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Kopfgeister
Band 2 - Berlin Schlachtensee
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Informationen
- Story: Kopfgeister
- Autor: Nero
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama, Coming Out, Krimi, Abenteuer, Comedy, Lovestory
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkungen
- 2.1. Die grüne Hölle von Berlin
- 2.2. Nackte Tatsachen am Morgen
- 2.3. Katastrophenalarm
- 2.4. Ein Arbeitsfrühstück
- 2.5. Mein erster Schultag
- 2.6. Kuki und der V4A-Stahl
- 2.7. Nico
- 2.8. In der S-Bahn Linie 1
- 2.9. Tim
- 2.10. Reflektionen über heterosexuelle Beziehungen
- 2.11. Mama ante portas
- 2.12. Im Minenfeld des Familienlebens
- 2.13. Definition einer Sprachregelung
- 2.14. Partyplanung
- 2.15. Mein sechzehnter Geburtstag
- 2.16. Kukis Rache
- 2.17. Die Geburtstagsparty
- 2.18. Schatten der Vergangenheit
- 2.19. Nacht in Berlin
- Nachwort
Vorbemerkungen
1. Dies ist der Band II von Kopfgeister. Er schildert die Erlebnisse von Sven, nachdem er seine Insel verlassen und sich schweren Herzens von Thimo verabschiedet hat.
2. Wie schon in Band I kommt es auch in diesem Band zu sexuellen Handlungen. Also, wer noch zu jung ist, sich von sowas abgestoßen fühlt oder es nicht verträgt, wenn sich zwei Junx gern haben (Was machst du dann auf dieser Website?), sollte sich schnell was anderes zu lesen suchen.
3. Orte, Personen, Handlungen und der restliche ganze Kram ist natürlich frei erfunden und nur dazu da, euch, den Lesern, Spaß zu bereiten. (Ich hoffe, dass das geklappt hat.)
4. Rechtschreibung ist nicht meine starke Seite. Ich hab mich mit zwei Rechtschreibprüfern gequält und hoffe, dass es ein bisschen was gebracht hat.
5. Dieser Text ist exklusiv für Nickstories geschrieben, der absolut besten Webseite für die absolut besten Geschichten.
Danksagung
Ich muss mich bei allen bedanken, die mir nach Band I geschrieben respektive gemailt haben.
Wow!
Was für ein Super-Feedback! Leute, echt Danke! Was hab ich für 'ne Panik gehabt, die Story einzusenden. Junx, danke!
Nero
2.1. Die grüne Hölle von Berlin
Da saß ich nun. Ich saß auf meinem neuen Sofa in meinen eigenen neuen vier Wänden und haderte mit der Welt. So oft ich auch durch meine über hundert Fernsehkanäle zappte: Mist, nichts als Mist.
Erinnern wir uns. Thimo war weg und lebte jetzt in Portland. Tausende atlantiknasse Kilometer weit westlich von mir. Nach seinen Mails war er zwar gut angekommen, fühlte sich aber genauso beschissen wie ich. Gut so! Ich wollte ihm auch nichts anderes geraten haben.
Zwei Tage nach seinem Abflug in die USA packten meine Eltern und ich unsere sieben Sachen und zogen in unser neues Domizil, in den grünen, spießigen und wohlhabenden Süden Berlins. Ein echtes Mittelstandsghetto.
In der ersten Woche konnte ich mich noch einigermaßen mit Ein- und Umräumen meiner Klamotten und Möbel ablenken. Schrank hierhin, Schreibtisch dorthin, Bett woanders, oder doch lieber Schrank dahin? Dann aber Bett dort. Aber wohin mit dem Schreibtisch? Ganz toll! Super! Ich schob nicht Möbel umher, ich schob meine trüben Gedanken umher. Schrank, Bett und Tisch waren nur die willigen Opfer meiner üblen Laune.
Das war die erste Woche. Inzwischen war meine Umräumlaune verflogen und mir fiel nur noch die Decke auf den Kopf. Mein einzige Beschäftigung war auf dem Bett liegen, Löcher in die herabstürzende Decke zu starren und auf eine Mail von Thimo zu warten.
»Sven, krieg dich wieder ein! Bitte, versprich mir, wieder ins Leben zurückzukehren. Es macht mir das Einleben hier nicht leichter, dich traurig zu wissen. Bitte, Svenni, such' dir was Niedliches und denk an mich. Bitte! In Liebe, Thimo.«
Thimos Mail war kurz und wie immer zutreffend. Ok, was soll's. Meine schlechte Laune konnte ich auch woanders kultivieren und entschied mich daher, die nähere Umgebung zu erkunden.
Nur knapp 5 Minuten mit dem Fahrrad entfernt lag der Schlachtensee. Gut, der ist nichts zum Surfen, aber zum Baden ist er optimal. Wir hatten zwar Ende August, aber die Tage waren immer noch sehr warm. Warm genug für mich, und um auf der Liegewiese mein Selbstmitleid zu hätscheln.
Die Idee war ein Fehler. Ich hatte nicht mit der stimmungshebenden Kraft der Spätsommersonne gerechnet. Ganz gegen meine Absichten wurde meine Laune besser. Obwohl mir der Abschied von Thimo immer noch tief in den Knochen steckte, ertappte ich mich dabei, wie ich auf meinem Badehandtuch liegend und unter dem Schutz meiner Sonnenbrille, die mich umgebenden Jungs betrachtete. Er gab wirklich gut aussehende Berliner. Thimo möge mir verzeihen, aber es gab sogar sehr gut aussehende Berliner Jungs.
Leider waren fast alle mit einem Mädchen an ihrer Seite ausgestattet. Leider? Svenni, woran denkst du? Was ist mit Thimo? Hast du ihn schon vergessen? Auf mein schlechtes Gewissen war Verlass. Ich konnte mich wieder dem Selbstmitleid hingeben und war prompt wieder glücklich unglücklich. Was wollte ich mehr. So herrlich und wunderbar traurig-melancholisch kann die Welt sein. Ist das nicht schön?
»Hey du?«
Oops, ich wurde angesprochen? Leicht weggedöst brauchte ich ein paar Sekunden, um meinen Gesprächspartner auszumachen. Shit, es war eine Gesprächspartnerin, auch Mädchen genannt. Ich hatte sie schon vorher wahrgenommen. Weniger sie, als vielmehr die Gruppe von drei gut gebauten Jungs und drei anderen Mädchen deren Teil sie war. Jetzt stand sie vor mir.
»Ja?«
»Ich seh' dich hier schon die ganze Zeit alleine rumliegen. Ich hab' dein Fahrrad gesehen. Bist du von hier? Wenn ja, müsste ich dich eigentlich kennen, ich kenn dich aber nicht ...«
»Ich bin vor einer Woche hergezogen. Naja, und weil ich hier noch niemanden kenne, bin ich alleine ...«
Das war zwar nur die halbe Wahrheit. Im Moment wollte ich auch niemanden kennen lernen. Vor allen keine Mädchen.
»Doch, du kennst jemanden. Mich! Ich bin Katja.«
Nachtigall ick hör dir trapsen. So sagen die Berliner wohl. Katja war auf der Pirsch und ich war ihr Opfer. Hilfe, so rettet mich. Ein Mädchen ist hinter mir her! Und ich hatte gedacht, es bestünde gerade Schonzeit für die Gattung schwule, norddeutsche Jungs mit gebrochenem Herzen. Aber nix da, Katja war erbarmungslos.
»Mein Name ist Sven und - ja - man nennt mich Svenni«, ich war über meine Höflichkeit selbst erstaunt. Eigentlich lag mir mehr so ein »Verpiss dich!« auf der Zunge.
»Svenni hörst du? Der heißt auch Svenni. So wie du! Ist das nicht süß?«
Ich bin immer wieder erstaunt, wie manche Menschen es schaffen, das Offensichtliche zu bemerken. Katja zeigte mir eine beachtliche intellektuelle Leistung: Wenn ich Sven heiße und jemand anderes auch Sven heißt, dann heißen wir beide Sven! Super, Katja.
Zugegeben: Wenn ich schlechte Laune habe, dann kann ich ein verdammt zynisches Arschloch sein. Sein wir ehrlich: Dann bin ich ein zynisches Arschloch. Außerdem wollte ich im Moment auch ein zynisches Arschloch sein. Dumm nur, dass ich kein Wort sagte. So konnte Katja gar nicht in den Genuss meines Zynismus kommen, weswegen sie ihr Balzritual ungebremst fortsetzte und den anderen Sven aus seinem Schlaf weckte.
Der Angesprochene war gut 172cm, gut gebaut, also eher schlank, aber nicht dürr und recht muskulös. Seine Haare waren dunkelblond, recht kurz, was ihm durchaus stand. Seine Augenfarbe ließ sich nicht bestimmen, er trug eine Sonnenbrille.
»Lass dich von Katja nicht anmachen. Die ist immer so. Komm Katja, lass den armen Kerl zufrieden ...«
Für diese Bemerkung fing sich Sven einen gespielt empörten Gesichtsausdruck von Katja ein. Aber hey, der Typ konnte sprechen und klang sogar ganz nett. Ich legte meinen Zynismus vorübergehend auf die Warteleitung. Mal sehen, was sich da entwickeln würde.
»Sven? Kein schlechter Name. Du bist also neu hier? Hast du Lust zu uns rüberzukommen?«
Was hatte ich zu verlieren? Meine Unschuld? Trübsal blasen konnte ich später immer noch. Die kleine Gruppe von Männlein und Weiblein schien ein ganz fröhlicher Haufen zu sein, also setzte ich mich zu ihnen. Wir plauderten ganz ungezwungen. Ich erzählte meine Geschichte, warum ich in Berlin gelandet war und wo ich herkam. Das heißt, ich erzählte sie nicht ganz. Dass ich schwul bin, ließ ich aus. Man muss ja nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.
Nachdem ich alles erzählt hatte, wurden mir auch noch die anderen Mitglieder der Gruppe vorgestellt. Außer Katja und Sven gab es noch Dirk, Kim, Biene alias Sabine, Tim und Carmen. Alle sieben wohnten mehr oder weniger in der Gegend. Dirk wohnte sogar nur zwei Häuser von mir entfernt.
»Ah, dann bist du einer der Jacobsens. Ihr seid vor 'ner Woche in dieses Wahnsinnshaus eingezogen.«
»Jap! Das heißt nein, ich wohne nicht im Haupthaus.«
»Du wohnst alleine im Bungalow?«
»Ja, Mutterseelenallein. Schnüff! Ist das nicht traurig?«
»Wow, nicht schlecht, wirklich nicht schlecht! Vor allem wenn ich da an die Möglichkeiten denke, mit etwas WSeiblichen ungestört ... Du weißt schon was ich meine ...«
»Ich denke schon ...«, dachte aber weniger an etwas weibliches.
»Sag mal Svenni, du gehst doch noch zur Schule, oder?«
»Es ließ sich nicht vermeiden ...«
»Weiß du schon wo?«
Schule, das war ein Stichwort. Am gestrigen Morgen war ich bei meiner neuen Schule angemeldet worden. Einem sogenannten bodenständigen Gymnasium, was wohl soviel heißt, dass es keine Gesamtschule ist. Ich war in Schulpolitik nicht sonderlich bewandert, aber in Schläfrig Holstein war sowas der Normalfall, in Berlin schien das anders zu sein.
Der Direktor meiner neuen Schule hatte kurz in seine Unterlagen geschaut und mich dann in die 10c gesteckt.
»10c? Super! Du kommst zu unserem Chaotenhaufen ...«, Dirk war begeistert »Hast du zufällig Ahnung von Mathe und/oder Physik?«
»Mach keinen Fehler und sag' Ja!, sonst wirst du Dirk nicht wieder los. Unser kleiner Mops ist zwar ein Sprachgenie, aber der totale Ausfall in den Naturwissenschaften. Dass heißt, in Bio kennt er sich recht gut aus ...«
»Mops?«
Dirk war eigentlich nicht dick. Er war zwar klein und stämmig, aber Mops war unfair. Bevor Dirk dieses Rätsel lösen konnte, musste er sich aber erst noch mit ein paar kräftigen Knuffen für die anzügliche Biobemerkung rächen.
Mops war passend gewesen. Dirk zeigte mir ein zwei Jahre altes Foto. Es war ein Bild eines wirklich fetten Jungen. Es war Dirk.
»Ja, das war ich. Kampfgewicht 92kg bei 172cm. Jetzt lieg ich so bei 69kg.«
Außerdem war er sehr muskulös. Er sah gut aus, war aber nicht mein Typ. Dirk war semmelblond, hatte eine Stupsnase und Sommersprossen. Seine Haare waren recht zottelig und hingen ihm vorne ständig ins Gesicht. Glücklicherweise musste Dirk nicht mein Typ sein: Biene hielt Besitzansprüche an ihm.
Biene, d.h. Sabine, hatte dunkelblondes, schulterlanges Haar, sah super-gut aus, hatte eine phantastische, durchtrainierte Figur, hypnotisch grüne Augen, einen niedlichen Schmollmund, perfekte Körperrundungen. Mit anderen Worten: Biene war eine Klasse für sich. Sie hatte alles, was man sich an einer Frau wünschen würde, immer vorausgesetzt, man wünscht sich eine Frau.
Das mit der durchtrainierten Figur, wurde mir sofort erklärt: Biene war Reiterin. Alle anwesenden Mädchen waren Reiterinnen. Ich musterte sie der Reihe nach und musste nicken. Auf Fehmarn gab es massenweise Ferienreiterhöfe. Ich wusste, wie Mädchen aussahen, die ritten. Tja Jungs, wenn die Mädels auf dem Pferdetrip sind, habt ihr verloren.
»Es sind halt Mädchen. Man muss sich dran gewöhnen, dass erst das Pferd und dann der Mann kommt.«
Diese Bemerkung stammte von Tim und blieb nicht unkommentiert. Alle anwesenden Mädels schlugen auf ihn ein, der sich mit Händen und Füßen wehrte.
Zur Beschreibung von Tim: Tim sah von allen Jungs am besten aus. Sorry, aber das war ein Understatement, er sah geil aus! Lechz. Bei seinem Anblick, und ich blickte häufig, fast zu häufig, wurde mir heiß, kalt und zitterig. Die drohende Versteifung eines gewissen Körperteils ließ sich auch nur unter massiver Kraftanstrengung unterdrücken. Wie ich nebenbei erfuhr, war er Wettkampfschwimmer und genau so war er auch gebaut. Perfekte V-Form, ein Waschbrettbauch, für den ich morden würde. Sein Körper war völlig haarlos, Naja, ich habe nicht in seine Badehose geschaut. Auf dem Kopf hatte er nur einen ganz kurzen Haarflaum. Aber sonst war er absolut glatt. Nicht mal zwischen Bauchnabel und dem Bund seiner Badehose war auch nur ein einziges Haar zu sehen. Aber richtig süß war sein Gesicht: Augen zum versinken, ein Mund mit angewachsenem Lächeln, eine süße Nase und ein absolut entwaffnender, melancholischer Hundeblick. Wow! He hit me!
Hatte ich am Morgen noch geplant, mich ganz kultiviert meiner Depression hinzugeben, kippte meine Laune unversehens um. Der Tag wurde besser als erwartet. Das erste Mal, seit Thimo weg war, regte sich wieder Leben in mir. Wir unterhielten uns den ganzen Nachmittag. Ich warf immer wieder einen verstohlenen Blick zu Tim, während ich meinen neuen Liegewiesenbekanntschaften lauschte. So erfuhr ich zum Beispiel, dass nur Biene und Dirk fest zusammen waren. Der Rest war entweder solo oder mehr oder weniger mit anderen, nicht anwesenden Leuten verbandelt. Carmens Freund war zum Beispiel mit seinen Eltern noch im Urlaub. Tim hatte vor wenigen Wochen mit seiner letzten Freundin Schluss gemacht. Autsch – Freundin - welch garstiges Wort. Das hieß wohl, Tim war hetero. Shit!
Aber wenn man von diesem Rückschlag einmal absah, war die ganze Gruppe wirklich sehr nett, offenherzig und warm. Sie erreichte, dass ich mich gut fühlte. Das erste Mal, seit ich Thimo in den Zug steigen sah, seit ich alle meine Freunde hinter mir gelassen hatte, fühlte ich mich gut. Oh, wie mir das fehlte.
Die sieben waren schon ein erstaunlicher Haufen, viel heterogener als meine Inselgang. Carmen war zum Bleistift ein Wirbelwind. Kein Wunder bei einem spanischen Vater. Ok, das war ein Vorurteil, aber es passte perfekt. Biene hingegen war die Tiefgründige. Sie sagte nicht viel, aber wenn sie etwas sagte, meinte man, einen messerscharfen Verstand aufblitzen zu sehen.
Ich glaube es stimmt, wenn man sagt, dass Mädchen früher reifer werden als Jungs. Sven, Tim und Dirk wirkten gegen die Mädels kindlicher. In einem absolut positiven Sinn. Sie waren unbefangener. Dirk ging voll in der Liebe zu Biene auf. Die beiden bildeten ein perfektes Paar. Sven war der Typ Mister Cool, obwohl ich ihm das nicht ganz abnahm. Die größte Unbekannte in der Gleichung blieb Tim. Er hatte die Rolle des Strahlemanns abonniert, die personifizierte Fröhlichkeit. Aber da war mehr. Er war der Typ, den man leicht unterschätzt. Nach außen der fröhliche Typ, nach innen ... Ich spürte eine tiefe Unsicherheit. Mir war, als wenn er mich heimlich mustern würde. Es mag Einbildung gewesen sein, aber er schien sehr merkwürdige Schwingungen zu verströmen. Angst. Angst vor mir?
Nicht, dass irgendwas davon konkret greifbar gewesen wäre. Es war nur dieses Gefühl. Wir unterhielten uns den ganzen Nachmittag. Zum Abend war ich wirklich froh, meine Behausung verlassen zu haben. Und das im doppelten Sinn: Ich hatte sowohl meinen Bungalow, als auch mein emotionales Schneckenhaus verlassen. Ich fühlte mich wohl. Wirklich wohl. Endlich.
Thimo, du hattest Recht. Wie immer. Danke!
»Essen?«, eine ausgesprochen gute Frage, die von Tim gestellt wurde.
»Ja! Liberty?«
»Super!«
»Könnte mir das mal jemand übersetzen?«
Also, Liberty steht für Libertypizza und ist ein Relikt aus den Tagen, als Berlin noch geteilt und der Süden der amerikanische Sektor war. Ein Ami hat dort einen Pizzaladen aufgemacht. Ich kann nur sagen: vergesst alles andere. Die Dinger sind genial. American Deep Dish at its best!
Ein bisschen S-Bahn fahren, ein bisschen Fahrrad fahren und wir waren dort. Bestellt, gewartet, genossen. Die Pizza hielt, was mir versprochen wurde. Satt und zufrieden radelten wir zurück.
Dirk ergriff das Wort: »Sagt mal, was meint ihr. Wollen wir Svenni Zwo bei uns aufnehmen.«
»Ja. Er ist süß!«, das kam - natürlich - von Katja. Ich schrie innerlich um Hilfe.
»Wenn er denn will ... Will er denn?«
Die Frage ging an mich.
»Warum nicht ... Wenn ihr mich denn wollt.«
»Nein. Wollen wir nicht! Deswegen fragen wir dich ja ...«
Hm, offensichtlich war ich nicht der Einzige, der mit Zynismus auf Du stand.
»Natürlich wollen wir dich ... Insbesondere Katja ...«
»Oh ... äh ... tja ...«, bei meiner Gesichtsfarbe hätte sich jede Tomate ihres Namens geschämt.
Aber immerhin, ich hatte Anschluss gefunden. Uff, eine Sorge weniger. Die Sache mit Katja würde sich auch noch klären. Hoffentlich.
»Leute. Ich freu' mich. Danke. So ganz alleine ist es doch etwas ätzend. Wie ist's? Wollt ihr noch mit zu mir kommen und noch ein bisschen abhängen?«
»Ich dachte schon, er fragt uns nie. Deine Hütte will ich auf jeden Fall sehen!«
Unter diesem und ähnlichen Begeisterungsstürmen radelten wir zu mir. Kurze Zeit später saßen wir auf der Terrasse. Ich checkte kurz alles mit meinen Eltern durch. Wie Eltern so sind, immer besorgt um ihren kleinen, waren sie ganz begeistert, dass ich ein paar neue Freunde gefunden hatte.
»Und, ist jemand für dich dabei?«
»Mami!«, ich wurde knallrot. »Bitte sag' nichts!«
»Ist schon ok, du wirst das schon machen ... Aber der Kurzhaarige ist doch niedlich ...«
»Mami! Bitte!«, sie meinte natürlich Tim und hatte Recht: Der wäre wirklich was für mich, aber leider hetero.
Sie hatte leicht reden. Es war schon erschreckend, wie schnell ich in meine alten Verhaltensmuster zurückfiel und den hetero mimte, aber jetzt gleich am Anfang mit der Tür ins Haus fallen wollte ich auch nicht. Ich konnte mir gut vorstellen, dass das Wort dieser Gruppe in meiner neuen Klasse einiges an Gewicht haben dürfte. Wenn ich den Start jetzt durch übereilte Offenheit verbocken würde, könnte das verdammt nach hinten losgehen. Auf der anderen Seite, mich selbst verleugnen? Unschlüssig hin- und hergerissen zwischen Vorsicht und Anspruch entschied ich mich für den üblichen faulen Kompromiss: erst mal abwarten und beobachten.
»Deine Hütte ist super! Ich würde meinen kleinen Bruder verkaufen, um sowas zu bekommen.«
»Tim, erzähl keinen Scheiß. Das würdest du nie übers Herz bringen. Tim liebt seinen kleinen Bruder abgöttisch. Aber dein Laden ist wirklich nett. Vor allem so ungestört, wenn man mal zu zweit allein sein will ...«
Ich wurde rot.
»Und gibt es jemanden auf Fehmarn, der jetzt mit gebrochenem Herzen zurückgeblieben ist.«
Ich wechselte von rot auf knallrot und meine Augen wurden etwas feucht, konnte aber nichts sagen.
»Ey, Entschuldigung, Svenni tut mir leid. Das war instinktlos ... Ich wusste nicht ...«, Tim war ganz verstört und verlegen, als er merkte, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. Da war es wieder. Kurz flackerten diese Vibrationen auf: Tim hatte Angst vor mir. Warum? An seiner Reaktion merkte ich, dass hinter der fröhlichen, frechen Person ein Mensch mit Tiefgang steckte. Aber da war noch mehr verborgen.
»Is' schon ok. Das konntest du nicht wissen. Ich erzähl's ... irgendwann ...«
Der Abend wurde lang. Meine Mutter versorgte uns mit Getränken und kleinen Happen. Wir quatschten über Gott und die Welt. Irgendwann war es ein Uhr nachts. Es herrschte allgemeine Aufbruchsstimmung.
»Habt ihr's auch nicht zu weit? Ich hab' sonst Platz. Wenn jemand hier pennen will ...«
Die Idee entsprang nur der Höflichkeit, ich hätte nie damit gerechnet, dass jemand darauf reagieren würde. Die Mädels reagierten nicht. Dirk wohnte eh zwei Häuser weiter. Aber Tim und Svenni schauten erst sich an, und dann mich und fragten gleichzeitig.
»Echt?«
»Nein, ich sag' sowas nur, um euch zu verarschen!«
Zwei blöd, dümmlich-fragend dreinschauende Jungs glotzten mich an.
»Ja ihr Torfnasen. Noch mal in Fettdruck: Ihr könnt hier pennen. «
»Suhpah!«
Svenni hätte noch gut zwanzig Minuten, Tim sogar eine halbe Stunde Weg vor sich gehabt. Die dankbaren Gesichter der zwei zeigten, dass sie wirklich keine große Lust auf nächtliche Fahrradtouren hatten, und ich lernte daraus, dass In der Nähe wohnen in Berlin ein eher relativer Begriff ist.
2.2. Nackte Tatsachen am Morgen
»Shit! Mo-La hat wieder zugeschlagen«
Tim war als erster wach geworden. Die Fensterfront meines Wohnzimmers lag übers Eck. Ich konnte eine Schiebetür an der linken und eine andere an der Stirnseite zur Seite schieben. Beide Türen trafen sich genau in der linken Zimmerecke, die nach Südosten zur Terrasse lag. Viele Worte kurzer Sinn: Die Sonne knallte durch die östliche Fensterfront ins Zimmer und schien direkt in Tims Augen.
Sven und ich wurden auch grade wach. Während ich noch dabei war, mir den Schlaf aus den Augen zu reiben, nestelte Sven unter seiner Bettdecke rum.
»Uff, bei mir auch. Und nu?«
Die beiden warfen sich hinterhältige Blicke zu, grinsten und schauten mich mit einem gewissen Gesichtsausdruck an, den ich nicht deuten konnte. Eigentlich verstand ich nur Bahnhof.
»Wer ist Mola?«
Der Fernseher war aus; den gleichnamigen VIVA-Moderator konnten sie daher wohl kaum meinen.
»Nicht Mola. Mo-La, die Morgen-Latte!«
»Die Morgen ... Was?«, ich bekam schlagartig eine sehr gesunde Gesichtsfarbe.
»Oh schau mal. Unser Surfboy wird rot. Wenn das Katja sehen könnte.«
Meine Gesichtsfarbe verschob ihr Farbspektrum weiter ins Dunkelviolette. Am frühen Morgen werde ich ungern verarscht.
»Och Svenni. Nicht aufregen ... übrigens, deine Bettdecke hat ebenfalls eine deutliche Wölbung.«
Oops, wo er Recht hat, hat er Recht. Mein kleiner Svenni war hellwach. Naja, zwei gut aussehende Jungs mit kaum einem T-Shirt und Shorts respektive Slip bekleidet konnten nicht ohne Wirkung bleiben. Alleine stört mich so eine Morgenlatte nicht. Ich meine: Man kann sich ja schnell Erleichterung verschaffen. Aber doch nicht mit den beiden Jungs im Zimmer. Das geht doch nicht.
»Sei froh, dass Dirk nicht da ist. Der würde einen Biovortrag halten und dir haarklein erklären, dass es sich dabei um eine normale Körperfunktion handelt, die ... Ach egal, ich bin ja nicht Dirk. Sag mal, kann ich kurz duschen?«
Ich wollte gerade ja sagen, da stand Tim auch schon auf. Sein T-Shirt war etwas hochgerutscht und gab einen Blick auf seinen Bauch frei. Hmm, lecker. Welch wohldefinierter Abdomen. Ein Anblick, der gleichzeitig bezauberte und mich quälte. Als wenn Tim meine Gedanken erraten hätte, setzte er noch einen drauf und zog sein Shirt aus. Der Anblick war noch besser als gestern am See, einfach atemberaubend. Mein Unterkiefer klappte runter.
»Svenni. Ich hätte da noch 'ne Frage: wo hast du Handtücher? Und könntest du uns T-Shirts, Unterhosen und Socken leihen? Du bekommst die Sachen auch gewaschen wieder oder wir kaufen dir neue.«
Wie ein Karnickel im Scheinwerferlicht stierte ich Tim an und war wie gelähmt. Ich konnte einfach nicht glauben, was vor meinen Augen ablief. Ein absoluter Traumtyp zieht sich vor mir bis auf die Unterhose aus und tut so, als wenn das das Selbstverständlichste auf der Welt ist. Verschärfend kam hinzu, dass seine Morgenlatte definitiv noch nicht abgeflaut war. Verstößt Psychofolter nicht gegen die Genfer Konventionen?
»Handtücher sind im Bad ...« (Regieanweisung: Worte nur kraftlos aushauchen)
»Fein ...«
»Nein, Tim tu es nicht! Bitte tu es nicht!«, das wären die Worte gewesen, die ich sagen wollte. Das hätte aber vorausgesetzt, dass ich überhaupt noch in der Lage gewesen wäre, etwas zu sagen. War ich aber nicht. Da ich also nichts sagte, passierte genau das, was ich unbedingt vermeiden wollte: Tim zog auch noch seine Unterhose aus und stolzierte mit stolz geschwellter Brust und ebensolchem Schwanz ins Badezimmer.
Mir wurde schwarz vor Augen.
Wäre mein Gehirn ein Windowsrechner, hätte man jetzt einen blauen Bildschirm mit der Meldung »Das System ist ausgelastet« gesehen. Ich kollabierte. Ich ließ mich zurück auf mein Kissen fallen. Die Welt vor meinen Augen fing an sich zu drehen. Das durfte doch alles nicht wahr sein.
Etliche Sekunden später merkte ich, dass jemand im Zimmer tierisch am Lachen war. Naja, Lachen wäre eine Untertreibung. Wiehern wäre passender. Sven hatte ich völlig vergessen. Er lag auf seiner Matratze und kringelte sich vor Lachen.
»Tröste dich, Svenni«, damit war ich gemeint »Das macht er immer so. Er liebt es, Leute mit seiner Freizügigkeit zu schocken.«
»Hat blendend funktioniert. Ich bin geschockt!«, knurrte ich zurück.
»Man kann wirklich nicht behaupten, dass Tim verklemmt ist.«
»Nee, wirklich nicht ... Macht er sowas häufiger.«
»Der Mann ist im Schwimmverein. Die scheinen da ziemlich locker drauf zu sein.«
Wenn er nur wüsste. Meine Lendengegend war von Tims Anblick nicht unbeeindruckt geblieben und hatte noch etwas zugelegt. Nur gut, dass ich noch unter meiner Decke lag. Das wäre mir mehr als peinlich gewesen und hätte wohl auch ein paar unangenehme Fragen aufgeworfen.
»Naja, was soll's ... Irgendwo hat er ja Recht. Es ist ja nicht so, dass man sowas noch nie gesehen hätte. Es sei denn, du ziehst dich nur im Dunkeln aus.«
Hm, das sagt er. Ich fand Tim schon sehr außergewöhnlich und vor allem verdammt anregend. Man hätte es auch so ausdrücken können: Tim war nicht der Typ, den ich von der Bettkante stoßen würde. Ganz im Gegenteil. Aber das waren müßige Gedanken, denn soviel stand fest: Tim und Sven mussten einfach hetero sein. Wer sich dermaßen ungezwungen vor anderen Jungs auszog, konnte nur hetero sein. Und noch viel schlimmer: Tim, und wohl auch Sven, mussten mich ebenfalls für absolut hetero halten. Wenn Tim auch nur ansatzweise etwas ahnen würde, wäre er garantiert niemals nackt vor mir rumstolziert. Womit mich ein altes Problem mal wieder eingeholt hatte: Soll ich es ihnen sagen oder nicht?
Auf meiner Insel war mein Coming-Out ganz gut gelaufen. Besser, als ich es je vermutet hatte. Aber da war auch Thimo bei mir gewesen. Ach, Thimo ... ich vermiss dich so. Mir fehlten seine Ratschläge. Mir fehlte seine Fähigkeit, zuhören zu können. Es war, als wenn mir eine Gehirnhälfte fehlte. Zusammen wussten wir immer, was zu tun war - und was nicht. Doch jetzt ... Ich war in meinem Leben noch nie so unsicher und unfähig eine Entscheidung zu treffen.
»Woran denkst du?«, Sven riss mich aus meinem depressiven Flashback.
»Ach!«, seufzte ich »An einen guten Freund ... Nein, eigentlich an meinen besten Freund ...«
»Er fehlt dir?«, trotz Fragezeichen klang es wie eine Feststellung.
»Hmm ...«
»Du hast Schwierigkeiten, dich bei uns einzuleben?«
Ich nickte: »Hm, ich hab' mein ganzes bisheriges Leben auf Fehmarn verbracht. Alle meine Freunde sind noch da. Die Insel ist, naja ... ziemlich übersichtlich. Jeder kennt jeden. Ich fühl mich einsam, einsam und verlassen...«
»Eine andere Stadt, andere Freunde ...«, Svens Stimme war sehr ernsthaft.
»Mmm ...«
»Hör zu. Egal was ist oder kommen mag. Auf Tim und mich kannst du immer zählen. Wirklich!«
Ich drehte Sven mein Gesicht zu und schaute ihm in die Augen. Völlig ernst erwiderte er meinen Blick und hielt ihm stand.
»Wirklich, Tim ist ok. Unterschätze den Idioten nicht. Ok, er kann nerven wie ne' Wurzelbehandlung, aber er ist der beste Freund, den man sich wünschen kann. Aufrichtig, verlässlich und immer für einen da, wenn man ihn braucht. Ich weiß, dass er dich mag. Ich übrigens auch. Also, was auch immer los ist, welche Probleme deine neue Heimat bereithalten mag, wir sind für dich da. Versprochen.«
»Wow! Ich weiß nicht was ich sagen soll?«
»Sag einfach nichts. Gute Freunde verstehen sich auch ohne Worte.«
Was passiert hier? Meine melancholische Stimmung war nicht vergessen, sie tat nur nicht mehr ganz so weh. Aber ...
Realitycheck. Ich kannte Tim und Sven knapp 15 Stunden und sie wollten schon meine neuen besten Freunde werden. Geht sowas überhaupt so schnell? Muss sich eine Freundschaft nicht erst entwickeln. Dumme Sache, ich konnte auf keine Erfahrungswerte zurückgreifen. Thimo, Kai, Maike, alle meine Freunde kannte ich seit Jahren. Unsere Freundschaft war immer eine Selbstverständlichkeit. Sie war einfach da. Wir waren mit ihr aufgewachsen.
Die Frage war also: Woran merkt man, dass jemand, den man gerade kennen gelernt hat, ein Freund sein könnte? Weiß man es einfach? Fühlt man es?
Es war schon merkwürdig, aber die Chemie zwischen Sven, Tim und mir schien zu stimmen. Soweit sagte mein Gefühl: Ja, das könnten echte Freunde werden. Aber wenn ich nun falsch lag? Bisher konnte ich mich immer auf meine Menschenkenntnis verlassen. Doch reicht das?
Man reichte mir eine Hand und es schien absolut ehrlich gemeint zu sein. Der Gegenwert war verlockend, ich konnte gute Freunde wirklich brauchen, doch der Preis war hoch. Denn wenn ich das Freundschaftsangebot akzeptieren würde, dann musste ich die mir entgegengebrachte Ehrlichkeit erwidern. Ich müsste es ihnen sagen.
»Hey, was'n mit euch los? Ist wer gestorben?«, Tim stand nackt im Zimmer. Er war vom Duschen zurückgekommen.
»Ich habe Svenni gesagt, dass er uns zu seinen Freunden zählen soll. Du weißt schon, wir hatten gestern noch darüber gesprochen.«
Tim war gerade dabei, auf einem Bein zu hopsen, um das Duschwasser aus seinen Ohren zu bekommen. Dass sein Schwanz, so nackt wie er war, im Takt mithopste, schien ihn nicht im Geringsten zu stören.
»Cool! Und was meint er dazu?«
»Er hat noch nix gesagt. Wir sind wohl nicht die Richtigen ...«, sagte Sven mit gespielt beleidigter Stimme.
Zwei fordernd, fragende Augenpaare waren auf mich gerichtet. Ich traf meine Entscheidung. Die einzige, die ich treffen konnte.
»Jungs, danke für das Angebot, aber ...«
»Du magst uns nicht ...«
»Sven, lass mich bitte aussprechen ...«
»Sorry! Mach weiter ...«
»Ok, wenn ich wirklich euer Freund sein soll, dann ... oh Shit, das ist schwer ... dann muss das auf absoluter Ehrlichkeit basieren. Von allen!«
Sven wollte etwas sagen, doch ein Blick von mir ließ ihn verstummen.
»Ok, vor allem heißt das: ich muss ehrlich zu euch sein ... Vielleicht mach ich jetzt den größten Fehler meines Lebens, aber egal. Also ihr zwei, ihr habt es nicht anders gewollt: Gentlemen, ich bin schwul.«
2.3. Katastrophenalarm
»Was'n hier los?«, Dirks Fröhlichkeit platzte in ein Katastrophengebiet.
»Ich wollt euch eigentlich zum Frühstück einladen, aber ihr seht nicht so aus, als wenn ihr überhaupt was essen wollt ... Außerdem, was habt ihr mit Tim gemacht? Er hat mich eben umgerannt, sprang auf sein Fahrrad und rannte davon. Mann, ich bin voll in den Modder gefallen und musste zurück, mich umziehen. Könnte mich also bitte jemand aufklären, was los ist? Und warum heulst du?«
Was war passiert. Vor 15 Minuten war mein frühmorgendliches Geständnis auf äußerst geteilte Begeisterung gestoßen. Sven Reaktion war voll positiv. Er grinste und meinte nur »Cool!«
Tims Reaktion fiel in die Kategorie Totalausfall. Sein fröhliches Gesicht versteinerte in Sekundenbruchteilen zu einer Grimmasse undeutbarer Emotionen. Er sagte kein Wort, zog seine und nicht die Klamotten an, die ich ihm rausgesucht hatte, und rannte aus dem Haus. Keine 16 Stunden nachdem ich neue Freunde gefunden hatte, war der Spaß auch wieder vorbei. Rekordverdächtig.
Im ersten Moment wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich starrte Sven an, bekam aber nur einen fragenden Gesichtsausdruck zurück. Tims Reaktion tat verdammt weh. Ich erwarte von niemandem, dass er Jubeltänze aufführt, wenn ich erzähle, dass ich schwul bin. Ich erwarte, dass es einfach akzeptiert wird. Es ist etwas, das ich nicht ändern kann und inzwischen auch nicht mehr ändern will. Aber Tims Verhalten ging an die Substanz. Ich bin noch nie mit einer derartigen Ablehnung konfrontiert worden, um so mehr schmerzte es.
»Und?«, ich hatte meine Sprache wieder gefunden, mehr aber auch nicht. Tims Reaktion hatte für ein emotionales Vakuum gesorgt. Mein Kopf war leer. Ich hätte Wut, Zorn, Trauer empfinden sollen, aber da war nix, nur Leere.
»Du meinst, ob es falsch war, es zu erzählen?«
»Das auch ...«
»Von meiner Seite her, nein. Ganz im Gegenteil. Ich fühl mich geschmeichelt, geehrt ... Mann, dass du mir nach so kurzer Zeit so viel Vertrauen entgegenbringst. Das ist heftig. Ich wäre echt stolz darauf, dein Freund sein zu dürfen ... ähm, du weißt schon, Freund nicht Freund ... Ich mag halt Frauen ... Obwohl du verdammt gut aussiehst ...«
Beim dem Wort Freund huschte ein verlegenes Grinsen über Svens Gesicht. In Sven hatte ich mich immerhin nicht getäuscht.
»Danke! Ich weiß, wie du es meinst ...«, und fühlte mich ein Stück weit besser.
Sven stand auf und umarmte mich. Ich konnte mir eine kleine Freudenträne nicht verkneifen.
»Bruder?«
»Bruder!«
»Du siehst zu viele amerikanische Filme.«
»Du aber auch, Bruder !«
Wir mussten beide grinsen. Nach einer kleinen Ewigkeit lösten wir unsere Umarmung.
»Wow! Svenni?«, damit war ich gemeint »Sag' mal, weißt du eigentlich, was du für eine Ausstrahlung hast? Huh, ich spüre was ...«
»Oh, äh, tut mir Leid ...«
»Nein, das muss es nicht. Aber du hast eine Wirkung und weckst Gefühle, wie ich sie bisher nur bei Frauen gespürt habe. Kann es sein, dass du Tim unbewusst Signale zugesandt hast, die ihn verunsichert haben? Dein Geständnis vorhin, vielleicht hat ihn das aus der Bahn geworfen?«
Der wiederkehrende Gedanke an Tims Reaktion sorgte dafür, dass mein Grinsen einem traurigen Gesichtsausdruck wich.
Ich nickte »Warum? Er ist hetero. Er hat selbst von seinen Freundinnen gesprochen. Außerdem, du bist auch nicht kommentarlos weggerannt ... Es ist so frustrierend. Es ... es ... Es tut mir leid. Ich hätte nicht davon anfangen sollen. Oh, Shit, was hab' da wieder angerichtet ...«
Ich spürte, wie die Enttäuschung über Tims Verhalten sich langsam in meinen Verstand voranfraß und den Weg für neue Selbstzweifel ebnete. Mir war elend zumute und mir wurde übel.
»Es war ok! Du hast solche Reaktion nicht verdient. Glaub mir, das ist nicht der wirkliche Tim. Ich weiß auch nicht, was in ihn gefahren ist. Mann, ich kenn ihn ... lass mal überlegen ... 6 Jahre, ja genau, gut 6 Jahre. Sowas hab' ich bei ihm noch nie erlebt ...«
»Wird es Probleme geben? Wird er Probleme machen?«
Sven schüttelte den Kopf »Du meinst, ob Tim dich bloßstellt oder sowas. Nein, niemals ... Ich vermute, Morgen tut„s ihm schon wieder leid. Aber was ganz Anderes: Wie stehst du denn sonst dazu? Offiziell meine ich ...«
»Naja, vor ein paar Wochen hatte ich mein offizielles Coming Out. Wenn man es so nennen will. Mein Freund und ich haben uns vor unsere Freunde stellt und naja ... Here we are! Aber eigentlich halt ich es für eine Privatsache. Ich renn nicht rum und erzähl es jedem, egal ob er es wissen will oder nicht. Bei Freunden ist es was anderes. Wie gesagt, ihr habt einen Anspruch auf Ehrlichkeit. Das ist das, was ich unter Freundschaft verstehe, dass man sich gegenseitig alles sagen kann.«
Ich erzählte kurz von Thimos und meiner Abschiedsparty, von Kai, Anne, Maik und Maike und natürlich von Jan und Felix.
»Die Bombe auf der Party platzen zu lassen war sicherlich etwas krass. Aber Thimo und ich fanden die Idee cool. Ein kleines Abschiedsgeschenk an die Insel. Was soll's, die meisten Leute werd' ich eh nie wieder sehen. Also ein kalkuliertes Risiko. Eigentlich waren mir dir Reaktionen scheißegal. Wenn es jemanden sauer aufgestoßen wäre, sein Problem. Who cares? Aber, oh Wunder, es lief super. Aber hier? Berlin ist wie der Anfang eines neuen Lebens. Das nächste Kapitel. Thimo ist weg. Ich fühl mich einsam und unsicher ... Und jetzt Tim ... Ich weiß einfach nicht ...«
»Du hast einen Freund! Ich bin nicht weggelaufen. Also Kopf hoch ...«
»Mann, Svenni, danke. Ich werd mich revanchieren. Versprochen!«
»Das brauchst du nicht. Wir sind Freunde ... Ehrlich!«
»Shit, ich muss was gegen meinen Tränenfluss tun.«, meine Nerven lagen blank. Svens Freundschaft wirkte wie Balsam, aber Tim hatte mich härter getroffen, als ich vermutet hatte.
»Was'n hier los?«, Dirks Fröhlichkeit platzte also in das Katastrophengebiet. Weder Sven noch ich sagten irgendwas. Ich hatte immer noch feuchte Augen und Sven saß auf der Bettkante seiner Liege, den Kopf auf seine Hände gestützt, und dachte nach.
»Was ist los?«
Keine Antwort. Ich schaute von meinem Bett traurig zu Dirk rüber und wollte etwas sagen, brachte aber nur ein Seufzen raus.
»Ok, ihr zwei. Wenn ihr nicht sprechen wollt, dann müsst ihr halt zuhören.
Dirk schnappte sich einen Stuhl, drehte die Lehne nach vorne und setzte sich direkt in die Blicklinie, die zwischen Sven und mir lag. Dirk schien zu überlegen, er schaute von Sven zu mir und wieder zurück, nickte und schaute dann auf den Boden vor sich.
»Ok, es muss irgendwas zwischen unserem neuen Inselboy und Tim vorgefallen sein.«
Dirk schaute mich direkt an. Ich nickte.
»Etwas, das ihn verdammt aus der Bahn geworfen hat ... übrigens siehst du auch ziemlich Scheiße aus, wenn ich das mal so in den Raum werfen darf ...«
Ich nickte. Dirks Beobachtungen waren zutreffend. Mir gefiel die Richtung seiner Überlegungen gar nicht.
»Weiter. Unser Svenni hier schaut zwar trübe drein, scheint aber nicht wirklich persönlich involviert.«
Wo nahm der Mann diese geschwollenen Redewendungen her. Aber Recht hatte er. Leider.
»Svenni, habt ihr das getan, wovon wir gestern sprachen ... Habt ihr unserem Inselboy unsere Freundschaft angeboten?«
Sven nickte.
»Und, hat er ja gesagt?«
Sven schüttelte seinen Kopf für ein sehr heftiges Ja.
»Er hat also mehr als nur ja gesagt?«
Wieder ein Nicken. Bitte Dirk, geh' nicht weiter. Lass es! Bitte! Ich ahnte, wohin uns das führte.
»Darf ich mal eine Vermutung äußern?«
»Nein! Lass es«, ich war von mir selbst überrascht. Dirk saß immer noch zwischen mir und Sven. Ich sah ihn an und versuchte in seinen Augen zu lesen. Er nickte kaum merkbar, schloss kurz die Augen und nickte. Ich verstand, was er sagen wollte: ,Es ist gut ... Du bist unter Freunden. Glaub es endlich!`
»Ok, äußere deine Vermutung?«
»Es ist mehr eine Frage ... Bitte Inselboy, sei nicht sauer ...«
Ich nickte: »Nein, heute nicht mehr ...«
»Sven, bist du schwul?«
Und erneut war mein Nicken da.
»Ja ...«, seufzte ich. »Woher ...«
»Biene.«
Natürlich, Biene, Dirks Freundin. Sie war der Typ, der sowas merkte. Ihrem messerscharfen Verstand und ihrer exzellenten Auffassungsgabe blieb wohl nichts verborgen.
»Und?«
»Nichts und. Ich schätze mich glücklich, in einer festen heterosexuellen Beziehung zu leben. Meine sexuelle Selbstdefinition ist gefestigt. Du hast also keine Chancen bei mir ...«
»Dirk was soll der Scheiß? Wir kennen uns zwar erst seit knapp 16 Stunden, aber solchen Mist ...«
Ich hätte es besser wissen sollen. Dieser Idiot wollte mich nur aufziehen. Kaum war ich explodiert, grinst mich dieser blöde Kerl an und steckt mir die Zunge raus.
»Du ... du ... du bist ein Torfkopf ...«, er hat es erreicht, ich musste lachen.
»Ok Inselboy! Sven! Zeit zum Frühstücken. Kommt zu mir rüber und dann bereden wir alles. Biene ist auch da.«
»Du meist wohl, Biene ist noch da.«
Für diesen Spruch handelte sich Sven einen Knuff in die Seite ein. Wenn man den selig-glücklichen Ausdruck in Dirks Augen sah, wusste man, dass Sven voll ins Schwarze getroffen hatte.
»In 15 Minuten seid ihr bei mir! Los, kommt in die Puschen! Keine Widerrede!
2.4. Ein Arbeitsfrühstück
Da Sven und ich noch duschen wollten, brauchten wir zwanzig Minuten. Im Gegensatz zu Tim nahm Sven meine Klamotten dankbar an. Wir verließen den Bungalow und gingen den Steinweg zur Straße runter. Die Carports meiner Eltern waren leer. Paps war schon zur Arbeit, Mum wohl einkaufen oder irgendwelche anderen Besorgungen machen.
Das Haus von Dirks Eltern lag tatsächlich nur zwei Hausnummern weiter. Eine schöne, mit Efeu überwucherte Gründerzeitvilla, die von seiner Familie, das heißt Dirk, seiner kleinen Schwester, seinen Eltern und seiner Oma, bewohnt wurde. Seine Oma und Dirk bewohnten den ersten Stock, der in zwei unabhängige Wohnungen unterteilt war.
Dirk erwartete uns an der Haustür und führte uns in die Wohnung seiner Eltern. Biene und eine Frau um die 35 saßen am Frühstückstisch.
»Mum, darf ich vorstellen. Das ist unser Inselboy alias Sven II, der Junge aus dem hohen Norden ...«
»Guten Tag Frau Hohlbein. Hallo Biene.«
»Guten Tag Sven. Bitte, nenn mich Katrin. Frau Hohlbein klingt so alt. Du bist also unser neuer Nachbar?«
»Äh, ja, naja, eigentlich meine Eltern und ich.«
»Deine Mutter habe ich schon getroffen, eine sehr nette Frau. Naja, frühstückt erst mal ... Dirk, lass die Sachen einfach stehen. Ich räum das nachher weg.«
»Ay, Mum.«
Und weg war sie. Eine nette, warmherzige Frau.
»Biene, du hast Recht!«, warum sollte ich es verheimlichen. Es wussten ja eh schon alle, also warum einen Aufstand machen.
»Und kommst du damit klar.«
»Hättest du mich vor einem Jahr gefragt, nein. Aber inzwischen hab' ich damit kein Problem mehr. Das Problem hat einen anderen Namen: Tim.«
»Tim?«
Dirk, Sven und ich erzählten Sabine, was passiert war. Biene hörte zu, sagte aber erst mal nichts. Ganz im Gegenteil, die gute Frau langte erst mal ordentlich bei den Brötchen zu. Ich war irritiert und zitterte und Biene schmierte sich Butter und Honig aufs Brötchen. Wo nahm die Frau diese Nerven her? Ich sah Dirk fragend an. Mit einer beruhigenden Handbewegung deutete er mir, abzuwarten. Biene kaute ihr Brötchen. Ihre Augen machten einen nach innen gekehrten Eindruck. Biene war mit ihren Gedanken weit weg. Nachdenklich schaute sie aus dem Fenster in den Garten, nahm ihn aber nicht wirklich wahr.
»Das kann dauern ... Leute, esst was.«, sprach Dirk und langte selbst kräftig zu.
Katrin war eine tolle Mum, zumindest was das Frühstück betraf. Kaffee und Tee, Brötchen, Wurst, Honig, Marmelade, Käse, Eier und, Wahnsinn, mein Lieblingsfrühstück: Dänische Curryheringe.
»Sven ...«, Biene war aus ihren Gedanken aufgetaucht und schaute mir in die Augen.
»Ja?«
»Erzähl etwas über dich. Ich will dich kennenlernen. Wenn du willst ... Du musst nicht ...«
»Hmmm ...«
»Also Sven Jacobsen, wer bist du?«
»Ich bin Sven Jacobsen. Ich werde in drei Wochen 16 Jahre ...«, und so breitete ich mein bisheriges Leben vor Sabine, Dirk und Sven aus. Ich weiß nicht warum. Wie lange kannte ich die drei? Rund 17 Stunden, mehr nicht. Aber ich fühlte, dass es richtig war. Ich vertraute den drei. Warum? Ich wusste es nicht.
Biene hörte zu. Ich kenne nur wenige Leute, die einem wirklich zuhören können. Zuhören ist eine Gabe. Biene besaß diese Gabe. Ich öffnete mein Herz, so wie ich es nur wenigen, eigentlich nur einer Person bisher gegenüber geöffnet hatte. Noch vor zwei Monaten wäre das der absolute Horror für mich gewesen. Aber das war Geschichte.
»Tja, das war's. Jetzt sitz ich hier und habe dir mein Leben erzählt. Mehr gibt es nicht.«
Biene strahlte mich an: »Svenni, du hast etwas magisches an dir. Du kannst Menschen verzaubern. Ich liebe dich.«
Ich lief rot an. So einen Unsinn hatte ich noch nie über mich gehört.
Dirk wurde maulig: »Hey! Und was ist mit mir?«
»Dirk, halt's Maul. Du weißt, wie ich es meine.«
»Ja, Schatz.«
»Ich kann verstehen, dass Thimo sich in dich verliebt hat. Du hast etwas an dir ... Mir fällt kein besserer Begriff als magisch ein...«
»Oh, mein Gott. Bin ich solch eine Tunte?«
»Shit nein. Ganz im Gegenteil, ein ganzer Kerl dank Chappi. Ich glaube, das Letzte, für das man dich hält, ist schwul.«
»Du hast es gewusst.«
»Treffer! Aber das ist was anderes ... Du wirst in der Schule massiv Probleme mit dem weiblichen Geschlecht bekommen. Die Hühner werden sich gegenseitig die Augen ausstechen, um an dich ranzukommen. Du bist so verdammt süß.«
Biene strahlte mich an; mein Gesicht wurde noch ein paar Schattierungen roter.
»Äh, Biene ... Ich ... Ich ...«, meine Sprache war mal wieder weg. Ich meine, was hätte ich auch sagen sollen. Halt, eine Frage war da: »Wieso ist es bei dir etwas anderes?«
Sabines Blick verfinsterte sich, sie wirkte mit einem Mal sehr traurig. Sagte aber nichts.
Dirk sprang ein: »Ihr Patenonkel war schwul. Er starb vor fünf Jahren an HIV. Sabine war dabei. Sie und sein Freund ... Keiner aus der Familie war da ...«
Ich war entsetzt: »Da warst du erst 11 ...«
Ich hatte miterlebt, wie Thimos Vater starb, aber da war ich schon 15 und es hat mich trotzdem fast aus der Bahn geworfen. Ich ahnte, woher Biene diese Tiefe bezog. Von allen anwesenden Menschen im Raum war sie mit Abstand die Reifste.
»Sven, das ist wichtig. Sei immer vorsichtig. Bitte.«
Ich konnte nur nicken, wieder einmal. Wir saßen da, starrten auf den leergefressenen Frühstückstisch und hingen unseren Gedanken nach. Ich schaute aus dem Fenster. Die Sonne hatte sich verzogen, dunkle Wolken zogen auf. Ich hatte schon vorher gemerkt, dass die Luft schwül war. Es würde bestimmt noch ein Gewitter geben.
»Dirk, du hast noch nichts gesagt.«
»Muss ich das? Du bist hier. Ich bin nicht weggerannt. Biene liebt dich. Es ist Ok.«
Unsicher schaute ich Dirk an, der mich daraufhin mit einem fetten Grinsen bedachte: »Komm her, Alter. Du bist ab sofort Mitglied der Family, Bruder!«
Es folgte die obligatorische Umarmung: »Bruder!«
»Was ist mit Tim?«, Sven brachte den Grund für die trübe Stimmung zurück.
»Lasst ihn! Ich habe da so meine Idee. Ich muss noch ein paar Dinge klären. Vertraut mir und macht einfach nichts. Ich kläre das!«
Biene hatte gesprochen, und wenn Biene gesprochen hatte, tut man gut daran, sich rauszuhalten. Oder wie Dirk es ausdrückte: »Komm ihr nie in die Quere oder du bist gefickt. Ich spreche da aus Erfahrung. Aus leidvoller Erfahrung.
2.5. Mein erster Schultag
Die nächsten Tage vergingen ohne besondere Vorkommnisse. Ich hing mit Dirk, Biene und Svenni rum. Tim ließ sich nicht blicken. Dirk und Sven hatten auch nichts von ihm gehört, unternahmen aber auch keine Versuche, das zu ändern. Sabine hatte eindeutige Anweisungen gegeben.
Ich lernte die drei immer besser kennen und schätzen. Sie waren echte Freunde. Wir nutzen unsere letzten Ferientage, um die Stadt unsicher zu machen. Ich lernte Berlin von seiner Alltagsseite kennen, nicht die Touristentrampelpfade, sondern das wirkliche Leben. Außerdem half es mir, nicht an Tim zu denken. Eine meiner größeren Herausforderungen war der Nahverkehr. Es dauerte eine Weile, bis ich mich im gigantischen Liniennetz von U- und S-Bahn zurechtfand. Am letzten Samstag war ich mit Sven am U-Bahnhof Alexanderplatz verabredet gewesen, es dauerte mehr als eine viertel Stunde bis ich den richtigen Ausgang fand.
Berlin hat tolle Clubs. Wir genossen unser letztes Ferienwochenende und besuchten den einen oder anderen Laden. Dirk versuchte ständig mich mit irgendwelchen Jungs zu verkuppeln, aber sein Geschmack, was Männer anbetrifft, ist gruselig. Er sollte besser bei den Frauen bleiben. Naja, vielleicht war sein Geschmack gar nicht so schlecht und ich tat ihm Unrecht, aber jeden attraktiven Jungen verglich ich mit Tim. Keiner konnte im Vergleich bestehen.
Dann war es soweit. Montag 6 Uhr 30, der Wecker riss mich aus meinen Träumen. Die Ferien waren zu Ende und mein erster Schultag stand bevor.
Dirk holte mich gegen halb Acht von zu Hause ab. Wir hatten gut eine viertel Stunde Fußweg vor uns. Die Luft war angenehm. Es hatte in der Nacht geregnet. Die Straßen waren noch feucht, aber die Sonne heizte schon gut ein.
Vor der Schule trafen wir Sven, Sabine, Katja und Kim.
»Hallo Surfboy, erinnerst du dich noch an mich.«
»Katja, wie könnte ich dich vergessen haben?«, rette mich bitte jemand vor dieser Frau.
Es gab das übliche Gesprächsgeplänkel, wenn man sich nach den großen Ferien wieder trifft. Unsere Gruppe wurde von den unterschiedlichsten Leuten gegrüßt und zurückgegrüßt, darunter auch ein paar schnuckelige Jungs. Ich merkte, dass man mir besondere Aufmerksamkeit spendete: ,Ach das ist der Neue?`
Wir suchten und fanden unser Klassenzimmer. Der Raum war schon gut mit Schülern gefüllt. Mein Pech war, dass Biene, Dirk und Sven ihre festen Sitznachbarn hatten. Ich suchte mir daher in den hinteren Reihen einen leeren Platz und harrte der Dinge, die da kommen würden.
»Du bist Sven? Ok, ich geb' dir einen Rat. Finger weg von Kim. Die Kleine gehört mir. Klar?«, ein Tier von Kerl hatte sich vor mir aufgebaut. Sein T-Shirt platzte fast vor Muskelpaketen. Er hatte Oberarme wie manche Leute Schenkel, außerdem hatte er einen lächerlichen Goaty, schlecht blondierte Haare, und schien sich für unwiderstehlich zu halten. Alles an ihm wirkte gewollt cool, war aber nur peinlich. Der Prototyp eines Prolls mit Geld. Er war mir definitiv nicht sympathisch.
»Rolf, verpiss dich!«, kam es von Sven. Der Muskel namens Rolf knurrte, warf mir einen bösen Blick zu und trollte sich.
Die Schulklingel klingelte. Die Dinger klingen wirklich überall gleich scheußlich.
»Morgen Kids!«, das war Dr. Volker Rüdiger, Klassenlehrer der 10c mit den Fächern Deutsch und Geschichte, und definitiv ein APO-Opa. Ich brauchte keine zwei Sekunden, um das zu erkennen. Dieser Mensch von Lehrer verströmte jenes unverkennbare Aroma eines linksfühlenden Alt-68igers. Jede Faser seines Körpers eine Botschaft, eine Berufung: Kinder, ich bringe euch Bildung.
Es hätte schlimmer kommen können. Im Allgemeinen ist dieser Typ Lehrer harmlos und leicht zu nehmen. Man muss nur die richtigen Knöpfe auf ihrem Ego drücken und schon werden sie handzahm. Schlimmer sind die in ihrem Job verbitterten Typen, die ihren Frust an den Schülern auslassen. Aber Doc Rüdiger schien eher der fröhliche Typ zu sein, der sich seine Ideale noch bewahrt hatte. Hauptsache er war kein Dogmatiker, die hatte ich gefressen.
»Sie sind sicherlich Sven, Sven Jacobsen?«
»Ja ...«, worauf lief das hinaus.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, sich etwas weiter vorn hinzusetzen? Neben Tim ist noch ein Platz frei.«
Schluck!
»Eigentlich würde es mir was ausmachen ...«, ein Raunen ging durch die Klasse, aber wie hätte ich erklären solle, dass der Platz neben Tim genau der war, den ich im Moment am wenigsten wollte.
»Ok, Ihr Unwille ist zur Kenntnis genommen. Ich muss mich daher bei Ihnen entschuldigen. Da Sie, Sven, es nicht freiwillig machen, muss ich Ihnen leider die Anweisung geben, es zu tun. Also bitte ...«
»Ok ...«
Das fing ja gut an. 10 Sekunden und ich hatte es mit meinem Klassenlehrer verschissen. Ich packte meinen Rucksack und setzte mich zu Tim. Der sagte kein Wort, sondern schaute mich nur unsicher und ängstlich an. Für zwei Herzschläge setzte mein Puls aus, ich hatte ganz verdrängt, wie süß der Typ aussah.
Die erste Stunde nach den großen Ferien schien in allen Schulen gleich abzulaufen: Etwas Verwaltungskram, Wahl des Klassensprechers, Ausgabe des Stundenplans und und und ... Immer das Gleiche. Das gab mir Zeit, mich in der Klasse umzusehen.
Das Offensichtlichste war: Die Klasse war mit 33 Schülern sehr groß. In meiner alten Schule waren wir nie mehr als 28. Einer der ersten Amtshandlungen von Doc Rüdiger galt der Aufstellung der Tische. Er wollte eine U-Form und bekam sie auch. Der Klassenraum war so typisch wie langweilig. Stirnseite mit Tafel, eine Fensterseite, eine lange Wand mit Tür und die Rückwand. Ich landete mit Tim an einem Tisch parallel zur Seitenwand, was mir einen guten Überblick über die gesamte Klasse gab.
Männlein und Weiblein waren ungefähr gleich verteilt. Der erste Eindruck, den meine Mitschüler machten, war Geld. Dies war keine Schule für Leute ohne Geld, und wenn man keins hat, so zeigt man es nicht. Ich habe selten so markenfixierte Kiddies gesehen. Ein echter Abtörner. Wo bleibt denn das eigene Ego, wenn man sich über die Marken seiner Klamotten identifizieren muss? Soweit waren mir die Leute erst mal unsympathisch. Obwohl, kann man seinen Eltern vorwerfen, dass sie Kohle haben?
Als Nächstes versuchte ich, mir die Namen einzuprägen. Ok, ich geb's zu, bei den Jungs gelang mir das leichter als bei den Mädels. Die linke, vordere Fensterecke wurde durch eine Gruppe von 5 Mädels dominiert. Zwei Namen konnte ich mir merken, Simone und Ilka. Sie bildeten die Style-Fraktion: was ist In und was nicht. Diese Ladys legten es fest. Unumstößlich.
Die hintere Fensterecke wurde von Akim, Tarek und Erkan ausgefüllt. So ganz war ich mir ihrer Abstammung nicht sicher, meine Vermutung lag irgendwo bei Libanon oder Syrien. Später klärte mich Dirk auf: Tarek und Akim waren tatsächlich Libanesen, während Erkan ein waschechter Berliner war. Sein Großvater kam aus dem europäischen Teil der Türkei. Sein Vater unterhielt eine Zahnarztpraxis in Schöneberg. Sagte ich schon, dass die Kids nach Geld stanken? Naja, beim Background meines Vaters war ich auch nicht viel besser als der Rest. Trotzdem war es mir unangenehm.
Eine ganz andere Gruppe von Jungs schichtete sich um Rolf, dessen unerfreuliche Bekanntschaft ich am Anfang der Stunde gemacht hatte. Mein erstes oberflächliches Urteil war: viel Muskeln, wenig Hirn. Rolf und seine Jungs, André und Sascha, waren eine Beleidigung für Augen und Ohren. Ich hab' nichts gegen muskulöse Jungs einzuwenden, ganz im Gegenteil. Aber irgendwann ist eine Grenze überschritten, dann sieht es einfach Scheiße aus. Diese drei hatten jene Grenze weit überschritten.
Natürlich sahen sie selbst das ganz anders. Die drei hielten sich für die unwiderstehlichsten männlichen Wesen der gesamten Klasse. Und so benahmen sie sich auch. Zu laut und zu vulgär. Rolf hatte zusätzlich noch eine unerträgliche Arroganz für sich gepachtet. Mit einem Wort: ein Kotzbrocken. Super, ich hatte mein erstes Feindbild. Was will man mehr?
Es gab auch positive Lichtblicke. Zum einen saßen Biene, Dirk und Sven nicht weit entfernt. Zum anderen gab es eine ganze Reihe sympathischer Jungs und Mädels, eigentlich machten sie sogar die Mehrheit aus. Alles in allem eine ganz normale Klasse. Die übliche Mischung aus Arschlöchern, Mackern, Kaspern, Idioten und Mitläufern. Und ich mittendrin.
Die erste Stunde ging schnell zu Ende. Biene wurde mit überwältigender Stimmenmehrheit zur Klassensprecherin gewählt. Der einzige Gegenkandidat, Rolf, erhielt nur 7 Stimmen. Was immer noch sieben Stimmen mehr waren, als ich ihm gegönnt hatte.
Klingel - kleine Pause. Ich drehte mich zu Tim um und versuchte, ihm in die Augen zu sehen. Mein Blick wurde nicht erwidert. Tim schaute starr auf die Tischplatte.
»Wir müssen reden!«, scheiß drauf welche Anweisungen Biene gegeben hatte, ich wollte die Sache vom Tisch haben.
»Später ... Vielleicht ...«
»Nein, jetzt. ..«, ich wurde von einer Hand, die an meiner Schulter zog unterbrochen.
»Hallo, du bist also Sven Zwo.«
»Äh, ja und du bist?«, ich schaute in das Gesicht eines Mädchens.
»Ich bin Marion. Carmen hat mir alles über dich erzählt. Sie hat nicht untertrieben! Du siehst wirklich gut aus.«
»Danke Marion, du bist auch nett, aber ich wollte gerade ...«, nett war sie wirklich. Sie hatte ein schönes offenes Gesicht; war mittelgroß und schlank. Wirkte recht natürlich und nicht so aufgesetzt wie die Mädels um Simone.
»Ich hab' gehört, du surfst?«
»Yap!«
»Naja, Fehmarn ist ein super Revier, da wirst du auf unseren Seen nicht wirklich Spaß haben. Hast du's hier schon probiert?«
»Nein, ich hab' mich noch nicht umgesehen. War ja auch kein Wind. Surfst du auch ...«
»Yap!«
Ich war überrascht, Marion surfte auch und kannte die Reviere auf Fehmarn, Sylt und in Dänemark sehr gut. Als Neuberliner kannte ich mich mit den lokalen Gegebenheiten nicht aus, daher bot sich Marion an, mir die besten Spots in Berlin zu zeigen. Soweit man von besten Spots überhaupt sprechen konnte.
Klingel - Ende der Pause. Englisch. Shit, eigentlich wollte ich die Pause genutzt haben, um mit Tim zu reden. Aber Marion hatte mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Gut, das war nicht ihr Fehler. Woher sollte sie wissen, dass ich mit ihm unbedingt sprechen wollte. Mir blieb nichts anders übrig, als auf die nächste Pause zu warten.
Der Englischunterricht wurde von Frau Sauer gehalten. Frau Sauer war alles andere als sauer. Sie verströmte die Aura eines Kolibris auf E. Ich hatte selten so etwas Hyperaktives wie diese Frau erlebt. Ihre Hektik war dermaßen ansteckend, dass ich am Ende der Stunde völlig außer Atem war - nicht etwa Frau Sauer. Inhaltlich war die Frau ein Totalausfall. Der Unterricht war nicht nur chaotisch, er folgte auch gleichzeitig fünf verschiedenen Handlungssträngen, die arge Schwierigkeiten hatten, sich irgendwo zu treffen.
2.6. Kuki und der V4A-Stahl
Die Klingel - Große Pause. Endlich Tim schnappen und ...
Und Shit! Ich wurde von einem lebenden Metallwarenlager abgefangen.
»Hi, du bist Sven?«
»Ich denke schon. Und selbst?«
»Kuki!«
Kuki war ein fröhliches Kerlchen und der beste Freund seines Piercers. Das ganze Metall in Ohren (Ohrläppchen und Targus), Augenbraue (doppelt), Nase (Septum), Unterlippe und Zunge konnten allerdings nicht verbergen, dass dahinter ein richtiger Softie steckte. Kuki machte einen derart lieben Eindruck, dass man die ganze Zeit das Gefühl hatte, vor einem Hundewelpen oder Katzenkind zu stehen. Der Junge hatte Augen, die die ganze Welt vor unermesslicher Freude umarmen wollten.
»Hat der Name was mit Zähnen zu tun?«
Ich musste an meine Oma und ihre Kukidenttabletten denken, obwohl Kuki für dritte Zähne vermutlich zu jung war. Obwohl man das nie wissen kann. Ein kleiner Surfunfall hatte mich vor zwei Jahren meine beiden Schneidezähne gekostet.
»Schlaumeier. Schon mal ne' Spange getragen?«
»Nope, but I know ...«
Corinna, Jessica und Carsten, alles Kids aus meiner alten Schule, hatten diese Metallteile im Mund gehabt. Ach ja, da fiel es mir wieder ein, die Marke der Brausetabletten hießen Kukis. Richtige Denkrichtung, falsches Alter.
»Und?«
»Und was?«
»Berlin?«
»Nett, bisher.«
»Freunde?«
»Ein paar ...«
»Wen?«
»Sven, Dirk, Biene, möglicherweise Tim ...«
»Nette Leute.«
»Stimmt!«
»Alter?«
»Fast 16.«
»Piercings?«
»Äh, nein!«
»Schade!«
»Sprichst du eigentlich auch mal in ganzen Sätzen?«
Kuki strahlte: »Nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Was heißt eigentlich fast 16 bei dir?«
»In drei Wochen ist es so weit. Dann entwachse ich offiziell der Kindheit.«
»Machst du ne' Party?«
Wenn man mal von der Dreistigkeit absah, dass sich Kuki automatisch als eingeladen verstand, war seine Idee gar nicht mal so schlecht. Warum eigentlich keine Party? Meine letzte war die Inselabschlussfete mit meinen alten Freunden gewesen. Was sprach denn dagegen, eine Party mit neuen Freunden zu machen?
»Deine Idee ist gar nicht mal so schlecht ... Mal überlegen ... Platz genug hab' ich ja ...«
Während dieser Unterhaltung hatten wir den Unterrichtsraum verlassen, und waren auf den Pausengarten, der den 10. Klässlern und Oberstüflern vorbehalten war, gegangen. Tim war mir - natürlich - wieder erfolgreich entwischt. Dafür wurden wir von Dirk und Sven empfangen:
»Ach, hat dich Kuki, unser allseits beliebter Metallwarenladen eingefangen ...«
»Dirk, du würdest mit dem einen oder anderen Piercing auch viel besser aussehen. Glaub' mir endlich mal.«
»Lass stecken, Biene würde mich umbringen. Sie liebt die unbeschädigte Natur ...«
»Manchmal muss man der Natur etwas nachhelfen. Am besten mit V4A-Chirurgiestahl. Wusstest du, dass sich Frauen in manchen orientalischen Ländern scheiden lassen können, wenn sich ihre Männer nicht am Penis ...«
»Kuki! Stopp! Nicht wieder diese Geschichte«, Dirk und Sven übten sich im Synchronaugenverdrehen.
»Schon gut... Schon gut ... Ich mein ja nur ...«
Dirk an mich gewandt: »Lass dir bloß nix einreden, sonst hast du plötzlich Metall in Körperteilen stecken, in denen du nie welches erwartet hättest.«
»Aber mal abgesehen von seinem Piercingtick, ist Kuki ein ganz Lieber ... Nicht wahr ...?«
»Ok, ich seh' schon. Ihr seid unbelehrbar. Aber was ist jetzt mit der Party?«
»Party? Was für ne' Party?«
Das ging wieder an mich: »Kuki fragte mich eben, ob ich nicht meinen Geburtstag in drei Wochen feiern sollte. Da der auf 'nen Samstag fällt, find ich die Idee gar nicht schlecht. Wär' auch ganz gut, ein paar mehr Leute kennen zu lernen. Was meint ihr?«
»Party? Immer!«
Beschlossen und verkündet. Alle drei boten sich auch prompt an, bei den Vorbereitungen mitzuhelfen und die üblichen Dinge zu organisieren: Musik, Getränke und Essen. Die Location war klar. Wofür hab' ich mein eigenes Heim?
Wie jede andere Schulpause, ging auch diese zu Ende. Tim saß wieder an seinem Platz und schwieg. Mir fröstelte, weil ich mich für sein Schweigen verantwortlich fühlte. Und die Klasse langweilte sich, da es jetzt Latein gab. Kotz!
So zog sich der Tag hin. Wie nicht anders zu erwarten, ergab sich keine Gelegenheit mit Tim zu sprechen. In der zweiten großen Pause fragte ich daher Sabine, ob sie schon was in der Sache erreicht hatte.
Kopfschütteln: »Nein, nichts! Leider! Das ist völlig untypisch für Tim. Ich hab' mit Nico gesprochen, aber der weiß auch nichts.«
»Nico?«
»Ach ja, den kennst du ja noch gar nicht. Tims kleiner Bruder. Ein kleines, ausgebufftes, liebes, hinterhältiges und manchmal stressiges Kerlchen und Tims Ein und Alles. Die Geschichte der beiden ist kompliziert. Tims Dad ist in den letzten Jahren zum Arsch mutiert. Ziemlich ungeile Geschichte. Tim leidet wirklich darunter. Ich heb' mir das mal für ne' spätere Gelegenheit auf. Wichtig ist im Moment nur: Wenn mit Tim irgendwas nicht stimmt, dann ist Nico normalerweise die richtige Adresse, um rauszubekommen, was nicht stimmt. Normalerweise ... «
Biene ließ das Wort bedeutungsschwanger im Raum stehen.
»Aber Nico weiß auch nix?«
»Treffer! Ich hab' ne' dreiviertel Stunde mit ihm gesprochen. Er versucht das zu verbergen, aber er scheint sich Sorgen zu machen. Seit der Sache mit dir, von der ich ihm natürlich nichts vom Was erzählt habe, ist Tim einfach merkwürdig. Zugeknöpft meinte Nico. Sie sprechen miteinander, als wenn nichts gewesen wäre, nur sei Tim nicht richtig da. Außerdem soll er völlig grüblerisch und verschlossen sein. Er steht einfach neben sich. Kannst du was damit anfangen?«
»Ich fürchte ja ...«, langsam, ganz langsam lichtete sich ein Schleier vor meinem Verstand. Wie war das noch mit Sven, als wir uns umarmten? Konnte ich eine ähnliche Wirkung auf Tim ausgeübt haben? Könnte es sein, dass ich etwas in ihm geweckt hatte, das ihn in diesen Zustand versetzt hatte? Dass seine Gefühlswelt gerade Purzelbaum schlägt? Für Leute, die sich bisher als hetero betrachtet haben, kann sowas schon recht aufreibend sein.
»Willst du damit sagen, dass ...«
Nein, wollte ich nicht. Noch nicht. Nicht bevor ich mir da absolut sicher war. Es könnte auch genauso gut sein, dass ich einem Wunschtraum hinterher hechelte. Aller bisherigen Zeichen standen bei Tim auf hetero. Deswegen fiel ich Biene ins Wort.
»Nein, bitte lass mich die Sache ab sofort in die Hand nehmen. Bitte ...«
Biene musterte mich, man hörte die Zahnräder in ihrem Gehirn klicken, und schließlich nickte sie. Mein flehender, herzzerreißender Hundeblick war nicht erfolglos geblieben.
»Du hast Recht ... Bitte, sei nett zu ihm ...«
Das hätte sie nun wirklich nicht sagen müssen. Wie könnte ich zu diesem Traumjungen etwas anders als nett sein. Wenn ich ehrlich war, dann wusste ich vom ersten Augenblick an, dass mir dieser Junge mehr als ein gewöhnlicher Freund am Herzen lag. Immer wenn er in der Nähe war, strahlte er eine Natürlichkeit, Wärme und Offenheit aus, die weit über seine puren körperlichen Attribute hinausgingen. Auch wenn's kitschig klingt, aber Tim hatte so etwas wie eine Schönheit, die von innen kam.
Letztendlich waren meine ganzen sorgfältigen Überlegungen mal wieder müßig, solange es mir nicht gelang, wenigstens ein Wort mit Tim zu sprechen. Ich konnte es natürlich mit der Brechstange versuchen, und ihn nach dem Unterricht einfach schnappen und festnageln. Keine gute Idee. Soweit ich sowas beurteilen konnte, schien er kräftiger als ich zu sein. Außerdem war das nicht meine Art und hätte wahrscheinlich sowieso nur das Gegenteil von dem erreicht, was ich eigentlich beabsichtigen wollte.
Mit diesen und ähnlichen Grübeleien verträumte ich dann auch noch die letzte Stunde Unterricht »Kunst«. Irgendwas mit Säulen? Naja, wer's braucht.
Ich hatte das Klingeln zum Ende der letzten Stunde überhaupt nicht wahrgenommen. Vor lauter Grübelei hatte sich mein Hirn in einer Endlosschleife verfangen, so dass ich das Unterrichtsende erst merkte, als eine Hand mich sanft an meiner Schulter berührte. Ich schreckte auf. Der Klassenraum war leer, bis auf Tim!
Zwei tödlich-rötlich-traurige Augen schauten mich an. Tim schluckte einen Kloß runter und sammelte all seinen Mut.
»Sven?«, schon die Art, wie er meinen Namen aussprach, war eine Entschuldigung.
Tausend Dinge, die ich sagen wollte, tausend Fragen, die ich stellen wollte - und keine fiel mir ein. Ich brachte nur ein nichtssagendes und ausgesprochen einfallsreiches »Ja?« heraus.
»Bitte...«, Tim biss sich mit den Zähnen auf die Unterlippe »verzeih mir.«
»Was? Verzeihen? Dass ich mich für dich zu Idioten gemacht habe? Dass ich sehr private Dinge von mir preisgegeben habe und du kommentarlos weggerannt bis? Dass du bis heute gewartet hast, um dich zu entschuldigen? Dass du dich so sehr vor meinen Klamotten und damit auch vor mir geekelt hast, dass du lieber deine eigenen verschwitzten Sachen angezogen hast?«
Hilfe! Panik! Ich stand völlig neben mir. Ich hatte keine Kontrolle über das, was ich sagte; das, was ich ihm entgegen schrie. Niemand war da, der bei mir schnell mal den Reset-Knopf drückte. Eigentlich wollte ich Tim erzählen, wie sehr ich ihn mochte; wie viel mir seine Freundschaft bedeuten würde. Eigentlich wollte ich ihn in den Arm nehmen und nie wieder loslassen. Aber was tat ich? Ich fauchte ihn an! Grundlos und mit einer Aggressivität, die mich selbst schockierte.
Tims Reaktion war entsprechend. Er zuckte unter meinen Worten wie unter Schlägen zusammen. Er schrumpfte regelrecht und sah schließlich aus wie ein geprügelter Hund. Zwei weit aufgerissene, ungläubige Augen mit feuchtem Glanz sahen auf mich hinab. Ich konnte diesen Blick nicht ertragen. Ich konnte nicht mehr denken.
Sekunden vergingen. Sekunden, in denen ich Idiot alles hätte geradebiegen können. Und was tat ich? Nichts! Nicht mehr in der Lage, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, saß ich nur da und starrte unbewegt in die Gegend.
Mir war, als wenn ich ein Schluchzen und davonrennende Schritte vernommen hätte, aber ich reagierte nicht. Ich saß nur starr auf meinem Stuhl. Etliche Minuten vergingen, in denen ich in dieser katatonischen Starre verharrte. Als ich jedenfalls wieder zu mir kam, war der Klassenraum wirklich leer. Ich war allein. Die Realität traf mich wie ein Faustschlag.
Mein Gott, was hatte ich getan?
2.7. Nico
Ich wachte in meinem Bett auf. 16:27 Uhr. Irgendwie muss ich dann noch den Weg von der Schule nach Hause gefunden haben, mich dort aufs Bett geworfen und heulend eingepennt sein. Nur erinnern konnte ich mich daran nicht. Noch etwas desorientiert bemerkte ich viel zu spät, dass ich nicht einfach aufgewacht war, sondern dass mein Telefon klingelte. Der AB nahm seinen Dienst auf und spulte seine, das heißt meine Ansage ab.
Piep!
»Svenni?«, das war Sabines Stimme. Halt nein, das war Bienes Stimme, wenn sie stocksauer war »Du bist ein Arsch! Du hast mir versprochen, nett zu Tim zu sein. Wenn du keine wirklich gute Erklärung für dein Verhalten hast, reiß ich dir den Arsch auf! Das ist ein Versprechen!«
»Biene, ich ...«
»Klack! Piiiiieeeeeee ...«, zu spät. Sie hatte schon aufgelegt.
Verdammt. Die Situation war dabei, zu entgleisen. Ähm, halt. Sei ehrlich zu deinen Lesern, die Situation war schon längst aus der Bahn. Was mir jetzt noch blieb, war Schadensbegrenzung, soweit das überhaupt noch möglich war.
Wieder klingelte es. Diesmal griff ich sofort zum Telefon. »Piiiiieeeeee«, ein Freizeichen? Oh, Mann Svenni, was bist du für ein Wrack, dass du Telefon- und Haustürklingel nicht voneinander unterscheiden kannst.
Missmutig und noch von meinem Nachmittagsschlaf etwas steif, stampfte ich zur Haustür. Kaum hatte ich die Tür einen Spaltbreit geöffnet, wurde sie auch schon mit Kraft aufgestoßen. Ich verlor die Balance und stolperte rückwärts in mein Wohnzimmer.
»Was hast du mit meinem Bruder gemacht? Los rede! Was hast du mit meinem Bruder gemacht, dass er sich heulend in sein Zimmer eingeschlossen hat?«
Ein kleiner Wirbelwind von gut 14 Jahren schlug auf mich ein, warf mich zu Boden und hüpfte auf mir rum. Das musste Nico sein. Mein Verstand nahm offensichtlich langsam wieder seinen Betrieb auf. Wurde aber auch Zeit.
»Stopp! Hör sofort auf mich zu schlagen oder ich muss mich wehren ...«
»Du sagst mir jetzt sofort, was du mit meinem Bruder gemacht hast! Der wimmert nur noch deinen Namen. Los rede!«
Ein energischer kleiner Wicht. Und kräftig! Ich rappelte mich auf, und versuchte ihn zu bremsen. Ich hatte alle Mühe, seine Arme festzuhalten.
Das war ein Fehler. Ein zupackender Griff, ein Ruck und ich lag wieder auf dem Boden und wurde niedergedrückt, ohne die geringste Chance, dies ändern zu können. Warum hatte mir niemand erzählt, dass Nico asiatische Kampfsportarten trainierte? Meine unsanfte Landung auf dem Teppichboden war weit weniger schmerzhaft als die Tatsache, von einem 14jährigen flachgelegt worden zu sein.
»Uff, ok, hör auf ... Bitte ... Ich erzähl dir alles ... Naja, ich erzähl dir meine Version.«
Der Druck auf meinem Körper ließ nach und Nico erlaubte mir, mich setzen zu dürfen. Nico selbst hatte sich in einen Sessel gesetzt und belauerte jede meiner Bewegungen argwöhnisch; jederzeit bereit, mich wieder niederzulegen. Ich zog mir einen anderen Sessel heran und schaute mir erst mal meinen kleinen Angreifer genauer an.
Die Ähnlichkeit zwischen Tim und Nico war interessant, weil ungewöhnlich. Man würde sie beide sofort als Brüder erkennen: die gleichen Augen, der gleiche Blick, eine fast identische Körpersprache. Doch die individuellen Akzente waren bei Nico anders gesetzt. Wo Tim weicher und verträumter wirkte, war Nico härter und präsenter. Überhaupt schien Nico der kräftigere der beiden zu sein. Was umso beeindruckender war, da Tim alles andere als ein Schwächling oder gar unsportlich war. Eher das krasse Gegenteil.
»Was ist jetzt ...«, Geduld war jedenfalls nicht Nicos Stärke.
»Wo soll ich anfangen?«
»Wo wohl? Am Ende natürlich, du Arsch!«, Nico schüttelte den Kopf »Natürlich am Anfang. Los jetzt!«
»Geduld! Erst mal, du bist Nico, oder?«
Erwischt, Nico wurde rot. Ihm schien gerade klar geworden zu sein, dass er wie ein Rollkommando über mich hergefallen war. Sein Zorn ließ ein wenig nach. Nur ein wenig.
»Äh, ja bin ich. Aber nu' leg los ...«
»Ok, aber es wird dir nicht gefallen. Also, dein Bruder hat mir etwas angetan. Etwas, das mich sehr verletzt hat. Ich weiß nicht, wieso und warum und es tut mir auch wirklich Leid, aber als er sich entschuldigen wollte, hab' ich mich nicht sehr nett verhalten. Nein, wirklich nicht. Eigentlich hab' ich wie ein Arschloch reagiert. Es tut mir leid ...«
Tat es wirklich, mehr als ich Nico erklären konnte und wollte. Aber Nico hatte eh an dem, was ich sagte, zu knabbern.
»Du lügst! Tim würde nie jemand verletzen!«, seine Stimme klang nicht so überzeugt wie seine Worte.
»Ich lüge nicht. Hör zu, denn das ist die Wahrheit. Tim und Sven haben mir ihre Freundschaft angeboten. Ich bin neu in dieser Stadt und habe mich über dieses Angebot gefreut. Eine Bedingung an eine Freundschaft ist bei mir absolute Ehrlichkeit seinen Freunden gegenüber. Ich habe den beiden etwas von mir gesagt, von dem ich denke, dass sie es wissen mussten. Dein Bruder kam mit dem, was ich sagte, offenbar nicht klar und lief daraufhin kommentarlos weg. Kein Wort - nichts! Er ließ mich einfach stehen ... Und das tat weh! Verdammt weh!«
Nico grübelte. Sein Zorn war fast weg. Besorgnis und Irritation standen ihm im Gesicht.
»Was hast du ihm von dir erzählt?«
Die Frage war naheliegend. Ich wusste nur nicht, ob ich sie beantworten wollte. Ich kannte Nico nicht. Würde er es überhaupt verstehen? Mit 14 konnte ich mit dem Wort schwul noch nichts anfangen, nur, dass es ein regelmäßig gebrauchtes Schimpfwort war. Wenn ich allerdings an Felix, Jans Freund dachte, der wusste mit 14 schon aus eigener Erfahrung definitiv über die Bedeutung Bescheid. Nun ging ich auch nicht davon aus, dass Nico schwul war, also wie entscheiden?
»Es war wirklich etwas sehr Privates. Ich weiß auch nicht, ob du es verstehen würdest.«
Nicos Zorn flammte wieder auf.
»Du nun auch noch. Ständig sagen immer alle, ich wäre noch zu jung, um dies oder das zu verstehen. Ich bin vierzehneinhalb! Du bist doch bestenfalls 16. Das sind knapp eineinhalb lächerliche Jahre Unterschied ... Also ...«
Ich konnte mir ein amüsiertes Grinsen nicht verkneifen, diese lächerlichen eineinhalb Jahre waren bei mir die Hölle gewesen. Objektiv hatte er natürlich Recht, wir waren gerade mal 16 Monate auseinander. Was soll's, schlimmer konnte es sowieso nicht werden.
»Ich bin schwul! Zufrieden?«
Mein Geständnis traf ihn wie eine Dampframme.
»Oh Shit!«
Was war das für eine Antwort? Klein Nico rieb sich seine Augen. Massierte seinen Kopf, starrte eine Weile auf den Teppich und schaute schließlich auf, um mich ausgiebig von oben bis unten zu mustern.
»Nico? Bist du noch da?«
Der Kleine war mir unheimlich. Er saß nur da und sah mich an. Pokerface Nico. Ein Kerlchen, mit dem man niemals zocken sollte. Doch schließlich lockerte sich seine Mine. Es verirrte sich sogar ein Lächeln auf seine Lippen.
»Hast du dich mal in der letzten Zeit im Spiegel betrachtet?«
»Was? Wieso? Geht's dir nicht gut?«
Nico grinste nur.
»Das solltest du wirklich tun. Schau dich mal im Spiegel an! Ernsthaft! Es wird dir ein paar Fragen beantworten.«
»Würdest du einen alten Mann bitte nicht dumm sterben lassen.«
»Hm, du hast keine Ahnung, nicht? Du weißt wirklich nicht, was ich meine?«
»Nein! Also klär mich auf.«
»Junge, du siehst einfach tödlich gut aus. Wenn ich dich für nur zehn Sekunden in meine Klasse aussetzen würde, würden sich alle Mädchen gegenseitig umbringen. Mein armer großer Bruder! Er hat sich in dich verliebt!«
Die virtuelle Dampfwalze meiner Gedanken hatte um 180 Grad gedreht und visierte mich an: »Tim ist schwul?«
»Tja, damit hättest du nicht gerechnet, was? Tröste dich, er auch nicht! Er weiß es noch nicht mal! Oder genauer: Er will es nicht wissen. Wie auch immer ...«
»Noch mal für die Rentnergeneration: Du hältst deinen Bruder für schwul, bist aber der Meinung, dass er das selbst noch nicht bemerkt hat oder sich nicht eingesteht?«
Nico zog, um Zustimmung zu signalisieren, eine Grimasse.
»Naja, ganz im allerhintersten Winkel meines Gehirns hab' ich mir sowas schon gedacht. Andererseits hatte er von seinen Freundinnen erzählt und ich hab' den Gedanken wieder beiseitegeschoben. Aber warum ist er vor mir weggelaufen ...«
»Svenni, du siehst zwar verdammt gut aus, aber denken ist nicht deine starke Seite. Naja, man kann nicht alles haben ...«
»Ey, nicht so frech, Kleiner. Ok, meine Frage war blöd. Ich glaub, ich weiß, warum er weglief. Wär' ich wohl auch. Oh Mann, der arme Junge! Oh, Shit, jetzt wird mir aber einiges klar: Er wollte sich heute nicht nur bei mir entschuldigen, er wollte viel mehr ... Ich Idiot! Ich Hornochse! Ich hätte es besser wissen sollen ...«
»Genau! Hättest du! Und ich kann es nicht zulassen, dass man meinem Bruder weh tut ... Also was wirst du tun?«
»Mich bei ihm entschuldigen. Was sonst? Ich wünschte, er könnte mein Freund sein ... Äh, ich meine Freund im Sinne von ...«
»Stopp! Überleg es dir genau. Freund oder Freund ?«
Autsch! Dieser kleine Kerl traf auch immer den Nagel auf den Kopf. Er hatte da eine Frage aufgeworfen, der ich schon die ganzen Tage, eigentlich seit ich Tim das erste Mal begegnet bin, ausgewichen war. Wie stand ich zu Tim?
Ehrlichkeit! Auch gegenüber Tims Bruder. Nun denn ...
»Es hat mich erwischt! Nein, falsch! Er hat mich erwischt! Ich geb's zu. Ich glaub', ich hab' mich in deinen Bruder verliebt. Nein, ich bin mir sicher. Schon als ich ihn das erste Mal sah, war dieses Gefühl da ...
Ich weiß nicht, ob du dieses Gefühl kennst, wenn einem gleichzeitig heiß und kalt ist. Wenn sich dein Magen zusammenzieht und du Angst hast, die Besinnung zu verlieren ...
Aber als er von seinen Freundinnen erzählte, war das wie ein Messerstich in die Seite und ich habe jeden weiteren Gedanken daran unterdrückt ...
Ich glaube, das war auch der Grund, warum mir seine Reaktion so weh tat. Es hat meine unterdrückten Gefühle wieder hochgebracht ...
Nico, ich bekomme deinen Bruder nicht mehr aus meinem Kopf. Shit, wie bieg ich das nur wieder hin ...»
»Sprich mit ihm!«
»Witzbold, glaubst du, der redet noch ein Wort mit mir? So wie ich ihn heute behandelt habe?«
»Klar doch! Denn ich glaube, dass er dich auch liebt. Er weiß es zwar noch nicht oder will es nicht wahr haben, aber er liebt dich! Trust me! «
»Woher weißt du das alles?«
»Ich bin sein Bruder. Außerdem liebe ich ihn auch - als Bruder!«
2.8. In der S-Bahn Linie 1
Wir redeten noch eine ganze Weile, in der ich Nico auch etwas über meine Vergangenheit erzählte. Ich berichtete vom Inselleben, von meinen alten Freuden, vom Surfen und natürlich von Thimo; also zum x-ten Mal die Geschichte meines Lebens. Und wieder überraschte mich der Kleine mit seiner Scharfsinnigkeit. Er war wirklich schon verdammt reif für sein Alter. Sein Kommentar zu Thimo und mir war kurz und brachte das Gespräch prompt auf den Punkt: »Respekt! Aber irgendwie traurig ... Kaum habt ihr euch gefunden, trennt euch gleich der ganze Atlantik.«.
Und dann legte er seinen Finger auf einen wunden Punkt: »Ich hoffe, du betrachtest meinen Bruder nicht einfach als nächstbeste Gelegenheit oder als Lückenbüßer. Das hätte er nicht verdient und ich würde es niemals zulassen!«
»Nein, auf keinen Fall! Thimo ist etwas völlig anderes. Ich kenn' ihn schon mein Leben lang, zu mindestens, solange ich denken kann. Ich vermisse ihn fürchterlich. Es ist, als wenn ein Teil von mir weggerissen wurde und fehlt. Ja, ich liebe ihn und werd' es wohl auch immer tun, aber auf eine völlig andere Art. Ich glaub', es ist mehr sowas wie die Liebe zwischen dir und deinem Bruder. Naja, etwas intensiver vielleicht ...«
»Hattet ihr Sex?«
»Ey! Das geht dich jetzt wirklich nichts an.«
Nico guckte beleidigt. Fürchterlich, diese Familienähnlichkeit, er konnte einen genauso herzzerreißend ansehen wie sein Bruder.
»Ja, hatten wir. Aber mehr werd' ich dir dazu nicht sagen.
»Ok - Vorerst!«
»Noch etwas, meine Liebe ist nicht teilbar. Sollte es wirklich mit deinem Bruder und mir etwas werden, dann ganz oder gar nicht. Keine halben Sachen. Ich bin mir jetzt, auch dank dir, absolut sicher, was ich für Tim empfinde. Ich liebe ihn. Scheiße, ich brauche ihn! Und ich verspreche dir, ich werde ihn nie wieder verletzen.«
Nico strahlte mich glücklich an und umarmte mich. Kleine Freudentränen liefen seine Wangen runter. Bis eben war ich mir selbst nicht sicher. Aber Nico zwang mich, Stellung zu beziehen. Nicht nur gegenüber seinem Bruder, vielmehr gegenüber mir selbst.
»Mann, bin ich froh, dass du doch kein Arsch bist. Tim braucht jemanden wie dich. Ich mach mir schon seit Monaten Sorgen um ihn. Bitte hilf ihm. Er wird es nicht leicht haben. Auch wegen Paps ...«
»Versprochen!«
Es war ein Fehler von mir, nicht genau zugehört zu haben. Nico sprach die letzten drei Worte fast nur zu sich selbst. Ich hätte zuhören sollen, doch konnte ich dies zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Ein großes Unheil begann seinen Lauf zu nehmen.
»Ok, dann lass uns losfahren ...«
»Losfahren?«
»Zu Tim, du wolltest doch mit ihm reden, oder?«, diese kleine Teppichratte grinste mich hämisch an.
»Du hast das alles so geplant?«
»Klar. War einfach! Gab' ja nur drei Möglichkeiten. Ich schlag dich zu Brei, du schlägst mich zu Brei, oder wir einigen uns.«
»Ich glaube, ich sollte die zweite Variante noch mal ausprobieren.«
Wir waren mit der S1 unterwegs Richtung Steglitz. Wir unterhielten uns über alle möglichen Dinge. Ich glaube, ich war in seinem Alter nicht so aufgeweckt wie er. Zu allen Themen hatte er eine ausgeprägte eigene Meinung und nicht die vorverdauten Gedanken anderer Leute. Außerdem war er ein unverschämter Charmeur, er flirtete wirklich mit allem, was weiblich war und auf zwei Beinen lief. Selbst die Omas mit ihren Handtaschenporsches bezirzte dieser Bengel und bot ihnen seinen Sitzplatz an. »Oh, was für ein höflicher junger Mann.« Ich erntete immer nur böse Blicke.
Eine Sache muss ich noch wissen: »Wie stehst du dazu, dass ich schwul bin? Und, viel wichtiger, dass dein Bruder es möglicherweise auch ist?«
»Is' ok. Naja, ihr werdet noch genügend Stress bekommen, wenn das auffliegen sollte. Ich kenn da Leute an der Schule, auch in eurer Klasse, die damit mehr als nur Probleme haben. Ich find's cool. Naja, ich weiß nicht? Ich hab' mal mit n' paar Freunden rumgemacht. Du weißt schon: Wer hat den Längsten. Wer kommt am schnellsten. Wettwichsen und so'n Zeugs.«
Ich war sprachlos. Sowas hab ich nie gemacht. Ehrenwort. Nico überraschte mich immer wieder.
»Wenn wir da so gemeinsam am Wichsen waren, interessierten mich die anderen Jungs kein Stück. Gibt doch viel geilere Weiber, an die man denken kann. Du denkst wohl dabei mehr an Jungs, was?«
Ich hatte das Thema angefangen, also musste ich da durch. Schamgefühl kannte Nico nicht. Ich dagegen hatte genug für zwei und wurde knallrot. Statistik ist doch was Tolles. Im Mittel war alles wunderbar ausgeglichen.
»Ey, cool down. Macht dich wohl verlegen, was?«
»Nico, du bist eine Herausforderung!«
»Das will ich doch hoffen ...«
Und das letzte Wort musste er natürlich auch haben.
2.9. Tim
Nico, Tim und seine Eltern wohnten in einer geräumigen Altbauwohnung ein paar Querstraßen hinter dem Forum Steglitz. Die Wohnung war dunkel, aber es musste jemand anwesend sein, da nicht abgeschlossen war.
»Mami kommt erst gegen zehn. Paps ist mal wieder auf Dienstreise und kommt erst Donnerstag wieder. Also, wir sind allein. Du, Tim und der unübertreffliche Nico. Komm erst mal mit in mein Zimmer. Ich checke dann die Lage.«
Ich folgte Nico in sein Zimmer. Es passte zu ihm. Poster von Musikbands an den Wänden, alles kein Mainstream. Alles sehr speziell, genauso wie Nico. Eine Wand war flächendeckend mit einem Graffiti überzogen.
»Wow! Super!«
»Der Herr hat Geschmack - Im Gegensatz zur BVG.«
Nico war also auch ein Meister der Spraydose. Mich überraschte absolut nichts mehr. Auch nicht der eingerahmte Strafbefehl wegen mutwilliger Sachbeschädigung eines U-Bahn-Zuges.
»Warte kurz, ich spreche schnell mit Tim.«
Sprachs und verschwand. Ich war mir gar nicht mehr so sicher, dass die ganze Sache eine gute Idee war. Ich bekam Angst vor meiner eigenen Courage. Was sollte ich sagen? Würde ich wieder so daneben hauen wie heute Mittag? Mein Herz schlug schneller, ich bekam Schweißausbrüche und weiche Knie. Auf was hatte ich mich da wieder eingelassen?
Warum kam Nico nicht zurück? Das dauerte schon viel zu lange. Ich versuchte mich abzulenken und schaute mich in seinem Zimmer um. Es war krass. Besser ließ es sich nicht beschreiben. An der Decke hing ein Tarnnetz. Schlafen tat er auf einem Hochbett, darunter war sein Schreibtisch. Der Raum war nicht groß, aber man hatte das Optimum aus dem was da war herausgeholt. Die Poster. Ein PC, der eingeschaltet war. Ich tippte die Maus an. Maik hätte seine Freude gehabt, im Hintergrund räkelte sich eine unbekleidete Dame mit gewaltiger Oberweite. Eindeutig Hetero. Viel spannender fand ich seine Sammlung von Soundprogrammen. Der Kleine machte also auch Musik. Meine Augen folgten dem Schreibtisch und entdeckten ein Midi-Keyboard, Sequenzer, Synthi und Mixer, Monitorboxen, Kopfhörer. Wirklich vielseitig begabt.
Nach einer Ewigkeit kam Nico zurück.
»Ok, es hat etwas länger gedauert. Tim hat geschlafen und wollte nicht wach werden. Als ich sagte, dass du da bist, war er erst etwas ungehalten darüber, dass ich mich eingemischt habe. Wenn du jetzt zu ihm gehst, denk dran, er weiß noch nicht, dass er schwul ist. Also los und viel Spaß ...«
»Du machst mir Mut!«
»Du machst das schon. Sei einfach du selbst. Mich hast du ja auch verzaubert. Nu los ...«
Nico schob mich durch die immer noch dunkle Wohnung bis zu Tims Zimmer. Er deutete noch mit dem Kopf in Richtung Tür und schwirrte ab. Da stand ich nun. Das Herz in der Hose, Butter in den Knien und zitterte wie Espenlaub.
Ich klopfte.
Keine Antwort.
Ich drückte vorsichtig gegen die Tür und sie ging auf. Langsam schob ich meinen Kopf hinein, es war dunkel. Ich konnte die Umrisse des Raums erkennen und sah, oder besser ahnte, dass Tim auf seinem Bett lag. Die Wohnung lag im 2. Stock einer ruhigen Seitenstraße mit dichter Bebauung und großen alten Bäumen. Zusätzlich hatte Tim sein Rollo runtergezogen. Draußen war es noch hell, hier war es finster - finster wie meine Stimmung.
»Darf ich reinkommen.«
»Hmm.«
Ich trat ein und versuchte mich zu orientieren. Auf Höhe des Betts stand in eineinhalb Meter Entfernung ein Sessel oder sowas Ähnliches. Ich steuerte drauf zu und setzte mich hin.
Schweigen. Keiner von uns beiden sagte etwas. Den Anfang machen ...
Langsam gewöhnte ich mich an die Dunkelheit und lernte sie gleichzeitig schätzen. Tim in die Augen zu sehen? Ich war mir nicht sicher, ob ich die dafür nötige Kraft aufgebracht hätte.
»Tim? Es tut mir leid ...«, ich selbst sein - Nicos Empfehlung war unendlich schwer. Wann ist man mal wirklich man selbst.
»Du hast meine Reaktion nicht verdient. Ich ... Ich war nicht ich selbst. Ich weiß auch nicht, was mit mir los war ... Du hast mich überrumpelt, ich wusste nicht, was ich sagen sollte und sagte nur Scheiße ... Shit, es tut mir leid.«
»Nein!«, Tim sprach das erste mal.
»Wie?«
»Nein! Du hattest mit allem Recht. Ich hätte nicht weglaufen sollen. Ich hab' dich verletzt. Du hast mir soviel Vertrauen entgegengebracht und ich ...«
Ich hörte Tim schniefen.
»... ich hätte nicht wegrennen sollen. Nicht vor dir und auch nicht vor mir.«
»Tim, ich weiß nicht was ich sagen soll? Nur - ich bin jetzt hier. Ich will deine Freundschaft. Halt, nein, das ist egoistisch. Ich bitte um deine Freundschaft. Aber ich kann mich nicht ändern. Ich bin schwul! Wenn du damit ein Problem hast ...«
»Ja, hab' ich. Aber anders, als du denkst ... Ich ...«
Nico hatte Recht. Tim war genau da, wo ich vor einigen Monaten war. So irgendwo zwischen Phase III und IV. Ich hatte damals Thimo. Tim hatte ... Nun ja, meine Hand war ausgesteckt. Er brauchte nur zuzugreifen. Tim, bitte tu es!
»Svenni?«
»Ich bin noch da ...«
»Du hast mein Leben zerstört!«
Uff, das war hart. Ich wollte gerade etwas sagen, aber Tim unterbrach mich.
»Warte! Ich meine das anders ... Es ist schwierig ...«
Ja, das ist es immer. Aber es wird nicht leichter, wenn du es nicht raus lässt. Natürlich hielt ich meine Klappe und unterdrückte den Wunsch, meine Gedanken auszusprechen. Jetzt bloß keinen Fehler machen.
»Früher war alles in Ordnung. Ich war mir in allen Dingen meines Lebens so sicher. Ich hatte Freunde und Freundinnen. Ich wusste, was ich wollte. Niemals Zweifel über irgendwas. Tja, und dann kamst du ...«
Er atmete schwer. Ich spürte, wie er sich langsam vorkämpfte.
»Dann kamst du und ich war mir plötzlich über nichts mehr sicher. Über gar nichts mehr! Ich hatte sofort Angst vor dir. In wollte gleichzeitig in deiner Nähe sein und vor dir weglaufen. Deine Anwesenheit stellte mein ganzes bisheriges Weltbild in Frage und ich wusste nicht warum!«
Tim richtete sich auf. Es brach aus ihm heraus wie aus einem aufgestauten Damm dessen Schleusentore geöffnet wurden.
»Weißt du, warum ich weggelaufen bin? Willst du es wirklich wissen? Als ich an dem Morgen mit einer Morgenlatte aufwachte, weißt du, an wen ich da dachte? An dich! Nicht an eine Frau, nein, an dich! Ich stellte mir vor, dich zu berühren, zu streicheln, deinen Körper zu fühlen. Shit! Der Gedanke war geil und gleichzeitig erschreckend. Als du dann sagtest, du seist schwul. Panik! Kurzschluss. Es war so, als wenn du mir gesagt hättest, ich sei schwul! «
»Wäre das wirklich so schlimm?«
Schweigen - Tim dachte nach.
»Ich hab' mich mit dem Gedanken nie befasst. Bis vor ein paar Tagen war ich mir absolut sicher, hetero zu sein. Aber jetzt?«
»Es tut mir leid. Ich hab' nie beabsichtigt, jemanden zu verunsichern; dich zu verunsichern ... Ich ahne, was in dir vorgeht und es tut mir wirklich leid, aber ...«
Ich holte tief Luft.
»... man kann damit leben!«
»Du verlangst viel.«
»Nö, tu' ich nicht! Schwul zu sein, ist kein Beinbruch oder eine ansteckende Krankheit oder ein Makel, wie ein Pickel auf der Nase. Es kann sogar Spaß machen und verdammt schön sein. Es ist das, was ich bin! Ich hab's mir nicht ausgesucht, aber ich bedaure es auch nicht. Naja, um fair zu sein: Ich bedaure es nicht mehr. Ganz im Gegenteil bin ich jetzt sogar der Meinung, dass es mir die Chance bietet, ein besserer Mensch zu werden. Nicht dass ich glaube, Schwule seien per se bessere Menschen. Nee, wirklich nicht. Aber auf der anderen Seite müssen Heteros auch durch kein Coming Out durch und müssen sich nie die Fragen stellen, die du dir gerade stellst - die ich mir noch vor noch gar nicht so langer Zeit gestellt habe. Wenn man aber erst mal da durch ist, sollte man zumindest gelernt haben, bewusster und respektvoller mit seiner Umwelt umzugehen. Ich betrachte Freundschaften jetzt ganz anders, als ich es früher getan habe. Ehrlicher, aber auch kompromissloser.«
Ich war mit meiner kleinen Ansprache in voller Fahrt. Nicht sicher, was ich da eigentlich vor mich hinsülzte, fuhr ich fort:
»Vielleicht verzapfe ich auch gerade den größten Dünnpfiff aller Zeiten. Aber das ist völlig egal! Was ich erzähle, ist scheißegal! Das Einzige, was zählt, bist du! Du musst für dich, und nur für dich entscheiden, was du willst! Es ist völlig egal, was ich meine oder will, es völlig egal, was dein Bruder meint oder will, es ist auch völlig egal was der Papst, der Kaiser von China oder Tante Trude aus Posemuckel meint oder will. Nur du entscheidest! Für dich und nur für dich! Wer du bist und was du bist! Ich mag dich! Ich mochte dich von Anfang an! Und wie immer du dich auch entscheiden wirst, daran wird sich nichts ändern. Ob schwul oder hetero!«
Mein Redeschwall war wie eine sturmgepeitschte Meeresbrandung über Tim hereingebrochen. Doch jetzt hatte sich der Sturm gelegt. Im Zimmer war es absolut still, als wenn die ganze Welt auf den Urteilsspruch warten würde.
»Ich ...«
Tims Stimme war sehr leise, als wenn sie sich nicht trauen würde, die Stille zu entweihen.
»Lass dir Zeit. Brich' nichts übers Knie ...«
»Ich brauch keine Zeit mehr ... Es macht wohl nicht viel Sinn, etwas vor sich selbst zu verleugnen, wovon man spürt und letztlich weiß, dass es so ist. Tja, Svenni, du hast Recht, ich bin schwul!«
Sowas nennt man wohl eine Zangengeburt. Warum machen Menschen sich das Leben immer so kompliziert. Sind wir alle verkappte Masos, die es lieben, sich in ihrem eigenen Leid zu suhlen? Ich freute mich, ich freute mich für Tim. Ob er nun schwul war oder nicht, war mir eigentlich egal. Hauptsache, er war aus seinem Schneckenhaus wieder raus gekrochen.
»Danke Svenni! Hat man dir schon gesagt, dass du einen verzauberst ...«
»Merkwürdig ja, dein Bruder. Vor weniger als einer Stunde. Übrigens solltest du dich bei ihm bedanken. Der Kleine kennt dich besser, als du dich selbst. Er meinte, er wisse schon viel länger, dass du schwul bist. Er liebt dich, weißt du das? Er sieht zu dir auf und würde alles tun, damit es dir nicht schlecht geht. Weißt du, mit welchen drei Varianten er zu mir gefahren ist?«
»Nico war bei dir?«, Tim war überrascht, er wusste nicht, dass Nico mich geholt hatte. Er dachte, ich sei von selbst gekommen, um mit ihm zu sprechen. Ich klärte ihn auf und zählte die Möglichkeiten auf, die sein Bruder bei seiner Aktion einkalkuliert hatte:
»Variante I: Ich schlag ihn zu Brei. Variante II: Er schlägt mich zu Brei. Variante III: Wir einigen uns.«
Tim lachte: »Typisch Nico! Immer mit dem Kopf durch die Wand. Wie soll ich ihm das je danken.«
»Sag's ihm einfach.«
Tim wurde wieder ernst.
»Sven?«
»Ja?«
»Da ist noch etwas mehr. Ich hab' da nicht so die Erfahrung. Also gegenüber den Mädels ging das immer viel einfacher. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Naja, du wirst es wohl schon bemerkt haben, aber du hast einen gewissen erregenden und verwirrenden Einfluss auf mich.«
»Geht das auch etwas weniger verklausuliert?«
»Oh Mann! Scheiße! Ich mach sowas das erste Mal bei 'nem Mann: Ich hab' mich in dich verliebt! Ist es das, was du hören wolltest?«
»Yo! War doch gar nicht so schwer, oder? Damit wird das Nächste, was ich sagen wollte, viel, viel leichter für mich: Tim, mir geht es wie dir. Ich liebe dich! Und, ach verdammt, ich bin nicht so tough wie ich tue ... Mich hat es bereits am Schlachtensee erwischt, wollte aber nichts davon wissen, als du von deinen Freundinnen angefangen hast. Ich hab' erst heute wirklich begriffen, wie sehr ich mich in dich verliebt habe, als ich mit Nico kämpfte und er mich zwang, Farbe zu bekennen. Verdammt, ich brauch dich, mehr als du dir vorstellen kannst!«
»Und warum sitzt du dann noch im Sessel?«
Wenn das keine Aufforderung war, dann hatte Tim halt Pech gehabt. Aber es war eine. Ich kletterte zu ihm ins Bett. Mein Gott war dieser große Junge zärtlich. Seine ersten Annäherungsversuche waren noch sehr ängstlich. Als er aber merkte, dass alles was er tat wohlwollend aufgenommen und von mir mit der gleichen Intensität erwidert wurde, ließ er schließlich seine letzten Hemmungen fallen. Wahnsinn, dieser Körper fühlte sich noch besser an, als er aussah. Meine Hände wanderten unter sein T-Shirt und wurden von einem deutlich spürbaren Zittern willkommen geheißen.
»Warte, wir sollten lieber ...«, Richtig, die Shirts störten und wir entledigten uns unserer Oberbekleidung.
Tim schmiegte sich an mich. Was für ein Energiestoß, wow! Tims Berührungen ließen meine Nervenenden glühen. Dieser Junge raubte mir meinen Verstand. Dabei war noch gar nichts passiert, kein Kuss, kein Fummeln in der Lendengegend (obwohl ich Angst hatte, dass meine Hose den Druck meines besten Stücks nicht mehr lange standhalten würde) nur leidenschaftliche, intensive Berührungen und trotzdem war ich kurz davor, die Besinnung zu verlieren. Gott, Tim war eine Naturgewalt!
Zwischenzeitlich lag ich auf dem Rücken. Tim schwebte in einer Form von Liegestützen über mir. Trotz der Dunkelheit sah ich seine Augen. Sie funkelten vor Freudentränen und Glück. Da hatte jemand zu sich selbst gefunden. Langsam ließ sich Tim auf mich herabsinken. Dabei hielt er meinen Blick mit seinen Augen gefangen. Unsere Lippen berührten sich und ... die Welt um mich hörte auf zu existieren. Was für ein Kuss! Was für ein Ding ..., ey, Moment mal?
»Gulp, Tim? Was um Himmelswillen ist das?«
»Oh, äh, Entschuldigung. Das hab' ich ganz vergessen. Mein Zungenpiercing ...«
»Und ich sehe auch, was drauf geschrieben steht: Kuki was here! «
»Oh, du hast ihn schon kennengelernt? Ähm, tut mir leid. Ich hätte dich warnen sollen. Stört es dich?«
»Nein! Wie könnte es? Es ist ein Teil von dir ...«, als Beweis küsste ich Tim. Nichts konnte mich an ihm stören, auch kein kleiner Metallstift in seiner Zunge.
»Sven? Ich will dich! Ich brauch dich!«
»Kein Problem. Du hast mich! Ich bin hier! Ich bin dein!«
Darauf sagte keiner von uns beiden etwas, wir umarmten uns, Körper an Körper. Was für ein Gefühl.
2.10. Reflektionen über heterosexuelle Beziehungen
Das mit dem Sex fand dennoch nicht statt. Man könnte vermuten, dass mir etwas fehlen würde, aber dem war nicht so. Tim ging es genauso. Dies war in erster Linie ein emotionaler Moment und kein körperlicher. Schon merkwürdig dieses seltsame Ding namens Liebe.
»Sven? Ich weiß jetzt, warum es mir bei Mädchen leichter fiel, ihnen zu sagen, dass sich sie liebte ...«
»Was wird das denn jetzt für ein merkwürdiges Geständnis?«
»Oh, ein ganz Böses. Eines, für das ich mich wohl schämen sollte. Ich hab' sie wohl alle mehr oder weniger angelogen ...«, Tims Stimme war traurig, schuldbewusst und abgeklärt.
Ich setzte mich auf und sah Tim an: »Wie jetzt?«
Also nicht wissentlich angelogen. Ich fühl mich dir näher als jeder Frau, mit der ich vorher zusammen war. Dabei haben wir ja noch nicht mal ...»
Tim lag auf dem Rücken, die Hände hinter seinem Kopf verschränkt, den Blick nachdenklich zur dunklen Decke gerichtet. Ich streichelt seinen Oberkörper, spielte mit seinen Brustwarzen.
»Bei dir fühle ich etwas. Schwierig zu beschreiben ... Ich wollte immer eine Freundin haben. Schließlich hatte ja jeder eine. Das ist ja auch der, ähm, Normalfall ...«
Ich wollte Tim nicht unterbrechen, also sagte ich nichts und streichelte weiter seine Brust. Oh, wie ich diesen Körper und was in ihm steckte liebte.
»Ich weiß, ich bin nicht der Typ, der lange suchen muss. Ich weiß, dass die Mädels auf mich abfahren ...«
Nicht nur die mein Lieber, nicht nur die. Ich hielt meine Klappe und ließ ihn weiterreden.
»Du kennst mich noch nicht lange, also kennst du auch meinen Ruf nicht: 'Er wechselt die Freundinnen, wie andere Leute ihre Hemden.' Nicht sehr schmeichelhaft, aber zutreffend. Schockiert?«
»Nö! Erzähl weiter ...«
»Manche sagen, ich hätte mich durch den halben Jahrgang unserer Schule gepoppt. Das ist übertrieben. Ich hatte fünf Freundinnen.«
»Ladykiller!«
»Ja, leider! Es geht wohl ein ganzer Haufen gebrochener Herzen auf mein Konto. Es hielt nie länger als ein halbes bis dreiviertel Jahr. Wir gingen miteinander aus, wir hatten Sex. Sie fanden den Sex super, ich hingegen ... irgendwie nicht richtig. Es war nur körperlich, keine Empfindung, kein Gefühl. Ich schob das auf meine Unerfahrenheit. Ich war ultra-zärtlich, die Mädels fühlten sich glücklich und ich, naja mehr oder weniger körperlich befriedigt, aber emotional leer und unerfüllt. Also war es mal wieder die Falsche, auf zur Nächsten ...«
»Lass mich raten. Das gleiche Spiel von vorne. Frau glücklich, du leer und unglücklich. «
»Hmm, ich wäre' nie auf die Idee gekommen, dass ich nicht nach der richtigen Frau, sondern nach dem richtigen Mann suchen müsste. Schließlich war ich ja hetero!«
»Und?«
»Naja, dann sah ich dich! Den Rest kennst du.«
»Und an welcher Stelle hast du die Mädels angelogen?«
»Dabei, dass ich sie liebte. Ich hab' Sex mit Liebe gleichgesetzt.«
»Da wärst du wirklich nicht der Erste!«
»Mag sein. Nur ist mir eben jetzt der Unterschied klar geworden. Als wir uns umarmten, als wie uns küssten, selbst jetzt, wo du nur neben mir liegst und mich streichelst, fühl ich mich dir näher und verbundener, als mit jeder Frau, mit der ich Körperakrobatik betrieben habe. Ich glaube ich begreife jetzt erst, was Liebe ist ...«
»Und jetzt stell' dir mal dann noch den Sex dazu vor ...«
»Das wird kaum auszuhalten sein! Aber da müssen wir wohl durch ...«
»Wohl oder übel ...«
Tim war gerade dabei den Bund meiner Hose zu öffnen, als sein Blick die LED-Anzeige seines Radioweckers steifte.
»Oh, Scheiße! Mist! Schnell zieh dich an. Bitte! Keine Fragen jetzt! Meine Mutter muss jede Sekunde hier sein!«
Ich kann mich nur an eine einzige Gelegenheit erinnern, die von ähnlicher Qualität war, wie Tims Panikanfall: als Maik mich nach einer wilden Party in unserer Scheune mit einem Eimer eiskaltem Wasser geweckte hatte.
2.11. Mama ante portas
Tims Panikanfall war zwar frustrierend, aber sein Zeitgefühl war perfekt. Kaum hatten wir unsere T-Shirts an, hörte man auch schon, wie ein Schlüssel im Schloss der Wohnungstür gedreht wurde. Uns blieb gerade noch Zeit, etwas Licht zu machen und so zu tun, als wenn wir geschäftig über Schulproblemen brüten würden.
»Hallo Tim! Hallo Nico! Ich bin wieder zu Hause!«
»Hi Mum!«, das war Nicos Stimme, der aus seinem Zimmer gerannt kam und seine Mutter lautstark begrüßte, »Ich hab' ein neues Stück komponiert, willst du es hören?«
»Gern, aber später. Wo ist dein Bruder?«
»In seinem Zimmer! Ein Mitschüler ist bei ihm, der neu bei uns ist.«
Ich sah Tim verblüfft an, meine Vermutung wurde mit einem Nicken bestätigt. Nicos Begrüßung seiner Mutter fiel besonders lautstark und auffällig aus. Wollte er uns etwa Zeit verschaffen? Was dachte dieses freche Kerlchen eigentlich, was wir gerade taten ...
Tims Zimmertür öffnete sich. Eine Frau Anfang 40 trat herein. Gut, aber sehr streng gekleidet, dem Aussehen nach eine Geschäftsfrau. Ihr Gesicht hatte etwas Hartes und Unnahbares. Sie hatte lange Haare, die zu einem festen Knoten zusammengebunden waren. So wie sie da stand sah sie aus wie eine englische Gouvernante.
»Hallo Mum, wie war dein Tag?«
»Uff, frag' nicht. Nur Idioten. Ich zieh' mich nur um und mach gleich Abendbrot für Nico, dich und ...«
»Oh, Entschuldigung. Das ist Sven, Sven Jacobsen. Ein neuer Mitschüler. Er ist gerade mal vor einer Woche nach Berlin gezogen. Ich dachte, ich erklär ihm einfach alles ...«
Um der Mutter meines neuen Freunds kein schlechtes Bild von mir zu geben, kramte ich meine beste Sonntagserziehung heraus und gab Frau Mannteufel die Hand.
»Guten Abend Frau Mannteufel.«
»Oh, nenn mich Sonja, wenn ich meinen Nachnamen höre, denk ich immer noch, ich bin im Büro. Freut mich, dich kennen zu lernen Sven und willkommen in Berlin.«
Und zu Tim: »Du könntest schon mal mit aufdecken anfangen. Sven, Sie essen doch sicherlich mit?«
»Oh danke, ja. Aber bitte sagen Sie du zu mir. Wenn man mich siezt, denke ich immer, ich hätte was ausgefressen.«
Ein vielsagendes Grinsen umspielte Frau Mannteufel. Und weg war sie. Wir waren erst mal wieder allein.
»Wissen eigentlich deine Eltern, dass du schwul bist?«, Tim knüpfte an unser Gespräch wieder an.
»Ja.«
»Und? Wie haben sie reagiert?«
»Mein Vater meinte, er müsse wohl den Sparvertrag für seine Enkel kündigen.«
»Wie?«
»Nicht so wichtig. Ich muss dir sowieso noch ein paar andere Dinge von mir erzählen. Die sind allerdings wichtig. Also nicht wieder wegrennen ...«
Der böse Blick von Tim war nicht wirklich ernst gemeint.
»Aber soweit es deine Frage betrifft: Sie haben es sehr gut aufgenommen. Unser Verhältnis zueinander ist sogar noch besser geworden. Aber ich ahne, worauf deine Frage zielt ...«, mein Kopf deutete in Richtung der Tür, durch die vor wenigen Sekunden Tims Mutter den Raum verlassen hatte.
»Bei Mum wird es garantiert kein Problem geben. Aber mein Vater bringt mich um! Und ich weiß nicht, ob ich meine Mutter diesen Stress zumuten will.«
Tim sah mich traurig und niedergeschlagen an.
»Sicher, dass er ausrastet?«
»Glaub' mir! Ganz sicher! Du kennst ihn nicht. Er ist schon etwas älter und wenn ich sage reaktionär, dann ist das noch geschmeichelt.«
»Oh Kacke!«
»Du sagst es. Ach ja, lass lieber das Fluchen in seiner Gegenwart. Mein Alter reagiert darauf recht allergisch.«
»Ich werd mich zusammenreißen.«, das würde mir zwarschwer fallen, aber was tut man nicht alles für seine Lieben. Ich fluche doch so gern. Fluchen ist einfach eine praktische Form der Seelenhygiene. Entstehenden Frust gleich auskotzen, dann kann er sich nicht festsetzen. So einfach ist das.
Wir verließen den Raum in Richtung Küche, trafen dort auf Nico, der uns bereits sehnsüchtig und gierig, auf Neuigkeiten lauernd erwartete. Wir fingen an, den Tisch zu decken.
»Und?«
»Was und?«
»Na was ist mit euch zwei?«
»Was soll mit uns sein?«
»Tim! Du weißt genau, was ich meine.«
»Nö! Weißt du, was er meinen könnte?«
»Ich hab' nicht die geringste Ahnung. Nico, du sprichst in Rätseln.«
»Ihr seid gemein. Naja, vielleicht soll ich Mami mal fragen, was sie von einem schwu....«
»Schon gut, schon gut. Du hast gewonnen. Es ist alles wieder gut.«
»Heißt das, ihr zwei seid ...?«
»Genau das, Bruderherz. Und danke, dass du Svenni nicht zu Brei geschlagen hast. Ich lieb dich Kleiner. Danke!«
Nico wurde rot. Tim und ich wurden fertig mit aufdecken. Sonja wurde fertig mit umziehen und sah mit einem Mal völlig anders aus.
Die Gouvernante war verschwunden. Das lag nicht nur an der anderen Kleidung, der ganze Mensch war wie verwandelt. Sonja hatte ihren Haarknoten geöffnet, wallendes, wunderschönes gold-blondes Haar umfloss sie. So sah sie schon sehr viel sympathischer aus. Aber damit war die Verwandlung war noch nicht vollständig beschrieben. Auch ihre Stimme war viel weicher und verbindlicher. Die ganze Körpersprache hatte sich geändert.
»Endlich Feierabend. Kinder setzt euch.«
Sonja sah mein verstört-überraschtes Gesicht und musste lächeln.
»Ich hab' dich etwas verschreckt, stimmt's? Du hast sicher gedacht: ,Oh Gott, was ist das für eine Gouvernante, die Tim und Nico als Mutter haben?«`
»Äh, nein, wirklich nicht. Sie sahen sehr professionell aus.«
»Oh, du bist mir ja ein Schmeichler. Aber gib dir keine Mühe, ich weiß, wie ich aussehe. Das bringt der Beruf so mit sich. Also bevor du dumm stirbst: Ich bin Anstaltsleiterin in einer Frauenjustizvollzugsanstalt.«
»Mama leitet den Frauenknast!«
»Danke Nico, für deine anschauliche Übersetzung.«
»Ich verstehe. In dem Beruf muss man wohl etwas Härte aufbringen.«
»Leider, und dabei sind meine Schützlinge manchmal gar nicht das größte Problem. Diese Idioten von der Justizverwaltung haben meinen Antrag abgelehnt ...«
Während sie sprach, wurden Brot, Wurst, Käse, Schinken, Milch, Saft etc. aufgetafelt. Am Ende saßen wir alle gemütlich zusammen und mampften drauf los.
»Mama, das tut mir leid. Du hast so dafür gekämpft.«
»Oh, das werd ich auch weiter tun. Aber Schluss damit. Wie war euer erster Schultag nach den Ferien?«
Oops, gleich die erste Stolperfalle. Tim und ich ließen Nico erst mal seinen Tag erzählen, was er auch ausgiebig tat. Besonders viel Zeit ließ er sich bei der Beschreibung von Doreen, einer neuen Schülerin in seiner Klasse. Da hatte wohl noch jemand Feuer gefangen.
Sonja grinste: »Tim, dein Bruder scheint ja, was Frauen anbetrifft in deine Fußstapfen zu treten.«
Und schon steuerte das Gespräch auch gleich in eine ganz gefährliche Richtung. Nico juckte es schon und grinste: »Och, so wie es aussieht, werde ich Tim bald übertreffen.«
»Pass auf, was du sagst, kleiner Bruder. Du bewegst dich auf ganz dünnem Eis.«
»Ey, keine Streitereien am Tisch. Und Sven haben Sie, ich meine hast du eine Freundin gefunden oder ein Auge auf jemanden geworfen?«
Ich hasse diese Frage. Meine Tanten fragen das auch immer. Aber soll man einer 70jährigen Großtante antworten: »Nö keine Freundin, aber einen supersüßen Freund?« Also übte ich mich mal wieder im Spagat zwischen gerade noch erträglicher Selbstverleugnung und dem Tribut an eine heterosexuelle Gesellschaft und antwortete: »Ach Sonja, Berlin ist noch so neu und verdammt groß. Ich bin noch dabei, alle Eindrücke zu verarbeiten. Ich komm ja schließlich vom Lande ...« Die Landeinummer zieht immer.
»Genau, überstürze nichts und gewöhne dich erst mal ein. Aber erzähl doch mal was von dir? Wo kommst du her? Du musst doch Freunde zurückgelassen haben?«
Sonja verstand ihren Beruf. Als Leiterin einer JVA muss man wohl über gute Menschenkenntnis verfügen. Wir plauderten ganz zwanglos. Scheinbar. Im Rückblick betrachtet war es ein Verhör gewesen. Sonja stellte immer genau die richtigen Fragen. Keine gefährlichen, bei denen ich mich direkt verraten würde, aber in ihrer Kombination konnte man ein verdammt gutes Bild von mir gewinnen. Während des Gesprächs hab' ich davon rein gar nichts bemerkt. Erst an Tims nervösem Verhalten und seinem besorgtem Gesichtsausdruck merkte ich, dass was nicht stimmte.
»Ich seh' schon, du bist ein ganz lieber Junge, Sven. Naja, dann schwirrt mal ab«, damit waren wir entlassen. Wir gingen alle in Tims Zimmer, das heißt Nico, obwohl nicht eingeladen, auch.
»Wer ist Thimo?«, Tim sah verärgert aus. Er wird doch wohl nicht eifersüchtig sein.
»Mein Freund! Ein ganz besonderer Freund! Aber anders, als du jetzt denkst. Ich sagte doch schon, dass ich dir noch etwas Wichtiges von mir erzählen muss. Thimo ist diese wichtige Sache«, wie oft ich diese Geschichte wohl noch erzählen darf? Wie auch immer, Tim wurde über mein bisheriges Leben ins Bild gesetzt.
»Es tut mir leid, wenn du mit Thimo Probleme hast. Aber meine Liebe zu ihm wird sich wohl nie ändern. Genauso wenig wie die Liebe zu dir oder deine Liebe zu deinem Bruder. Ich hab's heute schon Nico erzählt: Thimo ist für mich auch sowas wie ein Bruder. Manchmal hab ich sogar den Eindruck, er ist ein Teil von mir. Aber du, Tim, du bist etwas völlig anderes. Du bist Neuland. Ich lern dich erst kennen. Es ist, wie eine Entdeckungsreise auf einem fernen unbekannten Kontinent. Aber ich weiß jetzt schon, dass ich diesen Kontinent nicht mehr verlassen will, weil ich spüre, nein, weil ich weiß, dass ich hierhin gehöre. Babe, I love you!«
»Wow, du bist wirklich cool. Ich kann das nicht so gut ausdrücken wie du, aber ich glaub ich hab' dich verstanden. Ich hab' dich sofort verstanden. Ich lieb' dich auch. Ich bin zwar erst offiziell seit zweieinhalb Stunden schwul, aber ich lieb' dich! Und ich bin wirklich nicht eifersüchtig, wenn es das ist, was du denkst. Aber ich würde Thimo gerne kennenlernen. Er ist ja nicht ganz unschuldig daran, dass du hier stehst, oder wer hat dich zu deinem Coming-Out gezwungen? Du hast nicht zufällig ein Bild von ihm in der Brieftasche?«
Ich hatte keins. Alle meine Freunde hatten ein Foto ihrer Lieben im Portemonnaie. Thimo und ich nicht. Er war auch ohne Foto bei mir, also wozu?
»Nein, kein Bild. Aber das mit dem kennenlernen sollte man mal anleiern. Warst du schon mal in USA?«
»Nein, noch nie. Paps steht mehr auf Schwarzwald und Lüneburger Heide. Aber zurück zum Bild ... warte mal ...«, Tim durchwühlte eine Schreibtischschublade, »Das hier wird dir gefallen ...« Tim hielt mir ein kleines Passfoto hin. Es zeigte ein Bild von Tim in einer Foto-Fix-Kabine. Der Blitz musst in einem unerwarteten Moment ausgelöst haben, Tim machte ein derart niedlich-blödes Gesicht, dass ich lachen musste.
»Ich wusste, dass es dir gefällt!«
Ich nahm das Foto wie eine heilige Ikone und verstaute es in meiner Moneybox: »Danke ... Shit, ich bin sprachlos ...« Mann, war die Szene kitschig, aber mir kamen echt vor Rührung die Tränen. Ein schäbiges Foto-Fix-Bildchen und ich heulte los. Wer mich jetzt Tunte nennt, wird erschlagen! Das ist ein Versprechen!
»Erde an die zwei Engel da oben - Erde an die zwei Engel da oben. Is' ja ekelhaft diese Verliebtheit. Könntet ihr zwei mal mit dem Schweben aufhören? Ich glaub' Mama hat bei ihrem Verhör was bemerkt!«
2.12. Im Minenfeld des Familienlebens
Mit einem Schlag hatte uns die Gravitation wieder eingefangen.
»Nico, erzähl kein Scheiß. Wie soll Mama was bemerkt haben?«
»Habt ihr zwei mal darüber nachgedacht, wie ihr euch anhimmelt? Ihr schmachtet euch dermaßen an, dass ein Blinder das sehen würde.«
»So extrem?«
»Nein, extremer ...«
»Shit!«
»Ich dachte hier soll man nicht fluchen.«
»Svenni, das ist nicht witzig ...«
»Sorry! War nicht so gemeint. Aber du sagtest selbst, dass deine Mum das akzeptieren würde.«
»Mum ja, aber unser Vater bringt ihn um!«
»Kindermund tut Wahrheit kund. Paps bringt mich um!«
»Er ist aber im Moment nicht da, also warum sprichst du nicht mit deiner Mutter? Kommando zurück! Ich will dich zu nichts drängen! Ich weiß selbst, wie schwer das ist ...«
Es klopfte an der Zimmertür.
»Ja?«
»Darf ich reinkommen?«
Tim schüttelte den Kopf, um ihn anschließend gleich hängen zu lassen und murmelte leise zu uns: »Sie weiß es! Sie klopft sonst nie an!«, dann laut zur Tür gewandt: »Ja Mum, komm rein.«
Sonja öffnete die Tür und trat ins Zimmer und fand drei sehr unterschiedlich gestimmte Jungs vor: Tim saß traurig auf seinem Bett, den Blick gesenkt. Ich hockte nervös und unsicher auf einem Sessel. Nico lehnte sich genüsslich auf Tim Schreibtischstuhl zurück und war unverhohlen neugierig.
Sonja lächelte: »War das Abendbrot so schlecht? Ihr seht nicht gerade glücklich drein.«
»Mummi, ich hab' mich verliebt.«
»Und deswegen bist du traurig?«
»Nein, natürlich nicht. Das wär' ja absurd ...«
»Stimmt. Aber warum bist du denn traurig ...«
»Äh, naja, es könnte sein, dass dir meine Wahl nicht wirklich gefällt.«
»Hat dich das jemals interessiert?«
»Ey, das ist nicht nett und nicht fair! Natürlich hat es das!«
»Ich weiß. Und, war ich jemals mit deiner Auswahl unglücklich?«
»Nein, soweit ich mich erinnern kann, warst du das nie ...«
»Das hat auch einen Grund. Eigentlich mehrere. Erst mal respektiere ich dich. Du bist alt genug, eigene Entscheidungen zu treffen. Das gilt für euch beide, auch für dich Nico! Ich fand die Wahl deiner Partnerinnen immer sehr reif, keine dummen Tussis, wie ihr das wohl nennt. Also, wieso sollte das jetzt anders sein.«
War das déjà vu? Mir kam es so vor, als wenn ich eine ganz ähnliche Szene vor 4 Wochen schon mal erlebt hatte. Tims Mutter hatte zwar keine äußeren Ähnlichkeiten mit Thimos Mutter, aber Mütter schienen Mütter zu bleiben. Sonja baute Tim die gleiche Brücke, wie Ellen Thimo. Und genau wie Thimo sah Tim diese Brücke nicht. Ob das wohl am Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen lag?
»Es ist kein Mädchen, es ist Sven! Ich bin wohl schwul ...«
»Oh Sohn, welch schwere Geburt! Lass dich von deiner alten Mutter drücken! Nett, dass du mir immer noch vertraust.«
»Wie? Keine Vorhaltungen. Kein: Was hab' ich falsch gemacht! Oder du bist nicht mehr mein Sohn! «
»Nö, das wird doch schon dein Vater erledigen. Er wird dich umbringen!«
Mutter und Sohn umarmten sich. Tim hatte die Augen geschlossen und kleine Tränen quollen durch die geschlossenen Lieder. Sonja zwinkerte mir lächelnd zu, und hob hinter Tims Rücken beide Daumen nach oben. Offenbar fand Tims Partnerwahl auch diesmal ihre Zustimmung.
»Ich darf aber trotzdem Mädchen anschleppen?«, Nico machte sich bemerkbar.
Sonja lachte: »Natürlich darfst du. Ich will nur, dass ihr glücklich seid. OK?«
»Danke Mama!«
»Nichts zu danken, mein Sohn. Die Oper ist erst zu Ende, wenn die dicke Dame gesungen hat. Und die heißt in diesem Fall Dr. Rüdiger Mannteufel und ist zufällig dein Vater. Na, das kann lustig werden.«
»Er bringt mich um!«
»Nein, das wird ein Doppelmord. Sven, du wirst leider auch dran glauben müssen. Schließlich hast du seinen Sohn zu widernatürlichen Handlungen verführt.«
So ganz verstand ich das mannteufelsche Familienleben nicht, aber es schien nicht das harmonischste zu sein. Auf der anderen Seite schienen Mutter und Söhne unzertrennlich zu sein.
»Du fragst dich, wie ich über meinen Mann rede?«
Ich schwieg verunsichert, nickte aber ein Ja.
»Es ist kein Geheimnis, unsere Ehe ist am Ende. Der Mann, den ich liebte, ist schon vor Jahren gestorben, zurückgeblieben ist ein verbitterter, bigotter, reaktionärer Heuchler, der Nico, Tim und mich tyrannisiert. Warum wir noch nicht geschieden sind? Er hat Macht! Macht und Einfluss! Nein, keine Angst, ich seh' die Frage in deinen Augen, er schlägt uns nicht, nicht physisch. Es gibt andere Methoden des Terrors. Außerdem hätte ich dann etwas gegen ihn in der Hand. Aber als bedeutender Parteibonze kann er eine Menge Unheil anrichten. Es könnte mich meinen Job kosten, aber das wär' mir egal. Er könnte aber versuchen, mir Tim und Nico wegzunehmen, oder ihnen Steine in den Weg legen. Das kann ich nicht zulassen und das werde ich nicht zulassen. Also harren wir vorerst aus. Zum Glück ist er fast nie da. Wie ich diesen Mann inzwischen verachte, manche Mörderin in meinem Knast hat mehr Herz als dieser Mann.«
Sind das die Dinge, die man erlebt, wenn man erwachsen wird? Die einem die kindliche Unbefangenheit rauben? Die Welt von Sonja, Nico und Tim nahm mich mit. Es zerrte an meinen Nerven, die drei leiden zu sehen. Aber wie sollte ich daran etwas ändern? Ganz im Gegenteil, ich war die Quelle aufkommenden Ärgers. Der Konflikt zwischen Tim und seinem Vater war vorprogrammiert. Egal ob er es ihm gleich sagen würde oder später. Die Weichen waren auf Konfrontation gestellt und führten direkt zu einem Abgrund, von dem niemand wusste, wen es alles mit hinabreißen würde.
Wir diskutierten noch bis spät in die Nacht. Die drei wirkten wie eine verschworene Gruppe von Kämpfern. Je unerträglicher ihr Vater und Ehemann wurde, desto enger schweißte es Tim, Nico und Sonja aneinander. Damit man mich nicht falsch versteht: Sonja war alles andere als eine schwache Frau. Ich glaube sogar, dass sie stärker ist, als meine eigene Mutter. Aber Dr. Rüdiger Mannteufel hatte andere Methoden, um seine Ziele zu erreichen. Es waren Methoden, die einen direkten Angriff überflüssig machten. Mehr wollte sie zu dem Thema nicht sagen.
Langsam dämmerte mir, warum Tim und vor allem Nico auf mich so einen reifen Eindruck machten. Manchmal hatte ich das Gefühl, Nico war reifer als ich. Es lag einfach daran, dass sie durch ihre Umgebung gezwungen wurden, früher erwachsen zu werden. Ein ähnliches Phänomen wie bei Thimo, der am Tod seines Vaters gereift war.
Irgendwann war es zu spät für mich, um noch nach Hause zu fahren. Sonja grinste: »Ruf deine Eltern an und bleib hier. Ein zweites Bett werde ich wohl nicht aufbauen müssen, aber Oberbett und Kopfkissen wirst du brauchen.« Tim und ich wurden rot, protestierten aber nicht.
»Ok Sven, dann mach dich mal nützlich und komm mit.«
Ich folgte Sonja in der Erwartung mein Bettzeug zu erhalten, aber Sonja hatte noch etwas anderes auf dem Herzen. Sie erwartete mich in der Kammer mit den Betten und versicherte sich, dass wir allein waren.
»Sven. Ich möchte dir noch ein paar Dinge sagen. Es tut mir leid, aber jetzt kommt dieses fürchterliche Erwachsenengerede. Erst mal, ich bin mit dir absolut einverstanden. Du scheinst nicht nur das Herz von Tim, sondern auch von Nico erobert zu haben - und meins auch. Tim hätte es schlimmer treffen können. Dass er schwul ist, wusste ich schon lange ...«
»Ist das eines dieser berühmten Mutterdinge?«
»Mag sein. Ich merkte immer, dass er mit seinen Freundinnen nicht wirklich glücklich war. Ich sah, dass er etwas anderes wollte und sich quälte. Offensichtlich brauchte er so jemanden wie dich, der seinen Panzer knackte und sein Herz erobert. Dafür muss ich dir danken.«
»Nein, müssen sie nicht. Es war ja kein selbstloser Akt von mir. Ich will Tim! Ich liebe ihn. Und ich werde immer um ihn kämpfen.«
»Womit wir zum unangenehmen Teil der Unterhaltung kommen. Ich befürchte, du wirst bald mehr Gelegenheiten haben, um ihn zu kämpfen, als dir lieb sein wird. Tims Verhältnis zu seinem Vater ist sehr kompliziert, er kennt ihn nicht so gut wie ich. Nico ist jünger und hat einen völlig anderen Charakter. Tim versucht immer noch, seinen Vater zu beeindrucken. Hast du die Pokale in seinem Zimmer gesehen? Tim kann nicht loslassen, er klammert sich an die Figur seines Vaters, wie sie mal war oder hofft, dass irgendwo noch ein Rest davon da ist. Deswegen fiel es ihm auch so schwer, zu akzeptieren, schwul zu sein. Ich befürchte sogar, dass er sich unbewusst die Schuld für die Probleme mit seinem Vater gibt.«
Wenn man sowas hört, ist man sprachlos. Ich war es jedenfalls. Als ich Tim vor ein paar Tagen kennenlernte, war er ein ganz gewöhnlicher fröhlicher Junge. Ein echter Sunnyboy zum Verlieben. Mit Nichts von all dem, was ich in der letzten Stunde erfahren hatte, hatte ich je gerechnet. Aber hätte ich mich auch anders verhalten, wenn ich es gewusst hätte? Niemals! Tim braucht mich, mehr denn je!
»Du schweigst?«
»Ich denke nach ... Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nicht mal, was ich machen soll. Es ist so ein riesiger Berg Verantwortung, den Sie mir da aufladen. Das ist nicht fair. Am Ende fühl ich mich schuldig, Tim verführt zu haben.«
»Nein, das hast du sicher nicht und ich glaub' auch nicht, dass man sowas überhaupt kann. Aber, vielleicht sollten wir wirklich erst mal abwarten, was überhaupt passiert. Eins ist jedenfalls sicher: Tims Vater wird es rausbekommen! Er hat eine Nase für solche Dinge. Wenn es soweit ist, möchte ich nur eins von dir: Sei für Tim da! Zeig ihm, dass du ihn liebst! Kämpf um ihn!«
2.13. Definition einer Sprachregelung
Ich schnappte mir mein Bettzeug und ging, tief in Gedanken versunken, zurück in Tims Zimmer.
»Is' was?«
»Nein. Ich denk' nur nach ...«
Zum ersten Mal sah ich mich in Tims Zimmer um. Es stimmte, ein Regal war mit Pokalen gepflastert. Meine Vermutung, dass Tim ein Schwimmer war, war absolut richtig gewesen. Den Pokalen zufolge sogar ein verdammt guter und erfolgreicher Schwimmer.
»Wow, du bist ja die totale Wasserratte.«
»Ach, die Pokale. Naja, nicht so wichtig ... und sooo gut bin ich auch wieder nicht.«
»Ey Baby. Nicht tiefstapeln. Hier steht z.B. Jugendlandesmeister.«
»Komm lieber ins Bett ...«
Was für eine Aufforderung. Nichts lieber als das. Sekunden später lag ich neben Tim, eng umschlungen und aneinander gekuschelt. Wir hatten das Licht gelöscht und genossen unsere gegenseitige Wärme und Nähe.
»Mum hat mit dir gesprochen?«, Tims Stimme war leise, fast etwas ängstlich.
»Ja.«
»Hat Sie gesagt, dass ich mir die Schuld an allem gebe? Dass ich nicht von meinem Vater loslassen kann, weil der Mann, der er mal war, verschwunden ist?«, seine Stimme war völlig kraftlos, mit aller Macht hielt er seine Tränen zurück.
»Du hast sie wörtlich zitiert.«
»Svenni, ich habe Angst! Angst, dass sie Recht hat! Ich habe Angst vor meinem Vater und was kommen wird ...«
»Ich weiß ...«
»Bitte, halt mich fest. Lass mich nicht los. Niemals!«
»Niemals!«
Tim schlief schluchzend in meinen Armen ein. Ich tat die Nacht kein Auge zu. Zu viele Dinge gingen mir durch den Kopf, als dass ich hätte schlafen können.
Der Morgen begann besser als der Abend aufgehört hatte. Es war zwar verdammt früh für mich (6:30 Uhr), aber Tim war gut gelaunt und küsste mich wach. Ich muss dann wohl doch irgendwann eingeschlafen sein.
»Aufwachen Baby, die Schule ruft.«
»Hmmmm, könntest du das mit dem Baby wiederholen und den Teil mit der Schule weglassen«, ich öffnete meine verquollenen Augen. Morgens ist einfach nix mit mir anzufangen. Tim hingegen verströmte die Energie von zehn Dosen Red-Bull. Nur mit ein paar Shorts bekleidet, stand er vor seinem Kleiderschrank und suchte sich Klamotten raus.
»Mann, an diesen Anblick könnte ich mich gewöhnen. Hat dir schon mal jemand gesagt, dass man bei einem solchen Aussehen einen Waffenschein braucht?«
»Der Revierförster. Komm, steh auf und spring schnell unter die Dusche, bevor Nico das Bad für die nächste Stunde blockiert.«
»Ich weiß, wir hatten in der jüngsten Vergangenheit etwas Probleme mit dem Ausleihen von Klamotten, aber könntest du vielleicht ...?«, diese kleine Spitze konnte ich mir dann doch nicht verkneifen.
»Wenn du mir das noch einmal vorhältst, bekommst du keinen Kuss von mir und ich zieh mir sofort ein Hemd über.«
»Ok, ok. Bleib so, wie du bist und ich halt meinen Mund.«
»So is' brav. Da hast du dir auch eine Belohnung verdient.«
Tim umarmte mich und gab mir einen langen Kuss. Ey, so schlecht war sein Zungenpiercing gar nicht, man konnte nett mit der eigenen Zunge dran rumspielen.
»Hmm, lecker. Nach dem Duschen bekomme ich aber noch einen?«
»Mal sehen ...«
So und ähnlich ging es weiter. Kein Wort mehr über die Themen von gestern. Es war alles gesagt worden, warum sich also damit belasten? Offensichtlich sind wir alle Meister im Verdrängen.
Sonja begrüßte uns am Frühstückstisch. Sie hatte sich äußerlich wieder in die strenge, englische Gouvernante verwandelt, war aber noch genauso nett, wie gestern nach ihrer Verwandlung.
»Morgen Jungs. Frühstückt schön und dann ab zur Schule. Ich muss los. Also macht's gut... Und gebt Nico einen Kuss von mir.«
»Tschüss Mum.«
Und weg war sie. Wir aßen unser Frühstück. Nico gesellte sich irgendwann dazu. Schließlich wurden wir fertig, packten unsere Sachen und machten uns auf den Weg zur Schule.
»Äh, was wollt ihr eigentlich euren Freunden und Mitschülern erzählen, ihr beiden Turteltäubchen?«
Wir saßen in der S-Bahn. Tims kleiner Bruder warf da eine interessante Frage auf.
»Für mich ist das neu. Svenni, wie bist du denn bisher damit umgegangen. So rein informationspolitikmäßig?«
»Für mich ist das auch neu. Du vergisst, dass mein öffentliches Coming Out, wenn man das überhaupt so nennen kann, grad' mal 5 Wochen her ist. Ich wüsste aber nicht, warum es jeder Hansel wissen sollte. Den Stress kann ich mir echt sparen. Idioten gibt es überall. Und was ich so gesehen habe, gibt's in unsere Klasse einen ganzen Haufen davon.«
»Ich merk' schon, du hast Rolf bereits in dein Herz geschlossen«, ein fieses zynisches Grinsen von meinem Schatz.
»Ihn und seine Spießgesellen. Obwohl Rolf noch meine kleinste Sorge ist. Viel Muskel, wenig Hirn. Was ist aber mit den Warmduschern, die mehr so auf die heimliche Art Stress machen? Du weißt schon: hier ne' Bemerkung, da ne' Andeutung. Nee, danke. Die Nummer, die ich auf Fehmarn mit Thimo abgezogen hab', war ne' einmalige Spezialnummer. Aktion verbrannte Erde. Wir wollten all den Spießern noch mal richtig zeigen, wo der Hammer hängt. Dass es dann so super positiv ablief, war eine echte Überraschung. Ich denk, ich werd' erst mal nicht mit 'nem Stempel 100% schwuler Schnuckel auf der Stirn rumlaufen.«
»Würd' dir aber gut stehen.«
»Hör ihn sich einer an! Gestern noch die Klemmschwester vom Dienst und heute schon der Bilderstürmer. Mal im Ernst: Dirk, Peter, Sven und Biene, vielleicht Kuki sollten wir einweichen, äh, einweihen. Dreh' die Sache mal um, hat sich je einer deiner Mitschüler vor dich hingestellt und gebeichtet: Ich bin heterosexuell? Wenn mich jemand direkt fragt, kann ich immer noch entscheiden, was ich sage.«
»Recht du hast.«
»Danke Yoda!«
2.14. Partyplanung
»Du Arsch wagst hier einfach so aufzutauchen, als wenn nichts gewesen wäre?«, kaum hatte Sabine mich gesehen, verwandelte sich ihr Gesicht in eine subtropische Sturmfront. Blitze schlugen mir aus ihren Augen entgegen. Für einen Sekundenbruchteil war mir die Ursache ihres Zorns unklar, bis mir die Nachricht auf meinem Anrufbeantworter einfiel. Richtig, Biene wollte noch mit mir Schlittenfahren, weil ich Tim entgegen meines Versprechens schlecht behandelt hatte. Es war wohl Zeit, sie auf den aktuellen Stand der Ereignisse zu bringen.
Biene wollte bereits auf mich losstürmen, als eine Hand sie sanft aber nachdrücklich netterweise daran hinderte. Es war natürlich Dirks Hand, der gerade dazugekommen war.
»Ich glaube, Schatz, dein Zorn kommt etwas zu spät. Schau dir die beiden an, wie sie über den Boden schweben«, und zu uns gewandt, »Hallo Tim, du hast also die Seiten gewechselt?«
Mein kleiner wurde rot: »Äh, ist das so offensichtlich? Naja, ihr wisst ja über Sven Bescheid. Wir haben uns gestern ausgesprochen ... Was soll ich drum rumreden, Sven und ich, wir sind zusammen.«
Tim legte wirklich los. Ich hatte für mein Coming-Out deutlich mehr als 12 Stunden gebraucht, für ihn schien der Kommentar »Wir sind zusammen«, das Selbstverständlichste auf der Welt zu sein. Als indirekt beteiligter fühlte ich mich genötigt, auch noch was sagen zu müssen.
»Ich wäre euch sehr dankbar, wenn ihr das erst mal für euch behalten könntet. Aber was haltet ihr davon, wenn wir uns alle, also auch Sven und Peter, vielleicht auch Kuki, heute Nachmittag bei mir treffen und meine Geburtstagsfeier planen. Dann kannst du mir immer noch den Arsch aufreißen, Sabine!«
»Auf das Angebot werd' ich wohl noch zurückkommen. Du hast mir versprochen, mit Tim nett umzugehen ...«
»Ich weiß und es tut mir wirklich leid!«
»Lass mich gefälligst aussprechen! Da Tim es dir offensichtlich nicht übel genommen hat, was soll ich da noch böse mit dir sein?«
Und zu Tim gewandt: »Tim, geht es dir gut?«
»Mir ging es nie besser, als mit ... Oh, Shit ...«, Tim biss sich auf die Zunge, »Biene, es tut mir leid, ich wollte nicht sagen, dass ...«
»Ich weiß, was du sagen wolltest. Es ist OK. Mann, ich hätte es besser wissen sollen. Ich hätte es bemerken sollen. Du warst immer so zärtlich zu mir, aber selbst wirktest du nie richtig glücklich. Und als du Schluss gemacht hast ... Ich hätte dich umbringen können.«
»Ich kann es nur wiederholen: Sabine, es tut mir leid. Wenn ich früher gewusst hätte, was ich wirklich, nein, wen ich wirklich brauche, hätte ich vieles anders gemacht. Biene, Entschuldigung!«
»Tim, es ist OK! Wirklich! Glaub' mir! Es ist alles verziehen und vergessen. Du bist und bleibst einer meiner besten Freunde!«
Die beiden fielen sich in die Arme. Man konnte sehen, dass eine offenbar lange gestörte Freundschaft erneuert wurde. Dirk und ich standen wie Falschbier am Rand und sahen zu. Dieser Moment gehörte Tim und Sabine. Tim bekam seine Absolution und Sabine konnte endlich wirklich loslassen. Soweit war das offensichtlich, neugierig wie ich bin, wollte ich natürlich Details wissen und sprach Tim später auf dem Weg zum Klassenraum darauf an.
»Ihr ward zusammen? Du und Biene!«
»Ja, fast ein dreiviertel Jahr lang. Sabine war noch am ehesten das, was ich meine Freundin nennen würde. Aber auch bei ihr spürte ich, dass es nicht richtig war.«
»Du hast mit ihr Schluss gemacht!«
»Ja!«, die Erinnerung schien sehr schmerzhaft zu sein.
»Und?«
Tim atmete laut aus, bevor er weitersprach: »Es hat sie verdammt hart getroffen. Sie brach regelrecht zusammen. Ja, die alte Zicke, das toughe Girly klappte zusammen und ich war schuld. Auch so eine Sache, auf die ich nicht sonderlich stolz bin und gerne ungeschehen machen würde.«
»Wie ging es weiter ...?«
»Ich hab' mich mit Dirk geprügelt. Oh, wir waren verdammt männlich. Männer machen sowas. Oh Shit, ich hätte' fast alle meine Freunde verloren. Dirk war in Sabine verliebt, schon damals. Du erinnerst dich an das Bild von ihm, als er noch fett war? Während ich mit Biene zusammen war, hat er wie ein Wahnsinniger abgespeckt und trainiert. Und als ich dann Schluss gemacht hatte, war er bereit. Bereit mir in den Arsch zu treten, weil ich Sabine verletzt hatte. Mann, Dirk liebt sie wirklich. Er ist absolut der Richtige. Ich bin froh, dass die beiden zusammengefunden haben.«
»Das versteh' ich nicht. Ihr habt euch geschlagen und seid dennoch die besten Freunde?«
»Sabine! Immer wieder Sabine! Sie zog einen Schlussstrich und sagte Stopp! Sie sorgte dafür, dass wir uns vertrugen. Das ist übrigens merkwürdig, schon damals meinte Biene, es wäre nicht wirklich meine Schuld. Ob sie wohl gespürt hat, dass ich schwul bin? Auf der anderen Seite war sie auch unerbittlich hart. Sie hat mir unmissverständlich klargemacht, dass wenn ich sie je wieder anrühren würde, sie dafür sorgt, dass mir Dirk sämtliche Knochen bricht.«
»Oh, die Frau ist hart!«
»Wie Diamant! Was du eben erlebt hast, war seit fast einem Jahr das erste Mal, dass wir uns berührt haben. Ich glaub', das vorhin, war unsere wirkliche, echte Trennung. Ab jetzt steht nichts mehr zwischen uns. Wir sind frei.«
Nach den üblichen schulischen Inhalten, wie Bio, Geographie, Englisch und Sport, war mein zweiter Schultag ebenfalls vorbei. Wir, das heißt Kuki, Peter, Dirk, Biene, Sven, Tim und ich, saßen bei mir zu Hause und aßen das Mittagessen, das meine fürsorgliche Mutter uns netterweise bereitet hatte.
»Also ihr zwei, erzählt mal!«, Dirk war die Neugier in Person.
»Was sollen die beiden erzählen? Hab' ich was nicht mitbekommen?«
»Schau sie dir doch mal genauer an. Hast du heute überhaupt nichts bemerkt?«
»Meinst du, dass Sven und Tim wieder miteinander reden? Das ist mir schon aufgefallen, ja und? Wurde doch auch Zeit, oder? Also Timmy, hast du also doch keine Probleme damit, dass Sven schwul ist?«, Sven verstand nur Bahnhof, was kein Wunder war, da weder er, noch Kuki und Peter am Morgen bei der kleinen Szene mit Dirk und Biene anwesend waren.
Ich musste grinsen und schaute zu Tim rüber. Der zuckte mit den Schultern: »Warum eigentlich nicht?«
»Na, dann. Mach mal ...«, warum soll ich Tim nicht den Spaß gönnen. Außerdem, so eine kleine Übung in öffentlichem Coming Out konnte ihm weiß Gott nicht schaden.
»Arsch!«, grinste mich der Kerl doch tatsächlich an und streckte auch noch seine Zunge raus. Ich weiß nicht, ob ich es mir nur einbildete, aber Tim wirkte freier, offener, fröhlicher und gelöster als früher. Mir gefiel es. Wenn Tim sich wohl fühlte, tat ich es auch.
»Also gut, da Svenni kneift, muss ich wohl ran. Sven I hat Recht! Inzwischen hab' ich keine Probleme mehr damit, dass Sven II schwul ist!«
»Und was hat deinen plötzlichen Sinneswandel bewirkt?«
»Ich bin verliebt! Richtig verliebt!«
Kuki spielte gesättigt vom vorzüglichen Essen meiner Mama mit seinem Nasenring, Sven zuckte mit den Schultern ein »Ja, und? Wie heißt sie?« und Peter gähnte nur gelangweilt: »Wo ist da die Neuigkeit? Was hat das eine mit dem anderen zu tun?«
Biene und Dirk grinsten in sich hinein.
»Oh, 'ne Menge! Sie ist ein Er und heißt Sven und sitzt euch gegenüber.«
Ich spielte Teletubbi und winkte den verdutzten Gesichtern zu: »Oh-Ohhh!«
Die eben noch megamäßig gelangweilt dreinschauende und vollgefressene Mannschaft saß plötzlich kerzengrade auf ihren Stühlen.
Sven I sah mich gespielt vorwurfsvoll an: »Als ich dir sagte: 'Das renkt sich mit Tim wieder ein', hatte ich das eigentlich etwas anders gemeint. Naja, was soll ich sagen. Wo die Liebe hinfällt ...«
»... wächst kein Gras mehr. Ich weiß. Danke Svenni.«
Peter braucht etwas länger, um die Sache zu durchdringen: »Aber Tim, dann bist du ja schwul?«
»Junge, du bist ein Blitzmerker.«
»Und die Mädels?«
»Sind Geschichte. Naja, das war wohl der Grund, warum das bei mir nie lange gehalten hat.«
»Mann, das is' ja n' Ding. Da kommt dieser Inselsurfbubi und dreht uns den Schwarm aller Mädels um.«
»Ey! Ich bin kein Inselsurfbubi, außerdem war da nichts umzudrehen, was nicht schon umgedreht war!«
Peter wurde rot: »Ganz ruhig. Ich mein das nicht so. Is' schon OK. Nicht aufregen. Keep cool! Nebenbei, ihr passt gut zusammen. Also, meinen Segen habt ihr. Mann, dass is'n Ding! Kuki, was sagst denn du dazu?«
Kuki fummelte immer noch verträumt an seinen diversen Piercings rum, machte dabei aber einen merkwürdig ambivalent traurig-fröhlichen Eindruck. Er schien sich über etwas gleichzeitig zu freuen, aber im selben Moment auch traurig und verletzt zu sein. Mir war, als wenn ich eine klitzekleine Träne in seinen Augen aufblitzen sah. Als er schließlich sprach, war seine Stimme hörbar belegt und verschnieft.
»Mensch, ich freu' mich für euch! Wirklich ...«, ein gequältes Lächeln kam über seine Lippen, trotzdem wirkte es völlig ehrlich.
»Aber? Komm Kuki, spuck's aus ...«
»Tja, Svenni, da du ja nun dein Glück mit Timmy gefunden hast, bin ich wohl aus dem Rennen ...«
Es brauchte eine ganze Weile, bis ich begriff, was dieser nette kleine Metalljunge da gerade vom Stapel gelassen hatte. Ich schaute Kuki an. Er lächelte, es war ein gleichzeitig trauriges, aber auch gleichzeitig glückliches Lächeln und mir war klar, dass ich an beidem schuld war. Schuld für seine Traurigkeit, dass meine Liebe nicht ihm, sondern Tim gehörte und Schuld an seinem Glück, soeben sein persönliches Coming Out hingelegt zu haben.
Ich konnte einfach nicht anders, ich musste Kuki umarmen und festhalten. Er schmiegte sich an mich und hielt mich ebenfalls fest. Er verlor den Kampf gegen seine krampfhaft zurückgehaltenen Tränen und öffnete die Schleusentore an seinen Augen. Ich mochte diesen Kerl, er war wirklich süß, trotz des ganzen Metalls in ihm, und wer weiß, wenn Tim nicht gewesen wäre ...? Umso mehr tat es mir leid, seine Liebe nicht so erwidern zu können, wie er sich das wünschte: »Kuki, es tut mir leid ... Ich mag dich. Ich lieb' dich, aber nicht so ...«
»Ich weiß! Es ist OK ... Du kannst nichts für deine Gefühle ... Du gehörst zu Tim und er zu dir. Das sieht man. Das fühlt man.«
»Freunde?«
»Freunde! Auf ewig!«
»Kann mir mal jemand helfen und verraten, was hier gerade passiert.«
»Peter, du bist wirklich nicht der Hellste heute!«, Sabine hatte das Wort ergriffen, »Ok, für die Leute mit den langen Leitungen. Kuki hat uns soeben ganz nebenbei durch die Blume mitgeteilt, dass er auch vom anderen Ufer ist und leider unglücklich in Sven II alias Inselboy verliebt ist. Diesem wiederum, ganz der Softie, der er nun mal ist, tat das natürlich ganz fürchterlich leid und musste Kuki erst mal knuddeln, bevor sie sich gegenseitig ewige Freundschaft versprochen haben. War das so ungefähr korrekt?«
Ich musste laut loslachen und war damit nicht alleine.
»Der Analyse unserer Oberschlampe ist nichts hinzuzufügen!«
Biene lehnte sich zufrieden mit sich und der Welt in ihrem Stuhl zurück.
»Ok, wen sollen wir alles einladen?«
Wir saßen bei mir im Bungalow und waren mitten in der Partyplanung.
»Naja, für eine richtige Fete sollten das schon ein paar mehr Leute sein. Außerdem würd' ich die Leute alle mal gerne außerhalb der Schule erleben. Ich bin jetzt so knapp drei Wochen in Berlin und kenn gerade mal zwei Hand voll. Wir sollten die Einladungen also großflächig streuen, und wenn jemand noch jemanden mitbringen will: warum nicht?«
»Ok, Inselboy will Leute beschnuppern. Also eine Megaparty. Das heißt dann wohl Mitbringparty. Wer bastelt die Webseite. Kuki, du?«
Zustimmendes Nicken und Metallgeklapper machte diese Sache klar.
»Ich hab' zwar Geburtstag, will aber keine Geschenke haben! Schreib' das mit auf die Website. Das gilt auch für euch! Ich will nix haben! Wenn jeder was zu essen und/oder zu trinken mitbringt, ist das OK. Wir koordinieren das alles über die Site.«
»Das mit dem Essen klingt vernünftig und ist hiermit beschlossen. Musik? Peter?«
»Kein Thema. Ich muss nur klären, ob ich die Anlage aus dem Klub bekommen kann.«
»Klub?«
»MC Peter the Great!«
»Ach noch ein Musiker? Ich sollte dir mal 'nen Kontakt mit Kai machen.«
»Hip-Hop?«
»Nee, mehr Techno und Trance.«
»Naja, nicht unbedingt mein Ding, aber man weiß ja nie.«
»Moment mal, sagtest du Hip-Hop? Timmy-Baby, ob Nico wohl ...?«
Tim strahlte vor Freude: »Wenn du ihn einlädst und er seine Musik machen kann, wird er vor Stolz platzen. Er wird dich ewig lieben.«
»Das mit der ewigen Liebe muss ein Problem in eurer Familie sein ... Ok, Peter und Nico machen die Musik. Light und Magic, darum werd' ich mich kümmern. Dann wär' wohl alles klar. Noch Fragen?«
Svenni hatte noch eine Frage: »Wie stellen wir das mit euch drei Elfen dar?«
»Ey, keine Beleidigungen!«
Svenni grinste mich mit seinem besten Bart-Simpson-Pokerface-Grinsen an. Während ich noch zurückgrinste, ergriff Tim das Wort.
»Ich hab' mich heute Morgen schon mit Sven darüber unterhalten. Naja, ihr kennt die Leute genauso gut wie ich. Mit den meisten wird es sicherlich keine Probleme geben, aber wenn das zu dem einen oder anderen Arschloch durchsickert ... Was ich sagen will: Man muss es den Leuten nicht auf die Nase binden. Wenn jemand fragt, ok! Ich bin schwul, so what? Ich denk, ich bin soweit, dann die Wahrheit zu sagen. Und wenn es Stress gibt, dann gibt es eben Stress. Pech!«
Kuki nickte: »Ich schließ mich dem voll an. Ich hab' auch keine Lust mehr auf Verstecken spielen, aber ich werd' sicherlich nicht mit 'nem Schild: ,Süßer schwuler Junge sucht schnuckeligen Freund.` rumlaufen.«
»Das könntest du bei all deinem Metall auch nirgends unterbringen ... Aua, jetzt haut er mich auch noch ...«
Dirk schüttelte den Kopf: »Bevor ihr euch weiter kloppt, möchte ich euch als selbst ernannter Sprecher eurer heterosexuellen Freunde nur noch auf den Weg geben, dass wenn es wirklich Stress geben sollte, wir natürlich hinter euch, oder wenn es notwendig sein sollte, auch mit unserem Körper vor euch stehen werden!«
»Dirk, komm in meine Arme!«
2.15. Mein sechzehnter Geburtstag
In den nächsten Tagen fühlte ich mich einfach super. Ich hatte Tim gefunden; ich hatte super Freunde gefunden; was will man mehr?
Tim, Kuki, Peter, Dirk, Sven, Biene, Nico und ich waren voll mit den Partyvorbereitungen beschäftigt. Die Webseite für die Partyinfos und Anmeldung für Essen und Trinken stand. Jeder hatte seine Freunde und Bekannte eingeladen. Ich bestand auch darauf, die Leute einzuladen, die man normalerweise nicht einladen würde. Mir war es wichtig, meine potenziellen Gegner im Leben zu kennen. Außerdem hat schon so manche unerwartete Einladung Wunder bewirkt und Gegner in Freunde verwandelt. Ein bisschen Imagepflege hatte auch noch nie geschadet.
Mit dem Eindruck, dass Tim sich viel freier und offener fühlte, hatte ich mich nicht getäuscht. Sabine zog mich eines Tags zur Seite und meinte: »Svenni, was hast du nur mit Tim gemacht? Ich hab' ihn nie so fröhlich erlebt. Er blüht richtig auf.«
Die Nachricht von der bevorstehenden Fete verbreitete sich in unserer Klasse wie ein Lauffeuer. Durch Freunde oder Freundinnen informiert sickerte die Information auch zu unseren Parallelklassen durch. Ich ahnte schon, dass die ganze Sache größer werden würde, als wir geplant hatten. Am zweiten Tag nach der Bekanntgabe waren bereits 35 feste Zusagen auf der Website eingegangen.
Und noch etwas passierte. Die Machtverhältnisse der einzelnen Gruppen in unserer Klasse änderten sich. Der Einfluss, den manche Leute auf die allgemeine Meinung hatten, wurde weniger, bei manchen dafür deutlich mehr. Während Rolf und seine Jungs spürbar ins Hintertreffen gerieten, waren wir glorreichen sieben (Tim, Sven, Kuki, Biene, Peter, Dirk und ich) unerwartet die angesagteste Gang des Jahrgangs. Ich ahnte, dass das nicht ohne Folgen bleiben würde. Rolf war sicherlich nicht bereit, so einfach auf seinen Status als Alphamännchen zu verzichten.
Ich behielt meine gruppendynamischen Betrachtungen erst mal für mich. Es musste ja nicht jeder gleich wissen, dass ich in solchen Dingen etwas paranoid war. Ein anderer dunkler Schatten bedurfte ebenfalls meiner Aufmerksamkeit: Tims Vater war wieder zu Hause. Wenn wir zwei gehofft hatten, sehr privat etwas Zeit miteinander zu verbringen, schloss sich das im Moment leider aus. Dr. Mannteufel war nicht der Vater, der es mochte, wenn seine Söhne am Abendbrottisch oder womöglich die Nacht über fehlten. Tims neu entdeckte Neigungen zum eigenen Geschlecht waren ihm aber glücklicherweise bisher verborgen geblieben.
Eine ganz andere Sache soll ebenfalls nicht unerwähnt bleiben: Thimos regelmäßige Mails beruhigten mein schlechtes Gewissen (»Mensch, Svenni! Ich freu' mich für dich und Timmy! Nach dem Bild, das du mir geschickt hast, sieht er ja richtig süß aus. Ihr müsst mich unbedingt besuchen kommen!«), machten mich stolz auf meinen Bruder in der Ferne (»Tja, wenn das mit dem Football so weiterläuft und ich meine Performance halten kann, stehen die Chancen gar nicht so schlecht, dass ich Vice-Captain der Mannschaft werde. Coach Skinner ist sehr zufrieden.«), sorgten für etwas Unbehagen (»Mein Problem in der neuen Welt hat einen Namen: Scott! Ich fürchte, es wird noch verdammt viel Stress geben.«) und ließ mich hoffen, dass Thimo möglicherweise auch jemanden gefunden hatte (»Sein Name ist Marcel! Ein Traum von einem Jungen. Er erinnert mich an dich, Svenni! Aber in ihm steckt eine ganz tiefsitzende Traurigkeit und Furcht. Da kommt noch viel Arbeit auf mich zu. Außerdem weiß ich noch' nicht genau, ob er wirklich schwul ist. Nebenbei bemerkt: Ich hab' mich bisher noch nicht geoutet. New England ist ja sowas von konservativ!«). Alles in allem war Thimo ebenfalls im Alltag angekommen und hatte sich eingelebt. Keine schlechte Ausgangssituation.
Mein Geburtstag! Endlich sechzehn! Meine neue Schule hatte seit zwei Jahren auf eine 5 Tage Woche umgestellt, mit anderem Worten: Es war Samstag und ich konnte an meinem Geburtstag ausschlafen. Das heißt, ich hätte es gekonnt, wenn ich nicht von etwas ganz Liebem und Niedlichem wachgeküsst worden wäre. Ich öffnete die Augen und sah direkt in Tims Gesicht, das über mich gebeugt war und mich anstrahlte.
»Hi, Baby!«, ich strahlte müde, aber zufrieden zurück.
»Hm Kleiner! Ausgeschlafen?«
»Nicht wirklich, aber bei deinem Anblick ...«, ich räkelte und streckte mich unter meiner Bettdecke, »... was machst du denn so früh hier?«
Tim legte sich neben mich und kuschelte sich fest an mich: »Brauch ich einen Grund um dich zu sehen?«
»Nein, natürlich nicht. Ich freu mich, dass du da bist. Egal was heute noch kommt, du bist einfach das beste Geburtstagsgeschenk, das man bekommen kann.«
Ich rollte mich auf ihn und schob meine Hände unter sein T-Shirt. Ich konnte einfach nicht genug von seiner Samthaut bekommen. Tim revanchierte sich mit einem sehr leidenschaftlichen Kuss, um sich dann aber plötzlich von mir loszureißen.
»Tja, dann muss ich wohl dein Geburtstagsgeschenk wegschmeißen ...«, Tim hielt eine kleine Schachtel in seiner Hand, »... wenn du sagst, dass du schon das beste Geschenk bekommen hast ...«
Tims beleidigter Ton war nicht sehr überzeugend, aber ich freute mich zu sehr, als dass ich darauf einsteigen wollte.
»Du hast ein Geschenk für mich? Trotz meines ausdrücklichen Wunsches, keine haben zu wollen?«
Tim grinste mich an, »Das hier, ist etwas ganz anderes. Herzlichen Glückwunsch!«
Ich nahm die Schachtel und öffnete sie vorsichtig. In ihr lag eine geschmackvolle silberne Halskette mit Anhänger und ein kleiner Zettel: »Für einen Freund, der mein wahres ich befreit hat - Der mich befreit hat. In Liebe und Dankbarkeit Tim!«
Der Anhänger bestand aus der Hälfte einer goldenen Münze. Ich kannte diese Freundschaftsketten. Etliche Pärchen in meiner alten Schule liefen damit rum, aber diese Kette war anders, ihr schien diese industrielle Beliebigkeit zu fehlen, stattdessen strahlte sie etwas von der Wärme ihres Überbringers aus. Möglicherweise lag es an der Farbe der Goldmünze. Sie schien alt zu sein, sehr alt.
»Mein Gott, Timmy, ist das Gold?«
»Ja, diese Münze hab' ich von meiner Großmutter zur Taufe erhalten und sie hat sie von ihrer Großmutter erhalten. Sie muss so um die 200 Jahre alt sein.«
»Du bist wahnsinnig! Du kannst doch nicht ... Die muss ein Vermögen wert sein ... Ich bin sprachlos. Ich hab sowas Wertvolles nicht verdient ...«
Tim nahm meinen Kopf in seine Hände und schaute mich ernst und fest an: »Doch, das hast du! Du hast viel mehr verdient. Es ist nur eine Münze! Ihr Wert ist nur materiell! Du bist es nicht, deinen Wert kann man nicht in Euro ausdrücken. Ich liebe dich! Und ich brauch dich! Mehr als du dir vorstellen kannst. Du hast mich befreit, ich beginne erst jetzt langsam zu ahnen, wie sehr ... Deswegen, bitte, nimm mein Geschenk an.«
Shit, und wieder einmal kamen mir die Tränen, Freudentränen.
»Junge, du machst mich schwach! Komm häng sie mir um ...«
Tim öffnete vorsichtig das Schloss der Kette und hängte sie mir um. Ich wollte es mal wieder genau wissen und wir stellten uns nebeneinander vor den Badezimmerspiegel. Tim zog sein T-Shirt aus und brachte seine Hälfte der Münze zum Vorschein. Ich nahm beide Münzenhälften in die Hand und führte sie zusammen. Sie passten perfekt, genauso wie Tim und ich.
»Baby, du musst jetzt noch mal tapfer sein!«, Tim sah mich zwar ernst an, aber ein vorwitziges Zucken in den Augenwinkeln zerstörte den beabsichtigten dramatischen Effekt, »Ich werde dich jetzt verlassen!«
»Oh nein! Bitte, tu er es mir nicht an!«, ich hätte Opernsänger werden sollen, meine Aufführung war bühnenreif, »So verlass er mich nicht!«
Tim brach vor Lachen zusammen: »Sorry Svenni, aber in zwei Stunden gehen die Schwimmwettkämpfe los. Ich hab' dir davon erzählt. 4x100 Meter, 100 Brust, 200 Meter Freistil und und und. Wird ein volles Programm heute. Zur Party bin ich wieder da.«
»Ich wünschte, ich könnte dabei sein und dich in deinem hautengen Schwimmanzug sehen. Das muss sehr appetitlich aussehen ...«
»Kommt gar nicht in die Tüte. Du bleibst schön hier und bereitest die Party vor. Außerdem sind da viel zu viele gut aussehende Männer. Nicht, dass du noch auf dumme Gedanken kommst ...«
»Timmy, das war ein Eigentor!«
»Äh, ja, hmpf ...«, er lief doch tatsächlich rot an, »Ich mach mich denn mal schnell auf den Weg. Ich hab' noch ne Stunde S-Bahn vor mir. Aber ich wollte dich heute Morgen unbedingt sehen ...«
Ich nahm Tim in den Arm und verabschiedete mich von ihm: »Danke! für alles! Aber am meisten, dass es dich gibt!«
»Hör' auf Svenni, ich heul sonst los. Verdammt, ich lieb' dich. Bis nachher!«
Tim war weg und ich schaute erst mal auf die Uhr 7:30. Man, musste ich verliebt sein, dass man mich an einem freien Samstag so früh wecken konnte, ohne dass ich ausgerastet war.
Ich lag in meinem Bett und war mit der Welt zufrieden. Mit einer Hand hielt ich Tims Anhänger fest und von ihm träumend schlief ich glücklich wieder ein.
Gegen 9:00 Uhr begann mein regulärer Tag. Ich stand auf, duschte, zog mich etwas besser als sonst üblich an und ging ins Haupthaus, wo mich meine Eltern, ein Frühstück und ein überdimensionaler Geschenkkarton bereits erwarteten.
»Morgen mein Schatz! Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«, meinte Mum, nahm mich in den Arm und entdeckte prompt die Kette, »Was ist denn das?«
Ich zog die Kette hervor: »Von Tim, er war heute Morgen schon ganz früh da, um sie mir zu schenken. Er hat die andere Hälfte um seinen Hals hängen.«
Meine Mutter küsste mich auf die Stirn: »Ihr zwei seid richtig verliebt ineinander, wie? Ich freu mich für euch. Naja, mit solch einem Geschenk werden wir wohl kaum mithalten können ...«
»Mum, bitte! Ihr braucht mir nix zu schenken. Ich bin froh, dass ich euch hab!«
Mein Vater mischte sich ein und meinte in einem scherzhaften Ton: »Bist du das Svenni oder hat man unseren Sohn ausgetauscht? Solche Töne hab' ich von dir noch nie gehört ...«
Er machte eine Pause und fuhr dann in einem deutlich ernsteren Ton fort: »Gibt es Probleme? Hat Tim Probleme?«
»Sein Vater könnte ein Problem werden.«
»Erzähl mal ... Natürlich, nur wenn du willst.«
Ich erzählte, was ich wusste beziehungsweise, was ich meinte, erzählen zu können. Meine Eltern hörten aufmerksam zu. Es wurde ein etwas merkwürdiges Geburtstagsfrühstück. Mein Geschenk steckte nach wie vor in seinem Karton und ich war nicht mal neugierig. Stattdessen diskutierte ich mit meinen Eltern über mich, Tim, seinen Bruder, seine Mutter und seinen Vater, den ich bisher noch nicht einmal gesehen hatte und der mit trotzdem angst machte.
»Ich kann deine Angst verstehen. Der Mann scheint offenbar ein unangenehmer Zeitgenosse zu sein. Aber bisher ist noch nichts passiert, oder?«
»Nicht dass ich wüsste. Was rätst du mir?«
»Nanu, mein Sohn fragt mich nach einem Rat? Na gut, was ich jetzt sage ist meine persönliche Meinung und meine persönliche Erfahrung. Sie muss nicht stimmen. Die ganze Sache ist wie Schachspielen. Wenn sein Vater Stress machen will, muss er den ersten Zug tun und dabei wird er zwangsläufig seine Deckung aufgeben müssen. Du und Tim, ihr beiden scheint eure Figuren in eine recht gute Ausgangsposition gebracht zu haben. Ihr habt Deckung satt: Tims Mutter, eure Freunde, Nico und nicht zu vergessen, deine Mutter und mich. Also lass ihn kommen und den ersten Schritt tun. Rein rechtlich seid ihr auf der sicheren Seite. Wenn ihr zusammen seid, ist das seit Jahren glücklicherweise keine Straftat mehr. Auf der anderen Seite hat Tims Vater nach wie vor das Sorgerecht und kann in gewissen Grenzen den Umgang, den Tim pflegt, bestimmen. Das heißt aber nicht, dass er alles bestimmen darf. Ich werde mal mit unserem Anwalt sprechen, was das Familienrecht dazu genau sagt. Naja, ich werd' mal versuchen, eure Lage noch von einer anderen Seite etwas zu verbessern. Als Firmenboss und Bankmensch bekommt man ja zwangsläufig Kontakt zur Politik. Mal sehen, was ich über Dr. Mannteufel rausbekommen kann.«
»Danke Paps.«
»Nichts zu danken. Und jetzt pack' endlich dein Geschenk aus, sonst wird Thimo böse!«
»Thimo?«, was hatte der mit der großen Kiste zu tun? Zum Schluss war meine Neugierde doch noch geweckt worden und ich sprang auf ,um den großen Karton zu öffnen. Wow, ein nigelnagelneues MTB, genau genommen ein Cannondale Raven 4000 SX.
»Man soll ja eigentlich respektvoll mit seinen Eltern sprechen, aber trotzdem: Seid ihr völlig verrückt geworden? Dafür hätte man einen Kleinwagen kaufen können! Ich fass es nicht, das ist doch Wahnsinn! Ihr spinnt komplett. Womit hab' ich das verdient? Ich fass es wirklich nicht! Können wir das nicht zurückgeben und fünf Nummern kleiner kaufen? Shit, ein Raven II, ein 4000 SX. Das ist der totale Wahnsinn!«
»Nein, ist es nicht. Erst einmal ist der Werkseinkauf deutlich billiger, wofür dankenswerterweise Thimo gesorgt hat, und zweitens hätten wir dir wohl auf Fehmarn ein Leichtkraftrad schenken müssen, damit du etwas an Mobilität gewinnst. Aber in Berlin macht das nicht so richtig viel Sinn, oder?«
»Nein, nicht wirklich. Aber woher wusstet ihr, dass das mein absolutes Traumrad ist?«
»Du schläfst noch, oder?«
»Thimo? Wenn ich den zu fassen kriege!«
»Oh, nichts leichter als das. Da hängt noch eine Karte am Lenker!«
»Oh!«
Die Karte hatte ich zuerst gar nicht bemerkt. Ich riss das kleine dünne Bändchen ab, mit dem der weiße Umschlag am Lenker befestigt war, und öffnete das Kuvert. Als Erstes fielen zwei Flugtickets Berlin TXL nach Portland U.S.A. via Newark N.Y. heraus. Als Nächstes fand ich auch eine dazugehörige Karte von Thimo:
Lieber Sven,
ich hab' Dir versprochen, dass wir uns wiedersehen werden. Die zwei Flugtickets sollen dies möglich machen. Es sind zwei, weil ich von Dir erwarte, dass Du jemanden, den Du liebst, mitbringst. Ich weiß, was Du jetzt sagen wirst. Spar' es dir! Die Tickets waren nicht zu teuer! Außerdem wär' mir fast jeder Preis egal gewesen, denn Dich wiederzusehen ist unbezahlbar.
In Liebe, Thimo
»Wow, der Typ ist ein Spinner! Aber der netteste, den ich kenne! Wusstet ihr davon?«
Schuldbewusstes Nicken bei meinen Eltern bestätigte meinen Verdacht.
»Svenni, es ist alles im grünen Bereich! Mach dir keine Sorgen um die Kosten, das geht schon alles klar. Im Endeffekt hast du das Ticket und einen Teil des Fahrrades selbst bezahlt. Erinnerst du dich noch an den Treuhandfonds von Tante Margarethe?«
Doch, Tantchen hatte uns das Haus ermöglicht, wie konnte ich die gute alte Seele vergessen. Ob sie bei ihrem Nachlass aber ausgerechnet an einen schwulen Neffen gedacht hatte?
»Svenni, du bist wohlhabend. Wir haben etwas von dem Fonds für die Tickets und das Fahrrad genommen. Das fällt auf dem Konto weiß Gott nicht weiter auf. Sohn, ich bin stolz auf dich, dass du immer daran denkst, dass das nicht selbstverständlich ist und dass du auf dem Teppich geblieben bist.«
»Mir ist das unangenehm. Was hab' ich denn schon geleistet, womit ich das verdient hätte?«
»Bleib so! Mit dieser Einstellung solltest du eigentlich nie die Bodenhaftung verlieren. Und für diesmal gilt: genieß deine Geburtstagsgeschenke! Herzlichen Glückwunsch mein Sohn!«
Man muss meine Alten einfach gern haben. Dieser Tag entwickelte sich zu einem der besten, die ich je erlebt hatte.
2.16. Kukis Rache
Ich war gerade dabei mein neues Fahrrad auszuprobieren, als auch schon die ersten zwei vom Partyorganisationsteam eintrudelten. Kuki und Sven waren noch ungefähr 50 Meter von unserer Grundstückseinfahrt entfernt, als ich sie sah und sofort mit meinem Rad auf sie zuhielt.
»Wow, krasses Bike! Neu?«, Kuki traf die Sache wie immer auf den Punkt.
»Yo! Meine Alten haben mal wieder etwas übertrieben.«
»Kann ich mir die für meinen Geburtstag mal ausleihen?«
»Ich kann ja mal fragen. Und, wie sieht's aus?«
»Also, die amtliche Zählung auf unserer Site hat 63 bestätigte Zusagen erbracht. Es wird also sehr voll werden.«
»Svenni, hast du die Sachen bekommen, die ich noch für die Lichtanlage brauche?«
»Klar, du kannst also deinen Lötkolben schwingen.«
»Wo ist denn dein Baby? Ich hätte Timmy eigentlich hier erwartet.«
»Mein Babe musste leider schwimmen gehen.«
»Okay, wollen wir reingehen?«
»Klar! Wollt ihr n' Happen essen? Ich kann Mum fragen?«
Die Frage war rein rhetorisch; natürlich wollten die beiden was essen. Wenige Minuten später fanden wir drei uns mit einer riesigen Platte Sandwiches in meinem Bungalow ein.
Obwohl recht klein und dünn mampfte Kuki die meisten Brote. Sein Mund war jenseits aller physiologischen Möglichkeiten vollgestopft und trotzdem war er zu einer halbwegs verständlich Sprache fähig. Übung macht halt doch den Meister.
»Ich weiß, wir sollten dir ja nix schenken, aber ich konnte mich einfach nicht zurückhalten. Hier, fang!«
Sven grinste, offenbar wusste er schon, was in der kleinen Schachtel war, die mir Kuki zugeworfen hatte. Die Schachtel war mit silberner Folie und einer blauen Schleife verpackt und nicht sehr groß. Ein Würfel von nicht mehr als 6 cm Kantenlänge. Etwas in ihr klöterte.
Eigentlich wollte ich etwas entgegnen, aber der Anblick von Kukis traurigen Hundeaugen ließ meinen Widerstand zu seinem Geschenk wegschmelzen wie Butter in einer heißen Pfanne. Um nicht ganz mein Gesicht zu verlieren, schüttelte ich den Kopf.
Wie auch immer, ich puhlte also Kukis Geschenk auf. Erst die Folie, dann die kleine weiße Schachtel. So langsam wurde ich richtig neugierig. Was hatte sich der Kerl wieder ausgedacht. Dann war die Schachtel offen und ich hielt eine dieser kleinen verschließbaren Plastiktüten in die Luft.
Ich hätte es wissen sollen. Mit einem verdammt doofen Gesichtsausdruck betrachtete ich den Inhalt der Tüte. Svenni hatte es geahnt und brach in schallendes Gelächter aus.
»Ich hab's gewusst! Ich hab's gewusst! Svenni, du tust mir leid. Nimm nie, wirklich nie ein Geschenk von Kuki an!«
Der erwähnte warf Sven einen bösen Blick zu und richtete dann wieder seine Hundeaugen auf mich.
»Also ...«, etwas irritiert wechselte mein Blick von Kuki zu Tüte zurück zu Kuki und wieder zur Tüte, »... also ...«
Mir fehlten schlicht die Worte. Hatte mir dieser hinterhältige Blechträger doch tatsächlich Piercingschmuck geschenkt! Genau genommen einen Barbell, so einen Stift, wie Tim ihn in seiner Zunge trug.
»Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich mir das Ding irgendwo in meinen Körper rammen lasse?«
»Doch! Ich rechne fest damit!«
»Und warum sollte ich das tun?«
»Ganz einfach. Für meine unerwiderte Liebe zu dir bist du mir noch eine kleine Entschuldigung schuldig. So, dass du ein bisschen von dem Schmerz fühlst, den du mir bereitet hast. Oder willst du mir erneut das Herz brechen?«
»Jetzt hat er dich an den Eiern!«, Sven lag am Boden und krümmte sich vor Lachen, »Du solltest mal dein Gesicht sehen! Du guckst schon so schmerzverzerrt, dass man glauben könnte, man hat dich gerade gepierct!«
»Sehr witzig, Svenni! Sehr witzig! Danke für deine Hilfe!«, und zu Kuki gewandt, »Ich nehme mal an, du hast dir auch schon gedacht, wo das Ding hin soll?«
»Klar! Also wenn es nach mir gehen würde, dann eher in der Lendengegend ...«
»Autsch! Red' bitte nicht weiter!«
»... aber da ihr ja alle Warmduscher und Weicheier seid, dachte ich, dass deine Zunge der richtige Ort wäre. Außerdem würdest du dann mit Tim gleichziehen.«
»Hmm, also so richtig begeistert bin ich von dem Gedanken nicht, mir das Ding durch die Zunge bohren zu lassen.«
»Du wirst es überstehen, so wie Timmy! Ach ja, die handwerkliche Ausführung der Arbeit ist im Geschenk eingeschlossen und bereits bezahlt.«
»Ich hatte sowas schon befürchtet. Keine Chance, dass ich da noch rum komm?«
»Keine! Definitiv!«
»Auch nicht, wenn ich Tim den Laufpass gebe?«
»Zu spät! Du hast mein Herz schon zerschmettert! Das ist die Rache!«
»Shit!«
Es bleibt noch zu erwähnen, dass Sven mir ebenfalls ein Geschenk gemacht hatte. Genauso wie Peter, Nico, Dirk und Sabine. Tolle Freunde sind das, die sich an eine einfache Bitte nicht halten können.
In der Stunde vor dem großen Fest waren wir damit beschäftigt, alles vorzubereiten. Nico und Peter bauten die Musikanlage auf. Peters Schwager, der Mann seiner ältesten Schwester, war so nett und hatte die Geräte mit seinem Kombi aus Peters Bandraum abgeholt.
Ich war mit Sven, der ebenfalls ein geschicktes Händchen für Elektronik hatte, mit der Installation einer netten kleinen Lichtanlage beschäftigt. Es ging hauptsächlich darum, die Terrasse des Haupthauses zur Tanzfläche umzubauen (Strobes, Laser und Gobo-Beams) und einen Teil des Gartens romantisch (für die knutschwilligen) zu beleuchten. Die Party sollte dort stattfinden; meinen Bungalow wollte ich als privates Rückzugsgebiet nutzen und sollte daher nicht öffentlich zugänglich sein.
Dirk, Sven und Biene kümmerten sich um die Deko und den Aufbau von Tischen für Speisen und Getränke. Alles lief wie am Schnürchen. In einem ruhigen Moment musste ich unwillkürlich an meine Abschlussfeier auf der Insel denken. Sie war damals ein Wendepunkt in meinem Leben gewesen. Was würde meine Geburtstagsfeier werden?
Kurz vor fünf kam Tim von seinem Schwimmwettkampf zurück. Es sah müde, erschöpft und zufrieden aus. Ich konnte es gar nicht abwarten, ihn in die Arme zu nehmen.
»Hi, Baby!«, trotz seiner Erschöpfung strahlte Tim mich an, lächelte und nahm mich in den Arm.
»Müde?«
Tim nickte, er ließ seine Sporttasche auf den Boden plumpsen und sich selbst in einen Stuhl. Etwas in seiner Sporttasche schepperte.
Nico kam angerannt: »Hallo Bruderherz! Hast du sie alle plattgemacht?«
»Nein, nicht alle ... Mann bin ich fertig!«
»Wollen wir doch mal sehen, was da gescheppert hat.«
Kaum hatte Nico dies ausgesprochen, war er auch schon an Tims Sporttasche zu Gange und holte fünf neue Pokale heraus. Zwei zweite Plätze, zwei erste Plätze und einen ersten Platz für die 4x100m Staffel.
»Von wegen nicht alle ... Du hast in jedem Wettkampf mindestens den Zweiten gemacht! Mann, du warst noch nie so gut!«
Es war kaum zu übersehen, dass Nico der größte Fan seines Bruders war. Sie fielen sich in die Arme: »Timmy, du bist der beste! Du machst sie alle platt!«
»Danke! Ich weiß auch nicht, heute hat einfach alles geklappt.« Tim fielen fast die Augen zu. »Sven, kann ich mich einen Augenblick pennen legen?«
»Klar, komm mit!«
Nico wollte uns ebenfalls folgen, wurde aber von Dirk festgehalten, der uns etwas nachrief: »Ich glaube wir brauchen euch beide im Moment nicht. Wir passen schon auf, dass ihr eure Ruhe habt, bis die Gäste kommen.«
Ich brachte Tim in meine Wohnzimmer.
»Komm, leg' dich in mein Bett und ruh' dich erst mal aus. Aber vorher musst du mir noch verraten, wie gut du nun wirklich warst.«
»Svenni, ich bin noch nie so gut geschwommen wie heute! Ich weiß auch nicht, aber es hat einfach alles geklappt. Die 4x100m waren eigentlich schon verloren gewesen. Ok, ich war schon immer ein guter Schlussmann, aber das heute war der absolute Wahnsinn. Bei 400m Brust und 400m Freistil hab' ich noch nie was gewonnen. Unser Trainer ist völlig ausgerastet und hat mich gefragt, ob ich gedopt habe. Ich hab' gelogen und Nein gesagt.«
Ich war entsetzt, Tim nahm Dopingmittel?
»Spinnst du? Was hast du genommen?«
Tim sah mich lächelnd an: »Du bist mein Dopingmittel! Ich hab' die ganze Zeit nur an dich gedacht. Sogar im Wasser auf der Bahn! Hab' ich dir eigentlich schon mal gesagt, dass ich dich liebe?«
»Ich glaube schon, aber du darfst es gern wiederholen.«
»Svenni, ich liebe dich! Bitte leg dich zu mir. Ich bin total müde und will dich spüren! Lass mich, bis die Feier losgeht, einfach in deinen Armen schlafen. Bitte ...«
»Meine Arme gehören dir. Und nu', schlaf schön.«
Ich legte mich zu ihm ins Bett. Nach wenigen Sekunden war er, völlig erschöpft und ausgelaugt wie er war, in den besagten Armen eingeschlafen. Ich konnte nicht anders und musste ihn einfach ansehen. Er sah' so friedlich und glücklich aus, wie er da in meinen Armen lag. Es heißt, dass man alle seine Masken ablegt, wenn man schläft. Wenn das wahr ist und ich Tim jetzt so sah, wie er wirklich war, dann hielt ich einen Jungen in meinen Armen, der sich jeglicher Furcht und Angst entledigt hatte, der sich geborgen und beschützt fühlte. Ich hielt ihn ganz fest, schluckte meine wieder mal aufkommenden Tränen runter und schlief neben ihm ein.
2.17. Die Geburtstagsparty
»Hallo? Ich glaub', ihr solltet so langsam rauskommen. Die ersten Gäste sind schon da.«
Dirk war gekommen, um nach uns zu sehen. Wir hatten tatsächlich bis fast sechs Uhr geschlafen. Ich machte meine Augen auf und sah in das zwar noch verschlafene, aber nicht mehr so müde Gesicht von Tim.
»Was meinst du? Party?«
»Es ist dein Geburtstag! Also los ...«
In weniger als 15 Minuten hatte ich geduscht und mich für die Feier umgezogen. Als ich schließlich auf der Terrasse vor dem Haupthaus auftauchte, waren schon so um die 15 Gäste anwesend und ich wurde mit lautstarken »Hallo«, »Herzlichen Glückwunsch.«, »Tolle Organisation« empfangen. Etliche Leute (Männlein wie Weiblein) wollten gedrückt werden. MC Peter the Great sorgte für Hip-Hop der Extraklasse. Ich muss gestehen, dass ich nicht der absolute Hip-Hop-Fan bin, aber was Peter da hinlegte, war wirklich gut. Außerdem war er in der Lage über den Tellerrand seiner eigenen Musik zu schauen und auch anderen Geschmäcker zu Wort kommen lassen. So lange er nicht Eminem (Schwulenhasser) oder Britney (Dumpfbacke) spielte, war alles im grünen Bereich.
Der Garten und das Haus füllten sich rasend schnell. In der ersten Stunde war ich ausschließlich damit beschäftigt, Hände zu schütteln und Leute zu begrüßen. Je mehr es wurden, desto weniger kannte ich die Leute. Ich war mir sicher, dass ein Drittel der Gäste weder in meiner Klasse, noch in einer Parallelklasse, noch auf unserer Schule waren. Solange alle Spaß hatten und etwas zu essen und/oder zu trinken mitbrachten, war das ok, nein, war es super.
»He Jacobsen, soll ich jetzt beeindruckt sein?«, die unangenehm laute und immer etwas provokante Stimme von Rolf erreichte mein Ohr. Ich drehte mich um und sah Rolf mit Kim auf mich zusteuern.
»Hallo Kim. Hallo Rolf. Nett, dass ihr gekommen seid.«
»Hallo Sven und schönen Dank für die Einladung und herzlichen Glückwunsch zu deinem Sechzehnten. Nett hast du's hier«, Kims Umgangsformen waren um Klassen kultivierter als die ihres Freundes.
»Danke Kim und herzlich willkommen ihr zwei. Fühlt euch wie zu Hause. Die Getränkebar ist da hinten, das Essen hier vorn, und wenn ihr tanzen wollt, immer der Musik nach.«
»Angeber!«
»Rolf, du hast versprochen, dich zu benehmen.«
»Pah! Der hat uns doch nur eingeladen, damit wir seine coole Hütte und seine fette Kohle bewundern können.«
»Rolf! Hör' auf damit!«, Kim wurde richtig sauer. »Du hast es versprochen!«
Ich musste Kim zu Hilfe kommen; vielleicht bot sich hier auch eine Chance, die Probleme, die Rolf mit mir hatte auszuräumen.
»Ich weiß nicht, welche Probleme du mit mir hast, Rolf. Ich bin nicht dein Gegner und ich bin nicht dein Feind! Ich bin immer noch neu in Berlin, gerade mal gut drei Wochen leb' ich hier. Also, was immer du auf dem Herzen hast, wo immer ich dir auf den Slips getreten bin, sprich es aus. Jetzt!«
»Du weißt genau, warum ich dich nicht ausstehen kann! Also erzähl' nicht solchen Scheiß!«
»Rolf, lass gut sein. Es ist Svens Geburtstag ...«, Kim zupfte nervös an Rolfs Schulter.
»Nein! Warte! Vielleicht bin ich etwas naiv und hab' ne lange Leitung. Wir Inselbewohner sind ja nicht die schnellsten. Ich will es jetzt wissen: Was hab' ich getan?«
»Du hast Kim angebaggert! Leugne es nicht! Sie hat es mir erzählt. Vor zwei Wochen am Schlachtensee, als ich noch mit meinen Eltern im Urlaub war.«
»Was hab' ich? Kim angebaggert?«, meinte Stimme kippte um in einen leicht hysterischen Kieckslaut à la Erich Honecker. Ich wusste nicht, ob ich lachen sollte oder ob ich mir damit eine von Rolf eingefangen hätte.
»Du leugnest?«, für Rolf war das bitterer Ernst.
»Und ob! Ich hab' Kim wirklich nicht angebaggert. Ich hab' mich mit ihr nett unterhalten, genauso wie ich mich mit Peter, Dirk, Sven, Sabine, Tim, Carmen und Katja unterhalten habe. Da war nichts. Wirklich nicht!«
»Lügner! Kim hat etwas ganz anderes erzählt. Ihr habt' euch geküsst! Stimmt doch, Kim?«
Kim schaute zu Boden, als sie mit leiser Stimme sprach: »Nein, haben wir nicht!«
»Was?«, Rolf wusste nicht so genau, wo er mit seiner Wut hin sollte, »Was soll das heißen: Ihr habt' nicht? Du hast mir doch erzählt, dass ...«
»Ja hab' ich!«, Kims Kopf schnellte hoch und schaute Rolf direkt ins Gesicht, »Ich wollte dich eifersüchtig machen. Ich wollte, dass du unsere Beziehung nicht immer als Selbstverständlichkeit betrachtest! Du bist ja immer so überzeugt von dir und deinem Charme! Niemand kann dir widerstehen! Da war einfach mal ein Denkzettel fällig! Nein, zwischen Sven und mir war nichts. Rein gar nichts. Auch wenn ich mir wünschen würde, dass er etwas Interesse an mir zeigen würde. Aber Sven ist ein ganz Lieber, der nie jemand anderem seine Freundin ausspannen würde. Rolf, du musst nicht immer von dir auf andere schließen.«
Ich stand daneben und hielt mich soweit wie möglich raus. Doch leider war das nicht so einfach. Zugegeben, ich war auch verdammt neugierig, wie es weiterging.
»Dann hab' ich mich die ganze Zeit zum Idioten gemacht?«, das Wort Panik war Rolf auf die Stirn geschrieben.
»Ja, hast du!«
»Und es ist nichts zwischen euch gewesen?«
Ich schüttelte den Kopf: »Nein, nichts! Kim hat Recht, ich würde nie jemandem seine Freundin ausspannen. Oh, nicht, dass ihr mich falsch versteht, da steckt keine edle Gesinnung hinter. Purer Eigennutz! Nachher revanchiert sich noch jemand auf die gleiche Art. Aber selbst wenn ich es tun würde tut es mir leid, Kim, aber ich hab' bereits meine Liebe gefunden.«
»Dann hast du das alles nur erzählt, um mir einen Denkzettel zu verpassen?«, ich hab' Rolf noch nie so verunsichert und ängstlich gesehen. Er konnte das wirklich gut gebrauchen.
»Ja!«, Kim sah Rolf sehr ernst an.
»Bin ich wirklich so ein arrogantes Arschloch?«, Rolf war fast den Tränen nah. Aber auch nur fast, er war ja immer noch Rolf, der echte Kerl. Sowas weint nicht so leicht. Aber ein gutes Stück seiner maßlosen Selbstsicherheit hatte Kim aus seiner Krone herausgebrochen.
»Manchmal ... Leider ...«, Kim nickte und lächelte wieder. Die Botschaft war angekommen.
»Willst du mich denn überhaupt noch?«, und Rolf hatte die Botschaft auch verstanden.
»Würde ich mir sonst mit dir soviel Arbeit machen?«
»Mann, ich glaub', ich hab' solch eine tolle Frau gar nicht verdient.«
Muss noch erwähnt werden, dass die beiden sich in die Arme fielen und erst mal ausgiebig gegenseitig in den Kopf bissen, äh, ich meine natürlich küssten.
Da ich in dieser Szene nicht mehr gebraucht wurde, wollte ich mich schnell und unauffällig von dannen stehlen, wurde aber erneut von Rolf angerufen.
»Jacobsen, bleib stehen!«, wieder dieser arrogante, laute Tonfall. Ich drehte mich um, Rolf strahlte mich freundlich an, »Entschuldige, Sven. Ich hab' mich wie ein Arschloch benommen. Es tut mir leid. Es war wohl nötig, dass mir Kim mal ordentlich den Kopf gewaschen hat.«
»Entschuldigung angenommen. Ich bin froh, dass das ausgeräumt ist. Also nochmal, genießt die Party!«
»Danke!«
Wenn ich Rolf auch nicht unbedingt zu meinen Freunden zählen würde, so war er immerhin kein Feind mehr. Zufrieden mischte ich mich unter das Partyvolk.
2.18. Schatten der Vergangenheit
Die Feier war inzwischen in vollem Gange. Mehr als sechzig Leute tummelten sich im Garten und im Haus, alle hatten mehr oder weniger Spaß. Ich mischte mich unter die Leute und sprach hier und da mit dem oder der einen oder anderen ein paar Worte. Halt die üblichen Gastgeberpflichten.
In ein paar Metern Entfernung entdeckte ich Tim, wie er mit einer Gruppe anderer Jungs zusammenstand. Dem Aussehen nach mussten das Freunde aus seiner Schwimm-Mannschaft sein. Der typische Körperbau war bei allen überdeutlich erkennbar. Sie waren offenbar mitten in einer angeregten Unterhaltung über ihren letzten Mannschaftserfolg und ihren bestes Mitglied. Sie ließen Tim mehrmals hochleben. Tim war das natürlich alles unangenehm und peinlich. Er schaute sich hilfesuchend um. Unsere Blicke trafen sich, und sofort begann sein Gesicht glücklich zu strahlen. Ich prostete ihm über die Entfernung mit meinem Glas Cola zu und erntete den Anblick seiner Zunge, die er mir rausstreckte.
Tim war glücklich, das reichte mir. Ich ließ ihn bei seinen Freunden und setzte mich etwas Abseits auf einen Stuhl, um etwas zu relaxen. Ein schöner Geburtstag, eine schöne Geburtstagsfeier, aber anstrengend. Ich schloss die Augen und lauschte der Musik und den Gesprächen.
»Hi!«
Eine weibliche Stimme sprach mich von der Seite an. Ich öffnete die Augen und schaute in Richtung der Stimme. Auf dem Stuhl neben mir saß ein attraktives Mädchen, ungefähr in meinem Alter. Sie machte einen sympathischen Eindruck. Ich kannte sie nicht, sie war eine der Gäste, die weder aus meinem Jahrgang noch von unserer Schule waren.
»Hi! Na, unterhältst du dich gut?«, als Gastgeber ist man ja immer besorgt um das Wohlergehen seiner Gäste.
»Doch! Super hier. Ich hab' selten so eine gute Party erlebt. Der Typ, der das hier schmeißt, muss Kohle haben.«
Ich musste grinsen. Das Mädchen wusste nicht, wer ich war. Ich dachte, sowas passiert nur in schlechten Filmen. Naja, wenn sich solch eine Gelegenheit schon mal im Real Life bietet, warum dann nicht nutzen?
»Meinst du? Das Haus ist doch schon 30 Jahre alt. So sechziger Jahre. Außerdem ist es ne' Mitbringparty, die kostet nicht so viel.«
»Auch wieder wahr. Übrigens, weißt du, dass du niedlich bist?«
Ich nahm meine obligatorische rote Gesichtsfarbe an.
»Ey, du wirst ja rot, süß!«
Und noch etwas roter.
»Soll ich dir mal ein Geheimnis verraten, das ich gerade erfahren habe?«
Ich hätte Nein sagen können, aber das hätte sie auch nicht weiter gestört. An ihrer Körpersprache las ich ab, dass sie das Geheimnis unbedingt mit mir teilen wollte. Dann wär's zwar kein Geheimnis mehr, aber ...
»Der Typ, der das hier veranstaltet, ich glaub' der heißt Sven. Weißt du was? Der ist schwul!«
Von krebsrot auf kreidebleich in 10 Nanosekunden.
»Was?«
»Da bist du platt! Aber es ist wahr! Der Typ ist stockschwul. Cool, was?«
Megacool. So cool, dass es mir eiskalt den Rücken runterlief.
»Woher weißt du das?«
»Meine Freundin hat ihn wiedererkannt. Sie hat mit ihren Eltern im Sommer Urlaub auf Fehmarn gemacht. Du weißt schon, diese Ostseeinsel. Da hat sie so einen Inseltypen kennengelernt, der hat sie auf ne' Party, so wie diese, mitgenommen ...«
Hm, die gute Frau brauchte eigentlich nicht weiterreden. Den Rest konnte ich mir an meinen zehn Fingern abzählen, doch sie brabbelte weiter.
»... stell dir vor, der hat sich mit seinem Freund vor alle hingestellt und gesagt ,Ey, ich bin verliebt und zwar in einen Jungen und hier ist er!` Und dann sollen sie sich vor allen Leuten geküsst haben! Ist dass nicht krass? Und dann haben sie noch erzählt, dass sie beide zusammen nach Berlin ziehen werden. Und meine Freundin hat den Gastgeber, Sven, als einen der beiden vorhin wiedererkannt! Der soll sogar richtig süß aussehen. Aber das ist ja häufig so. Entweder sind die guten Jungs vergeben oder schwul. Ey, geht es dir nicht gut?«
Nicht wirklich. Mir war schlecht. Oder besser, kotzübel. Ich war auf meinem Stuhl nach vorn gekippt und stützte meinen Kopf mit meinen Händen. Hatte mich unser kleiner Abschluss-Streich aus meiner Vergangenheit wieder eingeholt. Nicht, dass es mich wirklich störte. Sollen die Leute doch wissen, dass ich schwul bin! War mir doch scheißegal! Aber ich war nicht mehr alleine. War Tim so weit, damit umgehen zu können? Wer wusste schon alles davon? Und was wussten sie?
Wieder einmal war ich in der Situation, auf eine außerplanmäßige Lage nur reagieren zu können. Nichts ist ätzender, als wenn wilde Gerüchte anfangen die Welt zu verseuchen. Wer wusste schon, was für ein Unsinn sonst noch verbreitet werden würde. Was das Mädchen neben mir erzählte, lag ja bereits deutlich neben der wahren Begebenheit.
»Ey, du sagst ja gar nichts mehr. Hat dich das so geschockt? Der Typ ist doch nur schwul! Oder hast du mit sowas Probleme? Sag' nicht, dass du so ein schwulenfeindliches Spießerarschloch bist.«
Wenn die Situation nicht so beschissen wäre, hätte ich eigentlich laut loslachen müssen. Mich für ein homophobes Spießerarschloch zu halten hatte schon was.
»Mir geht's gut! Und, nein, ich bin kein Schwulenhasser. Also, nicht wirklich.«
Ich hielt meinen Kopf immer noch zwischen meinen Händen fest und sprach mehr mit dem Fußboden als mit dem Mädchen neben mir.
»Deine Freundin hat die Geschichte nicht ganz richtig erzählt. Thimo ist nicht nach Berlin gezogen, er wohnt jetzt in Portland, nur ein paar tausend Kilometer quer über den Atlantik entfernt.«
»Woher weißt du das? Kennst du die beiden?«
Ich richtete mich auf und sah sie an: »Woher ich das weiß? Weil deine Freundin mich wiedererkannt hat! Nebenbei bemerkt, Thimo hat mich auf die Bühne gezogen, nicht ich ihn.«
Die Kleine wurde blass, was mir leidtat, sie konnte ja nix dafür: »Du bist Sven? Oh, Entschuldigung. Ich wollte nicht ... Ich glaub ich geh' lieber ...«
»Nein, bleib da. Es ist schon OK. Du könntest mir eine Frage beantworten: Wer weiß alles davon?«
»Also ...«, das Mädchen, dessen Namen ich immer noch nicht wusste, sah sich etwas verunsichert um, »... ich befürchte Yanina, meine Freundin, ist nicht gerade das, was man diskret nennt. Aber ich denk du lebst offen schwul?«
»Nein, tu ich nicht! Es gibt genug Arschlöcher auf der Welt, die Stress machen könnten. Ich hab' nie damit gerechnet, einen der Inselleute wieder zu sehen. Außer meinen Freunden natürlich, aber die wissen Bescheid. Wenn es alleine nach mir gehen würde, wär's egal, aber es geht nicht allein nach mir ... Entschuldigung, aber ich muss was klären ...«
Timmy! Ich musste Timmy finden, bevor das Gerücht ihn vor mir fand. Er stand immer noch bei seinen Schwimmfreunden und war bester Laune.
»Hallo Svenni, darf ich dir drei Freunde aus meiner Mannschaft vorstellen, die 4x100m-All-Stars: Chris, Chris und Heiko ... OOPS, is' was, du schaust so ernst drein ...«
»Äh nichts, aber könnt ich dich kurz mal sprechen - Privat!«
»Sicher! Jungs, entschuldigt uns mal kurz ...«
Wir suchten uns ein ruhiges Plätzchen, wo ich ungestört mit ihm reden konnte.
»Also los, raus mit der Sprache. Du bist ja völlig blass, als wenn du ein Gespenst gesehen hättest.«
»Lach' nicht, das hab ich gerade!«
Ich gab das Gespräch mit der namenlosen Frau und dem, was sie mir von ihrer Freundin Yanina erzählt hatte, detailgetreu wieder. Tim hörte schweigend zu und ... schmunzelte? Der Kerl grinste mich an! Ich war völlig fertig und er grinste blöd!
»Svenni, weißt du eigentlich, warum ich dich so liebe?«
»Ist das eine Fangfrage?«
»Nein, nicht unbedingt. Eine der Sachen, die dich so liebenswert machen ist, dass du immer zuerst an andere Menschen denkst. Jetzt auch wieder. Dein erster Gedanke: Wie wird Tim damit klarkommen?«
»Natürlich, was ist daran verkehrt? Ich weiß nicht, ob du dazu schon bereit bist! Ob du damit klar kommst! Was ist daran falsch, sich darüber Gedanken zu machen? Mann, vor drei Wochen warst du faktisch das heterosexuellste Aushängeschild unserer Klasse. Ich kann nicht über dein Leben entscheiden und es war mein blödes Ego, das uns in diese Situation gebracht hat. Oh, Shit! Hätte ich doch bloß auf diesen scheiß Witz verzichtet.«
Tim lachte immer noch: »Du bist ein verdammter Idiot! Darf ich dich daran erinnern, dass dein Coming Out auch gerade eben mal zwei Monate her ist? Vielleicht bist du noch gar nicht bereit! Svenni, denk doch auch mal an dich selbst. Aber Thimo hat Recht, du bist einfach zu kopflastig! Mach' dir nicht so viele Sorgen.«
»Du hast mit Thimo gesprochen?«
»Gemailt, ja, was meinst du, warum da zwei Flugtickets am Fahrrad hingen? Er muss ein wirklich toller Freund sein. Ich bin erstaunt, dass du mich als Freund nach ihm überhaupt in Erwägung gezogen hast.«
»Ich ... Bitte sag' sowas nicht. Mach dich nicht kleiner oder schlechter als du bist! Schau dir deine Freunde an! Schau dir deinen Bruder an! Schau dir deine Mannschaft an. Sie lieben dich! Alle! Und, schau' dir mich an ...«
»Sorry, dass hab' ich so nicht gemeint. Ok, du hast zwar schon ein Geschenk von mir heute Morgen erhalten, aber ich habe noch ein weiteres für dich: Ich bin bereit! Wenn es rauskommt, dass ich schwul bin, dann kommt es eben raus! Ich habe keine Lust, meine Liebe zu dir zu verstecken! Schau dich um! Schau dir die Heten an! Halten die sich zurück? Nein! Sie halten Händchen, sie küssen sich, sie fummeln rum und lieben sich. Schau dir den Typen da hinten mit seiner Freundin an! Der hat seine Hand unter ihrer Bluse und knetet ihre Titten, äh, ich mein natürlich Brüste, durch. Ich will das auch! Äh, ok, vielleicht nicht mit der Brust. Ich will dich umarmen, küssen, halten, schmusen und befummeln dürfen. Wenn du bereit bist, ich bin es!«
Was sollte ich anderes machen, als diesen tollen Jungen in den Arm zu nehmen und küssen?
»Danke!«
»Äh, Svenni?«
»Ja?«
»Da ist noch eine winzige Kleinigkeit!«
»Oops, das klingt jetzt nicht sehr gut ...«
»Kommt drauf an. Svenni, ich will mit dir schlafen! Heute Nacht!«
»Wow!«
2.19. Nacht in Berlin
»Und nu?«
»Mischen wir uns wieder unter das Partyvolk. Ich würde dir gern die Jungs aus meiner Mannschaft vorstellen. Alles nette Kerle, du wirst sehen.«
»OK.«
Langsam manövrierten wir uns wieder in die Menschenmasse hinein. Yaninas Gerücht schien sich zwischenzeitlich Epidemiehaft verbreitet zu haben. Alle möglichen Leute schauten uns beide mit unverhohlener Neugierde an. Manche grinsten, manche nickten uns wohlwollend zu, manche schüttelten den Kopf, das eine oder andere Mädchen schaute uns traurig an. Immerhin gab es keine offene Ablehnung.
Tim steuerte direkt auf seine Mannschaft zu. Die drei Jungs erwarteten uns bereits mit einer Mischung aus Amüsiertheit und Neugierde.
»Ist das wahr, was wir eben gehört haben?«, Chris I alias Christian machte den Anfang.
»Ich weiß nicht, wovon du redest? Was soll wahr sein?«, Tim ließ sie zappeln und hatte einen mordsmäßigen Spaß daran. Eine interessante neue Seite an seinem Charakter, die er unbedingt ausbauen sollte.
»Äh, naja, dass du zum anderen Ufer übergelaufen bist?«, Chris II alias Christoph führte das Gespräch fort.
»Bist du echt schwul?«, Heiko liebte das deutliche Wort.
»Ach das Gerücht meint ihr? Ja, das ist wahr.«
Die drei Schwimmasse sollten überlegen, ob sie nicht auf Synchronschwimmen umsatteln sollten, ihnen klappte absolut zeitgleich der Unterkiefer runter.
»Und das ist dein Freund?«
»Ja, das ist Sven, mein Freund!«
Mein Freund! Für die Selbstverständlichkeit, mit der er das aussprach, hätte ich ihn sofort umarmen können.
Chris II fand als erster die Sprache wieder: »Tja dann. Herzlichen Glückwunsch. Und nett dich kennen zu lernen, Sven. Timmys Freund ist auch unser Freund.«
Heiko: »Ist er der Grund, warum du heute alles in Grund und Boden geschwommen hast? Svenni, weißt du eigentlich, was dieser Fisch hier heute geleistet hat?«
»Nicht wirklich. Er hat nur erzählt, dass er noch nie so gut geschwommen sei wie heute. Ok, ich hab die fünf Pokale gesehen, also muss er wohl ziemlich gut gewesen sein.«
»Ziemlich gut?«, Chris I rastete fast aus. »Timmy, das ist wieder typisch. Du musstest mal wieder tiefstapeln. Manchmal hab' ich fast den Eindruck, er schämt sich seines Erfolgs. Ok, wenn er es nicht erzählt, ich werde es tun. Tim hat heute alle deklassiert! Er hat zwei neue Vereinsrekorde aufgestellt. Die 4x100m waren hoffnungslos verloren. Und dann kam Timmy und legte los. Er und nicht wir gewannen mit fast zwei Körperlängen Vorsprung. Dass nenn ich deklassieren!«
Ich sah' Tim verblüfft an, bei ihm hatte das nicht so spektakulär geklungen. Tim wurde rot und schaute verlegen drein: »Is' schon gut Chris!«
»Nee isses nicht. Wir sind verdammt froh, dich in unserer Mannschaft zu haben! Obwohl, wenn ich mir das genau überlege, vielleicht sollte ich auch schwul werden, wenn man dann so viel besser schwimmt ...«
»Heiko, du bist ein Idiot!«
»Danke, gleichfalls!«
»Halt ihr zwei! Ich hab' noch was für euch!«, Sabine hielt uns zwei kleine Päckchen hin, »Eigentlich sollte ich das hier für einen späteren Zeitpunkt aufheben, aber mir scheint, als wenn Svennis Vergangenheit ihn eingeholt hat.«
»Es ist also rum?«
»Wer die letzte Stunde nicht die ganze Zeit auf dem Klo verbracht hat, müsste jetzt im Bilde sein.«
»Und was erzählt man sich so?«
»Die Mädels schreien einhellig: ,Was für eine Verschwendung!` und wollen sich in die Havel stürzen. Die Jungs treibt eine Mischung aus Erleichterung und Irritation um.«
»Erleichterung?«
»Weniger Konkurrenz! Und jetzt packt die Dinger aus.«
Jeder bekam ein weiches Paket in die Hand gedrückt. Ich riss das Papier auf und hielt ein T-Shirt in der Hand. An sich nichts ungewöhnliches, bis auf den Aufdruck: »I am not gay! But my boyfriend is!«
»Mit den besten Grüßen von einem Typen namens Maik. Er meinte, er hätte noch eine Rechnung wegen eines T-Shirts mit dir offen.«
»Treffer!«
»Und, wollt ihr sie nicht anziehen.«
»Nö! Was hab' ich mit Svennis Vergangenheit zu tun?«, Tims Protest war zwecklos.
»Tja, mitgehangen, mitgefangen!«
Wir zogen die Dinger an und kamen uns blöd vor. Danke Maik.
Gegen ein Uhr fand die Party ihr Ende. Die meisten mussten schon früher nach Hause bzw. wurden von ihren Eltern abgeholt. Nicht alle Erziehungsberechtigten waren so tolerant und großzügig wie meine Eltern.
Die letzten Gäste waren gegangen, nur noch Tim, Nico, Dirk, Sven und Biene waren da. Wir waren noch ein bisschen am Aufräumen.
»War doch 'ne nette Party.«
»Stimmt! Sagt mal, hat eigentlich jemand Kuki gesehen?«
Dirk kratzte sich am Kinn und schaute etwas merkwürdig: »Tja Timmy, du musst jetzt ganz tapfer sein, aber Kuki hat sich mit Heiko im Arm vom Acker gemacht.«
»Wie bitte? Mit Heiko?«
»Genau mit dem. Und Kuki sah nicht so aus, als wenn er Heiko seine Briefmarkensammlung zeigen wollte.«
»Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Aber mal was ganz anderes. Ich hab' wirklich nicht damit gerechnet, dass Thimos und mein kleiner Scherz sich noch mal rächen würde. Wie ist denn das ganze so angekommen?«
»Keine Ahnung? Ich vermute mal, dass nächste Woche die Hölle losbrechen wird. Wie das in der Schule ankommt, wer weiß? Bei den Leuten auf der Party war's wohl, bis auf ein paar Ausnahmen, ganz OK.«
»Ausnahmen?«
»Ein paar Leute sind sofort gegangen. Idioten gibt's überall ... Wie auch immer, ich mach mich vom Acker. Bienchen kommst du mit?«
»Aber sicher, mein Dickerchen.«
Dirk und Sabine packten ihre Sachen und waren auch schon weg. Blieben noch Sven und Nico.
»Nico, ich glaube Svenni lässt uns im Gästezimmer schlafen und ich glaub, die beiden wollen jetzt auch etwas alleine sein.«
»Wieso denn das?«
»Nico, du bist doch sonst so'n helles Kerlchen.«
»Du meinst? Oops, äh ... Naja ... also ... hmpf ... Dann schlaft mal schön.«
Und schließlich waren wir allein. Ich saß auf meinem Bett. Tim saß in einem Sessel. Wir sahen uns an. Einfach nur so. Keiner sagte etwas.
Es begann an Tims linken oberen Mundwinkel. Nur ein ganz kurzes Zucken. Ich konterte mit einem nicht zu unterdrückenden Kräuseln meiner Nase. Ein Zucken von Tims rechtem Auge. Ein verlegenes Kratzen an meiner Stirn.
Ein unterdrückter Lachreiz. Zusammengepresste Lippen. Losprusten.
Wir lachten los, einfach so.
»Worüber lachst du?«
»Ich weiß nicht. Worüber lachst du?«
»Keine Ahnung?«
Schlagartig war das Lachen weg. Wir schauten uns beide gegenseitig in die Augen. Da war es wieder, dieses fantastische Funkeln in Tims Augen, die unermesslich Tiefe.
»Ich will dich Svenni. Ich will dich jetzt!«
»Wow!«
Es war schone eine etwas merkwürdige Situation. Tim saß immer noch in seinem Sessel und ich auf meinem Bett. Wir hatten beide noch unsere Klamotten an und lächelten uns verlegen an. Jeder wartete auf den anderen mit irgendwas anzufangen.
»Vielleicht sollten wir ...«, ich zupfte an meinem T-Shirt.
»Gute Idee.«, Tim zog sein Shirt aus.
»Warte ich helf' dir ...«, ich stand von meinem Bett auf und ging zu Timmy. Ich zog sein T-Shirt bis über seinen Kopf, beließ es aber dort. Ich umarmte ihn. Unsere nackten Oberkörper berührten sich und tauschten gegenseitig ihre Wärme aus.
Während Timmy noch mit Kopf und Armen in seinem T-Shirt gefangen war, wanderte ich mit meinem Mund an seiner Brust hinab. Ich küsste seine Nippel, ich knabberte an ihnen und sie wurden fest. Offenbar war das für Tim eine völlig neue Erfahrung, er schnurrte wie eine Katze.
Ich steuerte uns in Richtung Bett und legte Tim, der immer noch nichts sehen konnte, langsam auf die Bettdecke. Tim machte nichts, er genoss die Situation. Ich spürte, wie er sich in meinen Liebkosungen fallen ließ.
Ich arbeitete mich mit meinem Mund tiefer an seiner Brust hinab und erreichte seinen Bauch. Ich pustete leicht darüber und die wenigen weißen Härchen stellten sich auf und bildeten eine Gänsehaut.
Meine Hände öffneten seinen Hosenbund, knöpften seinen Hosenstall auf und zogen ihn seine Hose ganz aus. Da lag er nun. Nur noch Socken, ein T-Shirt überm Kopf und Hände und ein prall gefüllter Slip mit einem kleinen feuchten Fleck.
Ich grinste und entledigte mich bis auf meinen Slip meiner eigenen Bekleidung. Schließlich zog ich Tim sein T-Shirt ganz aus. Er strahlte mich an, wir umarmten uns, wir lagen aufeinander, Tim strich mir zärtlich durch mein Haar.
»Timmy, ich will dich ...«
Tim nickte und küsste mich. Ich arbeitete mich wieder an seiner Brust hinab. Seine Unterhose war fast schon am platzen. Tims Schwanz forderte seine Freiheit ein, die ich ihm auch sofort gab. Das gute Stück ploppte geradezu aus seinem bisherigen Behältnis und stand dann steil, fest und hart fast parallel an Timmys Bauch empor. Er hatte ein wirklich schönes Exemplar. Super geformt, mit eleganter Kurve.
Meine Zunge berührte seine Eichel und leckte einen Lusttopfen auf. Timmy zitterte vor Lust. Er stöhnte leise, nein, er wimmerte fast. Langsam, ganz langsam stülpte ich meine Lippen über den vorderen Teil der Eichel, eine Zunge tastete die Oberfläche ab, glitt in den kleinen Spalt, liebkoste den Rand. Ich spürte wie Timmy sich vor Lust verkrampfte und sein Schwanz noch an Härte und Größe zunahm.
Ich ließ das gesamte Teil in meinen Mund gleiten und saugte mit meiner eigenen, kaum mehr aufhaltbaren Lust an seinem Schwanz. Tim stöhnte, er atmete sehr schwer, sein ganzer Körper war in Wallung geraten. Sein wunderschöner Körper war mit funkelnden kleinen Schweißperlen überseht.
Während ich mit meinem Mund Tims Schwanz verwöhnte, streichelte ich mit meinen Händen seinen Körper. Tims Spasmen wurden immer heftiger. Schauer unkontrollierter Zuckungen wanderten von Kopf bis Fuß.
»Svenni, ich komme!«, Tim weinte fast vor Lust und Glück.
Und dann kam er. Massive, kräftige Pulse seiner heißen Sahne schossen in meinen Mund. Ein nicht enden wollender Strom ergoss sich in mir. Gierig und geil, wie ich war, saugte ich auch noch den letzten Tropen aus Tim heraus.
Er war übervoll gewesen. Jetzt lag Tim erschöpft und glücklich auf meinem Bett. Ich habe noch nie jemanden so glücklich gesehen. Tim zitterte vor Glück er zog mich zu sich hoch, umarmte mich und flüsterte mir ins Ohr: »Svenni, das war fantastisch. Ich hab' sowas noch nie erlebt. Ich ... Man, ich liebe dich so!«
Der Kleine war vorübergehend völlig erschöpft, aber das währte nicht lange. Nach nur wenigen Minuten, in denen wir uns einfach nur aneinander kuschelten, wuchs sein Schwanz wieder zu einer stattlichen Größe an.
»Svenni, ich will dich in mir haben ...«
Er sah mir fest in die Augen.
»Bist du sicher? Es kann am Anfang ziemlich wehtun ...«
»Nichts, was du tust, kann mir wirklich wehtun ...«
Und um seinen Entschluss Nachdruck zu verleihen, küsste er mich auf eine Weise, die ich nie erwartet hatte. Es war einer der intensivsten Küsse, die ich je erlebt habe.
Ich holte eine Tube Gleitcreme aus meinem Nachtschrank und trug etwas davon auf meine Finger auf. Vorsichtig erkundigte ich Tims hintere Körperöffnung, erst mit einem Finger, dann mit zweien. Sein Schließmuskel zuckte nicht nervös, sondern gab sofort freiwillig nach. Wenn ich daran dachte, wie lange ich selbst gebraucht hatte, um meinen Muskel unter Kontrolle zu bringen und Thimos Prachtstück vertragen konnte, war ich von Tims Reaktion erstaunt. Sein Arsch gab einfach nach. Was musste dieser Mensch für ein Vertrauen in mich setzen?
Ich verteilte eine gute Portion der Gleitcreme in Tims Hintern und auf meinem Schwanz. Beim ersten Mal sollte Tim das Tempo völlig selbst bestimmten können, außerdem wollte ich, dass wir uns ansehen und küssen konnten.
Ich ließ Tim daher seine Beine, über meine Schultern hängen. Er konnte jetzt sein Gesäß über meinen Schwanz positionieren. Mein kleiner Sven war granithart. Tim senkte sich auf meinen Schwanz hinab, meine Eichel berührte seinen Schließmuskel. Ein leichtes Zittern floss durch Tim. Wir sahen uns in die Augen und versanken im Anblick des anderen. Tims Druck auf meinen Schwanz nahm zu und plötzlich, fast ohne Widerstand war ich drin. Tim senkte sich immer tiefer hinab, mein Schwanz steckte ganz in seinem Körper. Obwohl ich mit überraschender Leichtigkeit eindrang, hatte er mich fest im Griff. Wow, war das Gefühl gut. Ich war kurz davor zu kommen, dabei bewegten wir uns fast nicht. Ich war nur in ihm und fühlte seinen festen Griff und Tim fühlte mich in sich. Wir sahen uns an, unsere Gesichter kamen sich näher, unsere Lippen berührten sich, unsere Zungen drangen in den Mund des anderen ein. Wir waren jenseits von Zeit und Raum.
Und dann begann Tim mit Bewegungen. Er hob und senkte sich mit einen langsamen Rhythmus und tiefen Stößen. Ich hatte nicht das Gefühl ihn zu ficken. Es war genau umgekehrt, er verwöhnte meinen Schwanz.
Wir hielten uns gegenseitig in den Armen und stützten uns, wir küssten uns, wir waren ein Körper. Es war absolut unbeschreiblich. Ich betete, dass dieser Moment der absoluten Liebe ewig andauern würde, doch dann explodierte die Welt. Ich kam in Tim, ich spürte, wie ich mich tief in ihm entlud. Es war der absolute Wahnsinn, im gleichen Moment kam Tim erneut. Sein Schwanz war während der ganzen Zeit zwischen uns und wurde von unseren Bäuchen massiert. Tims zweiter Höhepunkt war fast so ergiebig wie der erste. Er spritze uns bis unters Kinn. Wahnsinn, absoluter Wahnsinn.
Ich glitt aus Tim heraus und fiel ihm sofort in die Arme. Wir hatten beide Tränen in die Augen. Keiner sagte etwas. Es gab nichts mehr zu sagen, da kein Wort der Welt diese Erfahrung hätte beschreiben können. Arm in Arm, Körper an Körper, und unendlich glücklich schliefen wir ein.
Es war nur ein Albtraum.
Ich war in einer Gegend, die ich nicht kannte. Eine Wohngegend mit Holzhäusern. Oberirdische Leitungen verbanden die Häuser mit Strom, Telefon und Kabelfernsehen. Es war Amerika. Es waren die U.S.A, es war Portland. Ich wusste nicht wieso, aber ich wusste, dass es so war. Ich schien über den Häusern zu schweben - über ihnen zu fliegen.
Ich steuerte auf einen See zu. Eine Gruppe von Jungen lief von einer Stelle auf der Rasenfläche vor dem See weg. Ich konnte zuerst nicht erkennen, wovon sie wegliefen. Ich kam näher. Ein Junge. Mit dem Gesicht nach unten lag er im Gras. An seiner Seite war ein roter Fleck zu sehen, der sich langsam ausbreitete. Blut. Und dann hörte ich eine Stimme in meinem Kopf: Svenni! Hilf mir ... Ich falle ... Ich. .. . Als wenn ein Schleier von meinen Augen fortgerissen wurde, erkannte ich den Jungen.
»Thimo!«
Ich schreckte auf und saß kerzengerade in meinem Bett. Mein Herz hämmerte in meinen Schläfen. Ich keuchte und japste nach Luft. Nasser, kalter Schweiß rann von meiner Stirn. Ich war klatschnass.
Ein Albtraum, aber grauenvoll real. Panik griff nach meinem Herz. Ich fühlte, wie sich meine Brust zusammenschnürte.
»Tim?«
Ich war kaum richtig zu mir gekommen, durchzuckte mich der nächste Panikanfall. Der Platz neben mir im Bett war leer. Tim war weg. Ich war allein in meinem Bungalow. Die Morgendämmerung brach bereits an, aber es war noch zu dunkel, um Details zu erkennen. Mit zittriger Hand schaltete ich meine Leselampe ein. Auf meinem Nachtisch lag ein Brief. Tims Handschrift und nur ein Wort »Sven«
Es vergingen Minuten, in denen ich diesen Brief nur anstarrte. Solange ich ihn nicht öffnete, war alles in Ordnung. Was passierte hier? Was bedeute der Traum? Wo war Tim? Ich war minutenlang gelähmt, unfähig auch nur eine Bewegung zu tun, unfähig auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
Es änderte sich nichts. Es wurde nur langsam heller. Der Schrecken des Traums verflog nicht, wie es alle anderen Albträume, die ich je hatte, getan haben. Tim materialisierte nicht einfach wieder neben mir. Ich war allein. Ich hatte Angst. Eingehüllt in meine Bettdecke, zog ich zitternd die Beine an meinen Körper. Angst, Furcht, Panik - Was passiert hier?
Ich weiß nicht, wie lange ich so dagesessen habe. Irgendwann siegte dann doch die Vernunft über meine Angst. Ganz langsam zwang ich meine Hand dazu, den Brief von Tim zu greifen. Ein letztes Zögern und ich öffnete den Umschlag. Ein handgeschriebener Bogen Papier lag vor mir.
Lieber Sven,
nach dieser Nacht ist es überflüssig zu sagen, wie sehr ich Dich liebe. Aber ich sage es trotzdem: Ich liebe Dich. Ich liebe Dich, so wie ich noch nie in meinem Leben jemanden oder etwas geliebt habe. Ich weiß, Du hasst diesen ganzen Kitsch und dieses rührselige Geseiere. Es geht mir nicht anders. Doch wenn die Wahrheit kitschig ist, dann kann ich daran nichts ändern.
Du hast mich befreit! Ich kann es nicht anders ausdrücken, aber seit ich Dich kenne und Du mir gezeigt hast, wer ich wirklich bin, fühle ich mich zum ersten Mal wirklich frei.
Doch da ist noch eine Sache, die ich klären muss. Ich muss mit meinem Vater ins Reine kommen. Du wirst mir widersprechen. Du wirst sagen, dass ich die Sache einfach auf mich zukommen lassen soll. Du wirst sagen, dass wir die Sache zusammen durchstehen sollen. Aber ich muss diesen Schritt alleine tun! Ich muss ihm, so wie ich bin, gegenübertreten. Aber tröste Dich, Du hast mir die Kraft zu diesem Schritt gegeben.
Ich weiß nicht, was passieren wird. Ich weiß auch nicht, ob er es akzeptieren wird. Ich weiß nur eine Sache mit absoluter Sicherheit: Was auch immer passieren wird, ich liebe Dich und an dieser Liebe wird sich niemals etwas ändern.
Ich liebe Dich! Tim
Meine Tränen weichten das Papier auf und ließen die Tinte verlaufen. Ich rang nach Luft. Langsam füllten sich meine Lungen, bis sie ganz voll waren. Ein Schrei! Ich schrie, wie ich noch nie in meinem Leben geschrien hatte.
Nachwort
Schon wieder so ein gemeiner Cliffhanger, sorry, aber will man wirklich was anderes? Aber keine Angst, alles wird gut - bis zur nächsten Katastrophe ... Aber die lauern erst in Band IV. Wie man wohl vermuten kann, ist Tims Vater nicht wirklich von Tims neuen Neigungen begeistert. Aber das ist eigentlich sein Problem. Was nach Band II kommt, ist Band III. In dem geht's über den Atlantik zu Thimo und seinem Leben auf einer amerikanischen High School.
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