseren Messgeräten eilen. Reden können wir später immer noch.«

Völlig sprachlos musste Floyd mit ansehen, wie ein breit grinsender Trupp Wissenschaftler freundlich grüßend den Besprechungsraum verließ und ihn verdattert zurückließ.

»Mach den Mund zu. Die Milchzähne werden sonst sauer.«, ließ sich ein schmunzelnder Jason verlauten, während er mit seinem Zeigefinger sanft das Kinn seines Freundes anstupste und den offenstehenden Mund zuklappte.

»Ich bin ein Idiot, oder?«

»Nein, ganz im Gegenteil. Du hast dir bei meinen Kollegen sogar sehr viel Respekt verschafft, ihnen die Beschissenheit der Lage nicht verschwiegen zu haben. Was das andere betrifft... Nun, wir sind Wissenschaftler und damit von Natur aus neugierig. Glaubst du ernsthaft, dass der Ping unbemerkt blieb?«

»Wohl nicht. Und was machen wir jetzt?«

»Du bist der Captain. Ich an deiner Stelle, würde mir ansehen wollen, was da auf uns zukommt.«


»t minus zwei Minuten«

»Danke, Mr. Harding.« Der XO studierte intensiv den Monitor vor sich, wechselte mit ein paar Wischgesten durch verschiedene Ansichten, kräuselte die Stirn, nickte und meinte dann sichtlich zufrieden: »Captain, wir sind bereit. Alle Scanner sind aktiviert und auf kontinuierliche Aufzeichnung der Daten programmiert.«

»Sehr gut.«, erwiderte Floyd ebenfalls zufrieden, um dann zu zögern. Plötzlich schnellte sein Finger zum Bedienpanel der Bordsprechanlage an seinem Kommandostuhl vor: »Hier spricht der Captain, alle Wachmannschaften und Bordtechniker auf Bereitschaftsposten. In einer Minuten und dreißig Sekunden wird die Hyperion vermutlich von einem Energieimpuls unbekannter Stärke und Beschaffenheit getroffen werden. Achten Sie auf Überspannungsentladungen und Systemausfälle. Isolation aller Sektionen. Alle Schotten dicht. Schwerwetteralarm.«

»t minus eine Minute dreißig«, kam es wie zur Bestätigung von Quentin.

»Der erste Impuls war nur eine Art entferntes Blinken, ein Leuchtfeuer, der Zweite hingegen deutlich stärker.«, erläuterte Floyd, »Ich will nicht riskieren, dass uns noch mehr Schiffskomponenten um die Ohren fliegen. Chief?« Floyd hatte den Finger wieder auf der BSA und eine direkte Verbindung in den Maschinenraum geschaltet, »Schalten Sie alle Energieverbraucher, außer denen der Lebenserhaltung und Sensorsystemen des Schiffs und der Wissenschaftsabteilungen ab und sichern Sie das Verteilnetz gegen Überlastung. Wir können auch ein paar Minuten mit Notbeleuchtung auskommen.«

»Aye Captain!«

Einige Sekunden später erlosch die normale Brückenbeleuchtung. Die Hintergrundgeräusche erstarben. Es war das Fiepen, Brummen, Schnurren, Ticken und Surren, das das Schiff permanent erfüllte, an das aber sowohl die Besatzung als auch die wissenschaftlichen Passagiere dermaßen gewöhnt war, dass es ihnen erst auffiel, als es fehlte. Eine ungewohnte, schummrige Stille erfüllte die Brücke. Nur ein paar schwache Orientierungs- und Notlichter in den Wandpanelen und an den Bedienkonsolen sorgten für ein klein wenig Licht. Außerdem tauchte der blasse Schimmer der Kontrollmonitore die Szene in eine fast schon gespenstische Aura, indem sie die Offiziere von unten beleuchteten. Unwillkürlich musste Floyd an seine Zeit im Jugendsommerlager denken, als sie sich in einer Holzhütte bei heftigem Gewitter Gespenstergeschichten erzählten und dabei mit einer Taschenlampe ihre Gesichter von unten beleuchteten.

»t minus eine Minute«, zerriss Quentin die erwartungsvolle Stille und zuckte vor seiner eigenen Stimme schreckhaft zurück.

»Energienetz des Schiffs ist offline und gesichert.«, erklang Ulysses Stimme über das batteriebetriebene Notsprechsystem.

»t minus dreißig Sekunden« Quentin hatte die Lautstärke seiner Stimme deutlich gesenkt, was aber in keiner Weise dazu beitrug, die angespannte Atmosphäre zu entspannen. Ganz im Gegenteil hielt mehr als ein Brückenmitglied den Atem an, um kurze Zeit später heftig Luft zu holen.

»t minus fünfzehn Sekunden. Zehn... neun... acht... sieben... sechs... fünf... vier... drei... zwei... eins... Null!«

Im ersten Moment schien nichts zu geschehen. Forschend und fragend schaute Floyd auf den großen Monitor vor sich, dessen Inhalt genau die Messwerte zeigte, die bei den ersten Energieblitzen besonders deutlich ansprachen. Was sie dann auch beim dritten Mal taten. Innerhalb einer Sekunde sprangen drei Viertel der Indikatoren heftig in die Höhe und zeigten überdeutlich, dass es sich bei dem Ping wirklich um ein sich wiederholendes Phänomen handelte.

»Schaut euch das an!«, rief Quentin und zeigte auf den Monitor, der das Bild des Bugkamerasystems zeigte. In Flugrichtung, genau dort, wo der Schiffscomputer den vierten Planeten des Systems mit einem feinen roten Pfeil markiert hatte, blitzte es kurz auf. Der Ping war also auch optischer Natur.

»Kam das vom...«

Weiter kam Floyd nicht. Im gleichen Moment als er seine Frage zu stellen begann, setzte das typische Knistern einer elektrostatischen Ladung ein, um unmittelbar in kleine Entladungsblitze überzugehen, die spratzend über diverse Oberflächen züngelten.

»Finger weg von den Konsolen«, rief Otis und verhinderte dadurch, dass Max und Ron einen zumindest schmerzhaften Fehler begingen. Nach den Daten auf dem heftig flackernden Schirm des XOs hatte es die Ladung in sich und hätte bei einer Entladung über ein paar ausgestreckte Finger deutlich mehr, als nur ein wenig gezeckt, sondern den Berührenden wortwörtlich vom Stuhl gehauen. Doch dies war nur der Anfang. Die Blitze wanderten über Wände und Decken, nahmen an Stärke zu und entluden sich krachend entlang der Feldlinien. Die Luft roch nach Stickoxiden, den Reaktionsprodukten des durch das Plasma entstandenen Ozons. Floyd hörte, wie Otis neben ihm erst zu stöhnen begann, dann die Augen verdrehte und schließlich in seinem Stuhl zusammen sackte. Aus dem hinteren Teil der Brücke, von der Station des Chefinformatikers, drangen ähnliche Geräusche zu ihm hervor. Jason hatte es ebenfalls erwischt. Was immer dieser Energieblitz auch sein mochte, seine Wirkung beschränkte sich nicht auf die technischen Komponenten des Schiffs, sondern wirkten sich nicht minder effektvoll auf die psionisch begabten Besatzungsmitglieder aus.

Wobei das Wort Blitz grundsätzlich ein sehr, wenn nicht sogar extrem kurzzeitiges Ereignis unterstellte. Das Phänomen gönnte sich dabei keine Ausnahme. Wenn Floyd den Anzeigen glaubte, das hieß soweit diese noch funktionierten, besaß der Impuls eine Breite von nicht mehr als etwas unter 250 Mikrosekunden. Dafür reichte die Impulsstärke aus, um etliche Messgeräte wegen Überlast abschalten zu lassen, um ihr Durchbrennen zu verhindern. Die Folgewirkung des Ereignisses währte dann auch deutlich länger als eine viertel Millisekunde.

»Alles okay?«, fragte Floyd vorsichtig, nachdem sich der Großteil der statischen Entladungen ausgetobt hatte.

»Ja«, meinte Quentin, berührte eine Schaltfläche und bekam prompt kräftig einen gewischt. Zum Glück handelte es sich aber nur um eine Art Abschiedsgruß, etwas Restladung, die sich dann - über Quentin - aber schnell abbaute. »Fuck!«, knurrte der gezappte Brückenoffizier.

Mit dem Ende des blitzenden Budenzaubers kehrte die reguläre Brückenbeleuchtung zurück und auch in die vorübergehend stillgelegten Aggregate kehrte wieder Leben ein. Offensichtlich war Chief Peterson der Meinung, dass für die Schiffssysteme keine Gefahr mehr bestand und hatte auf den großen roten Einschaltknopf gedrückt. Im Gegensatz dazu regten sich weder Otis noch Jason, was bei Floyd den kaum zu unterdrückenden Impuls weckte, aufzuspringen und zu seinen Freunden oder präziser seinem Liebhaber zu eilen. Doch als Captain hatte er andere und weitaus vordringlichere Aufgaben zu erfüllen.

»Mr. Johan...« Floyd biss sich auf die Zunge »Mr. Harding, Schadensbericht! Krankenstation, einen Arzt auf die Brücke. Zwei besinnungslose Psioniker.«

»Hüllenintegrität scheint normal. Keine Druckverluste feststellbar. Energieverteilungsnetz bei 78 Prozent und stabilisiert sich weiter. Es muss ein paar kleinere untergeordnete Energieverteiler erwischt haben. Automatische Reparaturen laufen an. Die Hauptsysteme sind bereit. Computer online. Schiffs-KI nach wie vor im Wartungsmodus. Krankenabteilung meldet nur leichte Verletzungsfälle. Zum Teufel, was war das? Was ist mit Otis und Jason?«

Wie auf Kommando schlugen die betreffenden Personen gleichzeitig ihre Augen auf. Otis zog seine Stirn hoch, rümpfte die Nase und versuchte mit weiteren mehr als merkwürdigen Grimassen einen dröhnenden Schädel zu befrieden. Was ihn und Jason auch immer von den Beinen gehauen hatte, musste heftig gewesen sein.

»Boah«, grummelte es aus dem hinteren Bereich der Brücke. »Was war das denn?«, artikulierte Jason seine Verwirrung, rappelte sich mühsam auf und torkelte mehr als dass er ging in Richtung Otis und Floyd. »Das ist ja schimmer als Überlichtflug«, knurrte die Rothaut und massierte seine Schläfen. An Otis gewandt fragte er: »Du hast es ebenfalls bemerkt, oder?«

»Witzbold«, erwiderte der Seelenpartner des amerikanischen Ureinwohners, »Hast du dir das Kennzeichen des Lastengleiters gemerkt, der uns gerade überfahren hat?«

»Wovon redet ihr?«, mischte sich Floyd ein. »Was ist das für ein Energieimpuls? Ist er psionisch?«

»Du verstehst nicht.« Jason schüttelte den Kopf, was er aber sofort bereute. »Es war nicht der Ping, der uns von den Beinen gehauen hat.«

»Nicht?«

»Nein«, bestätigte Otis, »Es war die Antwort, und sie kam von diesem Schiff.«

»Was?«

»Captain?«, rief plötzlich Quentin aufgeregt. »In Sektion G, Deck 8 tut sich etwas. Ich bekomme sehr merkwürdige Werte aus dem Bereich der verschwundenen Lagerräume.«

»Es antwortet«, bemerkte Jason mit einem Kopfnicken, als ob Quentins Beobachtung eine Vermutung bestätigte.

»Mr. Harding« Otis wählte einen bewusst formellen Tonfall »Wie weit sind wir noch von unserem Ziel entfernt? Ich brauche den Wert in Lichtminuten.«

»127 Lichtminuten«, kam prompt die Antwort.

»Das heißt etwas mehr als zwei Stunden, dann bleiben uns schätzungsweise dreieinhalb.«, überlegt Otis laut.

»Für eine Antwort. Ich verstehe.«, griff Floyd den Gedankengang auf. »Ihr seid der Meinung, der Ping hat etwas in unserem Lagerraum geweckt? Erweckt? Aktiviert? Und dieses Etwas hat geantwortet oder vielleicht auch nur reagiert. Diese Reaktion, das Echo, wird 127 Minuten bis zum Ursprung des Pings benötigen. Für den Fall einer Reaktion werden wir diese, die bis dahin verkürzte Distanz eingerechnet, frühstens in dreieinhalb Stunden sehen. Ich muss das Wissen: Ist es feindlich?«

Otis sah Jason an und Jason Otis. Floyd konnte fast sehen, wie die beiden Freunde in Gedanken miteinander diskutierten. In ihren Augen funkelte eine Art gegenseiten Verstehens, von dem Floyd wusste, dass er es bei aller Liebe zu seiner Rothaut niemals erlangen würde.

»Nicht feindlich... fremdartig.«, antwortete der XO. »Diese Reaktion... Ich weiß nicht, ob es wirklich eine bewusste Antwort auf den Ping war. Ja, es war psionisch, aber dabei auf eine Weise fremd, dass es sich menschlichen Kategorien verschließt.«

»Was es noch am ehesten trifft ist ein Eindruck von Orientierungslosigkeit.«, fügte Jason hinzu.

»Spürt ihr jetzt etwas?«, wollte Floyd wissen, worauf die beiden Psioniker ihre Augen schlossen und tief in sich hinein horchten.

»Nein, nichts.«

»Ähm, Captain...«, meldete sich Max Friedrich schüchtern, »Ich weiß nicht wieso, aber ich glaube, wir haben jetzt Kontrolle über die Zugangsschotten zu den Lagerräumen in G-8001 bis G-8027.«

Eiseskälte

Die Raumflotte verfügte über einen ganzen Kanon an Empfehlungen, Vorschriften, Prozeduren, Regeln und Bestimmungen, wer, wie und wann an einem Einsatzteam teilnehmen durfte und wer nicht. Natürlich war es dem Captain strengstens untersagt, sich selbst an die Front zu begeben. Selbst für den XO und die anderen Führungsoffiziere existierten massenweise Einschränkungen, die es ihnen im Alltag unmöglich gemacht hätten, auch nur allein aufs Klo zu gehen. Das Problem der Vorschriften ergab sich aus dem unglücklichen Zusammenspiel zweier Personengruppen: denen mit praktischen Erfahrungen, wie Offizieren, Technikern und zivielen Einsatzkräften einerseits und denjenigen, die die Vorschriften ausarbeiteten. Die Schnittmenge beider Gruppen war schlicht und ergreifend leer. Im Prinzip gab es nur einen Punkt, in dem beide Seiten übereinstimmten, nämlich die Position der anderen einfach zu ignorieren. Die Schiffsbesatzungen scherten sich im Allgemeinen einen Dreck darum, was in irgendwelchen Flottenhandbüchern geschrieben stand, während die Urheber dieser Schriften sich einen Dreck darum scherten, ob ihre Handlungsanweisungen auch nur ansatzweise praktikabel waren.

Eingedenk dieses Grundprinzips schiffsspezifischen Handelns überraschte es nicht wirklich, einige Zeit später Floyd, Otis, Jason und den Chief, aber auch die Xenobiologin Naomi Cantrell in einem Gang auf Deck 8 in Sektion G anzutreffen. Im Gegensatz zu den vergangenen Wochen und Monaten ihrer Reise, in denen sich die Schotten der Lagerräume jeglichen Öffnungsversuchen wirksam widersetzt hatten und die Schiffs-KI sogar ihre Existenz leugnete, präsentierte sich die Titankunststoffhybridstahltür zu Lagerraum G-8012 einen Spalt weit geöffnet. Die Schotten der Hyperion funktionierten nicht wie Türen, schwangen nicht um eine Angel, sondern fuhren klassisch vertikal von Zahnrädern getrieben auf und ab. Das betreffende Exemplar hatte sich zu etwa zwanzig Zentimetern geöffnet. Aus dem daraus entstandenen Spalt in Bodenhöhe quoll eisige Kälte, der zu einem dichten weißen Bodennebel führte.

»Hyp?«, rief Chefinformatiker singende Eidechse sein virtuelles Geschöpf, »Was sagst du zum Temperaturabfall an meinem Standort?«

»Ich weiß, was du meinst.«, entgegnete die Schiffs-KI, »Du spielst auf die verschwundenen Lagerräume an. Es ist etwas vorgefallen. Das beobachtete Phänomen, das ihr als Ping bezeichnet, hat ein verstecktes Unterprogramm in einem der autonomen Lagerverwaltungsrechnersysteme aktiviert, welches seinerseits ein Topologieupdate bei mir einspielte. Die Daten trugen eine gültige Signatur des Flottenkommandos. Auch die Integritätsprüfung bestand es ohne Fehler, weswegen ich entsprechend des gültigen Tiefraumprotokolls verpflichtet war, das Update zu akzeptieren. Die Daten enthalten sämtliche Informationen zu den fehlenden Räumen. Ich verfüge allerdings noch nicht über deren vollständige Kontrolle. Solltet ihr beabsichtigen, die Lagerräume zu betreten, empfehle ich dringend Tieftemperaturschutzkleidung und Wärmeschutzatemmasken zu tragen. Ich kann nicht sagen, wie kalt es im Inneren der Räume genau ist - Teile meiner inneren Sensoren sind immer noch blind - aber am Eingang messe ich mehr als minus achtzig Grad.«

»Ihr habt die nette Dame gehört. Holen wir uns warme Klamotten«, meinte der Chief lakonisch. Floyd schenkte seinem XO einen fragenden Blick, der mit einem zustimmenden Nicken beantwortet wurde. Die Warnung Hyps war überflüssig. Auf der Schwelle zum Lagerraum hatte sich innerhalb kürzester Zeit eine dicke Eisschicht gebildet. Die wie eine Flüssigkeit herausfließende eisige Luft strich dem Erkundungsteam über Füße und Waden. Und obwohl diese in den obligatorischen kräftigen Halbstiefeln steckten, wurde ihnen ziemlich schnell ziemlich unangenehm kalt. Dabei gab sich die für den Gang vor den Lagerräumen zuständige Umweltkontrolle alle Mühe, dem Temperaturabfall entgegenzuwirken. Aus den Luftschlitzen der Lüftungsanlage blies ein regelrechter Wüstenwind heißer Luft.

»Gut, holen wir uns warme Kleidung.«, stimmte Floyd zu, »Ich möchte aber nicht, dass der Zugang unbewacht bleibt. Hyp, bitte sperre diesen Bereich und die umgebenen Gänge. Ausschließlich Führungsoffiziere und der Chefinformatiker haben die Berechtigung, ihn zu betreten, und das auch nur, wenn sie wenigstens zu zweit sind.«

»Aye Captain. Zugangsbeschränkung wurde eingerichtet und ist bis auf Widerruf aktiv.«


»Und was soll das jetzt sein?«

Der Haufen semitransparenter Silikonfolie in Floyds Händen, die zu einer Art Kleidungsstück zusammengefügt schien, entlockte ihm nicht nur einen skeptischen, sondern auch ausgesprochen argwöhnischen Gesichtsausdruck.

»Das, mein allerliebster Captain, ist deine persönliche Environmentsuit. Ein absolut geiles Stück Technik. Sie schützt gegen Kälte, Hitze, stumpfe Gewalt und die meisten aggressiven Atmosphären.«, verkündete Jason wie ein Gebrauchtwagenhändler. »Hier!«, eine kleine Flasche mit Pumpspender flog in Richtung Floyd, der diese, ganz ehemaliger Footballspieler, locker aus der Luft fing. »Ohne Gleitgel kommst du nie in das Teil rein.«

Während Floyd Rutherford Grant unschlüssig wechselweise Anzug und Gleitgel betrachtete, begann sich sein Chefinformatiker vollständig zu entkleiden und mit dem Inhalt seiner eigenen Gleitgelflasche einzuschmieren, was ihm bei der Rückenpartie erwartungsgemäß nur bedingt gelang.

»Warte! Ich helf dir.«, meinte Floyd, griff zur Flasche und ließ eine gute Portion über Jasons Rücken fließen. Anschließend entledigte er sich ebenfalls seiner Kleidung, worauf sich Jason revanchierte und nun seinen Rücken mit der wirklich flutschigen Flüssigkeit einstrich. Nachdem Floyd den Rest seines Körpers in einen gleichwertig schlüpfrigen Zustand versetzt hatte, wandte er sich dem Anzug zu, breitete ihn vor sich aus und versuchte zu ergründen, wie er das Teil anlegen musste.

»Oh Mann«, stöhnte Jason, der sich abmühte, nackt und von Kopf bis Fuß satt mit Gleitgel in seinen elektronischen Silikonschutzanzug zu zwängen, »Ich glaube, beim Anziehprozess haben wir noch ein wenig Optimierungsbedarf.«

»Ich werde dir nicht widersprechen.«, meinte daraufhin Floyd, der ebenfalls damit begonnen hatte, sich mit seinem eigenen Anzug abzumühen. Das Problem bestand darin, dass diese Ganzkörperkunststoffpelle wirklich wie eine zweite Haut ohne Falten und Kniffe auf dem Körper sitzen sollte und deswegen extrem eng geschnitten war. Aber nur so konnte er die Funktion einer Hochleistungsklimaanlage gerecht werden. Das Geheimnis der Envirosuit, die wirklich der Fetischabteilung eines Sexshops entsprungen zu sein schien, bestand aus abermillionen Nanoprozessoren und -aktoren, die, eingebettet in das Material, zu unglaublichen Leistungen fähig waren. Sie konnten Wärme vom Körper forttransportieren, wie eine Isolierschicht arbeiten, Wärme erzeugen, Körperfeuchtigkeit aufnehmen und über Mikrokapillaren abtransportieren. Er war sogar in der Lage, mit Hilfe künstlicher Muskelfasern, die Beweglichkeit und Kraft seines Trägers zu verstärken oder ihn durch spontanes Versteifen gegen stumpfe Gewalt zu schützen. Wirkten alle Aktoren zusammen, konnte sich der Anzug für kurze Zeit zu einem fast undurchdringlichen Panzer verfestigen. Dabei trug sich das Kleidungsstück sogar erstaunlich angenehm, hätte davor nicht die Hürde der Anziehprozedur gestanden. Ohne Gleitgel ließ sich überhaupt nicht hineinschlüpfen, mit Gleitgel allerdings auch nicht wirklich leichter, weil einem das Ding immer aus den Fingern flutschte. Erschwerend kam hinzu, dass der Einstieg nur über den Halsausschnitt möglich war. Einen Reißverschluss oder ähnliches gab es nicht, dafür aber eine Kopf- und Gesichtshaube, um auch das Gesicht gegen widrige Klimaeinflüsse zu schützen. Um die Atmung zu gewährleisten, dienten weiche Nasenstöpsel, über die gefilterte, angewärmte oder abgekühlte und befeuchtete Luft in den Riechkolben eingeleitet wurde.

»Junge«, stöhnte Jason, als er sich und seinen Freund nach unzähligen Minuten nervigen gezurres, gezupfes und gerubbels, im Spiegel betrachtete und feststellen musste, dass die Anzüge ihre eh schon wohlgeformten Körper noch ein paar Nummern geiler aussehen ließen, »Das ist ja Porno pur.«

»Du hast keine Ahnung«, murmelte Floyd und wollte seine deutlich sichtbare Erektion zurechtrücken.

»Nicht doch!«, hielt ihn Jason davon ab. »Lass das den Anzug machen.«

»Wie jetzt?«, entgegnete Floyd verwirrt. »Der Anzug soll meinen Dödel zurechtrücken?«

»Yupp!«, erwiderte der amerikanische Ureinwohner und schnappte sich den linken Unterarm seines Freunds, an dem plötzlich eine blauweiße Linie aufleuchtete, die einen rechteckigen Bereich begrenzte, in dem selbst wieder eine Reihe Bedienfelder aufglimmte. Jason zögerte nicht lange und tippte auf das grüne Feld zum aktivieren des Anzugs. Das an sich semitransparente Material begann plötzlich zu leuchten. Blaue, weiße und rote Felder markierten einzelne fehlplatzierte Bereiche, die sich, wie Floyd deutlich spürte, zusammenzogen oder dehnten, vibrierten, zuckten und so an die richtige Position rutschten. Dies schloss insbesondere auch die Genitalien ein, die auf recht erregende Weise in eine bequeme Lage positioniert wurden.

»Wow!«, stöhnte Floyd, »Wenn der Anzug weitermacht, geht mir gleich noch einer ab. Ähm... aber irgendetwas stimmt nicht. Ich habe den Eindruck, dass das Teil meinen Schwanz einhüllt.«

»Das tut er auch. Und rate mal, warum.«, erläuterte der Chefinformatiker.

»Oh, du meinst, wenn ich muss, dann soll ich...?«

»Laufen lassen.« Jason grinste. »Der Anzug ist für Langzeiteinsätze konzipiert. Du kannst dich natürlich auch aus dem Anzug pulen. Nein, keine Angst. Das System ist extra dafür entwickelt worden, flüssige Körperausscheidungen verarbeiten zu können. Im Gegensatz zu seinem Aussehen, handelt es sich eben nicht um ein Sextoy, sondern um ein hoch spezialisiertes Lebenserhaltungssystem. Wenn du die blaue Taste an den Kontrollen drückst, wird auch noch die Gesichtsmaske versiegelt und das Atmungssystem aktiviert. Deine Luft wird mikrogefiltert, wenn nötig vorgewärmt oder gekühlt und befeuchtet. Dieser Anzug schützt dich vor Temperaturen bis hinab zu 220 Grad minus und 250 Grad plus. Er ist säure- und laugenfest. Du könntest ohne Probleme die Schwefelsäureregen Serina IV bewundern, ohne Angst haben zu müssen, bis auf die Knochen aufgelöst zu werden. Was er nicht ist, ist druckdicht. Genauso verfügt er über keinen Sauerstoffvorrat. Von Weltraumspaziergängen kann ich nur abraten. Aber drück mal die grüne Taste mit dem Augensymbol.«

Da Floyd seinem Freund inzwischen blind vertraute, zögerte er nicht, auf seinen Anzugkontrollen nach der erwähnten Taste zu fahnden und diese zu betätigen. Ein kurzer Piepston bestätigte das Kommando, wurde dann aber von einem deutlichen »Wow!« übertönt.

»Fantastisch«, flüsterte Floyd. Im Gegensatz zum Rest des Anzuges, der semitransparent, fast milchig, kaum einen Blick auf den in ihm steckenden Körper gestattete, präsentierte sich die Augenpartie glasklar, sogar klarer als klar, was designtechnisch durchaus sinnvoll erschien. Ein opaques Gesichtsfeld hätte doch erhebliche Abstriche bei der Praxistauglichkeit bedeutet. Der glasklare und absolut verzerrungs- und reflexionsfreie Bereich stellte somit keine wirkliche Überraschung dar und hätte den Captain der Hyperion auch keinen Ausruf der Begeisterung entlockt. Das nach der Betätigung der grünen Taste aufflammende Head-Up-Display hingegen schon. Genaugenommen war es mehr als ein Head-Up-Display. Die Einblendungen erschienen dreidimensional direkt im normalen Sehfeld, so als ob sie tatsächlich körperlich vorhanden wären.

Die Informationen, die das System lieferte, waren beeindruckend. Eine der zentralen Funktionen stützte sich auf ein Eye-Tracking-System, das die Blickrichtung des Trägers ermittelte, um daraufhin das anvisierte Objekt zu analysieren. Die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden anschließend direkt in das Blickfeld eingeblendet. Die ermittelten Daten konnten sich durchaus sehen lassen und reichten von einer einfachen Entfernungsmessung über eine Bestimmung von Größe und Oberflächentemperatur bis hin zur Erkennung von leblosen und belebten Objekten. Selbst eine spektrale Analyse fast aller Frequenzbänder war möglich. Als Floyd seinen Freund in den Fokus nahm, flammten sofort dessen Daten auf. Da dieser ebenfalls eine Envirosuit trug, lieferte das System sogar Biodaten in Echtzeit, vernetzte sich mit ihm und begann die Objekte ihrer Umgebung für beide Träger zu triangulieren.

»Wir haben uns sehr viel Mühe gegeben, den Anzug möglichst praxistauglich zu gestalten.«, erläuterte Jason. »Einerseits soll sein Träger so wenig wie möglich von ihm spüren, anderseits soll er schützen und so informativ wie möglich sein. Wie fühlt er sich eigentlich jetzt an?«

Ein wenig überrascht stellte Floyd fest, dass er das Silikon auf seiner Haut kaum noch wahrnahm. Erst als ihn Jason darauf ansprach, brachte sich die zweite Haut durch ihren leichten Druck wieder in Erinnerung. Aber bei der Arbeit dürfte er kaum störend auffallen.

»Warum trug Ulysses eigentlich keine Envirosuit als er die Verstärkermodule aus dem Antrieb holte? Und warum trägst du keinen, wenn du in den Rechnerkern kriechst?«, wollte der Captain der Hyperion wissen.

»Deine zweite Frage ist einfach zu erklären. Die Envirosuit verträgt sich nicht mit dem Stasisanzug. Was deine erste Frage betrifft, Ulysses trug einen unter seinem HEV-Anzug. Der Anzug ist nicht für alle Umgebungen geeignet. Er kann verunreinigte Luft filtern, aber nicht für eine Versorgung sorgen, wenn keine da ist. Er schützt auch nicht vor Stichverletzungen oder verstärkt deine Kraft, weswegen ich dir dringend empfehle, deine Einsatzkombination überzuziehen. Obwohl du natürlich so ausgesprochen lecker aussiehst.«

»Lustmolch!«

Aber Jason hatte Recht. So wenig, wie die intelligente elektronische Silikonfolie auftrug, so nackt fühlte sich Floyd in ihr auch. Und so zögerte er auch nicht, eine robuste und etwas grobe Einsatzhose, eine dazupassende Weste und Jacke überzuziehen. Es folgten halbhohe Kampfstiefel, ein leichter Carbonfaserhelm samt Gesichts- und Augenschutzmaske und Handschuhe. Mehr oder weniger handelte es sich bei diesen Kleidungsstücken um die übliche semimilitärische Kluft, wie sie bei Einsätzen mit unklarer Sicherheitslage üblicherweise getragen wurde. Selbstverständlich waren auch diese Kleidungsgegenstände mit allerlei Technik ausgestattet, etwa Helmkameras und Scheinwerfer, Carbonfaserschutzeinsätze an allen gefährdeten Körperbereichen, zwei Messer, eines am Gürtel, eines an der Wade. Das Ganze wurde von einem kleinen Universalwerkzeugsatz abgerundet, der am obligatorischen robusten Gürtel hing. So ausgestattet sprach nichts dagegen, dem Geheimnis der verschwundenen Lagerräume auf den Grund zu gehen.


»Bereit?« Die Stimme Otis klang klar und deutlich aus dem Sprechsystem. Ähnlich wie der Unteranzug die visuelle Wahrnehmung erweiterte, sorgte er auch für eine deutlich verbesserte akustische Verständigung. Der einzige nicht von Silikon bedeckte Bereich, und somit gegen Umwelteinflüsse schutzlos exponiert, war der Mund. Aus diesem Grund gab es passend zur Gesichtsmaske ein Mundstück, das aber den Nachteil besaß, sich nicht nur ziemlich ungewohnt anzufühlen, sondern auch der Sprachverständlichkeit ausgesprochen abträglich zu sein. An dieser Stelle griff wieder die Nanotechnik des Anzugs ein, indem sie die verzerrte Stimme so modifizierte, dass sie natürlich, klar und vor allem gut verständlich klang. Dass dabei auch gleich eine doppelt redundante Sprechfunkverbindung integriert wurde, verstand sich von selbst.

Am anderen Ende der Kommunikationsstrecke, in der Sicherheit eines kleinen Kontrollraums in der Nähe der Lagerräume, hatte Otis zusammen mit Quentin und Max Stellung bezogen, um den Einsatz des Erkundungsteams bestehend aus Floyd, Jason, dem Chief und Xenobiologin Naomi Cantrell überwachen zu können. Eigentlich diente der Kontrollraum dazu, die Lagerräume sowohl zu überwachen als auch zu kontrollieren und reichte von so simplen Dingen wie der Raumtemperatur und Luftfeuchtigkeit bis hin zur individuellen Zusammensetzung der Komponenten der Atmosphäre. So wurden zum Beispiel verderbliche Lebensmittel in sauerstofffreier Schutzgasatmosphäre bei sehr niedrigen Temperaturen und speziell angepassten Lichtspektren gelagert. Die Bandbreite der Möglichkeiten war ausgesprochen vielfältig. Während eines früheren Einsatzes wurden etwa die Umweltbedingungen eines tropischen Regenwaldes nachgebildet, vom regelmäßigen Niederschlag über das Spektrum der Lichts bis hin zur Temperatur. Selbst die Zusammensetzung der Atmosphäre entsprach dem Original einschließlich der für Menschen tödlich hohen Kohlendioxidkonzentration und war auch der Grund, warum das entsprechende Habitatprofil mit einem roten Sperrmarker versehen war, der eine Aktivierung nur nach Freigabe durch einen Kommandooffizier erlaubte.

Um sich nicht jedes Mal in Schutzkleidung zwängen zu müssen verfügten die Lagerkontrollräume auch über ein umfangreiches Instrumentarium an Überwachungs- und Kontrolltechnik, von der Möglichkeit metergenauer Temperaturmessungen bis hin zu Videoüberwachung selbst des letzten Winkels. Die tatsächlich herrschenden Umweltbedingungen eines Habitats persönlich zu überprüfen, stellte die Mannschaft sicherlich vor keine unüberwindliche Aufgabe, deren zwanzig oder dreißig gleichzeitig allerdings schon, insbesondere dann, wenn sich das Betreten des einen oder anderen Raums aus den eben erwähnten Gründen nicht empfahl. Dummerweise funktionierte bei den Lagerräumen G-8001 bis G-8027 weder die Kontrolle der Umweltbedingungen noch deren Überwachung. Otis konnte Floyds Einsatztrupp weder sagen, was sie im Inneren vorfänden, noch war er in der Lage, in irgendeiner Weise Einfluss auf die dort herrschenden Lebensbedingungen zu nehmen. Selbst so etwas simples, wie für Licht zu sorgen, befand sich weit außerhalb seiner Möglichkeiten. Das Team war auf sich allein gestellt.

Bevor sie sich auf den Weg in das unbekannte Gelände der verschwundenen und wieder aufgetauchten Lagerräume machten, checkten die vier Mitglieder nochmals gegenseitig ihre Ausrüstung auf Vollständigkeit und Funktion und ließen sich vom Unteranzug versichern, dass er aktiv, voll geladen und bereit war, gegen die drohenden widrigen atmosphärischen Verhältnisse anzutreten. Im Head-Up-Display leuchteten sämtliche Statusfelder grün und meldeten damit ihre Funktionsfähigkeit, sich in die Schlacht zu stürzen.

»Wir sind bereit.« gab Floyd stellvertretend für die ganze Gruppe bekannt.

»Gut, dann öffne ich das Schott. Seid vorsichtig. Im Gang hat sich inzwischen eine nette Eisschicht gebildet. Ihr solltet eure Spikes aktivieren.«

Der Hinweis erwies sich als überflüssig. Im gleichen Moment wie sich das Schott zum erwähnten Gang vor den Lagerräumen öffnete, kondensierte schlagartig die Feuchtigkeit in der Luft des Gangs davor und bildete einen dichten Bodennebel. Der Silikonunteranzug benötigte etwa eine Sekunde, um die veränderten Umweltbedingungen zu erfassen und sich darauf einzustellen. Diese kurze Zeit reichte aber aus, seinen Träger die Kälte der Luft deutlich spüren zu lassen. Die Einblendungen des Head-Up-Displays lieferten die wissenschaftlich formale Bestätigung: Im Bodenbereich lag die Temperatur der Luft bei unter minus fünfzehn Grad. Otis Warnung war berechtigt. Am eiskalten Boden hatte sich sofort eine Schicht Raureif gebildet, gegen die selbst die mit Hochdruck arbeitende Klimaanlage nicht viel ausrichten konnte. Ganz im Gegenteil sorgte der höhere absolute Feuchtegehalt der warmen Luft sogar dafür, dass die Eisschicht reichlich Nachschub bekam.

Vorsichtig und auf sicheren Halt bedacht, arbeitete sich der kleine Trupp bis zum Lagerraumschott vor, das nach wie vor nur einen Spalt breit geöffnet stand. Diese kleine Öffnung reichte aus, um den kompletten Gang zu vereisen.

»Ich bekomme direkt am Schott einen Wert von minus 90 Grad.«, teilte Naomi ihre Beobachtung mit, wobei durch die hohe Qualität der Sprachübertragung die leichte Unsicherheit in ihrer Stimme nicht unbemerkt blieb.

»Was? Vertraust du unserer Schutzkleidung nicht?«, stichelte Jason amüsiert.

»Du bist und bleibst eine kleine perverse Rothaut«, keifte die Xenobiologin scherzhaft zurück. »In deiner modischen Kreation komme ich mir immer wie eine Latexdomina aus einem Hochglanzfetischmagazin vor. Musstest du die Brüste so üppig gestalten?«

»Oh, Naomi, meine nubische Schönheit«, konterte die Rothaut seinerseits mit einem politisch nicht wirklich korrekten Klischee, »Mit Kritik an der Formgestaltung der weiblichen Anzugsmodelle musst du dich an Scott wenden.«

»Buchanen? Ich wusste immer, dass das pummelige Kerlchen ein verkappter tittenfixierter Perversling ist.«

»Leute, ein bischen mehr Professionalität, ja?«, kam es ermahnend nicht etwa von Floyd, der natürlich genau wusste, dass die beiden Professoren Cantrell und singende Eidechse nur bedingt unter seine Kommandogewalt fielen, sondern von Otis, der es alles andere als gut hieß, seinen Captain auf einer Mission in unbekanntes und damit potenziell gefährliches Territorium gehen zu sehen. »Otis«, meldete sich Floyd. »Ich glaube, wir sind bereit, dass du das Schott ganz öffnen kannst.«

»Aye Captain.«, kam die Bestätigung. Eine Sekunde später setzte sich das schwere Schott knarzend und quietschend in Bewegung. Teile der bedeckenden Eisschicht platzten ab und flogen durch den Raum. Fies knirschend öffnete sich der Zugang zu den lange verschlossenen Lagerräumen.

»Hyp, schalte die Klimaanlage ab.«, rief Chief Peterson, »Die warme Luft verwandelt sich in Nebel. Wir können nichts sehen.«

»Bestätige«, meldete sich die Schiffs-KI, »Warmluftzufuhr unterbrochen. Raumluft wird an Taupunkt angeglichen.«

»Hm«, murmelte Naomi, nachdem sich der Nebel kurze Zeit später gelichtet hatte. »Könnt ihr etwas entdecken?«

Die Angesprochenen konnten es nicht, oder besser gesagt kaum. Der Lagerraum präsentierte sich als großes schwarzes Loch. Wie befürchtet war die Raumbeleuchtung ausgeschaltet und da Otis nach wie vor keinen Zugriff auf die Umweltkontrollen erhielt, würde sich am momentanen Helligkeitswert auch nicht groß etwas ändern lassen. Immerhin war es nicht vollkommen dunkel. Es dauerte ein paar Momente, bis das Team die schwach glimmenden autarken, das heißt vom Energienetz unabhängigen Not- und Orientierungslichter entdeckte, die den gigantischen Raum aber nicht wirklich erhellen mochten. Floyd schaltete die beiden starken Scheinwerfer seines Helms ein. Dunst aus feinsten Eiskristallen erfüllte den Raum, der im Lichtkegel der kräftigen Lampen flimmerte und sie wie tastende und suchende Finger erscheinen ließ.

Der Bereich um den Eingang schien allem Anschein nach frei von Hindernissen zu sein, sodass Floyd einen ersten Schritt in den Lagerraum wagte. Bei aller Abgeklärtheit, die einem Captain normalerweise zueigen sein mochte, wirkte die Halle trotzdem beklemmend und unheimlich. Die dumpfe Stille, das Knirschen der Stiefel auf dem vereisten Boden, das kalte blauweiße Licht der Scheinwerfer, das sich trotz seiner gleißenden Intensität in den Weiten der Halle verlor, trug nicht dazu bei, seine innere Unruhe und Nervosität zu lindern. An Floyds Nerven zupfte das gleiche unangenehme Gefühl, das ihn jedes Mal umtrieb, wenn ihn sein Weg in den Kern einer Schiffs-KI führte.

»Hast du schon etwas entdeckt?«

Jason hatte sich zu Floyd gesellt und ebenfalls seine Helmscheinwerfer angeschaltet. Ein Teammitglied nach dem anderen betrat die riesige Halle.

»Nein.«, gestand Floyd leise und versuchte seine Gänsehaut abzuschütteln, was im hautengen Schutzunteranzug nicht wirklich gut funktionierte. »Es ist schwierig, in dieser Dunkelheit überhaupt etwas auszumachen. Ehrlich gesagt bin ich ein wenig enttäuscht. Wer mordet, um einen leeren Lagerraum zu beschützen? Wie groß ist er überhaupt?«

»Schwer zu sagen.«, schaltete sich Ulysses ein, der sich als Chefingenieur angesprochen fühlte, »Die genauen Topologiedaten sind uns immer noch nicht vollständig zugänglich. Ich schätze, dass er etwa sechzig Meter breit und zweihundertfünfzig lang ist. Ich kann aber auch vollkommen daneben liegen. Schwer zu sagen.«

»Ähm, ich glaube, da hinten ist etwas.«, meldete sich Naomi Cantrell zu Wort, die sich ein wenig von der Gruppe entfernt hatte. Sie hatte ihre Helmscheinwerfer ausgeschaltet gelassen und spähte stattdessen in die Dunkelheit. Und tatsächlich, in einiger Entfernung schienen schwache farbige Lichter zu glimmen.

»Sieht nach Kontrollleuchten aus.«

Entladungen in der Dunkelheit

Das schwache Glimmen entsprang tatsächlich dem Kontrollpanel eines Aggregats - eines sehr großen Aggregats. Floyd schätze seine Höhe auf gut zweieinhalb Meter, was vom Messsystem seines Anzugs prompt bestätigt wurde. Ansonsten präsentierte sich das Objekt als ein ausgesprochen langweiliger, glatter und von Raureif überzogener metallischer Quader, der, soweit sich dies erkennen ließ, außer dem schwach leuchtenden Kontrollfeld über keinerlei Markierungen, Beschriftungen, Zugangsklappen oder Anschlüsse verfügte, von einer einzigen etwa armdicke Leitung abgesehen, dessen anderes Ende sich in der Dunkelheit der Lagerhalle verlor.

»Okay«, murmelte Floyd und versuchte die Eisschicht vom Display zu kratzen, »Hat jemand eine Idee, was das für ein Kasten ist?«

»Ein Quader mit Display und Kabel?«, schlug Naomi vor.

»Wo sie Recht hat...«, murmelte Ulysses gedankenverloren. Ganz Ingenieur war er bereits damit beschäftigt, sich in die Symbolik des Displays zu vertiefen. »Hm...«

»Hm?«

»Ein nahtloser Übergang vom Gehäusematerial zu Display. Beeindruckend.« Wenn Floyd während seiner Karriere in der Raumflotte eins gelernt hatte, dann, dass es wenig Sinn machte, das trancehafte Denken eines Technikgeeks, wie Ulysses, zu stören. In diesem Betriebsmodus funktionierten sie wie Autisten oder Schlafwandler auf Autopilot. Floyd konnte es immer an ihren Augen erkennen, an ihrem Blick, der über das hinauszuschauen schien, was unmittelbar vor ihnen stand.

»Moment...«, rief Ulysses, griff nach den Kontrollen seines Anzugs und tippte darauf herum. »Schaltet auf Scanprofil 3!«

»Wow!«, entfuhr es Jason, während Floyd ziemlich sprachlos die Falschfarbendarstellung eines verschobenen Spektralbereichs des elektromagnetischen Spektrums bewunderte.

»Ist es das, was ich glaube, das es ist?«, fügte Jason seinem Wow hinzu.

»Jungs!«, meldete sich nun Naomi zu Wort, »Könntet ihr mich bitte darüber aufklären, wovon ihr sprecht? Ich seh nur, dass der Klotz jetzt von einem Netz aus blauen und roten Linien überzogen ist. Erinnert mich ein wenig an die Fliesen im meinem Bad.«

»Penrose-Parkettierung« Mit diesem Schlagwort fand Floyd seine Stimme wieder. »Dieser Quader ist mit der gleichen Struktur überzogen, wie das fremde Schiff im Orbit um den vierten Planeten.«

»Nicht nur das.«, fügte Jason hinzu. »Ich habe ein paar Vergleiche angestellt. Die Verhältnisse von Länge, Breite und Höhe korrespondieren mit den Dimensionen des fremden Schiffs. Und wenn ihr glaubt, das sei Zufall, dann solltet ihr noch wissen, dass sich das Display und das Kabel genau in der Mitte der Stirnflächen befinden. Symmetrien, korrespondierende Schnitte, mathematische Formensprache... Faszinierend.«

»Euch ist klar, was das bedeutet, oder?«, brachte es Xenobiologin Cantrell auf den Punkt.


»Ich halte mich eigentlich für einen recht begabten Techniker, habe aber nicht die geringste Ahnung, was mir diese Anzeige mitteilen will: Temperatur, Energielevel, den Wetterbericht von Morgen, die Lottozahlen von nächster Woche oder die Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest. Ich kann es euch nicht sagen.«

Jason, der Ulysses bereits seit der Uni und damit von allen anderen am längsten kannte, hatte seinen Freund noch nie so frustriert klingen hören.

»Jase, du bist Linguist. Irgendeine Idee?«

»Mal sehen.«, erwiderte der auf sein zweites Fachgebiet angesprochene Chefinformatiker der Hyperion und stürzte sich auf das Display. »Hm«, kam es kurze Zeit später ähnlich frustriert von besagtem Linguisten. »Ich tippe auf den Wetterbericht.«, knurrte die Rothaut gereizt, »Ich kann es nicht sagen, im Moment fehlt mir der Zugang.«

»Dir fehlt der Stein von Rosetta?«, fragte Floyd, dem das Problem seines Freundes durchaus bewusst war. »Du brauchst einen Referenztext, wie den Stein, den Jean-François Champollion verwendete, um einen systematischen Zugang zu den ägyptischen Hieroglyphen zu entwickeln?«

»Ja, genau. Ich kann zwar eine Struktur erkennen, aber... ich darf nicht voreingenommen sein. Wenn dieser Quader wirklich nicht menschlichen Ursprungs sein sollte, können wir nicht davon ausgehen, dass seine Schöpfer genau so ticken, wie wir.«

»Also gut, verschieben wir das.«, beendete Floyd die Diskussion und zeigte damit, wofür ein Teamleiter oder am Ende ein Captain benötigt wurde: Um Prioritäten zu setzen. Natürlich war es interessant und auch wichtig, zu erfahren, was das Display eigentlich anzeigte und was sich damit steuern ließ. Nur eben nicht sofort, zumal sowohl Ulysses als auch Jasons Helmkamera genügend Inhalte aufgezeichnet haben dürften, um sich später damit auseinandersetzen zu können. Vermutlich waren sogar bereits mehrere Teams damit beschäftigt, genau dies zu tun. Im Moment ging es vielmehr darum, die Lage zu sondieren, zu erfahren, womit sie es zu tun hatten und ob es eine Gefahr für die Hyperion, seine Besatzung und nicht zuletzt seine Passagiere darstellte.

»Aye Captain«, reagierte Ulysses offizierstypisch als erstes und setzte sich in Bewegung, um Floyd zu folgen, der seinerseits losgegangen war, um dem dicken Kabel zu folgen. Naomi und Jason zuckten mit den Schultern und schlossen sich den beiden Männern an.

»Leute«, brach Xenobiologin Cantrell die angespannte Stille, »Habt ihr mal auf die Anzeige der Außentemperatur in eurem Head-Up-Display geschaut?«

»Shit!«, kam eine erste Antwort von Chief Peterson, »Minus hundertfünfundsiebzig Grad. Wir sollten diesen Ausflug bald beenden. Die Unteranzüge halten zwar bis minus 220 Grad durch, unsere restlichen Klamotten aber nicht. Das Zeug wird spröde und kann splittern.«

Wie auf Kommando platzte ein Stück von Jasons Stiefelsohle ab. Der Kunststoff war durch die Kälte dermaßen hart geworden, dass er verglast war und beim etwas festeren Auftreten sofort zersplitterte. Immerhin schien der Stoff aus dem Jacke und Hose gefertigt waren, weniger kälteempfindlich zu sein und zeigte eine gewisse Restflexibilität.

»Okay, lasst uns die erste Erkundung schnell abschließen. Ich will wissen, wohin die Leitung führt.«

Dies schien auch den Rest des Teams zu interessieren. Bei aller Technik, die objektiv dafür sorgte, dass es die Gruppenmitglieder warm hatten, beschlich sie das Gefühl, dass die Kälte langsam in ihre Glieder kroch, zumal die Werte der Kontrollanzeige des Anzugs deutlich signalisierten, dass ihre persönliche Schutzhülle bei fast neunzig Prozent ihres Leistungsvermögens arbeitete, um die Körpertemperatur seines Trägers zu halten.

»Warnung«, meldete sich das Unterkleidungsstück mit einer freundlichen Frauenstimme aufs Kommando zu Wort, »Anzugssysteme erreichen Auslegungsgrenze. Sicherer Betrieb bei gleichen Umweltbedingungen für fünfzehn Minuten garantiert.«

»Ihr habt die nette Dame gehört«, feuerte Ulysses das Team an, »Wenn wir noch etwas in Erfahrung bringen wollen, sollten wir uns ranhalten.«

Einen Vorteil besaß die extreme Kälte: Das Eis auf dem Boden war stumpf und erlaubte ein halbwegs sicheres Vorankommen, und das obwohl sich die Sohlen der Stiefel mehr und mehr auflösten. Trotzdem bewegte sich die Gruppe nur langsam vorwärts. Die vom Aggregat ausgehende Leitung war zwar unmöglich aus dem Auge zu verlieren, allerdings wollte auch niemand irgendein Detail übersehen, nur weil er oder sie es eilig hatte, aus dem gigantischen Kühlschrank wieder raus zu kommen.

Die Kälte, die Dunkelheit, der Dunst, das stumpfe Knirschen der Schritte auf dem Eis, die Geräusche der Atemmasken, ein Schutzanzug an seiner Leistungsgrenze - einzeln betrachtet reichte nichts davon aus, um die Mitglieder des Team ernsthaft zu beunruhigen, in ihrer Gesamtheit hingegen sorgten sie für ein unangenehm flaues Gefühl in der Magengegend. Floyds Nackenhaare hätten sich ebenfalls aufgestellt, wären sie nicht unter der Folie des Schutzanzuges flach gegen seine Haut gedrückt worden. Irgendetwas beunruhigte ihn. Die ganze Szene erinnerte ihn zu sehr an den Kern einer Schiffs-KI, in der er sich auch immer extrem unwohl fühlte. Entsprechend wortkarg vollzog sich die Erkundung des Lagerraums. Während Floyd und Naomi die Leitung im Blick behielten, untersuchten Ulysses und Jason das Umfeld. Doch außer Dunst und Reif war nicht viel zu sehen. Am Ende blieb ihnen nichts anderes übrig, als der Leitung zu folgen und zu einem Etwas zu gelangen. Anders ließ sich das Objekt nicht beschreiben. Nach gefühlten fünfhundert Metern, die real nur knapp fünfzig entsprach, tauchte plötzlich ein Kegel auf: kreisrunde Grundfläche und eine sehr spitze Spitze. Im Rahmen der Genauigkeit des Messsystems des Anzugs war dieser Kegel geometrisch perfekt. Der Kreis war wirklich kreisrund und die Spitze bis zur Grenze des optischen Auflösungsvermögens von 220nm Wellenlänge absolut spitz. Einzig das profane Kabel durchbrach die perfekte Form.

»Ein Kegel«, bemerkte Floyd nüchtern. Irgendwie war er enttäuscht. Er wusste zwar nicht so recht, was er eigentlich erwartet hatte, aber ein Kegel, ein zwar absolut perfekter, aber eben auch schnöder Kegel war einfach nur... Unspektakulär? Langweilig? Oder... Floyd stutzte. Da war etwas - ganz schwach und nur aus dem Augenwinkel.

»Schaltet mal die Lampen aus!«

Ein Helmscheinwerfer nach dem anderen erlosch. Zurück blieb Dunkelheit? Nicht ganz. Direkt über der Spitze des Kegels schimmerte es. Eine Aura schwach ionisierter Luft, deren Temperatur in der Umgebung nochmals drastisch gesunken war. Sie lag jetzt bei minus zweihundertvierzig Grad, zwanzig Grad unter der Auslegungsgrenze.

»Gut beobachtet.«, rief Ulysses und begann mit ein paar Messungen. »An der Spitze herrscht eine ordentliche Feldstärke, aber nicht so stark, dass es zum vollständigen Zünden einer Plasmaflamme kommt, etwa knapp 10 kV. Ich habe allerdings keine Ahnung, was das soll.«

»Aber vielleicht ich.«, meinte Jason, der den Kopf leicht schief hielt und auf eigentümliche Art zu lauschen schien. »In diesem Kegel ist etwas.«

»Toll Jase«, erwiderte Ulysses, »Dass der wohl kaum leer sein dürfte, ist jetzt nicht so die Megaerkenntnis.«

»Nein, nein, du verstehst mich nicht. In diesem Kegel ist etwas. Ein Bewusstsein. Es schläft oder ruht oder was auch immer. Aber es ist da. Da drin.«

»Und was ist das für ein Bewusstsein?«, hakte Naomi nach, die sich als Xenobiologin bisher ein wenig überflüssig gefühlt hatte.

»Kann ich nicht sagen.« Jason lauschte, hielt erneut seinen Kopf schief, kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich. So verharrte er einige Sekunden, um dann ernüchtert den Kopf zu schütteln. »Nein, es ist... anders. Ich kann nur sagen, dass da etwas drin ist. Was es ist, weiß ich nicht. Mir fehlen die passenden Worte, um meine Wahrnehmung richtig zu beschreiben, was auch daran liegen kann, dass das Signal auf eine eigentümliche Art verzerrt oder verrauscht ist.«

»Ist es humanoid?«, wollte Naomi wissen.

»Nein. Definitiv nicht.«, meinte daraufhin Jason entschlossen. »Aber das ist auch das einzige, was ich wirklich ausschließen kann. Aber Moment, lasst mich bitte etwas versuchen.«

»Warnung«, fiel die Stimme der Anzugssysteme dem psionisch begabten Informatiker ins Wort, »Umgebungstemperatur unterhalb zulässiger Betriebsparameter. Notbetrieb initiiert. Sichere Restlaufzeit beträgt fünf Minuten.«

»Ich gebe dir eine Minute.«, verkündete Floyd, »Danach hauen wir ab.«

Natürlich wusste er, wie gefährlich es war, länger als nötig in dieser Eishölle zu verweilen. Auf der anderen Seite war ihm natürlich ebenso bewusst, dass ein Mann wie Jason singende Eidechse die Bitte, einen Moment zu warten, nicht leichtfertig äußerte. Dass er unmittelbar nach Gewährung der Minutenfrist seine Augen schloss und die für aktive Psioniker typisch entrückte Körperhaltung annahm, bestätigte dann auch die Vermutung Floyds, dass sein Freund etwas Übersinnliches versuchen wollte.

Was es auch immer war, es zeigte Wirkung. Plötzlich wurde der Lagerraum von einem niederfrequenten Summen und Brummen erfüllt. Das bläuliche Schimmern über dem Kegel gewann an Helligkeit. Die von Eiskristallen erfüllte Luft begann zu knistern. Floyd konnte fühlen, wie sich die Atmosphäre bedrohlich auflud, dass er unwillkürlich in Deckung ging, während Jason von der Entwicklung um ihn herum überhaupt nichts mitzubekommen schien. Ganz im Gegenteil wandte er sich völlig entrückt hin und her, wiegte seinen Kopf von einer Schulter zur anderen und...

»Deckung!«, brüllte Floyd.

Jason riss seine Augen auf und starrte verwirrt seinen Freund und Captain an. Der brüllte nur dieses eine Wort und warf sich zu Boden. Die verbliebenen drei Teammitglieder zögerten keine Sekunde und folgten unmittelbar dem Vorbild des Captains und entgingen damit knapp einer gigantischen Entladung, die plötzlich der Spitze des Kegels entsprang und, nach einem Gegenpol suchend, den freien Raum durchzuckte.

»Raus hier!«

Leichter gesagt, als getan. Über ihren Köpfen zuckte ein Gewitter und die Kälte forderte dann auch von der Oberbekleidung Tribut. Steif und brüchig stellte der Versuch, wieder auf die Beine zu kommen oder zumindest kriechend und am Boden robbend den Gefahrenbereich zu verlassen, die vier Mitglieder des Einsatzteams vor eine fast unlösbare Aufgabe. Die Kälte griff nach ihnen, kroch durch die mürbe gewordenen Textilen. Im Head-Up-Display blinkten rote Warnlichter. Die akustisch-verbale Warnung des Steuercomputers wirkte dabei ebenso überflüssig wie irreal. Jeder wusste, dass die Systeme der Anzüge kurz vor dem Versagen standen und es eine gute Idee war, den Lagerraum so schnell wie möglich zu verlassen. Und so rannten und stolperten die Vier, kaum dass die Blitze nicht mehr direkt über ihren Köpfen hinwegjagten, in Richtung Ausgang.

»Scheiße!«

Chief Petersons Schrei war mindestens so laut, wie das Kreischen des Alarmsignals, das der geschundene Anzug von sich gab. Ein langer Riss klaffte vom Fußknöchel bis knapp unters Knie seines rechten Beins. Innerhalb von Sekunden hatte sich ein Schmerzpegel darin aufgebaut, dass es ihm nicht mehr möglich war, weiterzulaufen. Ulysses stürzte und verschlimmerte damit auch noch seine Lage, als die Haut seiner Wade in direkten Kontakt mit dem eisigen Boden geriet, an dem sie sofort festfror. Jason als auch Floyd waren sofort zu Stelle, griffen dem Chief unter die Arme und rissen ihn empor, wohl ahnend, welche Verletzung sie damit verursachten. Doch was blieb ihnen anderes übrig? Ulysses stöhnte. Komischerweise ebbte der direkte Schmerz deutlich ab. Er konnte zwar nicht laufen, aber zumindest versuchen, sich so wenig wie möglich zu bewegen, um es den beiden Männern nicht unnötig schwer zu machen, ihn durch die Kältehölle zu zerren. Allerdings schmerzten die Stöße und ließen ihn unwillkürlich zusammenzucken. Mehr als einmal wäre er seinen Trägern fast entglitten.

»Achtung: Systemausfall der Anzugssysteme steht unmittelbar bevor. Notbetrieb aktiv. Gefahrenbereich sofort verlassen!«

»Scheiße ja, ich weiß!«, knurrte Floyd, dem die Kälte in die Glieder kroch. Welcher Witzbold war nur auf die Idee gekommen, dem Anzugssystem beizubringen, das Offensichtliche verkünden zu müssen. Dass die intelligente Silikonhülle nicht mehr funktionierte, oder nur noch sehr eingeschränkt, spürte er unmittelbar an seinem Körper. Das Material seines Anzugs wurde steif und jede Bewegung mutierte zu einem Kraftakt. Der Notbetrieb verfolgte weniger den Zweck, seinen Körper warm zu halten, als zu verhindern, dass der Kunststoff versprödete, brach und splitterte. Gefrorene Silikonfragmente konnten rasiermesserscharf sein und verursachten nicht nur sehr schmerzhafte, sondern auch gefährliche Verletzungen.

»Schneller Leute! Schneller!«, feuerte der Captain der Hyperion sein Team, aber insbesondere auch sich selbst an. Beißende Kälte lähmte seine Muskeln. Bei jeder Bewegung brachen Stücke der komplett verhärteten Oberbekleidung ab, drückten teilweise in den Körper und hätten ihn ohne den Notbetrieb des Silikonanzugs auch tatsächlich verletzt. Verdammt, fluchte Floyd innerlich, wie konnte ich diesen Einsatz nur dermaßen unterschätzen?

»Verdammt, wo ist das Schott?«, kreischte plötzlich Naomi. Entsetzt musste sie feststellen, dass der helle Schein der Gangbeleuchtung vor dem Schott des Lagerraums, an dem sie sich als Leitstrahl orientiert hatten, verschwunden war. Abgesehen von den kleinen, schwach glimmenden Notlichtern und ihren mangels Energie langsam verlöschenden Helmleuchten, war es zappenduster. Die Energieentladungen des Kegels, deren Blitze die Halle hell erleuchtet hatten, waren zwischenzeitlich erloschen.

»Sorry«, stammelte Jason stöhnend, »Was ich da ausgelöst habe, scheint die Energieversorgung in dieser Sektion gekillt zu haben. Otis meint, sein Kontrollraum wäre zwar tot, aber sie holen uns hier raus.«

Hoffentlich bald, überlegte Floyd und blieb stehen. Es machte keinen Sinn, planlos in der Dunkelheit umherzurennen. Orientieren konnten sie sich nicht und mit jeder Bewegung löste sich ihre Bekleidung nur noch weiter auf. Tatsächlich quittierte sein Anzug den Stillstand mit einer leichten Erhöhung der Innentemperatur, da ihm mehr Energie für die Heizung zur Verfügung stand und nicht die Bewegung unterstützen musste.

»Shit, der Chief ist besinnungslos«, stellte Naomi fest, erwähnte aber nicht, dass sie massiv gegen eine eigene Müdigkeit und drohende Bewusstlosigkeit ankämpfen musste und diesen Kampf wohl nicht mehr lange durchhielt.

»Wach bleiben! Hilfe naht«, rief Floyd und hoffte inständig, dass es wirklich so war. Auch er hatte Mühe, sich zu konzentrieren und fokussiert zu bleiben.

»Da!«, schrie Jason. Mehrere Scheinwerfer flammten in kaum fünfzehn Metern Entfernung auf. Der Ausgang war wirklich nahe, aber ohne Licht hätten sie ihn trotzdem niemals gefunden.


»Captain, wie würden Sie rückblickend diesen Einsatz beschreiben?«

Selbst der trägste Geist hatte zwischenzeitlich begriffen, dass Senator Ruyki Nagano sich endgültig auf Floyd eingeschossen hatte. Seine Fragen trieften so sehr vor Sarkasmus, dass die restlichen Ausschussmitglieder pikiert die Nase rümpften. Direkte Kritik am Verhalten des Senators wurde allerdings nicht geäußert. Das hatte gute Gründe. Senator Nagano mochte zwar unbeliebt sein, zählte aber zu den einflussreichsten Köpfen der Retroliberalen der Fraktion des Parlaments, die sich der Pflege alter, postkapitalistischer Traditionen verpflichtet sahen. Mit anderen Worten: Hinter dem Senator stand das große Geld. Was eigentlich vollkommen absurd war, da Geld seit Jahrzehnten nicht mehr wirklich existierte. Das Konzept einer Währung, eines Wirtschaftssystems auf der Basis von Geldflüssen hatte sich nach diversen globalen Krisen nicht nur überlebt, sondern durch seine eigenen inneren Widersprüche abgeschafft.

Alles begann mit dem Öl - oder dem Versiegen des selbigen. Seit Mitte der siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts wusste faktisch jeder, der es wissen wollte, dass das schwarze Gold, wie Rohöl auch genannt wurde, in absehbarer Zeit zu Ende gehen musste. Nur wollten dies eben die wenigsten tatsächlich wahr haben, legten mehr oder weniger die Hände in den Schoß, ignorierten alle Warnsignale und waren dann ziemlich baff, als das schwarze, klebrige Zeug wirklich zu Ende ging. Dass sich dabei ein paar wenige vorher noch eine goldene Nase verdienten, verstand sich von selbst. Wer aber hoffte, irgendjemand würde aus der Geschichte eine Lehre ziehen, sah sich alsbald enttäuscht, als ein Rohstoff nach dem anderen zu Ende ging: Lithium, dessen Ende die gerade erblühende Elektromobilität im Keim erstickte, Yttrium, Lanthan, so ziemlich alle seltene Erden wurden knapp, sogar Trinkwasser entwickelte sich zu einem raren, begehrten und damit teuren Rohstoff. Spätestens mit der Knappheit des überlebenswichtigen Trinkwassers kamen die Verteilungskämpfe. Anders als in früheren Zeiten wurden diese aber nicht körperlich Mann gegen Mann ausgefochten. Die Kriege der Neuzeit fanden auf virtuellen Schlachtfeldern statt. Ein Knopfdruck, eine Buchung, eine Wette reichte aus, um ganze Volkswirtschaften auszulöschen und das dazugehörige Volk in bitterste Armut zu stoßen.

Der Götze, den die Welt anbetete und sie knechtete, hatte einen Namen: Der Markt. Als Konsequenz des neoliberalen Deregulierungs- und Privatisierungswahns der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ließ sich am Markt alles und jedes handeln: Rohstoffe, Optionen auf Rohstoffe, Optionen auf Optionen auf Rohstoffe. Mehr noch, was nicht handelsfähig war, besaß umgekehrt keinen Wert und existierte somit nicht. Dieses Konzept beschränkte sich nicht auf Rohstoffe oder Wertpapiere, wie Aktien, Rentenpapiere, Optionen oder Derivate. Jeder, der existieren wollte, musste sich selbst, sein Können zur Handelsware machen oder trickreich genug sein und Ideen entwickeln, um mit anderen Dingen zu handeln. Je knapper die realen Ressourcen wurden und selbst Arbeitskraft dramatisch an Wert verlor, weil sich alle Staaten einen erbarmungslosen Unterbietungskampf um die niedrigsten Arbeitslöhne lieferten, verlagerte sich der Markt mehr und mehr auf immaterielle Werte. Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts lautete das Schlagwort geistiges Eigentum. In den darauf folgenden Patentkriegen, die die Welt erschütterten, ging es um nicht mehr, als um die Frage, wem bestimmte Ideen gehörten und wem nicht und ob Ideen überhaupt jemandem gehörten. Und wieder zog niemand die Reißleine und rief Stopp. Selbst als sich die großen Mobilfunkgerätehersteller Anfang der zwanziger Jahre des einundzwanzigsten Jahrhunderts mit Patentansprüchen dermaßen gegenseitig überzogen, dass für siebzehn Monate weltweit kein einziges Smartphone weder verkauft noch genutzt werden durfte, weil die Netze durch einstweilige Verfügungen in Folge tatsächlicher oder vermeintlicher Patentverletzungen abgeschaltet werden mussten, ging der Kampf um das geistige Eigentum munter weiter und machte auch nicht vor den abwegigsten Bereichen halt.

Es war schließlich ein Pharmakonzern, der den Bogen überspannte. Die Idee war eigentlich total simpel und ebenso erschreckend effektiv wie unmoralisch. Nur hatte die Moral das Pech, nicht handelsfähig zu sein. Die Frage, die sich der Vorstand des Unternehmens stellte, hatte etwas verblüffend Rationales: Welchen Sinn hat ein patentiertes Medikament, wenn es niemand kaufte, etwa, weil es preiswerte oder gar wirksamere Alternativen gab? Griff der Patentschutz vielleicht zu spät? Warum nicht einfach das Schutzrecht früher ansetzen lassen und gleich die Krankheit patentieren? Was jedem normalen Menschen als komplett absurde und deswegen kaum ernst zu nehmende Idee erschien, versetzte ganze Legionen an Anwälten in freudige Ekstase, die nichts besseres zu tun hatten, als erstes eine passende Patentschrift zu entwerfen und diese bombenfest zu machen. Es kam, wie es kommen musste, sowohl das europäische aber vor allem das vereinigte asiatisch-pazifische Patentamt akzeptierten den Antrag, vermutlich, weil sie kaum verstanden, worum es eigentlich genau ging oder - die wahrscheinlichere Variante - weil gewisse diskrete finanzielle Zuwendungen schlicht die Herzen der unterbezahlten Patentamtsmitarbeiter erweicht hatten. Die Anwälte waren eben absolute Spitzenklasse ihres Fachgebiets und wussten, wie eine Patentschrift abzufassen war und niemand auf Anhieb erkennen konnte und wollte, wovon sie genau handelte.

Und dann brach die Hölle los. Plötzlich flatterte jedem, der an der patentierten Krankheit erkrankte, eine gepfefferte Rechnung der Anwälte des Pharmaunternehmens ins Haus. Mit der Erkrankung hätten sie, so das Anschreiben, eine schwere Lizenzverletzung begangen. Nach der globalen Ratifizierung des ACTA III Abkommens von 2031 galten Lizenzverletzungen in fast allen Staaten als Kapitalverbrechen und wurden entsprechend intensiv verfolgt, schnell abgeurteilt und anschließend schwer bestraft. Immerhin bot die Pharmafirma jedem Kranken an, seine Krankheit lizenzieren zu lassen. Dies hieß zum einen horrende Lizenzzahlungen zu akzeptieren und zum anderen sich zu verpflichten, nur Medikamente des Lizenzinhabers zu verwenden, deren Preise nicht wirklich günstig zu nennen waren.

Damit stand die Büchse der Pandora weit offen. Die Aktienkurse des Pharmakonzerns explodierten. Nach einer Schrecksekunde, in der die Mitbewerber panisch auf ihre eigenen abstürzenden Aktienkurse starrten, brach operative Hektik aus. Keine vierundzwanzig Stunden später schlug eine Lawine weiterer Anträge bei den Patentämtern ein, denen, nachdem sie den ersten Antrag akzeptiert hatten, nichts anders übrig blieb, als diese ebenfalls zu bewilligen. Ein halbes Jahr später hieß krank zu werden faktisch seine Freiheit zu verlieren und Leibeigener eines Pharmakonzerns zu werden. Diese Entwicklung setzte eine fatale Kettenreaktion in Gang: Einen Monat später gingen die ersten privaten Krankenversicherer in die Insolvenz. Zwei Wochen später folgten die staatlichen Krankenversicherungssysteme. Wer krank wurde, war auf sich allein gestellt und musste alles zu Geld machen, was er oder sie besaß. Ohne, dass jemals dieses Wort verwendet wurde, war eine neue Sklavenkaste entstanden, da die Lizenzinhaber jederzeit mit dem Strafrecht drohen konnten. Wer nicht zahlte, wurde sofort verklagt und landete im Knast. Die Politik sah rat- und tatenlos zu. Sie begriff die Tragweite erst, als die Konzerne dazu übergingen, die Regierungen ebenfalls zu verklagen, weil sie mit der Inhaftierung der Kranken nach ACTA III verpflichtet waren, für deren Lizenzzahlungen aufzukommen. Und plötzlich begriffen die Volksvertreter, dass sie sich in Geiselhaft der großen Pharmakonzerne befanden, und rief nun - endlich - laut und deutlich »Stopp!«

Mit einem Mal ging alles ziemlich schnell. Als sich die Parlamente und Regierungen anschickten, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren und nicht nur die Patentierbarkeit von Krankheiten aufhoben, implodierten die globalen Märkte und drohten nach dem legendären Crash von 2043, die Welt erneut in eine lang anhaltende weltweite Depression zu stürzen. Doch dieses Mal war es anders, denn es passierte etwas Erstaunliches. Statt wie sonst nur an den Symptomen herum zu doktern, schienen die Völker gewillt zu sein, aus der Geschichte zu lernen und alte Fehler nicht zu wiederholen. Statt also weiter auf die Einflüsterungen und die mehr oder weniger subtilen Drohungen aller möglichen Lobbygruppen zu hören, entschieden sich Exekutive und Legislative aus der Not eine Tugend zu machen und kurzerhand eine neue Weltwirtschaftsordnung aus dem Boden zu stampfen.

Die Aufgabe, ein vollkommen neues, globales Wirtschaftssystem zu entwickeln, kam vier Personen zu: den Professoren Han, Mekeba, Carlos und Rupert, deren Hintergründe und gesellschaftliche Verortungen kaum unterschiedlicher sein konnten und vom Neosozialismus bis hin zum Retroliberalismus friedmensianischer Prägung reichten. Als die vier nach knapp vier Wochen ihre Vorschläge präsentierten, staunten die elf Milliarden Erdenbürger nicht schlecht, rieben sich verwundert die Augen, zuckten mit den Schultern und sagten in der überwiegenden Mehrheit Ja. Faktisch führte das Konzept zu nichts geringerem, als zur Eliminierung des Geldes und mittelbar zur Abschaffung von Armut und Ausbeutung. Die Menschheit hielt den Atem an und ahnte, dass sie gerade im Begriff war, einen massiven Sprung in ihrer sozialen Evolution zu wagen.

Zu behaupten, der Rest der Geschichte wäre einfach, glatt, ohne Widerstände, Hürden und schmerzhafte Brüche verlaufen, hätte den zwangsläufigen Opfern dieser gewollten Revolution massives Unrecht getan, doch am Ende überwogen die Vorteile so dramatisch die Nachtteile, dass niemand zum alten System zurück wollte. Wirklich niemand? Nicht ganz. Das neue Gesellschaftssystem konnte nur deswegen funktionieren, weil es die Macht der großen, weltweit operierenden Konzerne anerkannte. Dies bedeutete nicht weniger, als dass die Politik das Konzept territorialer Macht aufgab. Staaten waren im globalen Machtgeflecht nicht nur überflüssig, sondern sogar hinderlich. Natürlich hatte die Einbindung von Konzernen als politische Gruppe ihren Preis. Es war die Kröte, die die Unternehmen schlucken mussten, wollten sie an der Gestaltung der Welt teilhaben: Sie mussten sich demokratischen Wahlen unterwerfen, das heißt, Konzerne wurden zu wählbaren Parteien. Und wer wählt eine Partei, die die Umwelt vergiftete oder ihre Arbeitnehmer wie Sklaven behandelte?

Senator Nagano, der es so vortrefflich verstand, Captain Floyd Rutherford Grand wie eine akut entzündete Zahnwurzel Freude zu bereiten, vertrat im Senat die Interessen der großen Konzerne, die früher unter dem Begriff der Schwerindustrie zusammengefasst wurde. Insbesondere die großen Minengesellschaften und Erz verarbeitenden Konzerne, die über ganze Flotten von Förder-, Raffinerie- und Verarbeitungsschiffen verfügten, konnten sich darauf verlassen, dass ihre Interessen von ihm optimal vertreten wurden. Als Offizier der Raumflotte war Floyd ein natürliches Feindbild Naganos. Eine Aufgabe der Raumflotte als durch den Senat und Präsidenten kontrollierte Verkörperung der Staatsmacht, bestand darin, auf die Einhaltung von Recht und Gesetz zu achten, etwa, wenn es um die Wahrnehmung von Schürfrechten oder die Erschließung neuer Ressourcen ging. Nur wer lässt sich schon gerne kontrollieren? Genau darin bestand Naganos politisches Ziel: Die Gesetzgebung in eine Richtung zu lenken, die den Konzernen, wie er es formulierte, mehr Luft zu atmen gab. Andere formulierten es prägnanter: Die Flotte sollte den Konzernen weniger genau auf die Finger schauen und ihnen noch weniger auf dieselben hauen.

Im Prinzip war für Nagano Floyd eine austauschbare Größe. Dem Captain der Hyperion ein Versagen nachzuweisen, hieß, der Flotte ein Versagen nachzuweisen, was deren Position schwächte und seine stärkte. Seine Fraktion im Parlament vertrat die Auffassung, dass Erkundungsmissionen, wie die der DSRS Hyperion nicht von staatlichen Stellen, sondern von Unternehmenskonsortien organisiert und durchgeführt werden sollten. Ein Scheitern Floyds wäre Wasser auf Naganos Mühlen.

»Der Einsatz war eine Katastrophe«, gestand Floyd ehrlich und verblüffte damit die Ausschussmitglieder, insbesondere den nervigen Senator Nagano.

»Dann geben Sie zu, dass Sie versagt haben?«

»Ich habe einen Fehler begangen.«, präzisierte Floyd. »Ich habe kein Problem damit, einzugestehen, falsche Entscheidungen getroffen zu haben. Nur bitte ich Sie, eins zu bedenken: Im Nachhinein ist es leicht zu entscheiden, ob ein eingeschlagener Weg richtig oder falsch war. In der damaligen Situation allerdings nicht. Wie sah denn unsere Situation aus? Unser FTL-Antrieb? Durch Manipulationen Professor Leclercs außer Betrieb. Sublichtantrieb? Massiv beschädigt und im Prinzip funktionsunfähig. Mit anderen Worten waren wir in einem fremden, unerkundeten System gestrandet, in dem sich ein Raumschiff einer uns unbekannten fremden Intelligenz befand, das obendrein mit einer fremden Lebensform auf der Hyperion in Verbindung stand, die gezielt vor uns geheim gehalten wurde. Wie hätten Sie gehandelt? Ich entschied, mir Antworten zu verschaffen, und einen Weg dahin sah ich in der Erkundung der Lagerräume mit deren Verschwinden die Geschichte begann. Ja, der Einsatz hätte fast in einem fatalen Desaster geendet. Meine Entscheidung führte mittelbar dazu, dass Chief Peterson ein Bein verlor. Glauben Sie ernsthaft, mich würden die Folgen meiner Entscheidungen kalt lassen? Dass ich das einfach wegstecke? Ganz nach dem Motto: Wo gehobelt wird fallen halt Späne? Nein Senator Nagano, ich stehe zu meinen Entscheidungen und auch dazu, dass sie sich im Nachhinein vielleicht als unklug, unüberlegt oder gar falsch entpuppten.«

Der Preis der Raumfahrt

»Wie geht es dir?«

Besuche in der Krankenstation zählten nie zu den unterhaltsamsten Veranstaltungen. In diesem speziellen Fall empfand Floyd besonderen Widerwillen, sich in das Reich von Dr. med. Felicitas Rodriguez zu begeben. Dies hatte gleich zwei Gründe. Zum einen, weil er sich in der Rolle des Patienten unwohl fühlte, was hieß, nicht wirklich gesund zu sein, zum anderen aber - und dies wog wesentlich schwerer - weil er sich für die Situation, in der er und sein Team sich befand, verantwortlich fühlte, denn die sah zum Teil dramatisch aus. Jason, Naomi und Floyd hatten von ihrem Ausflug einige oberflächliche Erfrierungen davongetragen, die aber zum Glück nur ersten und zweiten Grads waren und sich beim Stand der medizinischen Kunst hervorragend therapieren ließen, dass keinerlei Folgeschäden zurückbleiben sollten. Im Fall Chief Ulysses Peterson sah es hingegen weniger rosig aus. Durch den Riss im Anzug, der vom Knie bis weit hinab zum unteren Rand der Wade reichte, konnte die extreme Kälte des Lagerraums tief in das Gewebe seines Beins vordringen. Entsprechend massiv waren die Erfrierungen. Felicitas konnte vielleicht traumatisiertes Gewebe retten, doch bei vollständiger Zerstörung der meisten Zellen war auch sie machtlos. Alles was sie machen konnte, war die Folgen der Gewebeschäden eindämmen und verhindern, dass durch Giftstoffe, die die sterbenden Zellen freisetzen, weitere Schäden entstanden. Bei Ulysses blieb ihr keine Wahl.

»Nun ja...«, entgegnete der Chief. »Es ist ab, oder?«

»Ja, Felicitas hat es abnehmen müssen.« Floyd seufzte. »Ulysses, es tut...«

»Nein! Sag es nicht!«, unterbrach der Invalide. »Irgendwann musste so etwas passieren. DSRS Hyperion... Tiefraumforschungsschiff Hyperion. Floyd, du kennst das Sprichwort, dass der Weltraum kein Ort ist, in dem sich Menschen rumtreiben sollten. Und für die meisten Menschen ist dieser Satz zu einhundertzwanzig Prozent richtig. Aber für uns, für mich, dich, Quentin, Otis, Max und Ron, ja sogar ein wenig für Jason, ist das All mehr Heimat als die gute alte Erde. Wir versuchen uns zwar ständig das Gegenteil einzureden, aber die nüchterne Wahrheit ist, dass wir süchtig nach dieser lebensfeindlichen Leere sind. Da ist etwas in dieser Dunkelheit, das danach schreit, erkundet, erforscht, entdeckt und erobert zu werden. Floyd, dieses Ding im Lagerraum zu erkunden war das Geilste, was ich je erlebt habe. Scheiß auf das Bein. Wie ich Felicitas kenne, hat sie die Bioprozessoren bereits angeworfen und lässt ein neues wachsen. Aber Floyd, dort unten, im Bauch unseres Schiffes, ruht eine fremde Lebensform. Das, genau das ist der Grund, warum ich hier bin, warum ich Raumfahrer geworden bin. Warum wir Raumfahrer geworden sind.«

War es das? War das der Grund, warum es Floyd in den Weltraum trieb und er sich auf der Erde mehr und mehr verloren und orientierungslos fühlte? Dies ging so weit, dass ihn unter freiem Himmel sogar Beklemmungen überkamen. War er vielleicht einer dieses neuen Typus Mensch, wie ihn einige Anthropologen beschrieben, dem homo universi, dem Menschen des Alls? War dies der Grund? Die Suche nach dem Unbekannten und Fremden?

Vor ein paar Wochen hätte Floyd die Fragestellung größtenteils bejaht. Inzwischen, mit Jason an seiner Seite, war er sich nicht mehr so sicher. Der Gedanke an die Welt seines Freundes weckte eine bisher unbekannte Sehnsucht nach... ja, wonach eigentlich? So genau wusste er es selbst nicht, doch wenn dieser wilde Indianer von seiner Welt, seinem Stamm sprach, geriet eine Saite beim Captain der Hyperion in Schwingung, von der er bisher nicht ahnte, dass sie überhaupt existierte und das Verlangen weckte, diese fremde Welt zu erkunden.

Und was war mit Chief Petersons Bein? War es der Preis, den er für seinen Traum, das Unbekannte zu erkunden, zahlen musste? Nicht für Floyd. Es gab Grenzen, die einfach nicht überschritten werden durften, wozu die Unversehrtheit seiner Mannschaft und Passagiere zählte. Dies galt auch unabhängig davon, dass der Chief aller Voraussicht nach keinen bleibenden Schaden zurückbehalten sollte. Die Medizin hatte in den letzten Jahrzehnten, wenn nicht sogar Jahrhunderten, gigantische Fortschritte gemacht. Felicitas hatte unmittelbar nach dem Unfall damit begonnen, Ulysses ein neues Bein zu züchten. Auf der Basis des DNA-Codes des Chiefs, der in den Datenbanken der Schiffs-KI hinterlegt war, wurden sogenannte Bioprozessoren programmiert, Muskelgewebe zu spinnen, Knochenmaterial zu synthetisieren, sowie Sehnen, Adern und Haut zu produzieren.

»Gut, belassen wir es dabei.«, erwiderte Floyd etwas zögernd. »Ruh du dich aus und sieh zu, dass du wieder gesund wirst.«

»Floyd, tu das nicht!«, rief der Chief entsetzt. »Setz mich nicht auf die Ersatzbank! Ich kann auch mit einem Bein den Maschinenraum leiten.«

»Ganz ruhig! Du hast mich vollkommen falsch verstanden. Ich sagte nur, dass du dich jetzt, in diesem Moment ausruhen sollst. Ob du einsatzfähig bist, entscheide nicht ich, sondern Felicitas. Wenn sie dir ein okay gibt, wird Otis kein Problem haben, dich wieder auf den Dienstplan zu setzen.«

»Okay«, maulte ein missmutiger Chief, den es ärgerte, nicht sofort wieder in seinen Maschinenraum stürmen zu dürfen. Noch mehr ärgerte ihn die medikamentenbedingte Müdigkeit, gegen die er zwar wacker, aber letztendlich doch vergeblich ankämpfte. Nach einem etwas unwirschen Knurren schlummerte er wieder ein, was Floyd die Gelegenheit gab, ein paar Worte mit der Leiterin der medizinischen Abteilung zu wechseln.

»Und, wie geht es ihm?«, wollte Floyd von Felicitas wissen.

»Eigentlich ganz gut. Das Stumpfgewebe heilt so wie geplant. Gefäße, Nervenenden, Sehnen und das Ende des Oberschenkelknochens wurden versiegelt. Sobald das neue Bein fertig ist, werden wir es ansetzen. Ich erwarte eigentlich keine Komplikationen. In etwa drei bis vier Wochen dürften wir soweit sein. Und ja, ich weiß, was du wissen willst, während der Wartezeit kann Ulysses weiter arbeiten. Aus medizinischer Sicht ist er zwar gehandicapt, aber durchaus gesund. Die harte Zeit kommt erst, wenn wir das neue Bein annähen und er lernen muss, darauf zu laufen.«


Nach dem Besuch in der Krankenstation kehrte Floyd auf die Brücke zurück. Seit der Rettung aus der Eiseskälte des Lagerraums waren mehrere Stunden vergangen. Jasons, Naomis und Floyds Behandlung hatte nur knapp eine Dreiviertelstunde in Anspruch genommen, sodass die drei zusammen mit Otis, Quentin und Max, die den Einsatz aus dem Kontrollraum überwacht hatten, eine erste Lagebesprechung vornehmen konnten. Viel gab es nicht, was sich erörtern ließ. Weder der Kegel noch der Quader zeigte sich Messungen gegenüber sonderlich zugänglich. Außer Größe, Farbe und Temperatur ließ sich kaum etwas sicher bestimmen. Das Material, aus dem die Objekte gefertigt waren, war unbekannt und nur dazu angetan, wildeste Spekulationen unter den Wissenschaftlern zu entfachen. Mit den Symbolen des Displays waren die Linguisten beschäftigt, die mit der Analyse ihre Computer zum glühen brachten. Am interessanten wäre da noch die von Jason ausgelöste Entladung gewesen, hätte sie nicht weite Teile der Scanner dermaßen überlastet, dass diese aus Selbstschutz abschalten mussten.

»Was hast du eigentlich versucht?«, wollte Floyd von Jason wissen. »Hast du telepathischen Kontakt aufgenommen?«

»Nein, dafür hätte ich mich intensiver vorbereiten müssen. Von außen scheint der Kegel vollkommen unzugänglich zu sein. Deswegen habe ich meine telekinetischen Fühler ausgestreckt und versucht, irgendetwas im Inneren zu ertasten. Dabei muss ich wohl zufällig einen Mechanismus ausgelöst haben, der daraufhin die Entladung provozierte.«

»War das ein Verteidigungsmechanismus?«, wollte Quentin wissen.

Jason schüttelte verneinend seinen Kopf: »Nein, ich glaube nicht, dass es direkt ein Verteidigungsmechanismus war. Das Innere des Kegels ist wirklich sehr fremdartig, als wenn in ihm andere Naturgesetze gelten. Wenn ich sonst etwas ertaste, mag dies zwar unbekannt sein, aber immer den üblichen Spielregeln der Natur folgen. Oben ist oben, links ist links, vorne vorne und so weiter. Im diesem Kegel war ich mir dessen nicht sicher. Es mag verrückt klingen, aber mir scheint, als wenn er innen größer ist als außen.«

»Eine Singularität?«, wollte Quentin wissen.

»Jein. Ein derartiges Ereignis würde den Grundsatz verletzen, dass einer Singularität keine Informationen entweichen können. Obwohl... ach ich weiß nicht. Es fühlte sich merkwürdig an. Irgendwie in sich verdreht.«

»Verdreht?«, hakte Otis nach und wirkte dabei, als ob er eine Idee hätte. »Darf ich?«

»Tu dir keinen Zwang an.«

Es brauchte ein paar Sekunden, bis Floyd realisierte, was die beiden Männer meinten. Doch dann begriff er, dass Otis telepathisch auf Jasons Erinnerung zugreifen wollte. Eine direktere Art, Erfahrungen und Erlebnisse zu teilen, gab es nicht. Dass der XO wenig später seine Stirn kräuselte, deutete darauf hin, dass er ähnlich verwirrt war, wie der Schiffsinformatiker. Doch plötzlich zuckten seine Mundwinkel und ein feines Lächeln schlich sich in sein Gesicht.

»Och Jason«, stichelte Otis genüsslich, »Wo bleibt deine nerdsche Ader?«

»Oh shit, du hast Recht. Es ist eine Mannigfaltigkeit. Eine Steinersche Römerfläche oder etwas Ähnliches. Mann, was das auch immer für Wesen sein mögen, sie stehen total auf Mathematik, die totalen Geometrie- und Topologiefetischisten. Kegel, Kugel, Quader und jetzt auch noch eine Römerfläche. Ähm, hatte ich schon erwähnt, dass das Schiff, der Quader und der Kegel alle die gleichen Verhältnisse von Länge zu Breite zu Höhe haben?«

»Gut, überlassen wir das Thema den Wissenschaftlern. Wie sieht es mit dem Schiff aus. Irgendeine Reaktion?«

Nach dem letzten Ping, wie der Energieblitz inzwischen allgemein bezeichnet wurde, und der darauf folgenden Antwort waren mehr als die dreieinhalb Stunden vergangen. Genau der minimalen Zeit, die eine Antwort auf die Antwort bei der augenblicklichen Entfernung des Schiffes zum anderen benötigt hätte. Nur kam keine, was die Frage aufwarf, ob die psionische Antwort auf den Ping das erwartete Ereignis darstellt oder nur eine zufällige Reaktion auf die Energiespitze darstellte. Was es auch immer war, es gab ein wesentlich drängenderes Problem: Der nächste Ping.

Alle Messungen zeigten ein überraschendes Ergebnis. Die üblichen Gesetze der Physik, etwa das der Gravitationskraft zweier Massen oder zwei entgegengesetzter elektrischer Ladungen, zeigen eine Abnahme oder Zunahme der Kraft mit dem Quadrat der Entfernung. Halbiert sich etwa der Abstand zwischen zwei Massen, vervierfacht sich dessen Stärke. Nicht so der Ping, dessen Stärke exponentiell zuzunehmen schien.

»Ich habe ein wenig gerechnet.«, meinte Quentin. »Wenn ich die Entwicklung der drei Pings hochrechne, sehe ich da ein massives Problem auf uns zukommen. Den nächsten Ping stehen wir nicht durch. Die Entladungen werden einen Großteil unserer Elektronik zerstören, es sei denn, wir lassen uns sehr schnell eine geeignete Abschirmung einfallen. Aber selbst dann werden wir nur die Kernsysteme retten können. Dass wir nebenbei auch noch Schutzräume schaffen müssen, erwähne ich nur der Vollständigkeit halber.«

»Wenn dem so ist, wieso funktionieren dann unsere Sonden noch?«, bemerkte Ron etwas verlegen.

»Was?«, quiekte Quentin.

»Schaut selbst.«, konterte Ron und deutete auf eine Reihe Bildschirme auf denen die um das fremde Schiff schwirrenden Sonden weiter munter ihre Aufnahmen präsentierten.

»Ich glaube, wir sollten mit unseren Wissenschaftlern sprechen. Die lieben doch solche Rätsel.« Floyd überlegte: »Also, was haben wir? Ein schrottreifes Schiff, mit dem wir bestenfalls noch bis zum vierten Planeten kommen werden. Ein sich regelmäßig wiederholender Energieblitz, der dazu angetan ist, uns potenziell den Rest der Schiffselektronik zu schrotten und zu guter Letzt auch noch eine fremde Intelligenz an Bord, von der wir weder wissen, woher sie kommt, was sie ist und was sie will. Gut, wir machen folgendes: Die wissenschaftlichen Abteilungen sollen versuchen zu klären, warum die Sonden noch funktionieren. Vielleicht kommen wir doch noch mit einem blauen Auge davon. Parallel sollen die technischen Abteilungen das Schiff wetterfest machen, also es auf einen weiteren Ping vorbereiten. Ulysses will doch unbedingt wieder arbeiten. Jetzt darf er. Dies ist eine Notsituation und wenn Felicitas meint, es vertreten zu können, soll sie ihn dienstfähig erklären.«


Die Lage war geklärt und der Plan klar. Jeder an Bord wusste, was er zu tun hatte. Die wissenschaftlichen Abteilungen, vor allem die ehemalige Physikergruppe des sedierten Professor Leclerc und Jasons Linguistenteam, übernahmen die Aufgabe, die Daten der Sonden, der Objekte im Lagerraum und die Messwerte des letzten Pings zu analysieren. Parallel erarbeitete Chief Peterson zusammen mit den beiden Ingenieuren Buchanan und Bangs ein Verfahren, um die Hyperion vor den Auswirkungen des nächsten Pings zu schützen, sollte dieser tatsächlich in einer Stärke einschlagen, wie Quentin extrapoliert hatte. Im Schiff summte es wie in einem Bienenstock. Floyd, der überrascht feststellte, selbst kaum etwas zu tun zu haben, hatte sein Schiff noch nie so geschäftig erlebt. Jeder schien genau zu wissen, was er zu tun hatte. An allen Ecken und Kanten sah er geöffnete Wandverkleidungen aus denen massenweise Kabel quollen. Kleinere und größere Systembausteine lagen ausgebaut bereit, um von Technikern modifiziert zu werden. Innerhalb kürzester Zeit hatten die technischen Abteilungen ein Arbeitsschema entwickelt, um ein Maximum der Systeme pingfest zu machen, wie sie es formulierten. Eine Gruppe eilte voraus und demontierte die zu modifizierenden Schiffsbereiche. Am Ende ihrer Arbeit war alles bereit, damit die nächste Gruppe die eigentlichen Änderungen oder Erweiterungen vornehmen konnte, damit am Ende ein dritter Trupp die Komponenten testen und wieder einbauen konnte.

»Ahm Captain«, begrüßte Professor Bangs den Captain auf einem seiner Rundgänge.

»Bekommen Sie alles, was Sie brauchen?«

»Ja, auf jeden Fall. Aber danke für die Nachfrage.«, erwiderte der Ingenieur. »Wir kommen gut voran und werden auch einen großen Teil der Hyperion schützen können, sollte der nächste Ping tatsächlich so extrem ausfallen, wie wir befürchten. Allerdings ist das Schiff nicht wirklich klein...«

Der Wissenschaftler musste seinen Satz nicht vollenden. Floyd wusste auch so, was Bangs sagen wollte.

»Wie viel?«

»Dreißig Prozent des Schiffs.«

»Dreißig Prozent?« Floyd konnte sein Entsetzen kaum verbergen und atmete laut und deutlich ein. »Was passiert mit dem Rest?«

»Wie gesagt, das Schiff ist eben verdammt groß. Es ist eigentlich ganz einfach. Sie brauchen nur die Dimension der Hyperion ins Verhältnis zur Zahl unserer Leute setzen, dann können Sie ausrechnen, wie viel wir bis zur Deadline schaffen können.«

»Nein, nein. Sie missverstehen mich. Dreißig Prozent ist mehr, als ich zu hoffen wagte.«, gestand Floyd, wirkte dabei aber nicht wirklich glücklich. »Das Wichtigste ist, dass beim nächsten Ping niemand zu Schaden kommt und wir danach noch irgendwie weiterarbeiten können. Am Ende will ich, dass wir alle heil nach Hause kommen.«

Natürlich war Bangs nicht entgangen, dass im Captain etwas gärte, zog es aber vor, seinen Eindruck nicht zu thematisieren. Stattdessen konzentrierte er sich auf die vor ihm liegende Aufgabe, das Schiff sturmfest zu machen. Als einer der Chefingenieure der Konstruktionsabteilung hatte Bangs schon einige ruppige und haarige Situationen auf der Hyperion erlebt. Doch so ernst, wie im Moment, war es bisher noch nie. Das absurde an ihrer Lage war der Umstand, dass niemand es wirklich merkte. Das Licht flackerte nicht. Die Luft war gut und frisch. Niemand musste hungern. Und trotzdem. Das Schiff war, wie es der Chief in seiner unnachahmlichen Art formulierte, schrottreif. Sie waren im Tiefraum gestrandet.

Floyds Frust ging in eine ähnliche Richtung. Ihn wurmte, wie naiv und ahnungslos er sein erstes eigenes Kommando voll gegen die Wand gesetzt hatte. Zumindest war dies sein Eindruck von der aktuellen Lage, in die er Passagiere, Besatzung und Schiff seines Erachtens gebracht hatte. Er war der Captain - er war verantwortlich. Und noch etwas nagte an Floyd: Nicht zu wissen, womit sie es zu tun hatten. War das fremde Schiff Grund ihres Auftrags? War es das Ding im Laderaum? Oder hatte beides überhaupt nichts miteinander zu tun und es ging um den Planeten, der nach allem, was sich bisher sagen ließ, einer der erdähnlichsten war, der je entdeckt wurde.

Die Fragen waren müßig. Solange sie nicht über mehr Informationen verfügten, standen alle Mutmaßungen, so wohlüberlegt sie auch sein mochten, auf arg wackeligen Füßen. Das musste sich ändern. Statt sich weiter über seine möglichen Versäumnisse zu ärgern, entschied Floyd zu handeln. Die Forscher wollten etwas zu forschen haben? Bitte, nichts leichter als das.

Und plötzlich ging alles erstaunlich schnell. Wenige Minuten nachdem Floyd seinen Entschluss gefasst hatte zu handeln, sah sich Professor Yamamoto, der frisch zum Leiter der wissenschaftlichen Abteilungen gewählte Marsianer, mit einem gut gelaunten Captain der Hyperion konfrontiert. Dessen Plan war schnell erklärt. So beschränkt die sozialen Umgangsformen des Chemikers auch sein mochten, so erschreckend effizient zeigte er sie sich bei der Umsetzung von Floyds Idee. Innerhalb weniger Minuten organisierte er eine ad hoc Konferenz an der nicht nur sämtliche wissenschaftlichen Abteilungen teilnahmen, sondern auch einige Leute aus Chief Ulysses Team. Jeder, der nicht damit beschäftigt war, das Schiff gegen den nächsten Ping zu sichern, wurde in das Projekt eingebunden: Wissen schaffen.

In Windeseile wurden kleine interdisziplinäre Teams gebildet, die sich den unterschiedlichen Aufgaben annehmen sollten. Zwei Teams nahmen die Sensordaten der Sonden auseinander und analysierten sie bis zum letzten Bit. Die einen konzentrierten sich dabei auf das fremde Schiff, während die anderen sich dem grünen Planeten widmeten. Eine Hand voll Wissenschaftler konzentrierte sich auf die Analyse des Pings. Trotz seiner heftigen Wirkung auf die Schiffssysteme waren bei seinem letzten Auftreten Unmengen an Messdaten angefallen, die ausgewertet werden wollten. Eine weitere Gruppe untersuchte alle Daten, die vom Erkundungsteam aus den Lagerräumen mitgebracht wurden, etwa den Symbolen auf dem Display des merkwürdigen Quaders.

Es waren dann auch die letzten beiden Teams, die als erste auf ein Ergebnis stießen: Die Energiesignatur des Pings und die zufällig von Jason ausgelöste Entladung im Lagerraum waren sich ähnlich. Sie waren sogar dermaßen ähnlich, dass sich die Wissenschaftler ziemlich sicher waren, es mit einer verwandten, wenn nicht sogar identischen Technologie zu tun zu haben. Ganz überraschend war diese Erkenntnis hingegen nicht. Schließlich hatten Jason und Ulysses bereits festgestellt, dass die Objekte im Lagerraum dem gleichen Design folgten, wie das fremde Schiff. Aber hieß dies, dass der Ping eben von jenem Schiff stammte?

Während der ganzen Zeit näherte sich das Schiff immer mehr seinem Ziel.

Des Rechners Kern

»Du siehst müde aus.«

Der KI-Kern war für Floyd immer ein unheimlicher Ort. Obwohl künstliche Intelligenzen seit Jahrzehnten in Raumschiffen ohne nennenswerte Vorfälle ihren Dienst verrichteten, beschlich Floyd jedes Mal ein beklemmendes Gefühl, wenn er einen dieser speziellen Räume betrat, die den Kern beherbergten. Es hatte etwas von Kreide, die auf einer Tafel quietschte. An sich hatte er sich über die Jahre daran gewöhnt. Kostete es ihn zu Anfang seiner Laufbahn als Offizier noch erhebliche Überwindung, sich in den gekühlten, unheimlich schimmernden und gespenstisch tickenden KI-Kern zu begeben, hatte er über die Jahre gelernt, sein Unbehagen soweit in den Griff zu bekommen, dass es ihn nicht bei seiner Arbeit behinderte.

Bis zu Hyp, der KI der Hyperion. An diesem Schiff war alles riesig, überdimensional und gigantisch - was insbesondere auch für den CPU-Kern galt. Die frei im Raum schwebende 10 Meter große Kugel war nur über einen ebenso schmalen wie spärlich erleuchteten Steg erreichbar, der gut zehn Zentimeter vor der Kugel endete. Außer den unzähligen blauen Kommunikationslasern, die von und zur zentralen CPU-Kugel strahlten, gab es keine signifikanten Lichtquellen, von den üblichen, schwach glimmenden, gelben Orientierungslichtern abgesehen. Nur aus dem Kern drang etwas Licht.

An sich hätten Floyd keine zehn Pferde dazu gebracht, diesen unheimlichen Ort freiwillig zu betreten, doch gab es etwas in dessen Inneren, was alle unangenehmen Empfindungen um vieles aufwog: Jason, die singende Eidechse. Sein Freund und Partner war Grund genug, den latenten Widerwillen gegen Rechnerkerne zu überwinden. Erstaunlicherweise stellte dies bei Floyds aktuellem Besuch überhaupt kein Problem dar. Der zentrale Kern sah zwar aus wie immer, fühlte sich aber nur wie ein einfacher, kalter und dunkler Raum an. Das an den Nerven zerrende und Nackenhaare sträubende Gefühl war fast komplett, bis auf ein ganz schwaches entferntes Echo, verschwunden.

»Ich könnte auch im Stehen einschlafen.«, gestand Floyd, ließ sich neben seinem Lieblingsinformatiker auf dem Boden nieder und sprang sofort wieder auf. Im Kern der Schiffs-KI herrschten eisige Temperaturen. Der feine Dunst sprach eine deutliche Sprache. Entsprechend kalt präsentierte sich der Boden. Dass Jason dort bequem sitzen konnte, lag an seinem Schutzanzug. Floyd verzog etwas peinlich berührt seine Miene, ging aber nicht weiter darauf ein. »Das Schiff brummt. Jeder, vom Fähnrich bis zum Xenobiologieprofessor ist entweder damit beschäftigt, das Schiff wetterfest zu machen oder die Daten unserer unbekannten Freunde zu analysieren. Da kann der Captain schlecht Däumchen drehen, oder?«

»Es macht aber auch keinen Sinn, wenn der Captain wegen Übermüdung im Stehen einschläft.«, entgegnete Jason. »Floyd, die Leute verstehen ihren Job. Du musst nicht als Mutterglucke die ganze Zeit von Team zu Team schwirren. Ruh dich aus. Geh schlafen.«

»Du wirkst aber auch nicht wie das blühende Leben.«, konnte Floyd. »Was für mich gilt, gilt auch für dich.«

»Touché - Es ist nur... Hyp ist krank, ernsthaft krank.«

Bisher hatte Floyd seinen Freund als fröhlichen und sehr positiv eingestellten Menschen erlebt, doch im Moment wirkte er ernsthaft besorgt und niedergeschlagen.

»Ich weiß jetzt, wie Leclerc oder wer auch immer an Hyp rumgepfuscht hat, vorgegangen ist. Es ist eine Vergiftung.«

»Vergiftung?« Floyd kratzte sich am Kinn. »Ähm, wie lässt sich ein Computer vergiften? Hat Louis irgendeine schädliche Substanz in den Kern eingebracht?«

»Nein, nein. Es ist nichts Physisches.« Jason schüttelte seinen Kopf, wuchtete sich hoch und klopfte etwas Reif von seiner Kleidung ab. »Er hat eine Art logisches Gift verwendet. Hyp ist ein Quantenrechner.«

Genau da lag der Hund begraben. Ein normaler Feld-Wald-und-Wiesen-Computer ließ sich durch einen mehr oder weniger simplen Computervirus infizieren und in einen Zombie verwandeln. Antivirenprogramme hielten derartige Bedrohungen halbwegs in Schach. Moderne Quantencomputer waren völlig anders. Viren funktionierten bei ihnen nicht, was einen sehr willkommenen Pluspunkt für diese Rechnersysteme darstellte. Und Pluspunkte konnten sie dringend gebrauchen. So phänomenal ihre Leistung auch immer sein mochte, es änderte nichts daran, dass jedes Exemplar ein individuelles Einzelstück darstellte. Weltweit verfügten nur etwa dreißig Experten über das Wissen und die Fähigkeit, einen Quantencomputer der Komplexität Hyps erschaffen zu können. Jason war einer von ihnen und wie er, waren alle anderen ebenfalls Psioniker. Womit sich erklärte, warum diese Rechner ein wirklich rares Gut darstellten. Hinzu kam, dass diese Systeme zum einen nicht sonderlich handlich waren aber insbesondere alles andere als als billig bezeichnet werden konnten. Da galt es schon als Vorteil, dass die Dinger sich wenigstens immun gegen Viren zeigten. Quantencomputer galten einfach als absolut sicher.

Bis ein talentierter Informatiker mit indianischen Wurzeln kam und mit diesem Mythos aufräumte. Es war Jasons Doktorarbeit, der den vermeintlich festen Boden des Quantencomputings in fiesen Treibsand verwandelte. Singende Eidechse entdeckte, dass bestimmte fraktale Quantensubroutinen mit transzendentwertiger Dimension eine Art Vergiftungsprozess innerhalb eines Quantencomputers auslösen konnten. Jason wählte den Begriff Vergiftung ganz bewusst. Es reichte tatsächlich ein kleines Codefragment, um ein großes System in die Knie zu zwingen, einfach dadurch, dass die vergifteten Systemteile selbst wieder als Gift wirkten.

»Das eingesetzte Quantengift wirkte sehr langsam. Es ging wohl nicht primär darum, Hyp zu zerstören, sondern ein Einfallstor zu schaffen, durch das sich dann beliebige Daten einspielen lassen konnten. Nun ja. Ich konnte das Gift isolieren, allerdings hat es bereits Teile Hyps beschädigt. Ich musste ihre höheren kognitiven Funktionen deaktivieren. Du könntest auch sagen, Hyp befindet sich in einem therapeutischen künstlichen Koma.«

»Ach deswegen«, murmelte Floyd mehr zu sich selbst.

»Deswegen?«, hakte der Informatiker nach.

»Ich glaube, ich hatte mal erwähnt, dass ich mich in Rechnerkernen immer unwohl fühle.«, meinte der Captain der Hyperion, »Heute nicht.«

Zwei vor Erstaunen vergrößerte Augen glotzen Floyd an. Jasons Mund klappte auf, ein »Hä!« purzelte raus, seine Augen blinzelten verdattert und leiteten ein »Äh« ein. Der amerikanische Ureinwohner runzelte seine Stirn und begann sich irritiert am Nacken zu kratzen.

»Ist dir eigentlich klar, was du da gerade gesagt hast?«, wollte Jason wissen.

»Ja, wieso?«, entgegnete Floyd, der die Aufregung seines Freundes nicht wirklich verstand. »Du hast Hyp abgeschaltet«, meinte er schulterzuckend, »Es ist vielleicht nicht nett, aber ich finde es gut. Ich kann hier rumlaufen, ohne dass sich meine Nackenhaare sträuben.«

Statt sofort zu antworten, trat Jason ein Stück zurück, schüttelte den Kopf und meinte nachsichtig grinsend: »Womit wieder einmal bewiesen wäre, dass Schiffskapitäne nicht wegen ihrer Intelligenz eingesetzt werden.«

»Öh!«, maulte der Mann mit dem vermeintlich suboptimalen IQ schmunzelnd, um plötzlich zu stutzen. »Moment, worauf willst du hinaus?«

»Ich habe Hyp nicht ausgeschaltet, nur ins Koma versetzt.«, erwiderte der Chefinformatiker und Schöpfer des Schiffscomputers ernst. »Ist dir wirklich nicht klar, was das bedeutet? Du bist psionisch begabt. Dir stehen deswegen die Nackenhaare zu Berge, weil du das Bewusstsein der KI wahrnimmst.«

»Das meinst du nicht ernst, oder?«

»Doch, ist es, denn es ist die einzige Erklärung. Ich vermute, dass du ein latenter Psioniker bist.«

»Das glaube ich nicht.« Floyd schüttelte seinen Kopf. »Auf der Akademie haben sie uns auf übersinnliche Begabungen getestet. Ich hatte zwar einen sehr hohen ESP-Koeffizienten, was gemeinhin als vielversprechend für psionische Fähigkeiten gilt. Die Testergebnisse waren dagegen total ernüchternd. Ich habe ganz amtlich bescheinigt bekommen, nicht das geringste Talent zum Telepathen zu haben.«

»Du bist auch kein Telepath.«, meinte Jason nachdenklich. »Ich halte dich eher für einen latenten Technopathen. Du scheinst über eine empathische Verbindung zu Technologie zu verfügen. Ich vermute, dass das, was dich im Rechnerkern nervös macht und an deinen Nerven schabt, das Bewusstsein der KIs sein dürfte, das sich einen Kanal sucht, um zu dir vorzudringen.«

»Du meinst das ernst, oder?«

»Todernst. Mit psionischen Begabungen scherze ich nicht.«


»Bis zu diesem Zeitpunkt war Ihnen nicht bewusst, dass Sie psionisch begabt sein könnten?« Senatorin Monahan zeigte sich ausgesprochen überrascht. »Sind Sie sich sicher? Ich dachte, jeder Offiziersanwärter wird auf derartige Fähigkeiten eingehend getestet?«

»Das war auch im Fall unseres Captains der Fall.«, griff der Vorsitzende der Anhörung, Henry Willibal Waterman, in die Befragung ein und zauberte eine Datenfolie hervor, auf der die Personaldaten Floyds aufleuchteten. »Wenn ich das richtig interpretiere, stimmt die Schilderung Captain Grants genau mit seinem Prüfergebnis der Akademie überein. Demnach wurde ihm tatsächlich ein sehr hoher ESP-Koeffizient attestiert. Die Psitrainer gingen deswegen auch anfangs fest davon aus, dass unser Captain über irgendeine latente Begabung verfügen musste, konnten diese aber nicht offenlegen. Bei den meisten Tests zeigte Captain Grant dann sogar deutlich unterdurchschnittliche Werte. Die Experten wollten ihren eigenen Ergebnissen nicht glauben und veranlassten eine Wiederholung des ESP-Koeffizienten - mit dem gleichen Ergebnis. Trotzdem zeigten sich, so das Gutachten, keinerlei offene oder latente Begabungen.«

»Ja«, bestätigte Floyd, »Der Parapsychologe, der mir das Ergebnis mitteilte, wusste nicht so recht, ob er mir nun eine gute oder schlechte Nachricht überbrachte, dass ich nicht psionisch begabt wäre. Er meinte, ich sei wohl eine Laune der Natur und dass die Wissenschaft eben noch nicht erklären könne, wie außersinnliche Wahrnehmungen eigentlich genau funktionierten.« Floyd strich sich verschmitzt übers Kinn: »Es war Professor singende Eidechse, der später eine Erklärung fand, warum sich bei den Tests bei mir nichts tat. Ich weiß allerdings nicht, ob ich berechtigt bin, diese Information weiterzugeben.«

»Was dieses Hearing betrifft, verfügen alle Mitglieder über die Klassifizierung ultraviolett.«, erklärte der Vorsitzende Waterman nüchtern.

»Entschuldigen Sie bitte, sollte ich den Ausschuss in irgendeiner Weise beleidigt haben, aber die Strafandrohungen für Geheimnisverrat sind nicht unerheblich. Mir ist bewusst, dass erhebliche Teile der Informationen, die in diesem Ausschuss erörtert wurden, inzwischen allgemein bekannt sein dürften. Allerdings entbindet mich dies nicht von der allgemeinen Verschwiegenheitserklärung. «, erwiderte Floyd verschmitzt. »Wie sich der Ausschuss vorstellen kann, ist mein Verhältnis zur Admiralität im Moment ein wenig ambivalent, um nicht zu sagen angespannt. Die eine Hälfte würde mich am liebsten heilig sprechen, während die andere sich wohl Wege überlegt, wie sie mich standrechtlich hinrichten lassen könnte.«

»Das haben Sie nett formuliert, Captain.«, meinte daraufhin Richterin Sakoviac nur halb ironisch. »Aber Sie haben Recht. Ihr kleines Kunststück hat für eine gehörige Unruhe gesorgt. Wie dem auch sei. Für Informationen, die Sie in diesen Räumen preisgeben, können Sie nicht belangt werden.«

»Also gut.« Floyd holte tief Luft. »Es sind zwei Informationen, die vom Wissenschaftsrat als ultraviolett klassifiziert wurden. Beide scheinen miteinander im Zusammenhang zu stehen. Erstens: Alle Informatiker, die in der Lage sind, einen KI-Kern zu begründen, verfügen über mindestens rudimentäre psionische Fähigkeiten. Es scheint eine Korrelation zwischen der Komplexität der späteren KI und der psionischen Potenz seines Schöpfers zu bestehen. Zweitens: Im Rechnerkern verändert sich die psionische Wahrnehmung. Professor singende Eidechse meinte, im Kern der Hyperion könne er die Gedanken Lt. Commander Otis Johannsons auf der Brücke um Größenordnungen deutlicher hören, als wenn dieser direkt neben ihm stünde.«

»Und das war der Grund, warum Sie taten, was Sie anschließend taten?«, hakte Sakoviac nach, die wie jeder im Raum wusste, was Floyd anschließend tat, aber wollte, dass der Captain der Hyperion es offen aussprach.

»Es war ein Mosaikstück im Gesamtbild.«, erklärte Floyd relativierend, worauf sich Senator Nagano prompt aufpumpte und zur nächsten Kanonade ansetzen wollte, worauf sich nun wiederum Floyd beeilte, fortzufahren. »Aber ich will mich gar nicht rausreden. Es passte halt einfach alles zusammen.«


Jeder hatte eine Aufgabe, sei es, das Schiff wetterfest zu machen, das heißt die Widerstandsfähigkeit gegenüber dem nächsten Ping zu erhöhen, oder die Daten von den Sonden, dem Ping und der Antwort darauf zu analysieren. Jeder und jede, egal ob Besatzung, Wissenschaftler oder Techniker, Offizier oder Mannschaftsdienstgrad, alle hatten eine Aufgabe - bis auf Floyd. Captain Floyd Rutherford Grant hatte nichts zu tun, außer jedem im Weg zu stehen. Selbst Jason, sein Freund und Lebensgefährte zur Probe, hatte alle Hände voll zu tun, die Schiffs-KI von ihrer Vergiftung zu heilen. Es war dieses ungute Gefühl der Überflüssigkeit, der Frust darüber, nicht ebenfalls etwas Produktives beitragen zu können, die bei Floyd eine ebenso einsame wie gewagte Entscheidung reifen und wenig später in Taten enden ließ.

Ohne fremde Hilfe sich in die Envirosuit zu zwängen stellte sich als zeitaufwendig, schweißtreibend und frustrierend heraus. Am Ende leuchteten dann aber doch die grünen Kontrollflächen im Head-Up-Display, nachdem Floyd den Anzug aktiviert und dieser sich an die Konturen seines Trägers zurechtgezuckelt hatte. Statt der normalen und wenig hilfreichen Einsatzkleidung wählte Floyd für seine Überkleidung einen Anzug, den er nach etwas Stöbern im Lagerverzeichnis für Kampf-, Einsatz- und Arbeitsbekleidung entdeckt hatte und explizit für Einsätze unter Tiefsttemperaturbedingungen ausgelegt war. So ausgerüstet stiefelte der Captain der Hyperion in Richtung Deck 6, Sektion G, Lagerräume G-8001 bis G-8027.

Niemand hielt ihn auf. Einige Besatzungsmitglieder beachteten ihn zwar mit fragenden Blicken, wagten aber nicht, die Handlungen und Aktionen ihres Captains in Frage zu stellen. Und was die Techniker und Wissenschaftler betraf, die interessierte das Treiben der Flottenmitglieder eh nicht. Die einzige, die Floyd möglicherweise aufgehalten hätte, wäre Hyp, die Schiffs-KI. Doch deren Bewusstsein war abgeschaltet, sodass ein einfacher Übersteuerungsbefehl mit dem Autorisierungscode des Captains reichte, die Sperre des Schotts aufzuheben.

Im Lagerraum herrschten nach wie vor Dunkelheit und eisige Kälte. Die Lichtfinger der Helmscheinwerfer ließen die in der Luft treibenden Eiskristalle funkeln. Floyds Schritte knirschten auf dem vereisten Boden. Vollkommen allein in den Weiten des Lagerraums wirkte jedes Geräusch unnatürlich laut. Die Atemluft rasselte durch das Schlauchsystem des Anzugs, ließ Ventile klappern und zwitschern. Die gesamte Umgebung, die unwirkliche Atmosphäre, nichts davon war dazu angetan, Floyds innere Unruhe und Unrastigkeit zu mildern. Ganz im Gegenteil. Immerhin vertrug die neue Einsatzkleidung die extreme Kälte erstaunlich gut und zeigte keinerlei Steifigkeit, geschweige denn Tendenzen, spröde zu werden. Stattdessen schien sie sogar ein wenig vor der Eiseskälte zu schützen. Dieser Schutz hatte aber auch seinen Preis. Der Einsatzanzug war schwer. Keuchend und nervös stiefelte er in Richtung des Quaders.

Stellten sich Floyds Nackenhaare auf? Selbst wenn sie es gekonnt hätten, was aber bei der hauteng anliegenden Silikonfolie des Unteranzugs kaum möglich war, sie hätten es nicht getan. Das unheimlich fiese Gefühl hatte sich verändert. Floyd vermutete, dass es daran lag, dass er nun um seinen Ursprung wusste. Was blieb war die Frage, was sich mit diesem Wissen anfangen ließ.

Der Quader präsentierte sich wie schon beim ersten Besuch: groß, fremdartig und unergründlich. Das Display zeigte... ja was eigentlich? Worte? Symbole? Und was würde passieren, sollte er die Anzeige berühren? Es gab nur einen Weg, dies herauszufinden. Floyd hob seine behandschuhte Hand und schubberte als erstes die leichte Eisschicht fort. Was auch immer im Quader steckte, es schien intelligent genug zu sein, den Unterschied zwischen einem Reinigungsversuch und einer Bedienung zu erkennen. Jedenfalls zeigte es keine Reaktion.

»Nun denn!«, murmelte Floyd zu sich selbst, aktivierte die Aufzeichnungsgeräte seines Anzugs, wozu nicht nur Kameras und Mikrofone, sondern auch allerlei andere Sensoren für diverseste Messgrößen zählten, von Temperaturen über die gesamte Bandbreite der elektromagnetischen Wellen bis hin zur ionisierenden Partikelstrahlung, die, soweit möglich, direkt zu einem Computer außerhalb des Lagerraums übertragen wurde. Sollte dieser Alleingang einen unglücklichen Ausgang nehmen, hätten andere vielleicht die Chance, aus seinem Fehler zu lernen.

Zögerte Floyd die Anzeige zu berühren? Nicht wirklich. Dafür war er an diesen Ort zurückgekehrt. Floyd betrachtete das Display, ließ die Symbole auf sich wirken und tippte dann auf eins, das ihm ganz subjektiv sympathisch schien.

Das Display, Bedienpanel, Kommandomodul, was es auch immer war, es reagierte. Verblüfft beobachtete Floyd, wie die Symbole von der Anzeige verschwanden. Stattdessen leuchtete ein weißes Klötzchen auf einem dunkelvioletten Hintergrund auf. Ein Klötzchen? Einfach nur ein Klötzchen? Was wollte der Quader damit sagen? Floyd tippte erneut. Das Klötzchen verschwand kurz und erschien erneut. Ohne Helm auf dem Kopf hätte sich Floyd am selbigen gekratzt. Stattdessen tippte er erneut auf die Anzeige. Wieder verschwand das Display, doch statt nur einem Klötzchen erschienen nun zwei. »Hm?«. Floyd berührte das Display ein weiteres Mal und erntete drei Klötzchen. Das Spiel wiederholte sich: Floyd tippte und sah fünf Klötzchen, gefolgt von acht, gefolgt von... Nichts. Statt eine weitere Herde weißer Klötzchen anzuzeigen, wechselte die Hintergrundfarbe von dunkelviolett auf hellgelb.

Mathematik - Der Schlüssel zu dieser Kultur bestand in Mathematik. Floyd hatte längst erkannt, dass die bisherige Klötzchenfolge der Fibonaccireihe folgte und kommentierte ins Helmmikrofon, dass es interessant sein dürfte zu ergründen, warum nicht die sonst bei Erstkontakten so beliebten Primzahlen auf der Anzeige aufgetaucht waren. Die Fibonaccireihe erforderte das Konzept der Addition, nämlich der Summe der zwei vorausgehenden Zahlen. Per Definition waren die ersten beiden Zahlen Null und Eins. Die Summe beider war wiederum eins, eins und eins ergab zwei, zwei und eins drei und zwei und drei fünf, fünf und drei schließlich acht. Als nächstes hätte die Summe aus fünf und acht erscheinen müssen, also 13. Oder sollte er diese jetzt eingeben? Nur wie? Floyd tippe auf die Anzeige.

»Bingo!« Ein schwarzes Klötzchen erschien auf der hellgelben Anzeige und mit jedem weiteren Tipper wurde es einer mehr. Floyd tippte dreizehn Mal.

Wenn Floyd mit irgendeiner spektakulären Reaktion gerechnet hätte, wäre er enttäuscht worden, das Display verharrte einen Moment mit dreizehn Klötzchen, wartete vermutlich darauf, ob noch etwas kam, um dann aber die Eingabe dadurch zu quittieren, dass es schlicht und ergreifend schwarz wurde und auch dabei blieb.

»Und jetzt?«, knurrte Floyd, den das Gefühl beschlich, die Rolle einer Versuchsratte in einem Irrgarten zu spielen. Die Fibonaccireihe? Eine überraschende Wahl für einen Test auf intelligentes Verhalten. Legionen an Exobiologen hatten sich die Köpfe darüber zerbrochen, wie ein erster Kontakt aussehen konnte. Wenn auf eins Verlass war, dann auf die Streitkultur der Eierköpfe. Dass die dann einhellig der Meinung waren, die Menge der Primzahlen wäre der ideale Schlüssel zu einer gemeinsamen mathematischen Sprache, kam recht überraschend. Schade nur, dass die außerirdischen Lebensformen davon nichts zu wissen schienen.

Ob nun Hamster im Rad oder Ratte im Irrgarten, Floyd war gekommen, um sich Antworten zu verschaffen. Wenn die Anzeige nicht mehr seiner Aufgabe nachkam, etwas anzuzeigen, dann hieß dies wohl, dass es am Quader keine Antworten zu holen gab - Vielleicht am Kegel?

Das Kabel befand sich noch an der gleichen Stelle wie zuvor, auf der dem Display gegenüberliegenden Stirnfläche des Quaders, und führte nach wenigen Schritten zum bewussten Kegel. Erstaunlich, wie sich Entfernungen verkürzten, sobald das Terrain halbwegs bekannt war.

Da stand er - spitz, aufrecht und undurchdringlich - der Kegel. Floyd schaltete seine Helmscheinwerfer aus. Es dauerte ein wenig bis sich seine Augen an die Dunkelheit der Lagerhalle gewöhnt hatten und das schwache Glimmen an der Spitze des Kegels sichtbar wurde. Was bist du? Jason hatte Recht, diese Wesen, diese fremden Intelligenzen waren wirklich fremd. Das Schiff, der Würfel, der Kegel. Die gesamte Formensprache war so uniform. Als Offizier der Flotte kannte Floyd unzählige Schiffstypen, Raumstationen, Sonden, Fähren oder was sonst noch von Menschenhand gefertigt wurde und im Weltraum umherflog. Nichts davon glich sich so sehr, dass sich keine Unterschiede ausmachen ließen und erst recht glichen sie sich nicht wie ein Ei dem anderen. Natürlich gab es Baureihen, etwa das mittelschwere Transportschiff TLTS-17G, aber selbst diese Schiffe zeigten individuelle Unterschiede, und das einfach nur deswegen, weil diverse Komponenten von unterschiedlichen Firmen gefertigt wurden. Zwei Tachyionentransmitter konnten auf dem Datenblatt identische Funktionsparameter besitzen, mussten deswegen aber noch lange nicht gleich aussehen. Bei dieser fremden Technik schien dies vollkommen anders zu sein. Alles schien bis auf das Atom genau der gleichen tiefen inneren Struktur zu folgen. Breite, Höhe und Länge standen in korrespondierenden Verhältnissen zueinander. Das Material der Außenhäute von Kegel, Würfel und Raumschiff schien, soweit sich dies bisher sagen ließ, identisch zu sein. War es zu weit spekuliert anzunehmen, dass diese Fremden ein anderes Verhältnis zur Individualität pflegten als die Menschen? Kannten Sie das Konzept überhaupt und wenn ja, welche Bedeutung besaß es?

Oder... Floyd lauschte in sich hinein - wer sagte, dass Leben, Intelligenz, Bewusstsein immer nach den gleichen Regeln spielen musste?

»Ich bin hier«, sprach Floyd in die Stille der Dunkelheit des Lagerraums, schloss seine Augen und öffnete seinen Geist. »Sprich mit mir!«

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