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Kopfgeister
Band 4 - Aus Schatten ins Licht
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Informationen
- Story: Kopfgeister
- Autor: Nero
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama, Coming Out, Krimi, Abenteuer, Comedy, Lovestory
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkungen
- 4.1. Thimo hat nen Kater
- 4.2. Frustration im Krankenbett
- 4.3. Svenni in Panik
- 4.4. A new hope
- 4.5. Krisenmanagement
- 4.6. Die Eroberung eines Engels
- 4.7. Der Teufel im Manne
- 4.8. Ungeplante Reue und ebensolcher Familienzuwachs
- 4.9. Panzerknacker
- 4.10. Marcels Baumhaus
- 4.11. In der Sache Mannteufel gegen Mannteufel
- 4.12. Monday, bloody monday
- 4.13. Projektarbeit in eigener Sache
- 4.14. Back to life
- 4.15. Grundsatzfragen und Urlaubsplanung
- 4.16. Kuki legt ne falsche Fährte
- 4.17. Niveadosenblau
- 4.18. Morgendliche Leibesertüchtigung
- 4.19. Maik und der Adler
- 4.20. Kuki, ich und die Kanüle des Grauens
- 4.21. Back to school
- 4.22. Das Ende einer Schlacht
- 4.23. Urlaub auf Rügen, oder "Surfin' MVP"
- Nachwort
Vorbemerkungen
1. Dies ist Band IV von Kopfgeister. Muss ja auch, wenn davor Band III kam. Dieser Band spielt wechselweise in Berlin und Portland.
2. Wie immer sind Orte, Personen, Handlungen und der ganze restliche ganze Kram natürlich frei erfunden. d.h. es handelt sich ausschließlich um Produkte meines kranken und wirren Geistes. Mancher Markenname mag geschützt sein. Ich empfehle jedem Juristen, der sich darüber aufregt: Schlaf mit deinem Freund (oder wenn es sich nicht vermeiden lässt, mit deiner Freundin) und vergiss es!
3. Rechtschreibung ... Ja, da war was ... Kann mich aber nicht mehr erinnern.
4. Dieser Text, genaugenommen der ganze Zyklus »Kopfgeister« ist exklusiv für Nickstories geschrieben. Möge die Clickrate mit dir sein!
5. Sex ist vorhanden (sabber-lechz), was bedeutet, dass dieser Text natürlich auf gar keinen Fall niemals nicht von Personen gelesen werden darf, die aus mir unerklärlichen Gründen den Text nicht lesen dürfen. Und da ihr ja alle ganz brave Junx (und Mädels? Hey, was macht ihr denn hier?) seid, haltet ihr euch natürlich an das Verbot. Ja, danke der Nachfrage, ich bin wirklich etwas naiv ...
4.1. Thimo hat nen Kater
Portland
»Ummpf!« Thimo war gerade aus seinem Koma erwacht und versuchte seine Augen zu öffnen, als ihn ein Schmerz wie ein elektrischer Schlag durchzuckte. Er ließ seine Augen besser geschlossen. So richtig wohl fühlte er sich nicht. Ihm war zittrig, fiebrig, der Schädel brummte wie ein überlasteter Transformator und sämtliche Knochen taten ihm weh. Mit anderen Worten: Thimo war der glücklichste Mensch auf der Welt - er war noch am Leben.
Das ebenso monotone wie schmerzhaft laute Piepen eines Herzmonitors waren Thimos einzige Sinneswahrnehmungen. »Ich muss wohl im Krankenhaus liegen«, sein Großhirn nahm mit ganz kleinen Schritten seine Funktion wieder auf, »Aber was war eigentlich los ...?«
Thimo versuchte sich ein Lächeln abzuquälen. Ein ähnlicher Schmerzanfall, wie bei seinem kläglich gescheiterten Versuch die Augen zu öffnen, wollte er dann doch unbedingt vermeiden. Pech gehabt! Allein der Versuch sich daran zu erinnern, reichte aus, dass ihn ein neuer Schmerzschlag durchzuckte und zurück in das Land der Träume schickte.
Thimos Schlaf war alles andere als ruhig. Teils durch das Fieber, teils durch die Schmerzen verweilte er mehr in einem Zwischenstadium aus wach und bewusstlos. Erinnerungsfragmente flogen wie Papierfetzen durch sein Gehirn. Bilder von Personen. Svenni, Scott, Marcel, Rob, Jana, Peter, Tom und Tim. Geräusche. Gefühle. Trauer. Glück. Schmerz. Sehnsucht. Thimo hatte den Eindruck eine Hand würde ihn ganz liebevoll und sehr vorsichtig streicheln. Er meinte Worte zu hören: »Verzeih mir, das war meine Schuld, ich ...« Die Stimme schien traurig zu sein aber gleichzeitig unheimlich zärtlich. Andere Stimme - harte Stimmen »... massives Schädeltrauma, Prellungen und erheblicher Blutverlust. Der Typ hat ein verdammtes Glück gehabt, dass er noch lebt ...« Aber all das nahm Thimo nur aus weiter Ferne durch einen dichten Nebel wahr. Irgendwann, an ein Zeitgefühl war nicht zu denken, nahm ihn dann doch Morpheus in seine Arme.
»Hi!«, Ellens Gesicht war noch nie so glücklich gewesen. Thimo war wieder aufgewacht. Das Erste was er sah war das Gesicht seiner Mutter, die ihn in dieser speziellen Art ansah, wie es nur Mütter bei ihren Kindern können.
»Hi!«, die Schmerzen waren noch da, aber sie waren auf ein erträgliches Maß zurückgegangen, »Was ist eigentlich passiert?«
»Man hat dir ein Messer in die linke Hüfte gerammt, glücklicherweise aber kein lebenswichtiges Organ verletzt. Zusätzlich hat man dich auch noch niedergeschlagen und getreten. Das wird alles wieder. Nur der Blutverlust war sehr groß. Mensch Thimo ...«, Thimos Mutter brach in Tränen aus, » ...für eine Weile sah es so aus, als wenn wir dich verlieren würden.«
»Unkraut vergeht nicht«, wirklich nicht? »Wann kann ich hier raus?«
»Der Arzt meint so in zwei oder drei Tagen kannst du nach Hause und in zwei Wochen wieder zur Schule.«
»Kann ich noch spielen?«
Ellen sah ihren Sohn entsetzt an, schüttelte dann aber den Kopf und grinste: »Du bist ein Spinner. Sohn, du warst fast tot! Und die ersten Sorgen, die du dir machst, sind, ob du noch Football spielen kannst. Ich fass es nicht! Ok - ja, du kannst. Der Arzt meint, du wärst in weniger als vier Wochen wie neu. Nebenbei, dein Trainer gibt dir nur drei Wochen.«
»Haha ... aua, das Lachen sollte ich erstmal lassen. Wie bin ich eigentlich hierher gekommen? Ich kann mich nur erinnern, dass ich mich vorhin mit Scott, diesem Arsch geprügelt habe ...«
Langsam kamen Thimos Erinnerungen zurück. Scott! Er hatte sich mit ihm geschlagen und gewonnen. Danach hatte man ihn kaltgestellt. Aber warum hatte er sich mit Scott geschlagen. Marcel! Richtig, das war es. Scott hatte Marcel damit erpresst, dass er schwul war. Was für ein unsinniger Grund. »Auf der anderen Seite«, dachte Thimo, »ich bin nicht Marcel, wer weiß, womit er kämpfen muss.« Die Wut über Scott keimte wieder auf und löste prompt einen kleinen Schmerzrückfall aus. Aber es war nicht Scott, der ihn niedergestochen hatte. Brandon? Vielleicht, aber Thimo hatte seine Angreifer nicht gesehen.
»Du denkst, das alles ist erst vor wenigen Stunden geschehen?«, Ellen unterbrach seine Gedanken.
»Ist es nicht?«
»Nein, du liegst hier jetzt seit gut vier Tagen. In den ersten zwei Tagen hat man dich im künstlichen Koma gehalten. Zwei Tage haben wir um dich gezittert und gebetet!«
»Wir?«
Ellen nickte: »Thimo, du hast wirklich gute Freunde. Alle waren hier und haben sich abgewechselt. Zwei stehen draußen und warten ...«
Ellen wollte sie schon rein lassen, aber Thimo stoppte sie: »Wie bin ich hierher gekommen?«
Thimos Mutter runzelte ihre Stirn: »Das war mehr als merkwürdig ... und unheimlich. Svenni rief mich an und fragte, ob es dir gut geht.«
»Svenni?«, Thimo lief ein kalter Schauer über den Rücken, »Wie kann Svenni ...?«
»Er rief bei mir völlig verstört mitten in der Nacht an. Er hatte von dir geträumt.« Ellen gab wieder, was Sven ihr erzählt hatte. »Er meinte schließlich, dass er den Traum vergessen wollte. Aber je mehr er das versuchte, desto mehr Sorgen machte er sich. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und rief an. Ich wusste zu dem Zeitpunkt von nichts und meinte, es sei alles OK. Zwei Minuten später rief Jana mich an und fragte, ob ich etwas von dir gehört hätte. Das war so gegen 5 Uhr morgens. Da wurde ich auch nervös und meinte ,Nein`, erzählte ihr aber von Svens Anruf. Jana wurde ebenfalls nervös und meinte, sie würde Rob anrufen, dass er zu dem Ort hinfahren sollte, wo du hingefahren bist. Rob fuhr sofort los und fand dich auf dem Rasen liegend, verblutend. Er hat dir das Leben gerettet! Er und Svenni!«
»Wow!«, Thimo wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Immerhin hatte er den Eindruck, dass seine Kraft wiederkam. Er war zwar noch müde, fühlte sich aber immer besser.
In der Zwischenzeit hatte Ellen Rob und Tom in das Krankenzimmer gelassen.
»Hi und danke!«, es tat weh, aber für seine Freunde quälte sich Thimo ein dankbares Lächeln auf die Lippen.
»Schau an, er lebt. Der Königsmörder zuckt noch!« Robs herzerfrischend direkte Art brachte Leben in das sterile Krankenzimmer. Ellen packte ihre Sachen zusammen, schnappte ihren Mantel und ging.
»Thimo, ich muss zur Arbeit, ich schau heute Abend noch mal rein. Mach's gut.«
»Danke Mama - Für alles!«
Eine kleine Träne entwischte Ellen, bevor sie dir Tür hinter sich schloss.
»Königsmörder?«
»Oh, ja. Scott ist Geschichte! Ich hab' dir den Orkan ja vorhergesagt, den du ausgelöst hast. Jeder weiß, wer dich so zugerichtet hat. Natürlich nicht offiziell, also nix für die Polizei. Aber jeder weiß, dass es Brandon und seine Leute waren.«
»Und was ist jetzt genau mit Scott?«
Rob und Tom grinsten sich an.
»Der wurde von Brandon, der Schlange Amber und dem ganzen Rest der Sippe verstoßen, weil du ihn besiegt hast. Er ist ab sofort der offizielle neue Looser des Monats der Liberty High.«
»Oh, nein! Das wollte ich nicht. Er sollte einen Denkzettel erhalten, aber das hat er nicht verdient.«
»Der Typ ist ein Stück Dreck! Warum hast du mit solchen Leuten Mitleid?«
»Nein Tom. Kein Mensch ist ein Stück Dreck. Niemand! Er ist ein Arschloch, ohne Frage, aber manchmal sind Arschlöcher dies nicht aus freien Stücken.«
Thimo musste an Jan denken. Wie sich manche Dinge doch gleichen. Jan war auch ein Arschloch gewesen. Aus ganz anderen Gründen wie Scott. Scott hatte keine Probleme mit seinem Coming Out, weil er eben nicht schwul war, aber er stand unter dem Einfluss von Amber und Brandon. Wer weiß?
Tom sah beschämt aus: »Du hast Recht. Man sollte nicht so über andere Menschen sprechen. Und wir wohl als Allerletzte. Wir sind sonst nicht besser als diese Arschlöcher. Ok, ich muss los. Ich hab' einen neuen Schülerjob ...«
Tom verabschiedete sich und ging, Rob blieb mit Thimo allein zurück.
»Rob, du hattest Recht! Mit allem!«
»Was meinst du?«
»Mit Marcel! Er ist schwul. So wie du vermutet hattest. Er hat es wohl wirklich Scott als Erstes erzählt und der hat ihn damit erpresst. Scheiße, dieses Arschloch hat ihn zu Sex gezwungen!«
»Scott ist auch schwul?«
»Quatsch! Er lässt sich von Marcel einen blasen und hat ihn wohl auch ... ach was soll„s, ich sag's wie es ist ... er hat ihn gefickt oder besser missbraucht und vergewaltigt! Denn es ist nichts anderes als eine Vergewaltigung! Um sowas zu tun, braucht man nicht schwul sein. Ganz im Gegenteil! Scott fühlte sich dadurch wohl als besserer Hetero! Denn merke: Schwul ist nur, wer passiv ist! Oh, wie ich solchen Schwachsinn hasse. Der Typ hat keine Ahnung, nicht die geringste.«
»So ein Schwein! Und so jemanden nimmst du in Schutz?«
»Ja und nein! Er ist eine arme Sau, dass er sowas nötig hat. Ich habe ihn gehasst. Jetzt empfinde ich nur noch Mitleid. Ich hoffe für ihn, dass er einen Weg da raus findet. Ich weiß nicht, ob Marcel ihm jemals verzeihen kann, aber ich kann's nicht.«
Rob schaute plötzlich traurig und niedergeschlagen auf den Boden.
»Was ist?«
Rob sah Thimo nicht in die Augen. Er konnte es nicht.
»Marcel?«
Thimo spürte Panik in sich aufkeimen.
»Was ist mit Marcel?«
»Er ist seit vier Tagen verschwunden ...«
»Nein!«, Thimos Stimme war nur ein ersticktes Flüstern.
4.2. Frustration im Krankenbett
Es dauerte eine Weile, bis Thimo sich wieder soweit gefangen und genügend Kraft gesammelt hatte, um das Gespräch fortzusetzen.
»Weiß irgendwer, wo er stecken könnte?«
»Nein ... vielleicht weiß Jana etwas. Aber sie ist noch zugeknöpfter als sonst.«
Thimo schloss für einen Moment die Augen. Er fühlte sich so entsetzlich hilflos. Wofür hatte er denn überhaupt gekämpft, wenn nicht für Marcel. Marcel. Dieser Junge hatte ihm sein Herz geraubt. Und auch wenn es körperlich nicht wehtat, schmerzte es viel mehr, als alle seine Prellungen und Wunden zusammengenommen. Ich muss ihn finden!
»Du hast dich in Marcel wirklich verliebt«, Rob schreckte Thimo wieder auf. Er hatte das schon einmal gesagt, vor ein paar Wochen im Auto auf dem Weg zum Fahrradkauf für Svenni. Aber diesmal fehlte Robs typischer ironisch-zynischer Unterton. Wenn er wollte, konnte Rob sogar sehr ernst sein. Es kam sehr selten vor und auch nur bei Dingen, die ihm wirklich wichtig waren. Und seine Freunde, besonders Thimo und Marcel, waren ihm sogar sehr wichtig. »Du solltest dafür kämpfen. Ihr habt es beide verdient.«
»Danke, Rob. Danke, dass du mein Freund bist.«
Beide Jungs sahen sich an, sprachen aber kein Wort. Beide spürten dieses spezielle Band, das echte Freunde miteinander verbindet. Sich zu verstehen, ohne etwas sagen zu müssen.
Es vergingen ein paar Minuten, bis Thimo das Gespräch wieder aufnahm. Eine Frage brannte ihm unter den Fingernägeln.
»Was erzählt man sich denn in der Liberty High über mich?«
»Oh, Skinner ist dem Nervenzusammenbruch nahe. Scott wird nicht mehr als Captain von der Mannschaft akzeptiert. Das ist wohl Brandons Werk. Du fällst aus. Die Mannschaft ist faktisch kopflos, denn Skinner weigert sich, Brandon zum neuen Captain zu machen. Und in wenigen Wochen beginnen die Schulmeisterschaften. Hm ... aber das scheint nicht das zu sein, was du wissen wolltest ...«
»Nein. Rob, da ist etwas anderes. Ich glaube ich habe eine verdammte Dummheit begangen. Als ich mit Scott kämpfte hat er auf Marcel rumgehackt. Eigentlich auf Schwule im Allgemeinen. ,Alle rückgratlosen Warmduscher und Schwuchteln wie Marcel würden niemals füreinander eintreten, so wie ich es für ihn tun würde`, so in der Art. Du weißt, dass ich bei sowas ein bisschen überreagiere ...«
Heftig zustimmendes Nicken von Rob.
»Ich hab' ihm dann wohl an Kopf geworfen, dass er gerade von einer dieser Schwuchteln fertiggemacht wird. Alle seine Freunde, inklusive Brandon standen daneben. Ich hab' mich faktisch vor meinen größten Feinden geoutet.«
»Du machst definitiv keine halben Sachen. Sagte ich das schon Mal? Wie auch immer ... hm, merkwürdig, aber an der Schule ist mir noch kein Gerücht dieser Art zu Ohren gekommen. Und glaub' mir, die Nachricht, dass du schwul bist, würde wie eine Bombe einschlagen.«
»Es ist doch schön, wenn man um seinen Unterhaltungswert weiß.«
»Ey, ich bin der Zyniker!«
»Ok. Aber mal im Ernst, warum machen die von ihrem Wissen keinen Gebrauch? Ich hätte wetten können, dass die sich ein Megafon schnappen und es in der Kantine verkünden. Na, wo bleibt deine soziologische Analyse?«
»Hm, du weißt nicht, wie es an der Schule momentan aussieht. Der Laden wirkt wie gelähmt. Ich fang mal am Anfang an: Alles was man an der Schule sicher weiß, ist, dass du niedergestochen und -geschlagen wurdest. Wer es war, wird zwar vermutet und man munkelt etwas von Brandon, aber konkret wissen tut es niemand. Das ist auch der Grund, warum Skinner Brandon nicht zum neuen Captain gemacht hat. Und das ist wohl auch der gleiche Grund, warum Brandon und die anderen Jungs nicht ausposaunen, was dir rausgerutscht ist. Sie würden ja zugeben, dabei gewesen zu sein. Sie würden sich selbst als Täter entlarven. Der Bezirksstaatsanwalt ermittelt in deinem Fall übrigens wegen versuchten Mordes.«
»Wirklich? Wegen Mordversuchs?«
»Ja, ich glaub zwar nicht, dass da je irgendwas bei 'rumkommen wird, aber immerhin ...«
»Sonst noch was?«
»Nein, wie gesagt, es herrscht der totale Stillstand. Wirklich jeder an der Schule wartet. Alle warten auf dich und deinen nächsten Schritt. Alle kleinen Kämpfe und Reibereien sind momentan ausgesetzt. Jedem scheint klar zu sein, dass es zu einer Auseinandersetzung zwischen dir und Brandon kommen wird. Scott war das erste Opfer. Ein Opfer, mit dem niemand außer dir, wirklich Mitleid empfindet.«
»Ich glaub' ich zieh wieder nach Deutschland auf meine Insel ...«
»Und was wird dann aus Marcel?«
»Na, sind wir wieder unter den Lebenden?«, Roseanne hatte eine sehr angenehme Stimme. Thimo sah seine Krankenschwester das erste Mal, wusste aber sofort, dass er sie mochte. Sie war um die 30, schwarz und erinnerte etwas an Whoopie Goldberg. Vielleicht lag es auch an ihrem Humor.
»Wie, ist das hier nicht die Hölle?«
»Nein, Baby, dass ist nur der Vorhof und ich manage den Laden!«, Whoopie alias Roseanne ließ ihre weißen Zähne aufblitzen und zwinkerte Thimo fröhlich zu.
Inzwischen war es Abend geworden. Rob war vor zwei Stunden gegangen und auch Ellen, die nach der Arbeit vorbeigesehen hatte, war wieder weg. Thimo war das erste Mal, seit er im Krankenhaus lag, allein und wach.
Vor zwei Minuten war Roseanne reingekommen und hatte nach seinen Werten gesehen und ihm eine Spritze verpasst.
»Was muss ich den tun, um etwas zu trinken zu bekommen.«
»Frag' mich doch einfach.«
»Kann ich was zu trinken bekommen?«
»Klar, mal sehen, was der Doc geschrieben hat, was du trinken darfst ... mann Junge, dich haben sie ja wirklich fast völlig entleert. Echt ein Wunder, dass du noch lebst ...«
»Echt so schlimm?«
Roseanne nickte ernst und rückte einen Stuhl dicht an Thimos Bett und setzte sich einen Moment zu ihm. Es war schon dunkel geworden, nur die Leuchtstoffröhren über Thimos Bett erhellten den Raum. Roseanne lächelte Thimo an.
»Mann Baby, du hast wirklich einen Schutzengel. Wärst du 10 Minuten später gefunden worden, hätten wir nix mehr für dich tun können. Erzähl mal, warum bringt sich ein so netter Junge wie du so in Gefahr?«
»Ich musste etwas klären. Etwas richtig stellen. Man hatte einen Freund von mir verletzt, wirklich böse verletzt! Ich musste etwas tun!«
»Wenn du es sagst, mein Schatz!«, ein spöttischer Gesichtsausdruck flackerte kurz bei Roseanne auf, dann wurde sie nachdenklich: »Dieser Freund ist nicht zufällig so ein blondes Kerlchen, ziemlich sportlich, aber nicht so kompakt wie du, sondern mehr so ein Leichtathletikstar mit tiefen, tödlichen Augen?«
Thimo blieb die Spucke weg, dass war eine perfekt Beschreibung von Marcel: »Ja, woher ...?«
Roseanne lächelte: »Er war hier!«
Roseanne hatte ganz leise gesprochen, doch ihre Worte trafen Thimo, als wenn sie sie geschrieben hätte.
»Wann?«, Thimo flüsterte, als wenn er Angst hätte, ein zu laut gesprochenes Wort könnte das, was Roseanne gerade gesagt hatte, wieder ungeschehen machen.
»Gestern Nacht. Du lagst noch im Fieber. Er muss sich hereingeschlichen haben. Ich kam an deinem Zimmer vorbei und hörte jemand leise sprechen. Zuerst dachte ich, du wärst zu Bewusstsein gekommen, aber da war dieser Junge. Ich bekam einen entsetzlichen Schreck und dachte, er wäre einer deiner Angreifer und wollte sein Werk vollenden ...«
»Was?«
»Er hielt deine Hand, er streichelte dir ganz zärtlich durch deine Haare und sprach mit dir. Er hatte Tränen in den Augen.«
»Mein Gott, Marcel! Roseanne, was hat er gesagt? Bitte, was hat er gesagt?«
»Er hat nur geflüstert. Ich konnte nicht alles verstehen, aber ein paar Worte hab' ich dann doch gehört: ,Verzeih' mir!`, ,Warum hast du das getan`, ,Ich bin es nicht wert.` und zum Schluss: ,Ich liebe dich Thimo, deswegen muss ich hier weg...`»
Roseanne schwieg und sah dabei Thimo ernst an. Dem waren Tränen in die Augen geschossen. Marcel liebte ihn. Das war genau das, wovon er geträumt hatte, was er insgeheim gehofft hatte. Aber jetzt, als es zur Realität wurde, fühlte sich Thimo hoffnungslos mit der Situation überfordert. Er wollte Marcel haben und genauso wollte Marcel ihn haben, doch stand immer noch Scott und das, was er Marcel angetan hatte, dazwischen. Und noch etwas stand zwischen ihm und Marcel: die profane Tatsache, dass er in einem Krankenhausbett lag und sich daran die nächsten Tage nichts ändern würde.
»Wie lange bist du schon schwul?«, Roseanne riss Thimo aus seinen Gedanken.
»Was? Woher weißt du, dass ich schwul bin?«
»Ey Baby, ich bin doch nicht blind. Außerdem ist mein Sohn auch schwul. Hm, er ist jetzt 15 und kämpft noch mit sich, aber er wird das schon schaffen.«
»Hat er es dir erzählt?«
»Ja, vor ein paar Wochen. Er war richtig süß. Er hat mir Blumen gekauft und das Abendessen gekocht. Er hat alles getan, damit Mama in guter Stimmung war. Aber das hätte er überhaupt nicht machen müssen. Ich wusste es schon vorher.«
»Wie meine Mum. Woher wisst ihr das immer?«
»Das ist ein geheimer Mamatrick und wird nicht verraten ... so, genug für heute geredet. Du brauchst noch Ruhe und ich hab' noch ein paar andere Patienten zu versorgen. Schlaf schön ...«
»Danke, Roseanne!«
»Nicht doch ... und keine Angst, du und Marcel, ihr werdet schon noch zusammenfinden ... da bin ich mir absolut sicher ... gute Nacht ...«
Roseanne ging aus dem Zimmer und ließ Thimo sowohl in Gedanken als auch in seinem Bett liegend zurück. Die letzten Worte hatten Thimo etwas getröstet und seine Frustration über seinen hilflosen Zustand gemildert. Ich werde es schaffen! Marcel, ich habe schon einmal um dich gekämpft, ich werde es wieder tun! Immer und immer wieder ...
4.3. Svenni in Panik
Berlin
»Timmy ist weg!«
Irgendwann hatte ich mich zusammengerissen und angezogen und bin zum Frühstück ins Haupthaus gegangen. Es war der Tag nach meiner Geburtstagsfeier und der Tag nach meiner ersten gemeinsamen Nacht mit Tim. Wir waren uns noch nie so nah gewesen und jetzt war er weg. Ich machte mir Vorwürfe. Schließlich war ich an seinem Coming Out nicht ganz unschuldig gewesen.
Aber Tim legte ein Tempo vor, das mir Angst bereitete. Er schwebte auf diesem unbeschreiblichen Hochgefühl, das einen ausfüllt, wenn man endlich zu sich selbst gefunden hat, einen Menschen neben sich weiß, der einen liebt und Freunde hat, die zu einem stehen. Der Nachteil daran war, dass einem dieses Hochgefühl den klaren Blick auf die Realität vernebeln konnte. Diese Realität hieß Dr. Rüdiger Mannteufel und war sein Vater. Ich hatte Angst um Tim, Angst davor, wie sein Vater reagieren würde und Angst davor, wie Tim eine ungute Reaktion verkraften würde.
»Tim ist weg?«, Nico, Tims Bruder sprang vor Schreck von seinem Stuhl auf. Er, Sven, Dirk, Biene und meine Eltern saßen am reichlich gedeckten Frühstückstisch und waren gerade dabei sich vergnügt zu unterhalten, als ich in dieses Idyll platzte.
Ich hielt immer noch Tims Brief in meiner Hand und war erneut für eine Weile nicht in der Lage zu reagieren. Deswegen nahm Sabine mir den Brief aus der Hand und las ihn erstmal durch. Sie las ihn aber nicht vor, sondern gab nur seinen formalen Inhalt wieder. Auf Sabine war Verlass.
»Wir müssen zu ihm. Paps bringt ihn um!«, Nico war kaum zu bremsen, doch Dirk drückte ihn wieder auf seinen Stuhl.
»Nico, was willst du denn machen? Was bringt denn das, wenn du jetzt unüberlegt losstürmst? Außerdem wird schon längst alles passiert sein, oder?«
Ich sah auf die Uhr. Es war fast 10:00 Uhr. Wenn Tim die Konfrontation mit seinem Vater gesucht hatte, dann musste das mittlerweile schon geschehen sein. Irgendwie hatte ich Schwierigkeiten, mich auf eine Sache zu konzentrieren. Der Albtraum mit Thimo spukte immer noch in meinem Kopf herum. Normalerweise vergesse ich meine Träume immer wenige Minuten nachdem ich aufgewacht bin, aber dieser Traum war anders. Ich erlebte immer mehr kleine Flashbacks mit dem Bild von Thimo, wie er auf dem Rasen lag.
»... Hallo Sven, wir reden mit dir ...«, Sven I sprach mit mir.
»Oh, 'tschuldigung, ich war eben ganz wo anders. Ich ... sorry, könntest du nochmal wiederholen, was du gesagt hast?«
»Ich fragte, ob du nicht erstmal mit uns frühstücken willst? Wir können dann alles besprechen und vielleicht ist Timmy bis dahin wieder zurück.«
Ich war wieder mit meinen Gedanken ganz wo anders. Ich bekam dieses Bild nicht aus dem Kopf. Thimo lag auf einer Rasenfläche, ein roter Fleck an seiner Seite, der immer größer wurde. Mir wurde kalt und heiß. Irgendetwas stimmte nicht mit Thimo. Ihm musste etwas zugestoßen sein. Ich musste einfach Ellen anrufen.
»Gleich Sven. Ich komm gleich zum Frühstück. Ich muss vorher noch dringend telefonieren.«
Ich schnappte mir das Schnurlostelefon meiner Eltern und wählte mich in die Telefonanlage der Firma meines Vaters. Dads Firma hatte eine Niederlassung in Maine. Per Satellit war die Niederlassung sowohl datenmäßig als auch für Telefonie verbunden. Von dort wählte sich die Telefonanlage der Firma in das lokale Ortsnetz in Portland ein. Ich weiß bis heute nicht, warum ich mich an dieses Detail erinnerte und nicht direkt die Nummer von Thimo wählte.
Nach längerem Klingeln nahm Ellen ab. Ihre Stimme klang verschlafen. Kein Wunder, in Portland war es noch früher Morgen.
»Hallo Ellen, hier spricht Sven. Geht es Thimo gut?«
»Sven? Du? Was ...? Was meinst du mit: Geht es Thimo gut?«
Ich druckste eine Weile rum. Ellen verlor langsam die Geduld und ich rückte schließlich mit der Sprache raus, dass ich einen Albtraum hatte, in dem Thimo niedergestochen wurde.
»Beruhige dich erstmal. Es war nur ein Traum. Träume sind Schäume, das weißt du doch. Ich schau mal nach Thimo ...«
»Ich weiß, es war nur ein Traum. Aber er war so real. Ich werd' die Bilder nicht wieder los. Entschuldige Ellen, dass ich dich geweckt habe.«
»Ist schon gut. Aber...«, Ellens Stimme brach ab.
»Ellen?«
»Svenni hörst du. Thimo war heute Nacht nicht zu Hause. Das ist ungewöhnlich, weil er mir sonst Bescheid geben würde. Ich ruf dich zurück ...«
Ellens Stimme klang plötzlich besorgt. Meine Panik war wieder am zunehmen. Ich gab Ellen die Rufnummer der Niederlassung der Firma meines Dads sowie eine Durchwahl, die direkt auf das Schnurlostelefon in unserem Haus verbunden werden würde. Fast wie in Trance wanderte ich zum Frühstück zurück und setzte mich an den Tisch.
»Svenni, ist irgendwas los? Du bist ganz blass«, Mum sah mich besorgt an.
»Ich weiß nicht ... es ist wegen Thimo, ich hab' ihn in einem Albtraum gesehen und ich bekomme die Bilder nicht aus meinem Kopf. Ich habe gerade bei ihm angerufen. Ellen hat nachgesehen, er war über Nacht nicht zu Hause ... ich habe Angst, dass ihm was passiert sein könnte.«
Meine Eltern sahen sich vielsagend an und sahen plötzlich selbst sehr beunruhigt aus, was meine Nervosität und Panik nur noch steigerte. Ich hatte eigentlich gedacht, sie würden meinen Traum einfach als Hirngespinst abtun, aber das taten sie nicht.
»Ihr beide hattet schon immer einen besonderen Draht zueinander. Ich hab' häufig erlebt, dass du meintest ,Thimo kommt gleich.` und wenige Minuten später war er da. Ihr zwei seid richtig unheimlich.«
In diesem Moment klingelte das Telefon. Es war Ellen. Ihre Stimme klang sehr beunruhigt. Eine Freundin von Thimo hatte angerufen und ebenfalls nach Thimo gefragt. Sie wollte zwar nicht mehr erzählen, versprach Ellen aber, sich um die Sache zu kümmern. Ich gab das Telefon an meine Mutter weiter. Ellen und meine Mutter sind sehr gute Freundinnen. So soll Ellen Thimos Paps durch meine Mum kennengelernt haben. Mum hatte als Teenager ein Jahr als Austauschschüler bei Ellens Eltern verbracht und sich mit deren Tochter, Ellen, angefreundet. Später kam Ellen als Studentin nach Deutschland, wo sie mit meiner Mutter in Hamburg studierte. An der Uni lernte sie einen Jungen kennen und lieben. Thimos Vater hatte sie voll erwischt.
Lustlos stocherte ich in meinen Curryheringen herum. Alle versuchten mich aufzumuntern und ein Gespräch mit mir anfangen, aber ich war mit meinen Gedanken meilenweit weg. Alles ist im Fluss. Die anderen ließen mich in Ruhe und unterhielten sich leise miteinander. Selbst Nico schien die Sache mit seinem Bruder nicht mehr so wichtig zu nehmen und plauderte fleißig mit.
Ich weiß nicht, wie lange ich so vor mich hinträumte, aber irgendwann kam meine Mutter wieder ins Zimmer. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie den Raum verlassen hatte. Sie sah uns mit einem völlig verstörten Gesichtsausdruck an. Ihre Haut war kreidebleich.
»Thimo ist niedergestochen worden und liegt im Krankenhaus! Sein Zustand ist kritisch! Die Ärzte wissen nicht, ob er durchkommt.«
4.4. A new hope
Das war dann doch zu viel für mich. Ich brach einfach zusammen. Eigentlich hatte ich mich psychisch für stärker gehalten, aber dass Thimo möglicherweise sterben würde, brachte mich um den Verstand. Ich sackte in meinem Stuhl zusammen und brach in Tränen aus. Ich konnte nicht mehr. Erst Tim, dann Thimo ...
Völlig unerwartet drang das Gefühl einer Hand, die sich auf meine Schulter legte zu mir durch. Sehr vorsichtig und sehr zärtlich, fast schüchtern, glitt sie über mich und streichelte mich. Eine andere Hand strich mir durch die Haare. Eine vertraute Stimme sprach zu mir: »Svenni?«
Ich sah auf. Ich hatte Schwierigkeiten durch meine verweinten Augen klar zu sehen, darum wischte ich mir die Feuchtigkeit aus den Augen.
Es war Tim! Er stand vor mir und strahlte mich an. Er schien ebenfalls geweint zu haben, denn seine Augen sahen noch sehr verquollen aus, aber er versuchte alles, damit ich das nicht merkte.
»Tim! Es ist Thimo, er ist ...«
Tim legte mir einen Finger auf die Lippen und nahm mich in den Arm: »Ssch, sei still ... ich weiß ... du brauchst nichts zu sagen ...«
Tim nahm mich und brachte mich in meinen Bungalow. Er hielt mich einfach fest und stützte mich emotional. Dieser liebe Kerl war einfach fantastisch. Ohne Worte, nur durch seine Nähe baute er mich wieder auf. Langsam kam ich wieder zu etwas Ruhe.
»Svenni entschuldige, dass ich dich einfach heute Morgen alleine gelassen habe. Es ist eigentlich nicht zu verzeihen, was ich getan habe, was ich dir damit angetan habe. Aber wenn ich es nicht heute Morgen gewagt hätte, mit meinem Vater zu sprechen, dann wahrscheinlich nie.«
»Tim es ist ok«, ich wollte ihm nicht sagen, dass er mir mein Herz rausgerissen hatte. »Aber mach sowas bitte nie, nie wieder!«
Tim zog seinen Anhänger unter seinem T-Shirt hervor.
»Du weißt was das bedeutet?«
Seine Hälfte der goldenen Münze lag auf seiner flachen Hand.
»Wir gehören zusammen. Wir sind zwei Teile eines Ganzen.«
Tim zog mich zu sich ran, fischte meine Hälfte der Münze unter meinem Hemd hervor und fügte beide Teile aneinander.
»Ich könnte dich nie absichtlich verletzen. Ich liebe dich!«
Wir umarmten uns, sahen uns gegenseitig in die verquollenen Augen und küssten uns.
»Wie ist es mit deinem Vater gelaufen?«
Tim versteifte sich. Ich merkte, dass er kurz davor stand, erneut in Tränen auszubrechen. Doch stattdessen griff er nach meiner Hand und beruhigte sich wieder.
»Nicht so gut ...«
»Du musst nichts sagen, wenn du nicht willst.«
»Aber ich sollte ... es ist eh egal. Du willst seine Reaktion wissen. Nun, das war Grobschnitt, es gab einfach keine. Ich sagte, dass ich verliebt bin und dass es ein Junge ist, in den ich verliebt bin. Er fragte nur: ,Bist du homosexuell?' und ich sagte nur: ,Ja!'«
»Und dann?«
»Nichts, er drehte mir einfach den Rücken zu und sprach nicht mehr mit mir. Ich hab' versucht mit ihm zu reden, aber er ignoriert mich. Ich bin Luft für ihn. Ich hab' mich direkt vor ihn gestellt und angeschrien, aber er sah nur durch mich durch. Irgendwann bin ich einfach gegangen. Svenni, kann ich eine Weile bei dir bleiben?«
Wir hielten uns immer noch in den Armen. Als Tim seinen Bericht abgab, merkte ich, wie die Emotionen in ihm wüteten. Er tat so, als wenn er das alles ganz cool meistern würde. Aber ich spürte, dass ihm die Sache mit seinem Vater verdammt nah ging.
»Momentan kommt es knüppeldick! Thimo, dein Vater. Nichts, über das man lachen könnte. Werden wir etwa erwachsen?«
»Ich hoffe nicht.«
»Kopf hoch, wir stehen das zusammen durch!«
»Musst du gerade sagen!«
Inzwischen war es Mittag geworden. Dirk, Biene und Nico waren damit beschäftigt, die Reste der Party abzubauen. Peter kam mit seinem Schwager, um seine Soundanlage zurück in den Bandraum zu bringen.
Wir sammelten all unsere Kraft zusammen und packten mit an. Lieber etwas tun, als nur grübelnd in der Ecke sitzen. Wenig später trudelte auch Kuki ein, wie immer bester Laune. Unser Metallwarenlager war wieder super drauf und steckte sogar Tim und mich mit seiner Fröhlichkeit an. Nach einer halben Stunde waren wir sogar wieder am Lachen.
»Kuki erzähl' mal, was ist da mit dir und Holger?«
Kuki grinste und leckte sich dabei die Zähne: »Das wollt ihr wohl gerne wissen, was? Also, ich hab' ihm nicht meine Briefmarkensammlung gezeigt.«
»Ist Holger auch schwul?«
»Kann ein Fisch schwimmen?«
»Wow, damit hätte ich nie gerechnet.«
»Timmy, er auch nicht von dir.«
»Und wie seid ihr beiden ... na, du weißt schon ...«
»Du meinst, wie wir es voneinander rausbekommen haben? Tja, da müssen wir euch wohl danken.«
»Wie jetzt?«
Kuki erzählte. Nachdem Tim und ich uns mit Tims Mannschaft unterhalten hatten, war Holger wohl recht ratlos zurückgeblieben. Er hatte sich zwar für uns beide gefreut, wollte es zuerst gar nicht glauben, fühlte sich am Ende aber dann doch recht allein. Heimlich war er nämlich schon seit langem in Tim verliebt gewesen.
»Sehr verständlich!«
»Sven, schweig stille. Ich erzähl' die Geschichte.«
Kuki erzählte weiter. Er sah, wie Holger traurig in der Ecke stand, und fand ihn eigentlich ganz süß. Er fand es schade, dass ein so netter und gut aussehender Typ traurig war, und entschied sich, ihn anzusprechen. Schüchternheit war für Kuki schon immer ein Fremdwort gewesen.
»Was hat dich denn so mitgenommen?«
»Ach, nichts. Nichts Wichtiges. Bist du Kuki?«
»Woran hast du das den gemerkt?«
»An deinen blauen Augen!«
»Die sind aber grün!«
»Ich weiß!«
»Super, du kannst ja sogar lächeln. Komm, erzähl, was ist los?«
»Ach, hast du Tim und Sven gesehen? Sie passen so gut zueinander ... leider ...«
»Wem sagst du das?«
»Wie bitte?«
»Wem sagst du das?«
»Was willst du damit sagen?«
»Genau das Gleiche, was du damit sagen wolltest. Wer hat dir das Herz geraubt?«
»Tim!«
»Willkommen im Club, bei mir war's Sven.«
Holger musste lachen: »Sollen wir einen Verein für gebrochene Herzen aufmachen?«
»Nö, wir suchen uns einfach jemanden, der unsere Liebe erwidert!«
Kuki meinte, er hätte bei diesem Satz Holger angestarrt und es hätte genau in diesem Moment bei ihm Klick gemacht. Er fand Holger süß, nein sogar richtig geil, eine echte Sahneschnitte und außerdem schien er auch ein wirklich lieber und netter Typ zu sein. Humorvoll und witzig, intelligent, offen.
Holger erging es nicht anders. Im gleichen Moment, wie es bei Kuki Klick machte, tat es das bei Holger auch. Plötzlich hatte er nur noch Augen für Kuki. Merkwürdigerweise war er nicht mal von Kukis vielen Piercings irritiert. Er dachte sogar, dass sie irgendwie zu Kuki passen würden.
»Sag mal, wie viel Piercings hast du eigentlich?«
»Oh, äh, ja ... hmpf ...«, es war das erste Mal in Kukis Leben, dass ihm seine Metallstifte irgendwie unangenehm waren. Er zupfte verlegen an seinem Septumring, hielt den Kopf schief und fragte ganz schüchtern: »Stören sie dich?«
»Nein, hmm, ich glaube nicht. Sie passen zu dir. Hast du nur im Gesicht welche ...«, Holger meinte die Frage gar nicht so direkt, wie sie geklungen hatte. Er dachte eigentlich an sowas Unverfängliches wie ein Bauchnabelpiercing, merkte aber, dass man seine Frage noch ganz anders interpretieren konnte.
Kuki wurde knallrot. Plötzlich waren ihm seine Stahlstifte richtig peinlich. Völlig verunsichert, war er nicht mehr ganz Herr seiner Worte: »Möchtest du es genauer rausfinden?«
Beide Jungs sahen sich in die Augen und es machte erneut Klick. Beide wussten plötzlich, was sie wollten. Sie grinsten sich an. Holger nahm Kuki in den Arm und flüsterte ihm leise ins Ohr: »Komm!«
Zuhause bei Holger erforschten sie dann zusammen, wo Kuki noch, außer im Gesicht, metallene Gegenstände besaß. Womit Kukis Bericht dann auch endete. Völlig glücklich strahlte er in die Runde. Wir hatten uns alle hingesetzt, saßen im Wohnzimmer meiner Eltern und hatten so seiner Schilderung gelauscht. Jetzt mussten wir alle schmunzeln. Kuki war einfach einzigartig.
Ich sah Kuki direkt in die Augen und er erwiderte meinen Blick. Er verstand meine unausgesprochene Frage: »Ich bin glücklich, nein, wir sind glücklich. Ich weiß, ich war in dich verliebt, Svenni, und ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass da nichts mehr ist. Aber ich bin wirklich glücklich. Das Gleiche gilt für Holger, der heute leider nicht hier sein kann. Ich soll dir, Tim, von ihm noch etwas ausrichten: Danke Timmy, du bist der beste! Das ist natürlich nicht wahr, weil Holger der beste ist.«
Die Türklingel riss uns aus unseren Gedanken. Meine Mutter öffnete und ein ungefähr 45 jähriger Mann stürzte herein.
»Wo ist mein Sohn? Sagen Sie mir sofort, wo mein Sohn ist!«
»Papa!«, Tim sprang auf. Ich sah sofort, dass in ihm wieder Hoffnung aufkeimte, sich mit seinem Vater zu versöhnen. Aber bei dem Blick von Dr. Mannteufel war mir sofort schmerzhaft klar, dass dem nicht so war. Er übersah Tim einfach, er sah regelrecht durch ihn hindurch. In diesem Moment kam Nico, der wegen eines dringenden Bedürfnisses kurzeitig den Raum verlassen hatte, wieder ins Wohnzimmer.
»Da bist du ja! Pack deine Sachen und komm. Du verlässt sofort dieses Haus!«
»Was ist mit Tim?«, Nico sah seinen Vater entsetzt an.
»Ich kenne keinen Tim!«
4.5. Krisenmanagement
Portland
Drei Tage später holte Ellen Thimo aus dem Krankenhaus ab. Thimo war froh, endlich den Laden verlassen zu können. Die Ärzte und Schwestern waren zwar sehr nett, sogar überaus nett, zu ihm gewesen, aber es blieb halt ein Krankenhaus. Thimo vermutete, dass Roseanne an seiner fürsorglichen Behandlung nicht ganz unschuldig war, und bedankte sich entsprechend bei ihr.
»Hey, Schatz. Du brauchst dich nicht bei mir bedanken. Sieh lieber zu, dass du dein Baby findest! Er liebt dich, er war gestern wieder da ...«
»Wirklich, warum hast du nicht ...«
»Denk mal drüber nach!«
»Oh, ich verstehe. Danke Roseanne ... wirklich danke!«
»Los schwirr' endlich ab. Ich will dich hier nie wieder sehen ...«
Zu Hause wurde Thimo furios empfangen. Alle waren da: Rob, Tom, Peter und Jana. Thimo fühlte sich immer noch schwach auf den Beinen, aber die Freude über das Wiedersehen mit seinen Freunden baute ihn weiter auf.
»Hi!«, kam es ganz schüchtern von ihm. Statt einer Antwort kamen alle auf ihn zu und umarmten ihn.
Ellen hatte zur Feier des Tages ein kleines Festessen vorbereitet. Man saß also um den Esstisch und unterhielt sich über alles Mögliche und unmögliche, nur der Vorfall mit Scott und das Thema Marcel blieben außen vor.
Nach dem Essen schlug die fröhliche Stimmung um; alle wurden sehr still. Schließlich ergriff Tom das Wort und sprach aus, was allen unter den Nägeln brannte.
»Thimo, wir wissen alle, dass du dem Tod quasi gerade eben noch von der Schippe gesprungen bist. Aber trotzdem, was ist eigentlich passiert?«
Thimo sah einen nach den anderen an. Tom war zwar neugierig, aber nicht auf eine unangenehme Art. Er wollte einfach nur wissen, was los war und ob er helfen konnte. Das Gleiche galt für Peter. Rob sah Thimo an und machte eine öffnende Handbewegung und nickte Thimo zu, so, als wenn er sagen wollte: »Es ist deine Entscheidung. Ich stehe jedenfalls hinter dir.« Thimos Mum wirkte in erster Linie besorgt, und obwohl sie wusste, dass dies eigentlich eine Angelegenheit war, die nur Jana, Marcel, Scott, Thimo, Peter und Tom anging, hätten sie keine zehn Pferde dazu gebracht, den Tisch zu verlassen. Sie wollte wissen, was ihren Sohn dazu gebracht hatte, sein Leben zu riskieren.
Und schließlich war da noch Jana. Aus ihren Augen sprach Angst. Thimo vermutete, dass sie über das gleiche Wissen verfügte wie er. Aber im Gegensatz zu ihr war er nicht durch ein Versprechen gebunden. Und genau das fürchtete Jana. Thimo würde es erzählen, er würde das sorgsam gehütete Geheimnis aussprechen - und dann?
Thimo musste etwas verbittert grinsen. Jana hatte diese Last so lange mit sich rumgeschleppt, dass sie sich gar nicht mehr vorstellen konnte, ohne sie zu leben. Nun, das sollte sich ändern. Keine Geheimnisse mehr. Keine Geheimnisse, die so viel Leid verursacht hatten.
»Marcel ist schwul!«
Thimo ließ seine Worte im Raum stehen und beobachtete die Anwesenden. Rob nickte anerkennend. Tom und Peter entwich ein »Shit«, das aber nur ihre Verblüffung wiedergab und ansonsten nicht böse gemeint war. Thimos Mum nickte wie Rob, nur dass sie es nicht vorher wusste, sondern sie eine Vermutung bestätigt sah. Janas Reaktion war am heftigsten, sie schloss ihre Augen, ihr Gesicht war schmerzverzerrt, als ob Thimos Worte sie wie eine Ohrfeige geschlagen hätten.
»Und um von vornherein alle Missverständnisse auszuräumen: Ich bin auch schwul!«
»Uff«, Peter, »Wow«, Tom. Rob grinste, er genoss Thimos Show. Ellen grinste ebenfalls aus Anerkennung. Jana riss ihre Augen auf und starrte Thimo völlig verstört an. Thimo hatte sich geirrt. Er hatte vermutet, dass Jana sich sowas schon gedacht hätte. Aber dem war nicht so. Jana war völlig überrumpelt. Thimo sah ihre Verunsicherung, aber auch die in ihre aufkeimende Hoffnung.
»Jana, ich vermute ich weiß, welches Geheimnis du seit Jahren mit dir rumschleppst. Und es ist absolut ehrenwert von dir gewesen, es nie zu verraten. Das Versprechen, das du Marcel gegeben hast niemals zu brechen. Doch ich denke, dieses Geheimnis hat wie so viele Geheimnisse mehr geschadet als genützt. Es hat uns in diese Situation gebracht, in der wir jetzt stecken. Deswegen werde ich es jetzt aussprechen, denn ich bin durch kein Versprechen gebunden. Es wird Zeit!«
Mit der folgenden dramatischen Pause war sich Thimo der vollen Aufmerksamkeit der Anwesenden sicher.
»Scott weiß, dass Marcel schwul ist und er hat ihn damit erpresst. Ich hab' Scott zur Rede gestellt und besiegt. Brandon und seine Freunde waren dabei. Sie waren es, die mich niedergeschlagen haben.«
Thimo ließ aus, wozu Marcel gepresst wurde. Jana sah ihn dafür dankbar an. Aber das war eh egal, da nach Thimos letztem Satz die Hölle losbrach. Ellen hielt sich vor Schreck den Mund zu und unterdrückte damit einen Schrei. Tom und Peter waren außer sich vor Wut. Jana brach in Tränen aus und Rob sah Thimo zustimmend an. Seine Augen sagten: »Du hast richtig gehandelt. Es musste raus!«
Thimo ließ seine Freunde am Tisch zurück und ging mit seiner Mutter in die Küche.
»Du hast das alles für Marcel getan?«
»Ja Mama!«
»Liebst du ihn?«
»Ja!«
»Liebt er dich?«
»Ich hoffe ... hm, doch ich denke schon ... er hat sich nachts zu mir ins Krankenhaus geschlichen. Roseanne, die Schwester, die aussieht wie Whoopi Goldberg, hat ihn gesehen. Er lag weinend an meinem Bett. Ich hab' davon nichts mitbekommen.«
»Was hat Scott ihm angetan? Thimo, bitte, ich muss es wissen!«
»Er hat ihn vergewaltigt!«
Ellen biss sich auf die eigene Faust. Der erwachsenen Frau kamen die Tränen.
»Mama es ist gut. Ich bereue nicht, was ich getan habe und auch nicht die Konsequenzen. Ich lebe noch und bitte verzeih mir, aber ich würde in der gleichen Situation wieder so handeln. Leute wie Scott dürfen mit sowas nicht durchkommen.«
Mutter und Sohn nahmen sich in den Arm. Ellen erkannte Thimos Vater in ihrem Sohn wieder. Der gleiche gerade Charakter. Die gleiche Kompromisslosigkeit, wenn es um Freundschaft und Liebe ging. Und die gleiche sture Dickköpfigkeit!
Am Tisch war die Diskussion inzwischen munter weitergegangen. Rob hatte für die Details gesorgt, die Thimo bei seiner Rede ausgelassen hatte. Jana wirkte völlig fertig, aber auch erleichtert. Eine tonnenschwere Last war von ihren Schultern genommen worden. Peter war gerade dabei, Scott mehrfach in die Hölle zu verdammen und Rob rückte ihm den Kopf wieder zurecht, indem er meinte, dass man dann nicht besser wäre wie Scott oder Brandon, als Thimo wieder ins Zimmer kam.
»Nun, wie sieht's aus.«
»Rob meinte gerade, wir sollten besser keine blöden Bemerkungen über Schwule machen, du hättest das nicht so gern.«
»So, hat er das gesagt? Na er muss es ja wissen.«
Rob lief knallrot an: »Thimo, das war unfair.«
»Ich weiß, aber ich konnte einfach nicht widerstehen.«
»Arsch!«
»Gleichfalls!«
»Was ich nicht verstehe, warum tust du das alles für Marcel? Versteh mich nicht falsch, ich bewundere dich dafür. Aber warum? Weil du auch schwul bist und was gegen Schwulenhasser hast?«
»Das auch, aber nicht an erster Stelle. Nein, ich würde es für jeden von euch tun, denn es ist das, was ich für jeden Freund tun würde. Naja, es ist noch ein bisschen mehr. Ich habe mich ganz fürchterlich in diesen süßen Kerl verliebt.«
Es wurde totenstill am Tisch. Alle sahen Thimo an. Tom, Peter und Rob lächelten: Ja, ihr beiden passt zusammen. Und dann plötzlich fand Jana ihre Stimme wieder, ganz leise, fast nur ein Flüstern entwich ihren Lippen:
»Dann solltest du es ihm aber sagen. Und zwar so schnell wie möglich ...«
4.6. Die Eroberung eines Engels
»Jana, weißt du etwa, wo er steckt?«
Jana nickte: »Vielleicht; das heißt, ich habe eine Vermutung. Wenn er noch in Portland ist, dann kann er nur an einem Ort sein.«
»Er muss noch hier sein. Er war im Krankenhaus. Gestern Nacht hat ihn die Schwester gesehen. Jana, bitte, sag mir wo er ist?«
»Es gibt da ein altes Baumhaus. Tom, Peter ihr kennt es doch. Unser Haus! Es liegt in einem kleinen Wäldchen. Marcel hat sich dort immer zurückgezogen. Wenn er traurig war, wenn er alleine sein, oder nachdenken wollte. Selbst jetzt noch. Also wenn er noch hier ist, dann nur dort ...«
»Warum haben eigentlich seine Eltern noch keinen Alarm geschlagen?«
»Pah, die. Denen ist er doch sowas von egal. Außerdem sind sie mal wieder im Urlaub. Die sind soweit ich weiß noch den ganzen Monat in Europa. Also wenn sie es überhaupt interessieren würde, dann könnten sie es trotzdem noch nicht wissen.«
Thimo schätzte seine Kraft ab. Er war zwar gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden, aber verdammt, es ging um Marcel. Er hatte diesen Weg eingeschlagen und musste ihn jetzt auch zu Ende bringen.
»Lass dich von Rob hinfahren!«, Ellen stand im Türrahmen. Sie hatte die Unterhaltung mit angehört und wusste genau, was auf dem Spiel stand.
»Mum, du meinst wirklich ich soll ...? Und du lässt mich ...«
»Hab' ich denn eine Wahl? Hast du denn eine Wahl? Bring es zu Ende! Aber versprich mir, verausgabe dich nicht. Ich nehme mal an, dass etwas Reden kein Problem ist.«
Jana gab Rob eine genaue Wegbeschreibung zu Marcels mutmaßlichem Aufenthaltsort. Sie brauchten gut eine Viertelstunde bis zu dem Wäldchen. Rob parkte seinen Wagen auf einem Parkplatz am Rand des Geländes.
»Du willst das sicher alleine machen?«
Thimo machte eine zustimmende Kopfbewegung: »Wenn ich in 10 Minuten nicht zurück bin, fahr wieder nach Hause.«
Rob wollte etwas entgegnen, überlegte es sich aber dann doch anders: »Ok, du musst es wissen. Aber ich warte 30 Minuten ... viel Glück!«
Thimo stieg aus dem Wagen. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und es war somit recht schwierig, den Weg durch die dunklen Schatten des kleinen Wäldchens zu finden. Jana hatte erzählt, dass sie sehr viele Sommer in diesem Wald verbracht hatten. Sie hatten häufig im Baumhaus übernachtet. Es war ihr kleines geheimes Reich gewesen. Janas, Marcels, Peters, Toms und auch Scotts. Aber das war schon viele Jahre her. Peter und Tom hätten sich nie an das alte Baumhaus erinnert, wenn Jana es nicht angesprochen hätte. Sie selbst war lange nicht hier gewesen, aber sie wusste, dass Marcel hier regelmäßig herkam. Dies war eines der Geheimnisse gewesen, die Jana mit sich rumschleppte.
Nach ein paar Minuten entdeckte Thimo das Baumhaus. Ein lächerlicher Bretterverschlag, aber wohl auch der Ort, an dem sich Marcel offensichtlich sicher und geborgen fühlte. So windschief und schäbig sich das Baumhaus jetzt auch darstellte, zur Zeit ihrer Kindheit musste es das tollste Versteck der Welt gewesen sein.
Das Baumhaus war gar nicht mal so klein. Ein uralter Baum mit einem riesigen Stamm hatte in etwa drei Meter Höhe eine prächtig ausladende Gabelung ausgebildet. Diese Gabel bildete eine Art Kelch, in dem eine Plattform von stattlicher Größe eingefügt worden war. Auf dieser Plattform fand sich das eigentliche Baumhaus. Aus dem Eingang sah man das Licht eine Lampe, wahrscheinlich einer kleinen Campinglampe, herausscheinen. Das Licht erhellte den Rücken einer Person. Sie saß am Rand der Plattform und schien in den Wald zu schauen.
Thimo erkannte sofort, dass es Marcel war, der auf der Plattform saß. Mit jedem Schritt näher, sackte ihm sein Herz tiefer in die Hose. Thimo war sich überhaupt nicht mehr so sicher, ob es eine so tolle Idee gewesen war, hierher zu kommen. Er überlegte. Wie sollte er auf die Plattform kommen, ohne von Marcel bemerkt zu werden? Das Baumhaus hatte als Zugang ein langes Seil, an dem man hochklettern musste. Das Seil endete direkt unter der Plattform an der Stelle, wo Marcel saß.
Thimo sah sich um, entdeckte einen möglichen alternativen Weg, schüttelte den Kopf und dachte zu sich selbst: »Junge, du bist verrückt! Warum machst du das? Warum kann ich mich nicht in einfacher gestrickte Leute verlieben?«
Thimo kletterte einen nahe liegenden Baum herauf. Dies war aber gar nicht so einfach, wie er zuerst gedacht hatte. Zum einen versuchte er, so wenig Geräusche wie möglich zu machen, zum anderen merkte er, dass er kaum über die Kraft verfügte, überhaupt den Baum rauf zu kommen. Es verging daher endlos viel Zeit, bis er sein Ziel erreicht hatte, ein dicker Ast, der von Thimos Baum zur Plattform des Baumhauses hinüberführte.
Ganz langsam und sehr leise ließ er sich von dem Ast auf die Plattform herabgleiten, schlich dann zum Rand der Plattform und setzte sich neben Marcel.
Marcel zuckte vor Schreck zusammen und sah Thimo entsetzt an. Es dauerte einen Moment, bis er erkannte, wer sich neben ihn gesetzt hatte. Obwohl in Thimos Brust sein Herz wie wahnsinnig hämmerte, die Schmetterlinge in seinem Bauch Tango tanzten, es ihm den Hals zuschnürte und er kurz davor war, loszuheulen, schaffte er es, sich zu beruhigen und wie Marcel einfach nur in den Wald und Himmel zu schauen. Dieser Moment war einfach zu wichtig. Er durfte nichts falsch machen. Thimo hatte sich das tausendmal überlegt: Wie spricht man mit jemandem, der so gelitten hatte wie Marcel? Der von einem Typen wie Scott missbraucht worden war? Er wusste, dass er schon einmal den Fehler begangen hatte, Marcel zu berühren. Und so sehr er sich auch die Nähe von Marcel wünschte, er wusste genau, der erste Schritt musste von Marcel selbst kommen.
Mit zunehmender Dunkelheit begann Thimo ruhiger zu werden. Er ahnte, warum Marcel diesen Ort so mochte. Es war eine Insel des Friedens. Das Baumhaus hatte eine ganz eigene Atmosphäre, und die begann auch auf Thimo zu wirken.
»Es war hier! Genau an der Stelle, wo du jetzt sitzt ...«
Im ersten Moment war Thimo erschrocken. Marcels Stimme zerriss so unerwartet die Stille, dass er regelrecht zusammenzuckte.
»Hier hatte ich es Scott erzählt ...«
Thimo hörte zu. Er wagte sich nicht zu rühren, er wagte auch nicht irgendetwas zu sagen, er hörte einfach nur zu.
»Zuerst hatte er mich nur entsetzt angesehen. So, als wenn ich ihm gesagt hätte, ich hätte jemanden umgebracht ...«
Marcel machte kleine Pausen zwischen den Sätzen. Thimo spürte, wie schwer es ihm fallen musste, diese Erinnerungen hervorzuholen und auszusprechen.
»Er verlangte, dass ich es wiederholen sollte. Ich wiederholte es. Ich sagte: ,Scott, ich bin schwul!« »
Marcel senkte seinen Kopf und sah vor sich nach unten.
»Er schlug mich und schrie »Ich hasse dich!« Immer wieder schlug er auf mich ein und schrie das gleiche: »Ich hasse dich!» Bis er schließlich in Tränen ausbrach. Ja, Thimo, Scott heulte los wie ein Schlosshund. Erst schlug er auf mich ein und dann heulte er los. Da wusste ich, dass er mich wirklich hasste. Aus seiner Sicht hatte ich unsere Freundschaft verraten.«
Marcel machte eine sehr lange Pause. Thimo hörte, wie Marcel schniefte und sah aus den Augenwinkeln, dass er sich Tränen wegwischte. Thimos Augen hatten sich ebenfalls in ein Feuchtbiotop verwandelt, aber er wagte immer noch nicht, sich zu bewegen.
»Von da an wurde alles anders. Der erste Mensch, dem ich erzählte, dass ich schwul bin, hasste mich dafür. Und ich begann, mich selbst zu hassen. Ich wollte nicht schwul sein! Ich hatte meinen besten Freund dadurch verloren. Es war meine Schuld! Wäre ich nicht so ein kranker Perverser, wäre alles gut.«
Irgendwer platzierte tonnenschwere Bleigewichte auf Thimos Brust. Ihm fiel das Atmen dermaßen schwer, dass er fast Panik bekam.
»Scott veränderte sich. Zuerst mied er mich einfach nur und lästerte über mich ab. Irgendwann begannen dann die kleinen Erpressungen: ,Marcel, Baby, du bist doch so gut in Mathe. Könntest du nicht einem guten Freund wie mir etwas dabei helfen? Du hast Zeit bis morgen. Und denk dran, wir beide haben ja ein kleines Geheimnis!« Das war der Anfang. Später machte ich alle seine Hausaufgaben. Er verlangte sogar, dass meine Antworten nicht besser sein durften als seine. Also baute ich in meine Hausaufgaben Fehler ein.»
Marcel seufzte. Er stützte sich mit seinen Händen nach hinten ab und legte seinen Kopf in den Nacken und sah die Sterne an.
»Und dann kam der Tag, der wirklich alles veränderte. Scott hatte mal wieder mit seinen Freunden Bier getrunken. Er war voll, aber nicht so voll. In diesem Zustand kam er zu mir nach Hause. Meine Eltern waren wieder einmal im Urlaub. Ich öffnete die Tür und Scott stürmte rein. Er schloss die Tür hinter sich und ...«
Marcel kamen wieder Tränen, aber diesmal schluckte er sie runter. Er wollte diese Sache, die ihn so lange gequält hatte, endlich rausbringen. Er musste sich endlich davon befreien. Trotzdem klang seine Stimme beschlagen und gepresst als er weitererzählte.
»Scott kam auf mich zu. Ich fragte ihn, was er wollte, schließlich hatte er seine Hausaufgaben schon von mir bekommen. Aber Scott grinste nur und meinte, ich solle mit ihm in mein Zimmer gehen. Dort angekommen schloss er die Tür ab. Ich bekam Angst. Scott grinste. Ich fragte ihn nochmal, was er von mir wolle.
»Marcel, Schätzchen, willst du nicht mal einem alten Freund zeigen, wie sehr du ihn magst?»
»Scott was willst du von mir!»
»Du sagst du bist schwul, dann magst du doch Männer und doch wohl am liebsten echte Männer wie mich, oder?»
Shit! Mann, bekam ich eine Angst. Aber das Schlimmste war, dass ich mich schämte. Es war so demütigend! Aber ich habe nicht eine Träne vergossen. Ich wollte nicht, dass er mich schwach sah. Außerdem bin ich kein Weichei, das sofort loswinselt. Niemals! Nicht vor Scott. Tja, dumme Sache, aber Scott hatte damit gerechnet, dass ich seine Erwartungen von einer devoten Schwuchtel erfülle, und anfange zu heulen. Der Typ wurde stocksauer und noch aggressiver.
»Komm Marcel! Komm zu deinem Scott!»
Ok, die Hosen gestrichen voll ging ich zu Scott. Er öffnete seine Hose und holte seinen Schwanz raus. Ich wusste, was er von mir erwartete und ich tat es. Ich hab' mich vor mir selbst geekelt. Scott rammte seinen Schwanz wie ein Tier in meinen Mund. Kurz bevor er kam, schob er seinen Schwanz bis zum Anschlag rein, dass mir sein Glibber in den Rachen schoss. Ich musste würgen, was Scott mit einem verächtlichen »Du jämmerlicher Wichser!» quittierte. Aber er war noch nicht fertig. Er packte mich im Nacken und riss meinen Kopf zurück.
»Wenn du auch nur ein Wort davon erzählst, was eben passiert ist, mein Schatz, dann bist du ein toter Mann!»
Scott haute ab und ich brach zusammen. Ich habe bestimmt zwei Stunden lang nur noch geheult und gekotzt. Danach hab' ich mir mindestens fünfmal die Zähne geputzt und den Mund desinfiziert. Ich habe mich gehasst, geschämt und vor mir selbst geekelt. Ich war doch nur ein kleiner Perverser, der letzte Dreck, der nichts anderes verdient hatte.»
Thimo musste sich bei Marcels Schilderung auf die Lippen beißen, um nicht laut loszuschreien. Der abgekühlte Hass auf Scott flammte wieder auf. Es zerriss ihn vor Wut und Trauer. Marcel war das Opfer und dieses Opfer gab sich die Schuld an seiner Lage. Thimo war dermaßen aufgewühlt, dass ihm schwindelig wurde und er sich abstützen musste, um nicht von der Plattform des Baumhauses zu fallen. Aber Marcel hatte noch mehr auf Lager. Er stand erst am Anfang seines Leidenswegs.
»Jemand Jämmerliches wie ich verdient es nicht zu leben. So suchte ich mir alle Schlaftabletten, die ich im Arzneischrank meiner Eltern finden konnte, und wollte dem ein Ende machen.«
»Nein!«, Thimo konnte es nicht mehr zurückhalten. Das Wort rutschte ihm einfach raus. Er konnte auch seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Marcel drehte sich zu Thimo und sah ihn direkt an.
»Aber selbst das hab ich verbockt! Ich kotzte die meisten Tabletten wieder aus. Jana fand mich. Wir waren verabredet und ich war nicht erschienen. Sie sorgte dann für eine anonyme medizinische Behandlung. Als Gegenleistung musste ich ihr dann alles erzählen. Und ich erzählte ihr alles, aber nur unter dem Versprechen, es niemals weiter zu erzählen.«
»Sie hat ihr Versprechen niemals gebrochen!«
Marcel nickte: »Ja ich weiß. Auf Jana ist 100% Verlass. Aber die Story ist noch nicht vorbei. Du sollst alles erfahren. Das ist mir jetzt auch egal. Eine Weile ging das so mit Scott weiter. Alle paar Wochen musste ich Scott einen blasen. Pah! Beim zweiten Mal war es gar nicht mehr so schlimm. Er wollte abspritzen? Na gut, soll er doch! Nur weil er mir seinen Schwanz in den Hals steckte, hatte er mich damit noch lange nicht. Scott ist einfach gestrickt. Einer Schwuchtel ins Maul zu ficken war für ihn das Größte. Er war der King, ein echter Kerl. Er hatte ja gar keine Ahnung, wie lächerlich er dabei wirkte. Aber irgendwann schien ihm das nicht mehr zu reichen.
»Marcel, mein Schatz. Heute probieren wir mal etwas Neues aus, es wird dir gefallen. Deine Tage als Jungfrau sind gezählt.«
Ich konnte drei Tage nicht mehr richtig sitzen. Scott geht mit seinem Schwanz um wie mit einem Bohrmeißel. Rücksichtslos ist noch geschmeichelt. Ich glaube, er hasst seinen Körper, denn er kann mit ihm nicht umgehen. Ich bemitleide jede Frau, die jemals mit ihm geschlafen hat. Oh, ich hasse ihn und ich bemitleide ihn.»
Der kurze Moment von Marcels Stärke war genauso schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war.
»Ich hasse mich! Warum hab' ich nie Stopp gesagt? Warum hab' ich Scott nie die Meinung gegeigt? Ich bin der totale Looser. Ein Stück Dreck. Pah! Und mit sowas willst du wirklich befreundet sein? Thimo, du kannst nicht normal sein! Warum hast du das getan? Warum hast du Scott herausgefordert und dich in Lebensgefahr gebracht? Warum? Thimo, warum? Ich bin ein Nichts! Eine gottverdammte Schwuchtel, die dominanten Arschlöchern den Schwanz lutscht und sich von ihnen ficken lässt. Thimo, was willst du von mir? Ich bin doch nur ein Stück Scheiße! Ein Schwuler!«
Marcel brach völlig zusammen, er heulte los. Er weinte ganze Sturzbäche und schien alles, was sich seit Jahren angesammelt hatte, rauszulassen. Thimo fühlte ähnlich. Er weinte zwar nicht, doch war sein ganzes Inneres in Aufruhr. Marcels Selbsthass schmerzte wie der Messerstich in seiner Seite. Nein, er schmerzte noch viel, viel mehr. Ein unerträglicher Schmerz.
»Neeeeeeiiiiiiiiiiiinnnnnn!«, der Schrei musste meilenweit zu hören gewesen sein. Thimo hatte alles in ihn hinein gepackt; allen Frust, allen Schmerz und alle Trauer. Marcel wurde ruhig, fast ängstlich sah er Thimo an und Thimo erwiderte seinen Blick. Wenn Thimo in seinen Schrei alle negativen Emotionen gepackt hatte, dann packte er jetzt alle seine positiven Emotionen in diesen einen Blick: Freundschaft, Aufrichtigkeit, Verständnis, Güte und vor allen Dingen, unendlich viel Zuneigung.
4.7. Der Teufel im Manne
Berlin
Die Stirn meines Vaters begann sich zu kräuseln. Wer meinen Paps kennt, weiß, dass das ein absolutes Warnsignal ist. Nämlich Warnstufe 1 oder auch von mir DEFCON IV genannt. Es bedeutete, dass er stocksauer war und man sehr bald mit einem Wutausbruch rechnen musste. Glücklicherweise war ich nie die Ursache für eine seiner seltenen, aber dann ausgesprochen spektakulären Stirnkräuselungen gewesen.
In diesem Fall hatte Dr. Rüdiger Mannteufel die Ehre, für die Verstimmung meines Paps verantwortlich zu sein. Es war nicht so, dass es ihn groß störte, dass Doc Mannteufel einfach so in unser Haus platzte und es nicht mal für nötig befunden hatte, sich vorzustellen. Sowas hält Paps im besten Fall für peinlich-ungehobeltes Benehmen. Was Paps wahnsinnig aufregte, war die Art, wie er mit seinem ältesten Sohn, Tim, umging. Nämlich gar nicht.
Ich glaube, selbst wenn ich jemals etwas ganz Schlimmes getan hätte, möglicherweise sogar etwas Kriminelles, Paps hätte mich immer noch als seinen Sohn bezeichnet. Ok, er hätte mich wahrscheinlich nach Strich und Faden zerlegt. Aber er hätte mich nie geschlagen, oder gesagt, dass er mich nicht mehr lieb hat, geschweige denn, dass Allerschlimmste, mich als für ihn nicht mehr existent angesehen. Bei Gewalt gegen Kinder und Jugendliche rastet Papa aus. Dabei war es ihm einerlei, ob die Gewalt körperlich oder seelisch war.
Paps Stirn legte sich also in Falten. Ich kannte meinen Paps, er wartete nur noch auf ein Stichwort.
»Aber Paps, Tim ist mein Bruder. Er steht vor dir!«, Nico war den Tränen nahe. Aus dem coolen Kerlchen war ein trauriges kleines Kind geworden, das nicht verstehen wollte, was gerade passierte.
»Du hast keinen Bruder. Komm jetzt.«
»Ähm... ärhm«, Paps hatte DEFCON III oder die Stufe 2 erreicht, »Und Sie sind, wenn ich fragen darf?«
»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht?«
Ein Fehler! Diese patzige Antwort versetzte Paps in DEFCON II, ich sah schon, wie Paps im Geiste seine virtuellen Interkontinentalraketen scharfmachte. Die Abschussschlüssel steckten schon und die strategischen Ziele waren in den Feuerleitrechner eingegeben. Es reichte wirklich nicht mehr viel, und die linke und die rechte Hirnhälfte würden gemeinsam die Schlüssel drehen.
Paps blieb erstmal ausgesprochen höflich: »Ich denke schon, dass mich das ein bisschen was angeht. Sie sind in mein Haus, nein, eigentlich in das Haus meines Sohnes eingedrungen. Also ich persönlich würde es schon für angemessen empfinden, wenn Sie mir ihren Namen sagen würden ... Ich werde Ihnen sogar ein Stück weit entgegen kommen. Mein Name ist Jacobsen, Sten Jacobsen.«
Paps hatte offensichtlich seine Raketen mir rhetorischen Mehrfachsprengköpfen bestückt. Es würde zu einem Kampf der Worte kommen. Ich ertappte mich dabei, dass ich mich auf diese Schlacht freute. Es war immer spannend und ausgesprochen unterhaltsam, meinen Paps bei einem Rededuell zu erleben. Aber dann fiel mir wieder ein, dass es nicht um etwas Belangloses oder Witziges ging. Es war bitterer Ernst, denn es ging um meinen Tim.
»Ach Sie sind der Vater von diesem Bastard, der meinen ehemaligen Sohn pervertiert hat?«
DEFCON I
»Was sagten Sie gerade?« Paps Stimme war absolut ruhig und entspannt. Innerlich war er am kochen.
»Ich denke, Sie haben mich verstanden. Nico, wir gehen, sofort!«
»Nein!«, Nico brach in Tränen aus, »Nicht ohne Timmy!«
»Du kommst jetzt mit! Ohne Widerrede! Tim ist nicht mehr dein Bruder. Er hat einen anderen Weg gewählt. Er hat sich von Gott abgewendet und hat Schmutz und Schande gewählt. Wir kennen ihn nicht mehr. Und jetzt komm!«
»Nein, niemals. Ich bleibe wo Timmy ist!«, Nico heulte wie ein Schlosshund.
Die Situation konnte bizarrer nicht sein. Mum, Kuki, Dirk, Sabine und Dirk saßen noch am Kaffeetisch und folgten der Auseinandersetzung mit einer Mischung aus Abscheu und Entsetzen. Tim und ich saßen nebeneinander. Tim wirkte äußerlich paralysiert, aber an seinen feuchten, glasigen Augen konnte man erkennen, was in ihm vor sich ging. Ich drehte meinen Kopf nur zwischen Paps, Doc Mannteufel, Nico und Timmy hin und her. Nico brach unter Tränen zusammen.
Blieben nur noch mein Paps und Dr. Mannteufel. Der Letztgenannte war mit der Reaktion seines jüngsten Sohns alles andere als zufrieden. Hasserfüllt nahm er meinen Paps ins Visier und musterte ihn abschätzig.
»So ist das also ... Nico versucht man mir also auch wegzunehmen ...«
»Ich denke, Sie sollten sich bei meinen Sohn entschuldigen.« Paps Stimme war so eisig, dass jede Tiefkühltruhe vor Neid erblasst wäre.
»Was soll ich?« Timmy Paps war eher hitzig und hysterisch.
»Mein Sohn ist kein Bastard!« Paps war wirklich am kochen. Ich sah, dass er Ober- und Unterkiefer aufeinander presste und mit den Zähnen knirschte. Kochen war gar kein Ausdruck, seine Wut hatte eher etwas vom Feuer einer Kernfusion.
»So, ist er nicht? Was ist dieses gottlose Unwesen denn sonst? Er hat mir meinen Sohn genommen. Ihn zu widerlichen und perversen Handlungen verführt. Es ist ekelhaft, widernatürlich, einfach abstoßend. Ich verstehe nicht, wie Sie es mit ihm unter einem Dach aushalten können. Was sind Sie nur für ein Vater, dass Sie ihn nicht gleich beim ersten Anzeichen dieser Perversion behandeln ließen. Vielleicht hätte man ihn damals noch retten können, aber jetzt ...«
Sprach der Typ etwa gerade von mir? Mir klappte mein Unterkiefer runter. Das war hart und ich war sprachlos.
»Von welcher Perversion sprechen Sie eigentlich? Von der Perversion, einen Sohn zu verstoßen, der sie trotz allem liebt, nur weil er nicht Mädchen, sondern Jungen liebt, oder sprechen sie von der Perversion, einen Sohn tiefst zu verletzen, indem man ihm seinen geliebten Bruder raubt?«
»Pah! Sie müssen ja so reden. Sie sind schließlich der Vater von diesem Basta ... ähm, dieser missgeleiteten Seele. Nun ja, es ist wohl so wie es ist, das heißt, für Ihren Sohn gibt es wohl keine Hoffnung mehr. Aber Sie, Sie machen sich schuldig, dass er andere Kinder verführt und pervertiert. Das kann ich nicht tolerieren! Sie haben es zugelassen, dass er meinen ehemaligen Sohn zu seinesgleichen gemacht hat, und werden dafür die Verantwortung tragen.«
»Oh, damit hab' ich nicht die geringsten Probleme. Ich finde, die beiden passen sehr gut zusammen.«
»Wie bitte? Sie unterstützen dieses kranke, abnorme Treiben auch noch? Naja, das ist bei den verlodderten Moralvorstellungen heutzutage wohl auch kein Wunder, bei der jede Abartigkeit im Fernsehen hochgejubelt wird. Wenn man nicht etwas anders ist, dann ist man, wie heißt das uncool. Das ist krank und widerlich! Und das Schlimmste, es wirkt auch schon bei den Kleinen, wie Nico. Nicht nur, dass er diese widerliche Musik macht. Rap, pah, das ist die Musik von kriminellen! Jetzt hat man ihn auch noch gegen mich aufgehetzt. Aber ich werde dafür sorgen, dass Sie dafür zur Verantwortung gezogen werden. Sie haben sich den Falschen ausgesucht. Ich habe Macht und Einfluss! Hinter mir steht die Macht einer ganzen Partei, die sich Moral, Anstand und christlichen Werten verschrieben hat!«
»Uuuhhh, jetzt bekomme ich aber Angst!«
Tims Vater klang, als wenn er predigte. Was er da brabbelte, machte zwar nicht den geringsten Sinn, sorgte aber dafür, dass ich mich um etliche Stufen schlechter fühlte. Obwohl ... irgendwie wirkte der Typ auf mich wie eine Realsatire. Wenn es nicht um Tim ging, hätte man fast loslachen können.
»Sagen Sie, glauben Sie eigentlich an all das, was Sie die ganze Zeit über gesagt haben?«, in Paps Stimme fehlte jegliche Polemik. Ich war überrascht. Mein Paps reagierte bei jeder Auseinandersetzung anders und jedes Mal machte er für seinen Gegner einen überraschenden Zug. Worauf wollte er diesmal hinaus? Er hatte schon die ganzen Angriffe und Beleidigungen recht nebenläufig abgetan. Irgendein Ass hatte Paps wohl noch im Ärmel. Einer seiner Marschflugkörper unterflog das Radar und zielte offensichtlich auf einen Punkt, an dem bei Doc Mannteufel die Deckung fehlte. Aber worauf?
»Wie können Sie es wagen?«
4.8. Ungeplante Reue und ebensolcher Familienzuwachs
»Oh, ich wage noch viel mehr. Aber nicht in aller Öffentlichkeit.« Paps nickte meiner Mutter zu, die schnappte sich Nico und bat auch Dirk, Kuki und Biene den Raum mit ihr zu verlassen. Damit waren nur noch Tim, sein Vater, mein Paps und ich anwesend. Es war also soweit, Paps würde Tims Vater demontieren.
»Was soll das? Was geht hier vor?«
»Entspannen Sie sich Mannteufel. Und bitte, tun Sie uns allen einen Gefallen und stecken Sie ihre Parteitagsrhetorik weg. Sie brauchen mir wirklich nicht den Moralapostel vorspielen. Wissen Sie, ich habe mich vor ein paar Tagen mit Kai Endersen unterhalten. Den kennen Sie doch auch, oder ...?«
Tims Vater wurde grau und musste sich setzen. Wer war Kai Endersen? Offensichtlich hatte der Marschflugkörper sein Ziel erreicht.
»Ok, Jacobsen, was wollen Sie?«, der Predigerton war aus Tims Vaters Stimme verschwunden. Sie klang mit einem Mal mehr wie die eines Pokerspielers, der seine Hosen runtergelassen hatte.
»Eigentlich würde ich Sie zu gern ein bisschen Leiden sehen, aber damit wäre ich keinen Deut besser als Sie. Deswegen werde ich die Sache kurz machen, allerdings nicht schmerzlos. Ich stelle Sie einfach vor die Wahl: Sagen Sie es Ihrem Sohn oder soll ich es ihm sagen?«
»Pah, Sie bluffen doch nur!«, Mannteufels Bibelverkäuferton hatte dem eines Politprofis Platz gemacht.
»Ok, Sie haben es nicht anders gewollt.«
Mein Paps drehte sich zu Tim und sah ihn ausgesprochen ernst an. Diesen Blick sah man bei ihm extrem selten.
»Tim, das ist jetzt sehr wichtig. Für mich, für Sven und vor allem aber auch für dich! Was erwartest du von deinem Vater?«
Tim zitterte und ich griff nach seiner Hand, was ihn auch ein bisschen beruhigte. Trotzdem zuckten seine Augen nervös zwischen meinem und seinem Paps hin und her. Als er sah, dass sich sein Paps deutlich sichtbar davor ekelte, wie ich Tim berührte, senkte er traurig seine Augen. Er konnte seinen Vater nicht ansehen. Jeder, möglicherweise sogar sein Paps, musste an seiner stockenden Stimme erkennen, wie es in ihm aussah. Mir zerriss es erneut das Herz.
»Ich wünschte er würde mich akzeptieren. So wie ich nun mal bin.«
Tim schniefte heftig, er war kurz davor loszuheulen.
»Ich kann es nicht ändern, aber ich liebe Jungs. Ich bin schwul. Ich hab' mir das nicht ausgesucht. Aber ich liebe Sven!«
»Tim das ist ekelhaft. Einfach widerlich und unnatürlich. Gut, ich bin dein Vater, und wenn du mir versprichst, wieder normal zu werden, wollen wir die Sache vergessen.«
»Paps, ich bin normal! Ich bin ein ganz normaler Junge, nur mit dem Unterschied, dass ich andere Jungen liebe und nicht Mädchen. Was ist daran verkehrt? Ich versteh das nicht. Du hast dich in den letzten Jahren fürchterlich verändert. Du behandelst Mum schlecht, du behandelst Nico schlecht und mich auch. Bin ich daran schuld? Sag mir, wenn ich was falsch gemacht habe! Bitte, Paps, ich lieb' dich doch ... trotz allem, immer noch.«
Tim konnte seine Tränen schließlich nicht mehr zurückhalten.
»Mein Gott bist du jämmerlich! Und sowas will mein Sohn sein. Aber ich kann dir sagen, was daran nicht normal ist. Es ist wider der Natur. Es ist krankhaft. Naja, wahrscheinlich ist es mein Fehler. Ich hätte deine Mutter nicht im Strafvollzug arbeiten lassen dürfen. Sie wurde dadurch viel zu männlich. Dominante Mütter sollen ja zu sowas führen ...«
»Lass Mama gefälligst aus dem Spiel!«, Tim kippte von Trauer und Schmerz auf Wut um.
»Wusste ich's doch, ein Muttersöhnchen! Typisch! Aber ich sag's dir nochmal: Kehr' von diesem Leben, das du da wählen willst, ab! Es ist krank, es ist pervers und ist gegen die Moral! Wenn du psychiatrische Hilfe dafür brauchst, darüber lässt sich reden.«
»Es reicht!« Paps hatte sich diesen Dialog eine Weile angehört, dabei war seine Wut wieder gestiegen und überstieg die Schmerzgrenze.
»Dr. Mannteufel, ich schätzte es eigentlich nicht, wie Sie auch über meinen Sohn urteilen. Denn wenn Sie Homosexuelle für krank und pervers oder gar für amoralisch halten, dann halten Sie meinen Sohn ebenfalls dafür. Das ist eine Beleidigung. Sie verletzten damit seine Persönlichkeitsrechte. Das nur so nebenbei.«
Mannteufel verdrehte nur gelangweilt seine Augen: »War„s das? Kann ich jetzt gehen? Ich glaube wir haben uns wohl nichts mehr zu sagen, oder? Ach so, sorgen Sie dafür, dass ihr Sohn keinen Kontakt mehr zu Nico sucht. Ich will nicht noch einen Sohn verlieren. Ok, Tim, kommst du mit oder bleibst du hier?«
»Wenn du mir nur diese beiden Alternativen lässt, dann bleibe ich. Es tut mir leid, Paps, dass du mich nicht verstehen kannst.«
»Och ich glaube er kann das sehr gut ...«, für meinen Paps war die Sache wohl noch nicht ausgestanden. Doc Mannteufel wollte sich gerade vom Sofa erheben, als ihn diese Bemerkung von meinem Vater auf die Sitzfläche zurückwarf. Zwei eiskalte Augen sahen meinen Vater an.
»Was wollen Sie von mir?«
»Wissen Sie, was ich nicht ertragen kann? Bigotterie! Wenn ich sie sehe, wird mir schlecht. Es ist wie ein übler Geruch und momentan ist die Luft regelrecht verpestet davon.«
»Sie kleiner arroganter Wichtigtuer, was wollen Sie mir unterstellen?«
»Unterstellen? Ich? Gar nichts! Ich rede von Tatsachen! Und eine Tatsache ist, dass Sie ein bigotter Heuchler sind. Sie reden hier von Perversion, Krankheit und Amoral, als wenn Sie die Aufrichtigkeit, Moral und den Anstand für sich gepachtet hätten. Aber dem ist wohl nicht ganz so, oder? Als Würdenträger einer christlich orientierten Partei sollten Sie doch mit den 10 Geboten vertraut sein. Es steht doch wohl fest, dass sie mindestens eins davon gebrochen haben, oder?«
Mannteufel lief knallrot an. Tim sah seinen Vater entsetzt an und auch ich wusste nicht, was mein Paps gerade meinte.
»Tim, oh, es tut mir leid, ich hatte dich ganz vergessen. Aber dein Paps hat mich sowas von wütend gemacht. Du hättest das nicht hören sollen.« Paps war etwas über sein Ziel hinausgeschossen.
»Doch, ich will es wissen! Was hat mein Vater getan?« Ich entdeckte eine völlig neue Seite an Tim, seine Stimme war plötzlich eiskalt geworden.
»Los, sagen Sie es ihrem Sohn. Sagen Sie ihm, welche moralischen Maßstäbe für Sie persönlich gelten.«
»Pah, kümmern Sie sich um Ihren eigenen Dreck!«
Tim sah meinen Paps fragend an. Keine Reaktion. Tim schüttelte resigniert seinen Kopf.
»Das hätte alles nicht soweit kommen dürfen. Ok, dein Paps nimmt es mit der Treue zu deiner Mutter nicht sonderlich genau. Er unterhielt mehrere Jahre ein Verhältnis mit Miri Endersen, der Tochter von Kai Endersen. Miri war zu Anfang der Beziehung noch nicht volljährig. Aber das störte deinen Vater nicht sonderlich, ganz im Gegenteil.« Und zu Doc Mannteufel: »Im Gegensatz zur Homosexualität, ist übrigens der Lolita-Komplex tatsächlich pathologisch. Übrigens wird sich möglicherweise die Staatsanwaltschaft noch dafür interessieren.«
»Das wird Sie sicherlich nicht! Endersen wird niemals gegen mich aussagen und Miri war älter als 16!«
»Oh, wenn Sie sich da nicht täuschen. Ich weiß, Sie denken, Sie haben Endersen wegen dieser Steuersache in der Hand. Nun, es wird Sie überraschen, aber er hat gestern eine strafbefreiende Selbstanzeige gemacht. Damit hat sich ihr Druckmittel gegen ihn wohl in Luft aufgelöst. Potenziell steht damit eine Strafanzeige gegen Sie im Raum. Eigentlich sogar zwei, wenn man Beihilfe zur Steuerhinterziehung hinzuzählt. Aber die eigentliche Sache, ich weiß nicht, ob das wirklich so gut für Sie aussieht. Ok, Miri war wohl nicht gegen die Beziehung, wohl aber ihr Vater ...«
Tims Vater zischte vor Wut und Hass: »Sie Schwein!«
»Oops, bitte keine Beleidigungen. Übrigens wussten Sie schon, dass Sie eine zweijährige Tochter haben?«
»Was?«, jetzt wurde Mannteufel kreidebleich. »Ich dachte, sie hat es wegmachen lassen! Ich hab' ihr doch Geld und eine Adresse gegeben!«
»Nein! Hat sie nicht, sie liebt nämlich ihr Kind. Wie es Eltern immer mit ihren Kindern tun sollten.«
»Was erwarten Sie von mir?«
»Das hängt ganz von Tim ab. Tim?«
Mein Schatz war in Gedanken versunken. Er hatte das restliche Gespräch schweigend mit angehört. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos geworden. Als er nun zu sprechen anfing, kam erstmal nur ein großer Seufzer.
»Paps, ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll. Du warst für mich immer ein Vorbild. Früher mehr als heute. Aber du hast dich so verändert. Vorher habe ich immer zu dir aufgesehen. Ich dachte, es lag an mir, dass alles anders wurde. Aber jetzt, nachdem ich das alles erfahren habe ...«
Tim schüttelte den Kopf und plötzlich wurde sein Gesicht hart, sehr hart sogar. Die Wut war der Verbitterung gewichen, nachdem Tim realisierte, dass nicht er der Grund für die Veränderung war, sondern sein Vater selbst.
»Verlass uns! Gib Mama frei! Lass uns unsere eigenen Wege gehen. Wenn du die moralische Messlatte so hoch legst, musst du dich auch an ihr messen lassen. Nein Paps, ich verachte dich nicht. Eigentlich tust du mir nur noch leid. Du brauchst auch nicht mehr akzeptieren, dass ich schwul bin. Es hat für mich keinen Wert mehr. Aber um eine Sache bitte ich dich, steh wenigstens zu deiner Verantwortung gegenüber meiner kleinen Schwester.«
Sein Paps sah Tim sehr merkwürdig an. Er schien nicht recht zu begreifen, was Tim ihm gerade gesagt hatte und was es bedeutete.
»Ich denke, das ist die beste Lösung. Sie nehmen die Vaterschaft für das Kind an und werden zahlen. Wenn das reibungslos verläuft, wird Kai Endersen von einer Anzeige gegen Sie wegen der kleinen Erpressung absehen und Sie kommen ohne Strafverfahren und mit einem blauen Auge davon. Für mich persönlich leider viel zu glimpflich, aber Kai will keinen großen Rummel. Ich respektiere das.«
»Das ist Erpressung!«, Mannteufel hatte seine Sprache wieder gefunden. Seine Stimme hatte all ihre Überheblichkeit und Selbstsicherheit verloren.
»Ja, ist es! Aber wie ihr Sohn schon sagte, die Messlatte haben Sie selbst so hoch gelegt.«
4.9. Panzerknacker
Portland
Seit mehreren Minuten sah Marcel Thimo an und versuchte, aus ihm schlau zu werden. Das war aber aus zwei Gründen recht schwierig. Ein Grund war rein technisch bedingt. Es war inzwischen schon sehr dunkel geworden und Thimos Gesicht wurde nur schwach von dem spärlichen Lichtschein, der aus dem Bauhaus herausfiel, beleuchtet. Der andere Grund war eine mentale Denksperre bei Marcel: Was wollte Thimo von ihm? Welches Interesse könnte er an einem Typen wie ihm haben?
»Wie kommst du darauf, dass du nur ein Stück Scheiße bist?«
Thimo hatte genau das umgekehrte Problem. Er wusste, was er von Marcel wollte und vermutlich auch, was Marcel brauchte, nur war er sich völlig unsicher darüber, wie er vorgehen sollte. Marcel einfach zu erklären, dass er ihn liebte, war wohl nicht die schlauste Idee. Marcel war durch so viel Scheiße gewatet, dass ihn ein derart plumpes Geständnis wohl überfordern würde. Diese Sache musste also warten. Viel wichtiger war, dass Marcel wieder begann, sich selbst zu respektieren, anstatt sich zu hassen. Außerdem musste er endlich aufhören, sich dafür verantwortlich zu fühlen, was Scott mit ihm gemacht hatte.
Marcel antwortete nicht auf Thimos Frage. Nach wie vor sah er Thimo an und versuchte in dessen Gesicht zu lesen. Thimo bekam weiche Knie. Wie bricht man solch einen Panzer?
»Marcel, wie fühlst du dich?«
»Einsam ...«, Marcel hatte gar nicht vor zu antworten, sein Sprachzentrum arbeitete ohne seine Einwilligung.
»Warum? Du hast Freunde ...«
»Ja, die hab' ich. Aber wie lange noch, wenn sie erst erfahren, dass ich schwul bin?«
»Ich kenne mindestens zwei Personen, für die sich nichts an ihrer Freundschaft zu dir ändern wird.«
»Wer?«
»Jana und Rob. Die beiden würden für dich durch die Hölle gehen. Und ganz nebenbei, ich denke, für Peter und Tom gilt das Gleiche.«
»Warum?«
»Du bist ein Idiot, weißt du das? Mein Gott, sie tun das für dich, weil sie dich mögen! Weil sie dich lieben! Du bist ihr Freund! Hast du etwa Angst, Freunde zu haben?«
»Nein, natürlich nicht! Aber womit hab ich ihre Freundschaft denn verdient? Ich bin doch nur eine jämmerliche scheiß Schwuchtel ...«
»Hmm ... geht das schon wieder los ...«, Thimo hielt seinen Kopf schief, musterte Marcel mit einem anzüglichen Grinsen und schüttelte dann seinen Kopf.
»Was heißt hier ,Hmm`?«, befriedigt stellte Thimo fest, dass Marcel irritiert war und sich sogar etwas Ärger regte.
»Ach, ich dachte nur ... aber nein, du hast sicherlich Recht ...«
»Womit hab ich Recht?«
»Mit dem, was du sagst. Du bist wirklich jämmerlich...«
»Wie kannst du ...«, Marcel wurde wütend »Was willst du überhaupt von mir? Hä? Wer hat dir überhaupt gestattet, dich in mein Leben einzumischen? Bevor du hier aufgekreuzt bist, war alles in bester Ordnung. Aber du musstest ja alles durcheinanderbringen ... macht es dir Spaß, andere Leute leiden zu sehen?«
»Nein, macht es nicht! Aber erzähl mir nicht, dass die Welt vor mir in Ordnung war!« Thimo hasste es, Marcel so zu provozieren, aber wenn das die einzige Chance war, ein Loch in seine Mauer zu schlagen, dann musste er sie nutzen, »Du warst für Scott der Lakai! Du hast gemacht, was er von dir wollte! Und wie hat er sich dafür bei dir bedankt? Du durftest ihm einen blasen! Ach ja, das war ja gar nicht freiwillig, so ein Pech aber auch. Aber du hast Recht, sowas ist wirklich völlig normal! Wirklich toll!«
»Was soll der Scheiß? Ich war das Opfer! Ich wollte ihm keinen blasen! Ich wollte nicht von ihm gefickt werden! Er hat mich vergewaltigt!«
»Verflucht, dann akzeptiere das auch endlich! Du bist nicht schuld an deiner Lage, sondern Scott! Du verdammter Idiot! Hör endlich auf dich für etwas zu hassen, für das du nicht verantwortlich bist!«
»Aber ich bin schwul!«
»Ja und? Wo ist das Problem?«
Die Lautstärke der Unterhaltung war kontinuierlich angewachsen bis Thimo und Marcel sich anschrien. Thimos letzter Satz machte dem ein Ende. Marcel war aus dem Konzept gebracht worden. Er wusste auf die Frage keine Antwort. Er suchte nach etwas, das er entgegnen konnte, aber da war nichts. Also griff er zur nächstbesten Phrase.
»Es ist nicht normal! Es ist pervers ...«
»Wer sagt das?«
»Scott ... alle ...«
Ein Schmunzeln flog über Thimos Gesicht. Mit ruhiger Stimme fuhr er die Unterhaltung fort. Marcels Mauer hatte Risse bekommen, jetzt galt es, die Risse zu vergrößern und ein paar Steine aus dem Mauerwerk zu brechen.
»Scotts Meinung ist für dich ein Maßstab? Der Kerl schlägt Frauen. Er vergewaltigt Jungs. Ist das Normal?«
»Nein.« Marcels Stimme war jetzt ganz klein und zaghaft, als wenn er begann, ganz vorsichtig aus seiner Schale zu schauen, die ihn bisher umgeben hatte.
»Marcel, sag mir ganz ehrlich, was findest du daran so schlimm, schwul zu sein?«
»Die Einsamkeit!« Marcel kamen die Tränen auf die Thimo lange bei ihm gewartet hatte. »Es gibt Niemanden mit dem ich darüber reden kann. Niemanden, der so fühlt wie ich. Scheiße, ich fühle mich so allein auf der Welt. Ich habe versucht, diese Gefühle zu unterdrücken, aber ich kann es nicht. Immer wenn ich gut aussehende Jungs sehe, sind diese Gefühle da. Ich kann sie nicht abstellen. Ich träume von ihnen, was ich mit ihnen machen möchte, aber ...«
»Rede' weiter ...«
»Ach, Thimo, ich weiß nicht weiter. Nach Scott und Jana bist du der dritte, der weiß, dass ich schwul bin. Und jedes Mal ging die Sache daneben...«, Thimo zuckte zusammen, was hatte er falsch gemacht, dass Marcel diese Diskussion als gescheitert betrachtete?
»Was?«, diesmal klang Thimos Stimme verstört.
»Was soll„s? Das ist mein Looserlos! Scott hat es gegen mich verwendet. Von Jana und dir ernte ich nur Mitleid. Also, da hast du einen Grund, warum ich es hasse, schwul zu sein.«
»Ach, du denkst, ich tu das aus Mitleid?«, offensichtlich war jetzt der Zeitpunkt gekommen, alles auf eine Karte zu setzten.
»Ja was denn sonst?«
»Ich handle völlig eigennützig ...«, Thimo setzte sein breitestes Grinsen auf.
»Wie bitte?«, Marcel war irritiert.
»Marcel, hör mir gut zu. Ich meine das bitterernst und ohne jeglichen Scheiß. Kein Mitleid! - Marcel ich liebe dich!«
4.10. Marcels Baumhaus
»Aber ...«, Marcels Unterkiefer klappte runter. Er konnte nur noch stammeln, »aber ... du ...?«
»Ja, verdammt! Ich liebe dich! Ich hab' mich gleich am ersten Tag in dich verliebt! Du bist etwas Besonderes. Es zerreißt mir das Herz, wie du dich quälst! Zu sehen, wie du dich in dir selbst verkriechst.«
»Aber, dann ...«, das mit der Sprache wollte immer noch nicht so recht klappen.
»Ja! Ich bin schwul! Und ich weiß, was du gerade durchmachst!«, Thimo wiegte seinen Kopf hin und her. »Ok, wahrscheinlich weiß ich nicht ganz, was du durchmachst. Aber eins sage ich dir: Es gibt keinen Grund sich zu schämen, schwul zu sein! Glaube niemandem, der etwas anderes behauptet. Niemals!«
»Du bist schwul?« Marcel hatte endlich seine Sprache wiedergefunden und nutzte sie sofort, um seiner ungläubigen Verwunderung Ausdruck zu verleihen. Allerdings arbeitete sein Verstand momentan nur in kleinen Häppchen. Dass Thimo ihm seine Liebe gestanden hat, war bisher noch nicht zu seiner Großhirnrinde vorgedrungen.
»Ja, ist das denn so unvorstellbar?«
»Aber ... aber, dass kann nicht sein ...«, gibt es sowas wie sprechende Sprachlosigkeit. Wenn nicht, dann hatte sie Marcel gerade erfunden.
»Marcel, lies es von meinen Lippen ab: Ich bin schwul! Oder soll ich es dir aufschreiben?«
Marcel wurde schwindelig, sein Körper begann zu wanken und er verlor sein Gleichgewicht. Die Wucht, mit der Thimos Worte auf sein Trommelfell prallten, von den Sinneshärchen in seinem Innenohr in elektrische Signale umgewandelt, über Nervenbahnen in sein Großhirn geleitet und dort von diversen kortikalen Hirnlappen in semantisch bedeutsame Sinneseindrücke verwandelt wurden, war zu viel. Das heißt, die Sinneseindrücke selbst waren gar nicht so schlimm. Nur ein paar gesprochene Worte. Aber ihre Bedeutung überstieg Marcels Rechenkapazität ungefähr so, als wenn man mit einem 386iger Unreal Turnament in 1280x1024 spielen wollte. Eine lang gehegter, sorgsam gehüteter und geheimer Traum schien Realität zu werden und warf Marcel einfach um.
Nun sind Baumhäuser nicht unbedingt der beste Ort, um auf ihnen schwindelig zu werden, insbesondere dann nicht, wenn man mitten in der Nacht am Rand der Plattform sitzt. Die Schwerkraft wirkt immer und überall.
Thimo sah mit Schrecken, wie Marcel langsam begann, von der Plattform zu rutschen. Er reagierte ohne nachzudenken, und sprang zu Marcel herüber. Er gelang ihm gerade noch, Marcels beide Arme zu packen, bevor dieser gänzlich von der Plattform gestürzt wäre. Marcels Gewicht riss an seinen Armen und machte Thimo seine eigene körperliche Schwäche deutlich. Gerade aus dem Krankenhaus entlassen, hatte er kaum die Puste, einen ausgewachsenen Jungen festzuhalten, geschweige denn, ihn auf die Plattform hochzuziehen.
Das Erste, was Thimo sagte, war daher auch ein »Ummmpfff!«.
Kaum atmen können und das auch nur unter größter Anstrengung rief Thimo nach Marcel.
»Ja, was ist passierte ...Oh, Shit, hilf mir rauf, bitte ...«
»Ich kann nicht! Du bist zu schwer ... versuch mit den Beinen das Seil zu angeln! Aber beeil dich! Ich weiß nicht, wie lange ich dich noch halten kann ...«, Thimo sagte nicht, dass er eigentlich schon weit über den Punkt hinaus war, Marcel halten zu können. Aber irgendetwas gab ihm dann doch die Kraft durchzuhalten.
Marcel schaukelte mit seinen Beinen hin und her. Mit jeder Bewegung wurde Thimo von heftigen Schmerzen gequält. Unmittelbar vor dem Punkt, an dem Thimo einfach aufgeben wollte, aufgeben musste, gelang es Marcel, sich das Seil um seine Beine zu wickeln. Der Zug an Thimos linkem Arm war weg! Marcel hatte das Seil gegriffen und ließ nun auch mit der rechten Hand Thimos Arm los. Thimo sah eben noch, wie Marcels Kopf sich über den Rand der Plattform schob, als ihm selbst schwarz vor Augen wurde. Die Anstrengung für seinen schwachen Körper war zu viel, Thimo glitt in tiefe Bewusstlosigkeit.
Ein ohrenbetäubender Krach weckte Thimo. Hunderte oder tausende Vögel zettelten ein lautstarkes Gekreische, Gezwitscher und Gepiepe an. Eigentlich war der Krach gar nicht so schlimm, nur Thimos Dröhnschädel verwandelte jedes noch so liebliche Naturgeräusch in die akustischen Liebkosungen eines Presslufthammers.
Thimo überkam ein Moment der Orientierungslosigkeit. Wo bin ich? Und warum liege ich in einem Schlafsack? Langsam kam die Erinnerung zurück: Marcel, das Baumhaus, die Unterhaltung am Rand der Plattform und Marcels Absturz. Marcel? Thimo lag allein im Baumhaus. Vorsichtig pulte er sich aus dem Schlafsack. In seinem Kopf hämmerte es zwar nicht mehr ganz so stark wie eben noch, doch leichte Kopfschmerzen waren weiterhin vorhanden.
Die frische und kühle Luft des Septembermorgens tat gut. Thimo war aus dem Baumhaus gekrochen und hatte erstmal tief durchgeatmet. Seine Lebensgeister kamen zurück und er streckte seine Glieder aus. Wie er feststellen musste, waren seine Knochen von dieser Aktion nicht wirklich begeistert und wehrten sich mit einem heftigen Schmerz. Thimo überdeckte dies mit einem lauten Grunzen. Erst in diesem Moment merkte er, dass er nicht allein war. Marcel saß an der gleichen Stelle, wie in der vergangenen Nacht. Von Thimos Geräuschen aufgeschreckt, drehte er sich um.
... und lächelte!
Marcel lächelte! Nein, das war kein Lächeln, das war ein überglückliches Strahlen. Marcel sprang auf und trat Thimo entgegen.
»Ist es wahr? Ist es wahr, was du gestern Nacht gesagt hast?«
»Was meinst du denn?« Thimo war noch nicht ganz wach und versuchte erst einmal, die einzelnen Erinnerungsfragmente bezüglich letzter Nacht in die richtige Reihenfolge zu bringen.
Marcels Unsicherheit kam zurück. Was wenn er sich verhört oder es sich nur eingebildet hatte? Das glückliche Strahlen verschwand so schnell, wie es aufgetaucht war. Marcel schaltete von Fernlicht auf Abblendlicht.
»Ach, nichts ...«
Und schwups drehte Marcel seinen Kopf weg und wich damit Thimos Blick aus.
Der dachte nur, »Kind, was machst du dir die Sache auch kompliziert?«, und schüttelte (mal wieder) seinen Kopf.
»Ja, Marcel, ich bin schwul ...«, ein kleiner Anflug von Sadismus ließ Thimo eine lange Pause machen, die er aber nutzte, um Marcels Kopf zärtlich in seine beiden Hände zu nehmen und sein Gesicht so auszurichten, dass Marcel nicht mehr weggucken konnte, »... und du hast dich nicht verhört: Ich liebe dich! Und jetzt bekomm nicht wieder weiche Knie! Ein zweites Mal, werd' ich dich nicht mehr abfangen können ... uhmmpf ... viel schlimmer, ich glaub, ich muss mich sofort hinsetzten ...«
Thimo spürte, wie klapprig sein Körper immer noch war. Und dass ihn das Stehen verdammt anstrengte. Er hockte sich schnell hin und das Zittern in Beinen und Armen wurde weniger. Marcel setzte sich neben ihn.
»Und jetzt?«
»Weiß nicht? Was ist mit dir?«
»Hä?«
»Ich hab' dir gesagt, dass ich dich liebe. Was ist mit dir? Irgendwas musst du doch dazu sagen - denk ich mir jetzt mal so. Kann mich natürlich täuschen, aber üblicherweise ...«
»Dann halt doch bitte deinen lieben Mund und lass mich auch was sagen ...«
»Oops«
»Thimo, ich weiß nicht ob, ich dich liebe ...«
Das war hart. Thimo spürte einen heißen Stich in sein Herz.
»Aber ich dachte ... du warst doch im Krankenhaus ... oh, Shit ...«, Thimo war den Tränen nah. Er dachte, Marcel würde das Gleiche empfinden wie er.
»Du weißt davon?«
»Roseanne ...«, Thimos Stimme war genauso belegt wie seine Zunge.
»Natürlich ... Roseanne ...«, eine Zeit lang sagte Marcel nichts. Er überlegte. Ihm fehlten einfach die passenden Worte auszudrücken, was er Thimo sagen wollte. Thimo neben ihm zitterte, was Marcel noch unsicherer machte. Irgendetwas hatte er falsch gemacht. Nur was? Oh, natürlich! Er hatte gesagt, dass er nicht wusste, ob er ihn lieben würde. Das musste schief rübergekommen sein. Marcel biss sich auf die Zunge. Shit, so meinte ich das doch gar nicht.
»Thimo ... du hast mich völlig falsch verstanden, denn ...«
»Nein, red' nicht weiter. Du kannst für deine Gefühle nichts. Wenn ich nicht der Richtige für dich bin, ist das Ok.«
»Thimo, halt's Maul und hör' mir zu!«
»Hmpf!«
»Und sei vor allen Dingen nicht beleidigt! Es ist nämlich alles ganz anders und viel, viel komplizierter.« Marcel fauchte Thimo auf die süßeste Art an, die man sich vorstellen konnte. Mit anderen Worten: Thimo hatte man noch nie so nett den Mund verboten.
»Also, ich weiß nicht, ob ich dich liebe, weil ich nicht weiß, was Liebe eigentlich ist ... Thimo, mich hat noch nie jemand wirklich geliebt ...«
Der letzte Satz kam leise und traurig, man konnte die Sehnsucht dahinter fast greifen.
»Oh«
»Ich bin mir so unsicher. Ich habe Angst, weil ich mit diesen Gefühlen nicht umgehen kann ...«
Marcel sprach mit langen Pausen.
»Ach, Shit, gibt es denn keine Worte dafür?«
Ein unsicherer Blick zu Thimo.
»Ich versuch's mal anders ... als ich dich am ersten Schultag in der Kantine sah, bekam ich Angst, Angst davor, dass du ein neuer Scott sein könntest. Aber gleichzeitig war da auch, hmpf, Verlangen? Passt das Wort? Du bist äußerlich so'n typischer Sportler, aber du benimmst dich ganz anders. Außerdem ist da mehr. Ich dachte zuerst, das wäre typisch für Europäer. Aber das stimmt nicht, das warst du. Dann die Sache, wie du Tom erklärt hast, dass er nicht tricksen muss, um dein Freund zu sein. Wow, ich hab' gebetet, du würdest das Gleiche mit mir machen. Ey, du hast ihn voll aus sich herausgeholt. Ich hab' noch nie erlebt, dass er aufgesprungen ist und jemanden gepackt hat, der ihn angemacht hat. Von dem Zeitpunkt bekam ich dich nicht mehr aus meinem Kopf.«
Thimo hatte mit allem Möglichen gerechnet, aber damit nicht. Aber Marcel hielt noch ganz andere Überraschungen für Thimo bereit.
»Die nächsten Wochen hast du mir ein echtes Wechselbad der Gefühle bereitet. Zuerst dachte ich noch, du wolltest Scotts Platz einnehmen ... äh, also nicht bei mir, sondern in der Mannschaft. Naja, das machte dich nicht gerade sympathischer. Aber das gab sich in der Folgezeit. Als du dich am ersten Tag mit Scott geprügelt hattest, dachte ich noch: Was für ein Arsch! Gleich mit den Muskeln protzen, typisch!« Aber, nein, du hast dich dann doch nicht wie ein Arsch verhalten. Ganz im Gegenteil, du bist einfach der meganette, sympathische Strahlemann. Ich war noch nie so aufgewühlt. Ich will ehrlich zu dir sein, du warst der Held meiner feuchten Träume.»
Thimo musste grinsen, immerhin beruhte das auf Gegenseitigkeit.
»Aber trotzdem wusste ich nicht, wie du zu mir standest. Ok, du hast uns deine Freundschaft angeboten. Aber die Betonung lag immer auf uns, also der ganzen Gang. Aber irgendwie warst du merkwürdig zu mir. Ich hatte immer den Eindruck, von dir beobachtet zu werden. Auf der anderen Seite kamen aber auch keine eindeutigen Signale von dir, eher das Gegenteil.«
Marcel knurrte.
»Tja, und dann wurde ich richtig eifersüchtig: Du und Rob! Ihr verstandet euch plötzlich so super gut. Ihr ward ständig zusammen, fast unzertrennlich. Und wenn man euch zusammen sah, dann war da immer ein gewisser erotischer Unterton. Ey Shit, ich hab' euch dafür gehasst. Ich hätte an seiner Stelle sein müssen!«
Er sagte es nicht, aber man konnte merken, dass sich Marcel für seine Gefühle schämte.
»Marcel ... das mit Rob ... wir sind nur gute Freunde. Da ist nichts ... naja, fast nichts ... er kann verdammt gut küssen ...«, Thimo schmunzelte, als er sich an Robs Experiment erinnerte, »Ich erklär' das mal bei Gelegenheit ...«
»Inzwischen weiß ich auch, dass da nichts war. Ich glaub' ich wollte da auch mehr hineininterpretieren, als wirklich da war.«
Beide Jungs hatten sich mit den Rücken an das Baumhaus gelehnt und sahen sich den anbrechenden Tag an. Ob nun von der frischen Luft oder von seinem aufgewühlten Inneren hervorgerufen, Marcel fröstelte und er zog seine Beine dicht an seinen Körper heran.
»Ach, viel schlimmer war, dass ihr zwei mich aller Hoffnungen beraubt habt. Rob ist nun wirklich absolut Hetero. Du und er, das schien so die typische Buddyfreundschaft zu sein. Total hetero halt. Shit, Traummann Thimo war hetero. Schlimmer konnte es kaum kommen. Aber es kam schlimmer ...«
Marcel machte wieder eine lange Pause. Thimo war sich nicht sicher, aber er vermutete, dass Marcel gerade dabei war, sich selbst über diverse Dinge klar zu werden. Manchmal ist es ja so, dass man erst über etwas sprechen muss, bevor es einem selber klar wird.
»Es kam der Tag!«
Thimo nickte, er wusste, welchen Tag Marcel meinte. Dieser Tag lag gerade mal sieben Tage zurück und endete verdammt blutig.
»Naja, du weißt ja selbst, was passiert war und kannst dir denken, was Scott von mir wollte. Ich sollte am Abend bei ihm vorbeikommen, um ... ach was soll„s. Das erste Mal in meinem Leben sagte ich Nein!«
Das war eine neue Information. Thimo hatte aus seinem Auto die Unterhaltung zwischen Scott und Marcel mit angesehen und auch bemerkt, dass sich Marcel gegen etwas wehrte, aber was wirklich gesprochen wurde, wusste Thimo nicht.
»Scott war stinksauer. Aber ich blieb hart, bis er mir drohte, dir alles über mich zu erzählen. Dass ich schwul bin und dass ich mich von ihm ficken lasse. Aber ich wollte nicht, dass du etwas davon erfährst. Nicht das! Ich war mir so sicher, dass du dann bestimmt nichts mehr von mir wissen wolltest ...«
Bei dieser Schilderung brachen bei Marcel erneut die Tränen hervor. Den rein körperlichen Missbrauch durch Scott steckte Marcel mehr oder weniger locker weg. Die Narben auf der Seele waren ein ganz anderes Thema. Scott wusste, welche Knöpfe er drücken musste, um Marcels Widerstand zu brechen. In diesem Fall reichte die Drohung Scotts, Thimo alles über Marcel zu erzählen.
»Und dann kamst du. Du hast dich neben mich gesetzt und warst einfach nur da. Alleine deine Nähe baute mich wieder auf. Ich war wirklich knapp davor, dir selbst alles zu sagen ... aber ich konnte nicht ...«
Marcel und Thimo durchlebten die Szene erneut. Beide wussten, was damals passiert war.
»Du hast mir dann deine Hand auf die Schulter gelegt. Mann, das war einfach zu viel für mich! Die Berührung war wie ein Energiestoß! Soviel Wärme und vor allem so viel Liebe floss durch deine Hand. Aber ich fühlte mich so dreckig! So beschmutzt durch Scott!«
Marcel drehte seinen Kopf zu Thimo und sah ihm direkt in die Augen, die eigenen Augen dabei nass vor Tränen.
»Ich wusste in diesem Moment, dass ich dich liebe! Ja, verdammt - Ich liebe dich! Aber, das mit Scott ... dieser Schmutz. Ich schämte mich so, und ... ich tu es noch ...«
»Wenn ich dir diesmal die Hand auf die Schulter lege ... wirst du wieder weglaufen?«
»Nein! Nein, das werde ich nicht - Nie mehr!«
Es schien, als wenn Marcel seinen Worten körperlich Nachdruck verleihen wollte, denn er nahm Thimos Hand und legte sie sich selbst auf die Schulter. Beide Jungs sahen sich an.
»Thimo, ich brauch dich!«
4.11. In der Sache Mannteufel gegen Mannteufel
Berlin
»Und, kommst du damit klar?«
Natürlich machte ich mir um Timmy Sorgen. Wer täte das nicht. Schließlich hatte er gerade erfahren, dass sein Vater nicht sonderlich viel von Homosexualität hielt, insbesondere nicht bei seinem Sohn, dass er eher der Meinung war, dies wäre amoralisch. Aber andererseits sah er seinen Moralbegriff für sich selbst deutlich weiter gespannt. Dass er seine Ehefrau betrogen hatte, dass er ein Verhältnis mit einer Minderjährigen hatte, und schlussendlich, dass er eine zweijährige Tochter hatte, die er lieber als Fötus im Mülleimer gesehen hätte, waren für Tims Vater lässliche Sünden. Tims Paps war wirklich eine Zierde der Gesellschaft.
»Nein, nicht wirklich. Svenni, wie kann man sich so in einem Menschen täuschen? Es kommt mir vor, als wenn ich diesen Mann nie wirklich gekannt habe. Mein Vater war ein anderer Mensch - damals.«
Wir lagen zusammen bei mir auf dem Bett - im angezogenen Zustand. Für Körperakrobatik waren wir beide nicht sonderlich in Stimmung. Wen würde das wirklich überraschen? Tim hatte sich an meine Brust gelehnt und ich hielt ihn in meinen Armen.
»Und was wirst du jetzt tun?«
»Du meinst, was werden wir jetzt tun?«, Tim drehte seinen Kopf zu mir um und sah mich mit seinen traurigen Hundeaugen an. Er hatte natürlich Recht, »Ich bin nicht mehr alleine. Ich kann nicht mehr alleine für mich entscheiden. Außerdem ... ich brauch' dich ... gerade jetzt!«
Konnte ich etwas anderes tun, als Timmy zu küssen?
»Aber die Frage bleibt. Was werden wir jetzt tun?«
»Ich weiß es wirklich nicht. Ich glaub, Nico hat mit der ganzen Sache noch am wenigsten Probleme. Ok, er ist jetzt ziemlich fertig, aber das wird sich bald geben. Aber was wird mit Mama? Kommst du mit mir, zu mir nach Hause? Nico lassen wir besser bei Dirk und Sabine.«
Tims Vater hatte sich, besiegt wir er war vor einer Stunde vom Acker gemacht. Nachdem mein Paps Doc Mannteufel gezwungen hatte, Farbe zu bekennen, gab es eigentlich nicht mehr viel zu besprechen. Die Stimmung war eh' im Eimer. Paps brachte erst einmal meine Mutter auf den aktuellen Stand der Dinge, während Dirk und Co sofort verstanden, dass die ganze Geschichte eher privat war und nicht weiter nachfragten. Tim würde sie schon irgendwann einweihen. Nico war hingegen ein gänzlich anderes Thema. Der Kleine war völlig verstört, wollte von allem nichts wissen und entschied sich daher, erstmal mit zu Biene und Dirk zu gehen.
»Klar komm ich mit!«
»Danke.« Tim drehte sich zu mir um und küsste mich um seinen Worten körperlich Nachdruck zu verleihen.
Nachdem ich mir telefonisch einen weiteren Panikanfall abgerufen hatte - Ellen teilte mir mit, dass Thimo immer noch im Koma lag, der Zustand äußerst kritisch sei und die nächsten 24 Stunden alles entscheiden würden - machten wir uns auf den Weg zu Tims Mama.
»Ich fass es nicht, ich habe eine Halbschwester!«
Wir saßen uns in der S-Bahn gegenüber und träumten leise vor uns hin. Ich konnte mir denken, woran Tim gerade dachte. Was er vor knapp zwei Stunden über seinen Vater erfahren hatte, konnte man wohl nur in kleinen Bröckchen verdauen.
»Willst du sie mal sehen?«
»Nein - natürlich nicht. Ich glaub' kaum, dass die ... wie hieß sie noch? Miri? Dass Miri irgendwen von unserer Familie sehen will.«
»Das weißt du nicht. Aber ich vermute, du hast Recht.«
Tim senkte seinen Blick zum Boden.
»Familie ... wieso sag ich das eigentlich noch?«
»Ey, mach' dich nicht fertig. Du kannst doch nichts dafür ...«
»Du hast ja Recht, aber trotzdem ...«
Ich hatte mich zu Timmy vorgebeugt und nahm seine Hände in meine. Mein Gott, der Junge zitterte ja. Die Sache mit seinem Paps machte ihn mehr fertig, als er zugeben wollte. Das konnte ich natürlich nicht zulassen, deswegen durchbrach ich Tims optische Untersuchung des S-Bahnfußbodens, indem ich in seinen Blick trat.
»Tim, wir stehen das durch - gemeinsam!«
»Danke! Hab' ich dir eigentlich schon gesagt, dass ich dich liebe?«
»Desöfteren, aber das soll dich nicht abhalten, es zu wiederholen.«
Wir trafen Tims Mama in der Küche an. Sie war zwar mit Aufräumen beschäftigt, es sah aber mehr danach aus, als wenn sie versuchte, sich damit abzulenken.
»Hallo Jungs ...«, kam es mit matter Stimme.
»Mama?« Tim wirkte unsicher und ich hatte das Gefühl, in diesem Moment fehl am Platz zu sein.
»Tim, ich warte in deinem Zimmer auf dich. Ich glaube, was ihr euch jetzt zu sagen habt, geht außer euch beiden niemanden etwas an.«
Tim sah immer noch unsicher aus, stimmte mir aber mit einer Kopfbewegung zu. Sicher, vor ein paar Minuten hatten wir noch gesagt, alles von nun an gemeinsam zu machen, aber dazu gehört auch zu wissen, wann ein Moment gekommen war, eine Sache allein zu machen. Und dies war zweifelsfrei so einer. Ich ging daher in Tims Zimmer und wartete dort auf ihn. Sollte er mich brauchen, wäre ich sofort zur Stelle. Das war das Wichtigste.
Bisher hatte ich nie richtig Zeit, mir mal Tims Zimmer genau anzusehen. Gut, da waren die Pokale, die er von seinen Schwimmwettkämpfen mitgebracht hatte, aber so ein Zimmer besteht ja nicht nur aus Pokalen.
Als aller erstes fiel mir auf, dass es keine Ähnlichkeiten zwischen Tims und Nicos Zimmer gab. Nicos Zimmer war krass - Tarnnetz, Graffiti, Hochbett, Chaos. Tims Zimmer war ... brav? Im Kontrast zu Nicos sicherlich, aber die Beschreibung wäre unfair. Wer mag schon ein brav eingerichtetes Jugendzimmer? Es war ... nett, was soviel heißt, dass ich mich in Tims Zimmer sofort wohl fühlte. Beruhigend war, dass Tim zwar Ordnung zu halten schien (im Gegensatz zu mir), es damit aber nicht übertrieb.
Ich begann also zu scannen. Erstmal die Basisdaten. Ein recht großer Raum, rund 17qm, gut geschnitten, mit zwei Doppelfenstern, Tür auf der gegenüberliegenden Seite, großes, breites Bett (gut), Schreibtisch (verwuselt), Bücherregal, gerahmte Poster, aber keine Boybands, eigentlich überhaupt keine Musikbands oder Teenystars, aber ein großes CD-Regal mit massenweise CDs, Glotze, Telefon, AB, PC (obere Mittelklasse, aktuelle Spiele müssten spielbar sein) mit großem Monitor. Soweit war alles im normalen Bereich. Ich ließ den Raum und die Einrichtung auf mich wirken.
Räume können sprechen. Sie erzählen einem viel über ihre Bewohner und ich war am Bewohner dieses Raums ausgesprochen interessiert. Ich entdeckte einen Tick, dem ich ebenfalls frönte. Tim sortierte seine CDs nicht nach Stil oder Interpret, sondern nach den Farben der Schmalseite. Ich ließ meine Finger über die Hüllen gleiten und machte ein paar Stichproben. Nett. Tim hatte härteres (Limp Bizkit, Papa Roach, Korn), technisches (Underworld, Paul van Dyke, Moby), niedliches (Echt), R&B (Underdog Project), zwangsläufiges (ich sage nur Boybands), altes (Red Hot Chili Peppers), und abstruses (Bruderherz Nicos Eigenproduktionen) und, und, und. Eigentlich kam es mir vor, als wenn ich meine eigene CD-Sammlung durchging. Sag mir was du hörst und ich sag' dir wer du bist?
Ich war dann so dreist und legte mir eine seiner CDs ein (Orbital, Inside). Die elektronischen Klänge säuselten aus den Lautsprechern. Ich setzte mich in den gleichen Sessel, in dem ich saß, als Tim mir erzählte, dass er schwul sei, und schloss die Augen. Ich fühlte mich müde und angeschlagen. Mir ging so vieles durch den Kopf: Thimo, der mit seinem Leben kämpfte, Tim und sein Vater, Kuki, unser unplanmäßiges Coming Out auf meiner Geburtstagsfeier, die mir Wochen zurückzuliegen schien, obwohl sie erst eine Nacht her war.
Ich wusste wohl eingeschlafen sein, denn ich wurde durch ein zärtliches Streicheln durch meine Haare geweckt. Tim sah mich lächelnd an, aber seine Müdigkeit war nicht zu übersehen.
»Und alles geklärt?«
»Soweit das überhaupt möglich ist, ja. Paps war schon vor uns hier und hat seine Sachen gepackt. Er scheint es wirklich ernst zu meinen und in eine Scheidung einzuwilligen. Er hat ihr tatsächlich alles erzählt. Hm, hätte ich nach der Nummer, die er heute bei euch abgezogen hat, nicht erwartet. Mum meinte, es hätte sogar ein kleiner Zipfel von seinem alten Ich hervorgeschaut. Ein bisschen der reumütige Sünder. Aber am Ende hat wohl dann doch das Arschloch wieder überhandgenommen. Sie haben sich wohl nochmal richtig gezofft. Paps zieht in ein Hotel und sucht sich so schnell wie möglich eine eigene Wohnung. Morgen wollen sie zu ihren Anwälten und die Scheidung offiziell einreichen. Ob das ohne Stress abläuft ... wer weiß? Ich soll dir übrigens von meiner Mutter ausrichten, dass du deinem Vater danken sollst. Sie wird ihn noch selbst anrufen, aber im Moment ist sie zu aufgewühlt. Ich denke, wir sollten heute unbedingt bei ihr bleiben. Mum ist in einer merkwürdigen Stimmung. Sie scheint sowohl überglücklich, als auch völlig fertig zu sein. Jetzt, da sie ihr Ziel fast erreicht hat und wohl bald frei sein wird, kommen doch noch eine Menge vergessener und tief vergrabener Gefühle bei ihr hoch. Paps und Mum müssen sich wirklich mal sehr geliebt haben. Ich hoffe, uns passiert sowas nie ...«
»Ey, sag' sowas nicht! Wir sind zusammen! Jetzt! Also mach die keine Gedanken über Morgen!«
»Nein, mach' ich auch nicht. Ich weiß ja, was Morgen ist ...«
»Hä?«
»Schule!«
»Shit, danke, dass du mich daran erinnert hast.«
4.12. Monday, bloody monday
Selbstredend blieb ich die Nacht bei Tim und ich erlebte abermals das geniale Gefühl, direkt neben meinem Liebsten aufzuwachen. Schule du kannst kommen! Arm in Arm mit Timmy im Bett zu liegen baute mich dermaßen auf, dass ich mir einfach nichts vorstellen konnte, was meine Laune verderben könnte. Wie beschränkt doch meine Vorstellungskraft war ...
Aber erst einmal startete der Montag, einer der scheußlichsten Tage der Woche, erstaunlich viel versprechend. Tims Mutter hatte für uns Frühstück gemacht. Wohlmeinende Kreise hatten sie wohl über meine bevorzugte Morgenkost informiert, denn ich fand ein Glas Curryheringe, die ich auch prompt ihrer Bestimmung zuführte.
Während des Essens führte ich ein paar Telefonate. Zuerst mit Ellen, um Neuigkeiten über Thimo zu erfahren; die es aber nicht gab. Er lag immer noch im Koma. Dann mit Dirk, um ihn zu bitten, meine Schulsachen mit zur Schule zu bringen. Und schließlich mit Nico, der bei Dirk gepennt hatte, um ihn zu fragen, welche Schulsachen er denn brauchen würde. Die endgültige Klärung überließ ich dann aber doch Tim. Schließlich sollte ein leiblicher Bruder wissen, wo klein Nico seinen Krempel liegen hat.
Um zwanzig vor acht standen wir schließlich vor unserer Bildungsanstalt und tauschten mit Nico, Dirk und mir diverse Rucksäcke aus.
»Neues von Thimo?«, Dirk kannte ihn nicht mal, nur von meinen Erzählungen, aber sein Interesse wirkte alles andere als aufgesetzt.
Mir war nicht nach antworten, deswegen schüttelte ich auch nur meinen Kopf. Stattdessen musterte ich die uns umgebende Schülerschaft. Irgendwas war anders als sonst. Nur was?
Wir wurden angegafft. Nicht direkt, sondern mehr so heimlich und ganz unauffällig. Aber dann doch nicht so unauffällig, dass es Tim und mir nicht auffiel.
»Sie sehen uns an!«
»Wundert dich das? Nach deiner Geburtstagsparty müsste es heute rum sein.«
Mir kam es vor, als wenn mein Geburtstag Monate zurücklag. Dabei war es gerade mal zwei Tage. Heute war Montag, die Ferries war am Samstag. Aber dieser spezielle Sonntag war mit Erlebnissen für Jahre gespickt gewesen. Wie auch immer, heute hieß die Devise: »Willkommen im Alltag!«
Oder doch nicht? Tim sah mich mit einem hinterhältigen Grinsen an.
»Wollen wir ihnen was zum Tuscheln geben?«
Meine Antwort wurde nicht abgewartet, stattdessen tauchte seine Zunge in meinem Mund auf, was ich Timmy natürlich mit gleicher Münze heimzahlte. Unsere offen demonstrierte Zuneigung lieferte auch prompt das gewünschte Ergebnis. Die heimlichen und verstohlenen Blicke hörten schlagartig auf. Manche Mitschüler schauten einfach peinlich berührt (»Das ist alles gar nicht mein Problem.«) weg, ein paar, überwiegend weibliche Mitschülerinnen, sahen uns traurig-schmachtend an (Ok, da hatten wir wohl ein paar Herzen auf dem Gewissen), die meisten grinsten uns wohlwollend zu, auch ein paar aufgerichtete Daumen (thumbs up von unseren Homies) waren zu sehen ...
... und ein paar eiskalte, ablehnende Blicke - Ekel, Abneigung und (warum eigentlich?) Hass.
»Wichser!«, Nicos Kommentar war kurz und treffend, »Aber ich hab euch ja gesagt, dass es mit ein paar Ärschen Stress geben wird.«
Wir trotteten in unseren Klassenraum. Ich war gerade dabei, meinen Deutschkrempel auszupacken, als mich eine Pranke an der Schulter packte. Die Pranke war die rechte Schraubzwinge von Rolf, beziehungsweise seine rechte Klaue, die zugriff und mich kurzerhand herumdrehte.
»Ok, Jacobsen. Jetzt glaub ich dir. Du hattest wohl wirklich nix mit Kim. Du bist also einer von diesen ...«
Rolf hatte Hemmungen es auszusprechen - ich nicht!
»... Schwulen? Schwanzlutschern? Warmduschern? Rückwärtseinparkern? War es das, was du sagen wolltest?«
Es gibt Typen, die machen mich automatisch aggressiv. Einfach so. Das ist so eine Bauchsache und nicht rational zu begründen. Wahrscheinlich eine Allergie. In Rolfs Nähe spürte ich das Histamin regelrecht durch meine Adern wallen. Meine Reaktion war aggressiv. Rolf zuckte, ließ mich aber nicht los. Stattdessen fixierte er mich mit zusammengekniffenen Augen.
»Ja ... machst du wirklich solche Dinge? Mit Jungs?«, ein Seitenblick auf Tim.
»Ja, mach' ich. Hast du ein Problem damit?«, der akute Allergieanfall war abgeklungen, trotzdem wurde Rolf mir nicht sympathischer. Ganz im Gegenteil stufte ich Rolf wieder als den Arsch ein, als der er sich mir am ersten Schultag präsentiert hatte.
»Ähm, keins. Solange du nicht auf dumme Gedanken kommst und die Finger von mir lässt. Andernfalls ...«
Hörte ich da ein leises Knurren von Tim? Nett von ihm, aber mit Rolf würde ich auch alleine fertig werden. Ich fragte mich, woher Rolf nur diese unerschütterliche Selbstüberschätzung hernahm. Er schien sich wirklich für dermaßen unwiderstehlich zu halten, dass alles was auf zwei Beinen lief, ihm an die Wäsche gehen wollte. Mir lag schon ein passender Spruch auf der Zunge, bis mir auffiel, dass Rolf immer noch seine Hand auf meiner Schulter liegen hatte. Das war doch noch viel besser. Ich grinste.
»Ähm, Rolf, ich glaube du begrabbelst mich gerade. Aber ich muss dich leider enttäuschen. Tut mir leid, aber du bist einfach nicht mein Typ.«
Meine Schulter muss sich in eine Blitzkochplatte verwandelt haben, denn Rolfs Hand zuckte dermaßen schnell zurück, dass meine Augen nicht mehr in der Lage waren, die Bewegung optisch aufzulösen.
Rolf war sprachlos. Ein ausgesprochen seltenes Ereignis. Er versuchte, ein paar Worte hervorzubringen, brachte aber nur eine Grimasse zustande, die aussah, wie das Atmen von Karpfen im Aquarium beim Fischhändler. Eines war sicher, Rolf war wütend. Meinem losen Mundwerk sei Dank.
Die Rettung der Situation erfolgte wieder einmal durch Kim. Die Frau musste sowas wie ein natürliches Antihistaminikum sein. Mein allergischer Anfall verflog, ich wurde wieder ruhiger und fast handzahm. Auch Rolfs wutverkrampfte Körperhaltung ließ nach.
»Ihr zwei streitet euch doch nicht etwa wieder?«
Rolf wurde butterweich und fast schüchtern. Soweit das bei ihm überhaupt möglich war.
»Nein, Kim! Nur ein Missverständnis!«
Ich kam mir plötzlich auch etwas blöd vor: »Keine Panik Kim, alles im grünen Bereich. Wir haben nur etwas ganz freundlich geklärt.«
Ein letzter böse Blick zu Rolf und ein Knurren zurück.
»Na das sah aber anders aus. Rolfi, Schnucki, die zwei werden dir schon nicht an die Hose gehen. Also steck den Macker wieder ein und sei brav!«, und zu mir: »Und du, provoziere ihn nicht, ja?«
Ich fuchtelte abwehrend mit den Händen: »Ich provozieren? Kim, ich doch nicht! Niemals!«
Rolf trollte sich auf seinen Platz. Kim schüttelte den Kopf und murmelte etwas von »Männer«, während Tim und ich uns ansahen und gleichzeitig in Gelächter ausbrachen: »Rolfi, Schnucki?«
Die erste Stunde am Montag war Deutsch bei Klassenlehrer Dr. Volker Rüdiger. In fünf Minuten würde die Stunde beginnen. Bis dahin herrschte das fast normale Chaos, das in jeder 10. Klasse vor Unterrichtsbeginn so herrscht. Die meisten Leute hingen noch in ihren Grüppchen zusammen. So auch wir. Dirk, Biene, Kuki und die anderen hingen bei uns rum und quasselten über Belanglosigkeiten. Ab und zu bemerkte ich noch ein paar verstohlene Blicke von den andern Mitschülern, aber bisher war außer Rolf nichts Besonderes passiert.
Die Klingel folgte ihrer Bestimmung und klingelte und unser APO-Opa betrat die Bühne: Deutschunterricht in der 10c.
In der letzten Woche hatten wir unser bisheriges Thema mit einer Klassenarbeit abgeschlossen. Deswegen war noch nicht klar, mit welchem Wissen uns Doc Rüdiger den Rest des Halbjahres beglücken wollte.
Wenn Lehrer grinsen, hat das etwas Unheimliches und Bedrohliches an sich. Das Grinsen unseres Vorturners erinnerte mich an Hannibal Lecter. Hannibal, wenn er einen zum Essen einlädt.
Aber weit gefehlt. Doc Rüdiger war noch viel grausamer. Er griff zur Kreide, klappte die Tafel auf und füllte die innere große Tafelfläche unter ohrenbetäubendem Quietschen vollständig mit nur drei großen Buchstaben.
S - E - X
4.13. Projektarbeit in eigener Sache
Entsetztes Raunen durchwehte den Klassenraum, dem eine Totenstille folgte, nur durchbrochen vom schweren Schnaufen unseres übergewichtigen Klassenmitglieds, Achim.
Wenn Lehrer über Sex sprechen, wird das normalerweise eine peinliche Veranstaltung. Aber so wie es aussah, wollte er nicht nur darüber reden, es sollte wohl eher der Unterrichtsstoff für die nächsten drei Monate werden. Das war mit Abstand das Letzte, worauf ich jetzt Lust hatte. Aber mich fragte ja keiner. Stattdessen stand dieses selbstgefällige Lehrermännchen vor der Klasse und grinste uns triumphierend an. Das erste Mal in seiner Lehrerlaufbahn hatte er eine Klasse zum Schweigen gebracht. Sieg auf der ganzen Linie.
Halt, ich werde unfair. Doc Rüdiger war als Lehrer im Großen und Ganzen ok. Er war fair, der Unterricht eigentlich ganz witzig, der Stoff war gut aufbereitet, ja, er war ein guter Lehrer. Mit der beste, den ich hatte. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass er nur über Sex sprechen wollte. Er wollte nur unser Interesse wecken, was bei uns MTV-Generation ja manchmal gar nicht so einfach ist.
Es war ihm gelungen; unser Interesse war geweckt. Nach etlichen Momenten andächtiger Stille traute sich Ines, ein schüchternes Küken aus Simones Style-Clan und ausgemachte Lehrereinschleimerin, den drei Buchstaben etwas verbal entgegenzusetzen.
»Ähm, Doktor Rüdiger, ich weiß ja nicht, ob sie es wissen, aber wir haben doch schon Sexualkunde bei Frau Sommerfeld in Bio. Ich weiß ja nicht, aber ist Deutsch nicht das falsche Fach dafür?«
Dem Angesprochenen war's zufrieden. Es war genau die Frage, auf die er gewartet hatte: »Stimmt Sexualkunde bekommt ihr in Biologie. Aber seid mal ehrlich, wen interessiert, wie viel Samenfäden in soundso viel Milliliter Ejakulat zu finden sind? Welche Phasen eine Eizelle durchlebt. Also wenn das irgendwas mit menschlicher Sexualität zu tun hat, dann frag' ich mich, warum ihr eigentlich noch Bravo lest?«
Wer liest denn Bravo? Ich kenne niemanden, niemanden der es zugeben würde. Das ist wie McDonalds. Da geht auch keiner hin, aber die Läden sind immer voll. Merkwürdig.
»Also, was wir die nächste Zeit machen werden, ist das Thema Liebe unter Jugendlichen. Natürlich ziehen wir das ganz professionell durch. Ihr werdet Arbeitsgruppen bilden. Jede Gruppe sucht sich ein Thema. Lyrik, Literatur, Zeitschriften, alles schön im Quellenstudium. Das macht ihr natürlich außerhalb der Schule, dafür gibt„s keine normalen Hausaufgaben mehr. Mit der Projektarbeit werdet ihr genug zu tun haben. Zum Abschluss hält jede Gruppe ein Referat. Tja, und das zusammen mit euren Unterlagen ergibt dann die Note. Das ersetzt dann auch eine sonst fällige Klassenarbeit. Haben wir einen Deal?«
Süß, wenn sich ein um die 50jähriger versucht, mit Jugendsprache einzuschleimen, aber zugegeben, er macht das ganz ordentlich. Die Klasse schaltet nicht sofort auf Ablehnung. Sie maulte etwas rum, man diskutierte untereinander, aber es war absehbar, dass Doc Rüdiger gewonnen hatte.
»Gut, fangen wir an. Themenvorschläge?«
»Wie groß sollen denn die Gruppen werden?«
»Zwei bis maximal vier Leute. Das machen wir später. Also, los jetzt, ich will Themen hören.«
Der Vorturner schnappte sich den Tafelschwamm und löschte seine drei Buchstaben aus. Da nichts von uns kam, schrieb er das erste Thema selbst hin: Erste Liebe.
»So, jetzt aber ihr!«
»Liebesgedichte«
»Dr. Sommer, also ich mein diesen Briefkastenonkel ganz allgemein ...«
»Liebespaare in der Literatur«, das war Ilka. Tim erzählte mir, sie hatte Romeo und Julia mit LeoDiCap gesehen, und fuhr seitdem unheimlich auf Liebespaare ab. Grusel.
»Eifersucht.«
»Sehr gut. Da gibt es viel drüber.«
»Das erste Mal.«
»Ja, weiter ...«
»Romantik.«
»Das ist zwar eher eine Kunstrichtung, aber ich schreib es mal auf. Weiter ...«
Die Klasse machte plötzlich mit. Nachdem die ersten Begriffe an der Tafel standen, kamen immer mehr. Wir stiegen auf das Thema ein.
»Liebe in Songtexten.«
»Super! Das müsste euch doch wirklich liegen ... noch mehr?«
»Sex in der Werbung«
»Jap, sehr gut! Noch was?«
»Schwule Jungs.«
Totenstille - Jegliches Geplapper erstarb.
Alle Gesichter drehten sich Tim und mir zu. Wenn man mal ein Mauseloch braucht, ist gerade keins zur Hand. Ich spürte, wie ich in meinem Stuhl zusammensackte und in mich zusammenfiel. Dem Rotlicht der Ampel vor unserer Schule konnte ich auch wieder Konkurrenz machen. Welch fiese hinterhältige kleine Scheißer doch meine lieben Mitschüler waren: grinsten sie uns doch hämisch an und lauerten unverhohlen neugierig darauf, wie Tim und ich wohl reagieren würden.
Ich kam mir vor wie unter einem Mikroskop. Ein Insekt, etwa eine Ameise, der man von außen eine Bedrohung, etwa eine Gottesanbeterin, zugefügt hatte und auf dessen Fluchtreaktionen man jetzt ausgesprochen gespannt war.
Die einzige Person, die von alledem völlig unbeeindruckt blieb, war Doc Rüdiger. Er bemerkte es nicht einmal. Sorgfältig, wie er war, schrieb er den letzten Themenvorschlag an die Tafel und gab seinen unvermeidlichen Kommentar dazu ab:
»Ah, ein sehr gutes, aber auch anspruchsvolles Thema! Hätte ich von euch jetzt gar nicht erwartet. Normalerweise ist Homosexualität bei Jugendlichen eures Alters ja Tabu. Gut, ich glaube wir haben genug Themen ...«
Unsere Lehrkraft drehte sich wieder der Klasse zu, kratze sich am Kinn, überlegte kurz und meinte dann: »Ok, Gruppen bilden! Fangen wir doch gleich beim letzten Thema an. Wer sind die schwulen Jungs?«
Es war wohl witzig gemeint. Haha, aber wir können nicht witzig, nur billig! Dieser erneute Versuch, sich mit lockeren Sprüchen bei uns einzuschleimen, scheiterte bei mir kläglich. Ich wog gerade diverse Mordmethoden ab (ein langsam und schmerzhaft wirkendes Gift, angesägte Bremsleitungen, Fön im Badewasser), als einer meiner lieben Mitschüler noch einen oben draufsetzte.
»Fragen Sie doch Sven und Tim, die nehmen den Vorschlag bestimmt wärmstens an!«
Die Bemerkung kam von André, Rolfs Freund und Tischnachbar. Laut und deutlich trötete er seinen Vorschlag in den Raum. Vermutlich jeder in der Klasse, bis auf unseren Leerkörper wusste, was gemeint war und schien sich köstlich zu amüsieren. Einige mussten sich heftig zusammenreißen, um nicht laut losprusten. Die Hände, die vor die Münder gepresst wurden, sprachen Bände. Juhu, Svenni macht mal wieder den Affen für alle. Befriedigt lehnte sich André mit hinter den Kopf verschränkten Händen zurück und grinste uns, das heißt Tim und mich, fies und breit an. Warum gibt es keine transportablen Tubenmauselöcher? Wenn„s peinlich wird, einfach Tube aufschrauben, Loch ausdrücken und schnell drin verschwinden. Mein Verstand lief auch schon mal in rationaleren Bahnen. André war zufrieden; Sieg auf der ganzen Linie.
Bisher war André mir nie sonderlich aufgefallen. Ich fand ihn unsympathisch, aber mein Verhältnis zu ihm war bisher neutral. Gut, das war einmal; ab sofort fiel er in die Kategorie Arsch. Wie ich schon früher erzählte, waren André, Rolf und Sascha dicke Freunde und bildeten unsere Muskelfraktion. Viel Masse, wenig Hirn. Mir waren sie einfach viel zu prollig und vulgär, sie selbst hielte sich für unwiderstehlich. Und ein paar dumme Hühner offensichtlich auch. Wobei ich Kim ausdrücklich ausschloss; unter ihrem Einfluss wurde sogar Rolf erträglich.
Ein Leiden vieler Lehrer zeigte sich bei Doktor Rüdiger: Weltfremdheit. Die gute Seele bekam nicht mal im Ansatz mit, was gerade passiert war. Andrés Bemerkung war eine Herausforderung; der hingeworfene Fedehandschuh. Immer noch lauerte die Klasse auf unsere Reaktion. Wie würden wir kontern? Was würden wir machen? Ich geb's zu, ich fragte mich das Gleiche? Wie reagiert man auf solche Anmache? Insbesondere, wenn 30 Augenpaare auf einen gerichtet sind?
»Ja, wollen Sie beide dieses Thema übernehmen? Denken Sie daran, es ist wohl das Schwierigste! Trauen Sie sich das zu, Sven?«
»Was?«, Doc Rüdiger riss mich aus meinen Gedanken. In seiner schier endlosen Naivität hatte er die Anspielung in Andrés Vorschlag überhaupt nicht bemerkt und fragte mich allen Ernstes, ob wir das Thema übernehmen wollten. Ich sah meinen Klassenlehrer völlig verdattert an und wusste im ersten Moment gar nicht, was er von mir wollte. Mit anderen Worten: Ich glotzte wie ein Autobus: »Was?«
»Ja, gerne!«
War ich im falschen Film? Neben mir hörte ich eine Stimme »Ja, gerne!« sagen! Ich drehte meinen Kopf und sah in das grinsende Gesicht von Timmy. Er hatte »Ja« und hatte »Gerne« gesagt, er hatte einfach »Ja, gerne!« gesagt. Ob er wohl die beiden Neonfragezeichen sehen konnte, die in meinen Augen aufleuchteten?
Jedenfalls zog er mich zu sich ran und flüsterte mir ins Ohr:
»Svenni, warum nicht? Abgesehen davon, dass André ein Arschloch ist, hat er Recht. Wer könnte besser darüber referieren, als wir? Oder willst du das Thema wirklich solchen Heten wie André überlassen? Wer weiß, was die daraus machen? Ich würde aber gerne Kuki und Sven I dabei haben wollen. Also, sag' schon ja.«
Ich knurrte ein Ja und Timmy sagte leise zu mir Danke und zum Klassenlehrer:
»Doktor Rüdiger, wir machen das Thema! Aber zu zweit ist es wohl wirklich etwas sehr viel. Könnten Sven und Kuki mitmachen? Zu viert müsste es gehen. Natürlich nur, wenn die beiden wollen ...«
»Klar, bin dabei!«
»Ich auch!«
»Fein, damit hätten wir die erste Gruppe. Am besten setzt ihr euch immer gruppenweise zusammen. Gut, wer macht Sex in der Werbung?«
Für Doc Rüdiger war die Sache damit erledigt und suchte schon die Freiwilligen für das nächste Thema. Kuki und Sven I kamen zu uns rüber.
»Mann, ich dachte, gleich bricht hier ne' Schlägerei aus. Super Timmy, du hast André voll den Wind aus den Segeln genommen.«
»Mag sein, fürs Erste. Er wird das sicherlich nicht auf sich beruhen lassen.«
Alle vier schauten wir zu André hinüber. Man begegnete uns mit obszönen Gesten und lachte sich scheckig. Nun, wenn sich jemand über mich lustig macht, finde ich es normalerweise zwar nicht witzig, aber ich mach' mir keinen Kopp' darum. Bei Sascha und André war das anders, zwischen den fröhlich-verscheißernden Gesten und Grimassen, lugte echter Hass und Abneigung hervor. Mir fröstelte.
»Jetzt wissen wir, dass wir nicht nur Freunde auf dieser Welt haben.«
4.14. Back to life
Portland
»Falsch! Marcel, ich brauch dich! Und zwar jetzt und das ziemlich dringend. Mir ist schlecht - kotzübel um es genau zu nehmen. Außerdem fühl ich mich fürchterlich schwach. Ich glaub' ich hab' mich übernommen. Ich glaub' ich brauch' einen Arzt.«
Thimo hatte schon die ganze Zeit gemerkt, dass er seinem Körper mehr zugemutet hatte, als dieser im Moment verkraftete. Marcel zu helfen war ihm wichtiger gewesen. Jetzt, nachdem sich die beiden Jungs mehr oder weniger ausgesprochen hatten, und Marcel wohl auf die richtige Bahn gebracht war, kamen Thimos Schmerzen und Erschöpfung mit aller Macht zurück. Ständig wurde ihm schwarz vor Augen. Thimo musste seine gesamte verbliebene Kraft zusammen nehmen, um nicht in Bewusstlosigkeit abzudriften.
»Meinst du, dass du am Seil runterkommst?«
»Ich glaube nicht. Irgendwas stimmt nicht. Marcel, mir wird schwarz vor Augen ...«
Thimo sackte weg und war dann auch weg. Bewusstlos. Einen Moment saß Marcel entsetzt und geschockt vor dem reglosen Körper.
Dann handelte er und er handelte schnell.
Jetzt, nachdem er sein Leben vor Thimo ausgekotzt hatte und er tatsächlich jemanden gefunden hatte, der ihn akzeptierte und offensichtlich sogar liebte, der ihm sein Selbstwertgefühl zurückgegeben hatte, der sich für ihn fast geopfert hatte, musste er seinen Teil tun.
Leichter gedacht als getan. Als Erstes musste er Thimo vom Baumhaus runter bekommen. Thimo war trotz seiner momentanen Verfassung immer noch ein schwerer Brocken. Footballspieler haben keine Hühnerbrust.
Marcel überlegte kurz, sah sich um, schaute in das Baumhaus und fand, was er suchte. Kurzerhand verpackte er Thimo in seinem Schlafsack. Sollte dieser einen Schock haben, müsste er ihn warmhalten. Dann band er ein paar Spanngurte, mit denen er sonst sein Gepäck zusammenband, um den Schlafsack. Er befestigte das Seil an den Spanngurten und seilte Thimo vorsichtig und langsam ab. Marcel sah auf die Uhr, die Aktion hatte weniger als 5 Minuten gedauert. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass es auf jede Sekunde ankam. Marcel kletterte selbst von Baumhaus, schnappte sich Thimo und trug ihn so schnell es ging zum Parkplatz am Rande des Waldes. Dort parkte ein Auto seiner Eltern, das er sich vor Tagen ausgeliehen hatte. Marcel entschied sich, Thimo nicht erst nach Hause zu bringen, sondern gleich mit ihm ins Krankenhaus zu fahren.
Fahren war dabei ein relativer Begriff, Rasen unter Umgehung sämtlicher Verkehrsvorschriften, war treffender.
Die Notaufnahme erinnerte sich sofort an den Fall Thimo Camron-Bach und rief den behandelnden Arzt. Die übliche Notfallroutine begann. Blutdruck, Puls, Infusion, Röntgen. Die Gesichter des Arztes und der Schwestern sahen besorgt aus - zu besorgt. Freundlich, aber bestimmt wurde Marcel aus dem Behandlungsraum heraus komplimentiert. Niedergeschlagen, ängstlich und müde ließ er sich im Besucherwarteraum auf einen der Sessel fallen und heulte los. Bitte, lasst ihn nicht sterben! Wozu soll das sonst alles gut gewesen sein?
»Code Blau in Behandlungsraum 2! Code Blau in Behandlungsraum 2«
»Neiiiiiiiiiiinnnnnnnnnnn!«
Eine Schwester entdeckte Marcel wimmernd und zitternd am Boden zusammengekrümmt liegen. Sie hob ihn auf, stutzte, überlegte kurz, setzte ihn zurück auf einen Stuhl, ging zum Empfang, klärte dort ein paar Dinge und kam mit einem Arzt zurück. Diesem flüsterte sie ein paar Worte ins Ohr. Der, ein noch junger, freundlicher Assistenzarzt, lächelte und nickte der Schwester zu, dass er verstanden hatte, begann dann Marcel vorsichtig zu untersuchen. Schon nach wenigen Augenblicken entspannte sich die Miene des Arztes. Es gab ein paar Anweisungen. Marcel erhielt ein Beruhigungsmittel und wurde in ein freies Zimmer verfrachtet.
Die Schwester war natürlich Roseanne, die gleiche, die Thimo versorgt hatte. Sie hatte Marcel wiedererkannt und sich gefragt, warum er wohl im Warteraum zusammengebrochen war. Das konnte schließlich nur einen Grund haben, nämlich den, dass er auf jemanden wartete. Und, Marcels Zustand zu Folge, ging es demjenigen wohl nicht besonders gut. Ein Blick in die Patientenliste brachte ihr Gewissheit. Es war Thimo und er lag im Moment unterm Messer. Roseanne schnappte sich einen Arzt, von dem sie wusste, dass er Marcels Lage ohne blöde Fragen zu stellen verstehen würde. Der Doc diagnostizierte einen leichten Schockzustand, hervorgerufen durch emotionalen Stress. Nichts wirklich Dramatisches, das nicht etwas Ruhe beheben würde.
Als Marcel seine Augen öffnete, sah er sich umzingelt. Durch das Beruhigungsmittel war er eingeschlafen. Als er jetzt aufwachte, war er etwas orientierungslos. Eben noch im Warteraum, fand er sich in einem Krankenhausbett wieder. Obwohl er die ihn betrachtenden Gesichter klar sah, brauchte er einen Moment, um ihnen die passenden Namen zuzuordnen.
Jana, Rob, Tom und Peter. Alle standen sie an seinem Bett und alle strahlten sie ihn an.
»Thimo?«
»Dem geht„s gut! Dass du ihn hierher gebracht hast, hat ihm das Leben gerettet.«
»Die Ärzte sagen, dass eine Ader in seinem Bauch durch den Stich perforiert war. Durch zu starke Anstrengung ist die dann gerissen. Er wäre innerlich verblutet. Aber du hast ihn gerettet. Sie haben ihn nochmal aufgemacht und die Blutung gestoppt. Er ist inzwischen sogar wieder bei Bewusstsein. Die Ärzte schütteln nur den Kopf über seine Kondition.«
»Aber was war mit diesem Code Blau?«
»Die Schwester meinte schon, dass du das Fragen würdest. Ja du hast Recht, ein Code Blau heißt Herzstillstand, aber nein, das war nicht Thimo. Die Durchsage war Behandlungsraum 2 nicht Notaufnahme 2.«
»Oh ... wie seid ihr hergekommen?«
»Wir waren gerade bei Ellen, als der Anruf vom Krankenhaus kam. Die gute Frau war viel zu panisch, als dass wir sie selbst fahren lassen durften. Also haben wir sie hergefahren. Außerdem mussten wir selbst sehen, wie es unseren Freunden geht.«
»Wow!«
»Ach ja Marcel, bevor du gleich blöd fragst: Wir mögen dich immer noch! Du hättest uns wirklich mal früher erzählen können, dass du schwul bist. Als wenn das zwischen uns etwas ändern würde. Stattdessen quälst du Jana und lässt Thimo Amok laufen.«
»Es tut mir leid ... aber beim Ersten, dem ich's erzählte, hat sich alles geändert.«
»Scott ist ein Arsch! Vergiss ihn einfach. Komm her du alter Strahlemann ...«
Es folgte die obligatorische Umarmungszeremonie, bis Rob das selige Beisammensein unterbrach: »Ich glaube, du solltest jetzt mal zu Thimo gehen.«
»Darf ich denn?«
»Natürlich! Du bist doch nicht krank. Du bist nur ein fürchterlicher Softie, dem die Knie weggesackt sind. Also, sieh zu, dass du zu ihm kommst!«
Marcel stand auf, schlüpfte in seine Nikes, seine restliche Kleidung hatte man ihm gelassen, und ließ sich von Rob zu Thimos Zimmer führen. Marcel zögerte und sah Rob hilfesuchend an. Der lächelte zurück und machte eine Kopfbewegung, die sagen wollte: »Los! Geh'! Du machst das schon!«
Noch etwas zaghaft klopfte Marcel an der Tür, wartete zwei Sekunden, drehte dann den Türknopf und trat ein.
Das Zimmer war nur von der Leuchtzeile über Thimos Kopf erleuchtet. Er schien zu schlafen, denn seine Augen waren geschlossen. Ein Herzmonitor zeichnete einen regelmäßigen und kräftigen Puls auf. Zu Thimos linker Hand führte ein Infusionsschlauch. Fast hätte Marcel es gar nicht bemerkt, aber ein Schatten in einer Zimmerecke bewegte sich plötzlich.
Es war Ellen, die auf Marcel zu trat und ihn von oben bis unten musterte, bevor sie leise, aber auch sehr ernst zu sprechen anfing.
»Hallo Marcel ... ich weiß nicht genau. Soll ich dir danken oder soll ich dich zum Teufel jagen?«
Marcel zuckte zusammen, kalter Schweiß trat auf seine Stirn und er biss sich auf die Lippen. Er wusste genau, was Ellen meinte. Thimo wäre ohne ihn niemals in diese Lage gekommen.
»Ich weiß es nicht! Ich habe Thimo nie gebeten, etwas für mich zu tun.«
»Ich weiß, aber ...«
»Ich hätte es verhindern können. Ich hätte es verhindern müssen. Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass er Scott gegenübertritt.«
»Oh, ich kenne meinen Sohn. Ich glaube nicht, dass es dir gelungen wäre, ihn zurückzuhalten. Marcel, hör' mir zu. Ich bin dir dankbar, dass du ihn gerettet hast. Wirklich dankbar.«
Ellen überlegte. Ja, sie kannte ihren Sohn. Sie hätte ihm verbieten können sich von Rob zu Marcels Baumhaus fahren zu lassen, aber genützt hätte es nichts. Völlig unschuldig an Thimos Lage war sie nicht, soviel war klar. Ein Dickkopf, genauso wie sein Vater!
»War es das Wert, Marcel? Bist du es wert? Thimo ist mein Sohn! Ich muss das wissen!«
Ellen mochte Marcel. Doch mögen und lieben ist ein Unterschied. Sie liebte ihren Sohn. Und wie liebende Mütter so sind, können sie es nicht zulassen, wenn ihr Küken Schaden nahm. Marcel so anzugehen war sicherlich nicht wirklich nett, aber wenn ihr Sohn für Marcel schon so weit ging, dass er sein Leben riskierte, dann musste dieser Junge es auch Wert sein. Mit weniger wollte sie sich nicht zufriedengeben.
Marcel zuckte unter dieser harschen Bemerkung zusammen und wich sofort wieder in seine alten, defensiven Verhaltensmuster aus.
»Ich weiß es nicht! Wohl nicht ...«
»Unsinn! Natürlich bist du es wert! Hör endlich auf dich schlecht zu machen!«
Die Worte kamen nicht von Ellen, sondern vom Krankenbett.
»Thimo!«, Marcel sprang zu ihm hin. »Du bist wach?«
»Ja, und schon eine ganze Weile, um genug von eurer Unterhaltung mitzubekommen. Mami, Marcel ist es wirklich wert, glaub' mir. Hm, er ist nur, naja, sagen wir, ein wenig verletzt.«
»Thimo, es ist nicht sehr höflich, fremde Unterhaltungen zu belauschen!«
Ellens säuerliche Mine war nicht sonderlich überzeugend.
»Ähm, ihr beiden steht mitten in meinem Zimmer. Außerdem ward ihr nicht sehr leise.«
Thimos Scheinheiligkeit natürlich auch nicht. Natürlich hatte er mucksmäuschenstill gelauscht.
»Ich geb's auf! Ok, Marcel, da liegt mein Sohn. Meinen Segen habt ihr. Thimo macht sowieso nur, was er will.«
Ganz so scherzhaft, wie es klang, war Ellens dargebotene Meinung allerdings nicht. Thimo spürte das sofort.
»Das stimmt nicht, Mum. Du sollst mir nur glauben, dass Marcel wirklich ein Guter ist.«
»Würdet ihr beiden bitte mit mir sprechen und nicht über mich?«
Marcel war selbst überrascht, aber diese Diskussion über ihn ging ihm dann doch etwas zu weit.
»Ok, Mrs. Camron-Bach, ich weiß nicht, ob ich es wirklich wert bin, ob ich Thimo verdient habe«, Marcel seufzte. »Momentan weiß ich eigentlich gar nichts!«
Marcel spuckte seine Worte regelrecht aus. Neue Kraft und Selbstsicherheit flammten in ihm auf.
»Es ist in der letzten Zeit soviel passiert. Alles ändert sich. Ich hab' nicht den blassesten Schimmer, in welche Richtung die Reise geht. Was ich aber ganz sicher weiß, ist, dass ich Thimo liebe. Ich werde ihm niemals Schaden zufügen oder ihn verletzten. Das ist ein Versprechen.«
Ellen zuckte mit den Schultern: »Ich glaube dir, dass du das tust. Na gut, es ist euer Leben. Ich will nur eins, dass Thimo glücklich ist. Wenn du es bist, der ihn glücklich macht, gut. Wie gesagt, ich mag dich wirklich. Aber wehe, du tust meinem Baby jemals weh! Dann mach ich dir das Leben zur Hölle. Das ist auch ein Versprechen.«
Die letzten Sätze waren nur halb ernsthaft ausgesprochen worden, was nichts an der Tatsache änderte, dass Ellen nicht zögern würde, jeden zu schlachten, der Thimo verletzte.
»Gut, ich lass euch jetzt mal alleine. Aber keinen Unsinn machen, ja! Das ist ein Krankenhaus und du bist krank, mein Sohn!«
»Mama!«, Thimo schrie empört auf. »Was denkst du von uns?«
Ellen gab' ihren Sohn einen Kuss, strich ihm zärtlich durch sein Haar und verließ den Raum.
»Na?«, Marcel fühlte sich plötzlich wieder verlegen und etwas nervös.
»Na?«, Thimo auch.
Zwei schwule, ineinander verliebte Jungs sahen sich gegenseitig in die Augen und keiner wagte, irgendetwas zu tun. Sei es auch nur Pieps zu sagen.
Marcel sah Thimo an.
Thimo sah Marcel an.
Schweigen.
»Sag was!«
»Was?«
Schweigen.
Thimo sah Marcel an.
Marcel sah Thimo an.
Marcels Bein begann einzuschlafen. Der Stuhl, den er sich zu Thimos Bett herangezogen hatte, war nicht sonderlich bequem. Die Situation war ein wenig, hm, merkwürdig. Bis sich Marcel irgendwann auf die Lippe biss und laut ausatmete.
»Shit, Thimo! Hör auf mich so anzustarren. Ich kann nicht mehr ...«, das Ausatmen ging in ein Lachen über, »... du machst mich fertig.«
»Weißt du eigentlich, dass du richtig süß aussiehst?«, Thimo lachte nicht, er lächelte. Er lächelte Marcel mit einem glücklichen Gesichtsausdruck an. Er war völlig in der Betrachtung seines Freundes versunken. »Ich mag deine Augen, deine Haare und deinen Mund. Dein Lächeln. Du bist wirklich schön. Du hast eine ganz tiefe Schönheit. Bitte Marcel, komm näher?«
Marcel war baff. Noch nie hatte jemand jemals so etwas Nettes zu ihm gesagt, vor allem kein anderer Junge. Er wusste nicht, was Thimo wollte, doch er sagte einfach »Ja«
Thimo nahm seine Hände und berührte damit Marcels Gesicht. Er begann es zu streicheln, zu liebkosen, zu lesen und zu erforschen. Er strich Marcel durch sein blondes Haar, berührte zärtlich seine Wangen und nahm schließlich Marcels Kopf in seine Hände und führte ihn zu seinem Kopf heran.
Beide Jungs hielten sich mit ihren Blicken fest. Sie sahen nur noch die Augen des anderen. Und die Feuchtigkeit, die ihre Augen umgab. Bis zu dem Moment, an dem sich ihre Lippen berührten und sie ihre Augen schlossen.
4.15. Grundsatzfragen und Urlaubsplanung
Berlin
»Ich wüsste nicht, was das bringen sollte? Ihr macht euch doch nur Stress damit.«
»Hast du etwa ein Problem damit? Fühlst du dich in unserer Arbeitsgruppe unwohl?«
»Kuki, Timmy, ihr wisst, dass das nicht so ist. Ich weiß nur nicht, was es bringen sollte. Oder hast du die blöden Kommentare von André schon vergessen?«
»Feigling!«
»Ich bin kein Feigling!«
Was war den hier los? Ich hatte mein Zimmer kaum 10 Minuten verlassen, um einem dringenden Bedürfnis nachzukommen und die neusten Informationen über Thimo abzurufen. Zwischenzeitlich schien ein wilder Streit, naja, eher eine lautere Diskussion ausgebrochen zu sein.
Noch während der denkwürdigen Deutschstunde mit Doc Rüdiger hatte ich den Vorschlag gemacht, uns in ein paar Tagen nachmittags bei mir zu treffen, um die ersten Planungen für unser Referat zu starten. Natürlich war man begeistert. Da schwang wohl auch die Hoffnung mit, bei meiner Mama eines ihrer super Essen abzugreifen. Jetzt saßen wir alle in meinem Bungalow und planten unser Referat - naja, zumindest theoretisch. Praktisch waren wir eher mit blödsinnigen Albereien beschäftigt. Was soll man auch von 16 jährigen Jungs anderes erwarten.
Überraschenderweise war meine Stimmung in den letzten Tagen erstaunlich gut gewesen. Wenn man bedenkt, dass mein allerbester Freund und erster Junge, mit dem ich jemals Sex hatte, im Koma lag, die Familie meines Lieblings seit Sonntag ein Trümmerhaufen war und ich wusste, dass ich bei diversen lieben Klassenkameraden auf der Abschussliste stand, dann war meine Stimmung sogar obszön gut. Vielleicht lag es einfach an meinem Schatz. Timmy war einfach super und das Beste, was ich zurzeit hatte.
»Ok, was hab' ich verpasst?«
»Kuki hatte da so eine Idee ...«, was schmunzelte Tim so hinterhältig.
»Eine scheiß Idee, wenn ihr mich fragt ...«, Sven I knurrte unwirsch.
»Wo ist dein Problem?«, Kuki fauchte wütend.
»Ähm, Jungs? Könntet ihr mir mal erzählen, worum es überhaupt geht?«
»Ok, unser kleiner Metallbubi hier meinte, wir sollten unserem Referat mehr Glaubwürdigkeit verleihen ...«
»Outing?«, ich war verblüfft.
»Genau. Er meinte, wenn wir schon über schwule Jungs reden, warum dann nicht direkt über uns? Sven I war nicht so recht begeistert ... naja, seitdem streiten sich die beiden.«
»Ich halte das wirklich für eine blöde Idee. Ihr liefert den Arschlöchern doch nur Munition!«
»Unsinn!«, Kukis Argumentationskette war mal wieder sehr überzeugend.
»Was Kuki wohl meint, ist, dass wir ihnen eigentlich die Munition wegnehmen.«
»Hä, wie das?«
»Wie arbeitet André? Mit Anspielungen und Andeutungen und der Spekulation, dass wir nichts dazu sagen würden. Nur so lange funktioniert das. Also, wenn wir nun offen sagen: ,Klar sind wir schwul!' Wie soll dann noch eine Anspielung greifen?»
»So hab' ich da noch nicht drüber nachgedacht ... hm, vielleicht habt ihr Recht ...«
Jetzt musste ich mich auch mal einmischen: »Gut. Wir würden sowieso nur offiziell machen, was eh schon jeder weiß. Aber ... Kuki, von dir weiß es niemand. Willst du dich wirklich outen?«
»Ja. Warum nicht? Nur scheint unser lieber Svenni I Angst zu haben, dass man ihn wohl auch für schwul hält ...«
Kuki, dieser alberne Kerl, konnte es einfach nicht lassen, Sven ein bisschen aufzuziehen. Und der sprang auch prompt drauf an.
»Das ist nicht wahr!«, Svenni I wollte gerade aufspringen und sich Kuki vorknöpfen, als dieser sein entwaffnendes Lächeln zeigte.
»Oh, du Arsch! Warte bis ich dich eingefangen habe ...«
Jetzt gab„s bei Sven I kein Halten mehr, er sprang auf und stürzte dem flüchtenden Kuki hinterher. Auf Höhe meines Bettes hatte er ihn eingefangen und auf die Liegefläche niedergeworfen. Hier begann ein grauenhaftes Schauspiel, das in seiner Entsetzlichkeit kaum beschreibbar ist: Kuki wurde von Svenni nach Strich und Faden durchgekitzelt.
»Wer ist ein Feigling?«
»Du bist ein Feigling!«, Kuki quiekte vor Lachkrämpfen. »Hilfe, ich werde von einer Hete vergewaltigt!«
»Oh, ein Anfall von Heterophobie. Die müssen wir sofort austreiben!«
»Aufhören! Svenni, hör auf! Ich ergebe mich.«
Tim nahm mich in den Arm und schmunzelte: »Sind die beiden nicht süß. Also wenn ich es nicht besser wüsste ...«
»Ach ja, das hatte ich ganz vergessen. Ich hab' gerade Ellen angerufen. Thimo ist aus dem Koma erwacht und übern Berg. Ihm geht„s gut und er nervt die Schwestern.«
»Ey, super, und das sagst du erst jetzt?«
»Och, ich wollte euch bei eurer wichtigen Besprechung nicht stören«, ein Seitenblick auf die miteinander balgenden Jungs auf meinem Bett ließ Tim losprusten.
»Sagt mal, was habt ihr eigentlich in den Herbstferien vor?«, der Kampf auf dem Bett hatte eine unerwartete Wendung genommen. Eben noch oben liegend, sah sich Svenni unversehens selbst als Opfer einer Kitzelattacke. Kuki hielt ganz locker die Kontrolle über ihn. Er hatte sogar Zeit, uns seine Frage zu stellen.
Ich sah Timmy an: »Hast du schon was vor?«
»Nö, bisher noch nicht. Sonst sind wir immer mit Paps in den Harz gefahren, Das fällt jetzt wohl flach«, ein verschmitztes Grinsen, »So eine Scheidung hat doch was Gutes. Der Harz ist ja sowas von Öde ...«, und steckte sich symbolisch den Finger in den Hals, » ...und du?«
»Ich mag den Harz auch nicht.«
»Idiot!«
»Wichser!«
»Schwanzlutscher!«
»Aber doch nicht vor allen Leuten!«, wie kann Timmy nur so direkt sein, natürlich zeigte ich ihm mein Geschmacksorgan.
»Sind sie nicht süß die beiden?«, Kuki ließ von Svenni I ab.
»Ja, einfach ekelhaft diese Verliebtheit. Sag mal Blechschwein, was meintest du mit deiner Frage?«
»Was ich damit meinte, du Klemmhete, ist, dass wir 'ne Woche nach Rügen fahren könnten. Meine Eltern haben doch da ein Ferienhaus.«
»Und wer soll alles mitkommen?«
»Wir, Dirk und Biene, wenn sie wollen, Nico und Holger.«
»Das ist was Ernstes mit euch, was?«
Kuki nickte, sein Metall klapperte zustimmend. Aber seine Augen, wow ... ich habe bei Kuki noch nie so einen glücklichen Gesichtsausdruck gesehen. Dieser kleine Kerl, der eigentlich nur Quatsch im Kopf hat, der immer mit einem unverschämt frechen, hinterhältigen Lächeln durch die Welt wandelt, hatte diesen unverkennbar ernst glücklichen Gesichtsausdruck. Mit anderen Worten, es hatte ihn voll erwischt und umgehauen.
»Und was machen wir auf Rügen?«
»Bisschen Fahrradfahren, Svenni wird ein bisschen Surfen und viel Kuscheln. Und alles ohne Eltern.«
»Ich bin entzückt! Welch verlockende Vorstellung! Also ich bin dabei, wenn ich da noch jemanden mitbringen kann?«, Sven Nummer 1 war ganz begeistert. Ich fragte mich, wer denn die Person sein könnte, die er mitnehmen wollte, und fragte das auch.
»Oh, ne' Frau, die ich auf deiner Geburtstagsfeier kennengelernt habe. Wirklich nett.«
Nach seinem seligen Blick zu urteilen, musste sie noch um einiges netter sein.
»Timmy?«, ein fragender Blick zu meinem Schatz. »Willst du? Und was ist mit deiner Mum?«
»Das ist ja noch gut drei Wochen hin. Bis dahin müsste der gröbste Stress vorbei sein. Hm, also ganz ehrlich, ich wär froh, ein paar Tage raus zu kommen«, und zu mir gewandt: »Natürlich nur, wenn du mitkommst.«
»Klar, mit dir zusammen sein und wieder mal surfen können ...«
»Also abgemacht?«
»Ja!«
Das war„s. Unsere Planungsarbeiten zum Referatsthema Schwule Jungs bestanden darin, Planungen über die Herbstferien schwuler Jungs (und ein paar unbedeutender Heteropärchen) anzustellen. Sowas nenne ich erfolgreiches zielorientiertes Arbeiten.
4.16. Kuki legt ne falsche Fährte
Die drei Wochen bestanden aus normalem Alltag, also Ödnis, die nur durch Tim überhaupt erträglich wurde. Irgendwie litten unsere Lehrkörper unter einem Virus namens »Projektarbeit«. Doc Rüdiger, mit seinem Thema Sexualität, war nur der Erste, der sich infiziert hatte, was zwangsläufig dazu führte, dass wir in Geschichte das gleiche Spiel erlebten. Nur zur Erinnerung, Deutsch und Geschichte wurden vom selben Wissensvermittler bestritten. Die Nächste, die sich infizierte, war unsere Biofrau Hilke Sommerfeld, ambitionierte Junglehrerin mit einem Timing- und Taktikproblem bei der didaktischen Wissensaufbereitung. Ein kleines Beispiel gefällig?
In der zweiten Woche stellte unsere Bio-Hilke zwei Beckenknochenpräparate auf den Steintisch des Fachunterrichtsraums. Eins links, eins rechts, Bio-Hilke dazwischen.
Das Unheil nahm seinen Lauf:
»Weiß jemand, welches das weibliche Becken ist?«
»Das in der Mitte!«
Und Ende. Die Klasse brüllte. Bio-Hilke lief knallrot bis rot-violett an, japste nach Luft und Selbstbeherrschung, fand aber nur Selbstmitleid und rannte den Tränen nahe aus dem Klassenraum. Irgendwie tat sie mir leid, naja, ein bisschen.
Bio-Hilke wurde also auch vom Virus Projektarbeit infiziert. Um keine bösen Überraschungen bei freien Vorschlägen von Themen zu erleben, gab sie natürlich die Themen vor. Glücklicherweise konnten wir die Gruppen selbst zusammenstellen.
Dieses Glück hatten wir beim nächsten Infektionsopfer, Heiner - der Globus - Otto und seines Zeichens Geographielehrer, nicht. Der Globus war Anfang 50, hatte eine ziemlich Platte und war so rund wie, naja, halt wie ein Globus. Bei einem Kampfgewicht von schätzungsweise 110kg und einer Körpergröße (oder Köperkleinheit?) von bestenfalls 169cm, blieb ihm halt nur die Möglichkeit, in die Breite zu gehen. Er selbst bezeichnete sich als untergroß. Ich fand ihn einfach nur fett. Davon mal abgesehen war er ein netter Typ, der durch einen Minderwertigkeitskomplex gehandicapt war. Vor allem vor großen Schülern. Bedauerlicherweise waren wir nach seinem Maßstab alle große Schüler.
Jedenfalls entschied dieser laufende Meter (oder Geo-Meter?), sowohl Themen als auch die Gruppen selbst aufzustellen. Ich landete mit einem Klimareferat bei Akim (unserem Libanesen), Jan und Kim (genau der!).
Man glaubt gar nicht, wie arbeitsintensiv Projektarbeit sein kann. Zuerst waren wir alle mehr oder weniger begeistert, in den jeweiligen Fächern keine Hausaufgaben mehr machen zu müssen. Doch stellten sich die nachmittäglichen Treffen als ausgesprochen zeitintensiv heraus. Zugegeben, es könnte sein, dass wir nicht immer ganz bei der Arbeit waren. Insbesondere Akim entpuppte sich als echte Überraschung. Nicht nur, dass er uns mit den besten Hanfprodukten versorgte, die den gleichen Namen trugen, wie sein theoretisches Vaterland (Er wurde im Benjamin Franklin, dem Klinikum Steglitz geboren. War also echter Berliner mit ausländischem Pass). Nein, er hatte auch die härtesten Ausländerwitze, weit jenseits aller politischen Korrektheit auf Lager. Ich will es mal anders ausdrücken: Wenn ich solche Witze erzählen würde, würde man mich wahrscheinlich als ausgemachten Rassisten steinigen.
4 Fächer, 4 Referate und dazu der übliche Stress mit den restlichen Fächern, für die wir natürlich weiterhin unsere Freizeit für blöde Hausaufgaben opfern durften. Aber wir Schüler opfern uns ja gern - Nicht wirklich! Ein Gutes hatte der ganze Stress. Vollkommen in der Projektarbeit vertieft, herrschte relative Ruhe an der homophoben Front. André, Rolf und Sascha verhielten sich auffallend ruhig. Der Rest der Klasse schien sich ebenfalls wieder anderen Themen zugewandt zu haben. Das jedenfalls war der Status am letzten Schultag vor den Herbstferien.
Unser Urlaub war perfekt vorbereitet. Am nächsten Morgen sollte es in aller Frühe losgehen. An diesem Samstag wurde mit einer allgemeinen Massenflucht aus Berlin gerechnet, was soviel bedeutete, dass ab 9:00 sämtliche Autobahnen und Landstraßen hoffnungslos verstopft sein würden. Hinzu kam, dass völlig untypisch für Ferien der Oktober sich nochmal von seiner goldensten Seite zeigte. Warm, mild und wunderschön sonnig.
Es war abgemacht, dass uns Dirks und meine Mama nach Rügen brachten. Dirks Eltern hatten einen dieser fetten Toyota-Vans und der Sharan meiner Eltern war ja auch nicht gerade klein. Beide Wagen würden mit uns und bergeweise Tiefkühlfutter und Gesöff in Kisten vollgepackt werden. Die weniger elternkompatiblen Genussmittel (Bier, Wein und Hanfprodukte) befanden sich zwischen unseren persönlichen Sachen. Alles war seit zwei Tagen startbereit. Die ganze Gang geiferte dem Samstag entgegen.
Nur Kuki hatte noch etwas Besonderes auf dem Herzen, was, wollte er mir nicht sagen. Nur soviel, dass ich mir für diesen Freitagnachmittag nichts vornehmen sollte. Wer könnte diesem niedlichen Knirps etwas abschlagen? Wer einmal in seine traurigen Hundeaugen geblickt und alles Metall übersehen hatte, schmolz dahin, wie Butter in der Mittagssonne. Mich konnte man regelmäßig auffeudeln.
»Ok, können wir los?«, die letzte Schulstunde, die mir wie ungefähr 8 Stunden vorkam, war abgehakt.
»Ja! Aber könntest du mir vielleicht einmal sagen, wohin wir eigentlich wollen?«
»Wart' es doch einfach mal ab. Es ist nur eine kleine Sache, die wir für unseren Urlaub erledigen müssen.«
Ich fragte mich weiterhin, was das wohl sein könnte, eigentlich hatten wir alles. Aber aus Kuki war einfach nichts herauszukriegen. Nur ein merkwürdiges Grinsen.
Ich hätte Tim gerne bei mir gehabt, aber dieser hatte noch ein außerplanmäßiges Training, da er die nächste Woche ja beim regulären Training ausfallen würde. Er und Holger würden später zu mir kommen, und mit Kuki bei mir übernachten. Nico, Sven, seine geheimnisvolle Freundin und Biene würden bei Dirk übernachten. Somit war alles für einen frühen Start vorbereitet.
Kuki zerrte mich in die S-Bahn Richtung Oranienburg, also in Richtung Norden. Ich vermutete, dass er noch irgendetwas im Steglitzer Stadtzentrum, der Stadtteil ist wirklich eine Stadt für sich, einkaufen wollte, aber als er keine Anstalten machte, an der Station Rathaus Steglitz auszusteigen, musste ich diese Vermutung beerdigen.
»Kuki, wo fahren wir hin?«
»Wird nicht verraten«, wieder dieses blöde Grinsen. »Aber weißt du was? Ich hatte heute Nacht vielleicht einen merkwürdigen Albtraum gehabt ...«
Wollte er mich von irgendetwas ablenken?
»Ach ...«, ich konnte mich noch nie an meine Träume erinnern, mal von dem speziellen Traum mit Thimo abgesehen.
»Doch glaub mir! Irgendwie bin ich durch eine leere Stadt gelaufen, kein Mensch weit und breit. Plötzlich befand ich mich in einem Kraftwerk. Keine Ahnung, wie ich da hinkam. Dort kam es zu einem Schaltfehler. Ein riesiger Funke schlug über und puff, dampfte mich auf einen Haufen Asche und etwas funkelndes Metall ein - unheimlich! Ich sah mich dabei selbst, wie aus dem Blick eines anderen.«
Ich sah Kuki irritiert an, was wollte mir dieses Kerlchen eigentlich erzählen. Immer mehr hatte ich den Eindruck, dass er mich von irgendetwas ablenken wollte. Ich wurde misstrauisch.
»Umsteigen!«
Kuki sprang auf. Wir hatten den Bahnhof Yorkstraße erreicht. Umsteigen, das hieß, dass Kuki mit mir in die U7 wollte. Wir stiefelten die Treppen zum U-Bahnhof hinab und stellten uns auf die Bahnsteigseite in Richtung Rudow. Damit fielen der Nordosten, Norden, Westen, Südwesten und Süden als Ziel aus. Zwei Minuten später kam die U-Bahn und wir stiegen ein, um wenige Stationen später wieder auszusteigen: Mehringdamm. Kuki schaute auf die Bahnhofsuhr.
»Oh, wir haben noch ein wenig Zeit. Da können wir noch etwas shoppen.«
Moment mal, wir konnten shoppen gehen, weil wir noch etwas Zeit hatten? Dann war Kukis Primärziel offensichtlich nicht, etwas einzukaufen. Muss ich sagen, dass ich mehr als neugierig war?
Wir grasten also die Gegend Bergmannstraße und Umgebung ab. Bisschen Comics im Groben Unfug blättern und käuflich erwerben. Ich fand ein englisches Star-Trek-Fanzine mit einem Special über Seven-of-Nine, das ich sofort kaufte. Mein guter alter Freund Maik, mit seiner speziellen Vorliebe für weibliche Oberkörperrundungen, war der totale Fan. Um an dieses Heft zu kommen, würde er alles tun. Resistance is futile!
Auch Kuki wurde auf unserem Beutezug fündig und erstand eine wirklich super gearbeitete Bong (Wasserpfeife). Ein echter Genießer der Kleine.
Ich hatte gerade vergessen, dass wir eigentlich aus einem anderen Grund in diese Gegend gekommen waren und wähnte mich schon auf dem Weg zurück zur U-Bahn, als Kuki plötzlich stehen blieb.
»Wir sind da!«, Kukis Grinsen hatte etwas dämonisches an sich. »Oder besser: Du bist da! Es wird Zeit, dein Geburtstagsgeschenk einzulösen.«
Im ersten Moment verstand ich nicht was er meinte, bis ich den Schriftzug an der Tür des Ladengeschäfts las: BodyART - Piercings und Tätowierungen
Panik!
4.17. Niveadosenblau
Portland
»Er ist vom Baumhaus gefallen?«, Rob wiederholte die Frage jetzt zum dritten Mal.
»Ja, Marcel bekam weiche Knie«, Thimo thronte zu Hause in seinem Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und sah Marcel mit einem süffisanten Grinsen an. Der wirkte eher etwas verlegen und ertappt, worauf er als kleine Strafe Thimo einen Knuff gab - oder auch zwei.
»Du hast auch keine so super Figur gemacht.«
»Wem sagst du das?«, jetzt war es an Thimo, verlegen dreinzuschauen.
Thimo war schon vor ein paar Tagen aus dem Krankenhaus entlassen worden und nutzte die Zeit, um sich in seinem Bett zu langweilen. Hoher Blutverlust und zwei Operationen innerhalb weniger Tage sind der allgemeinen Fitness sind sonderlich zutragend. Mit anderen Worten, Thimo fühlte sich häufig noch verdammt schwach. Aber von Tag zu Tag wurde es besser. Rob, Jana, Tom, Peter kamen regelmäßig vorbei, um ihn sowohl auf dem aktuellen Stand des Unterrichtsstoffs zu halten, als auch, weil sie ihm die schöne Langweile nicht gönnten.
Marcel war hingegen ein ganz anderes Thema. Er rückte Thimo fast nicht mehr von der Pelle. Nach seinem Schwächeanfall im Krankenhaus hatte man ihm ein Attest ausgestellt, mit dem er erstmal für die nächsten Tage vom Unterricht befreit war. Möglicherweise war bei dieser Entscheidung die Intervention von Roseanne, das nach einem vier Augen Gespräch mit Thimo stattfand, nicht ganz unwichtig gewesen.
»Sag' mal, wann bist du denn wieder voll einsatzfähig?«
»Also mein Doc meint, nächste Woche darf ich wieder zur Schule. Ich würde das zwar anders formulieren, aber nächste Woche habt ihr mich wieder.«
»Football?«
»Wiederaufnahme des Trainings ist in drei Wochen. Man mag es gar nicht glauben, aber Skinner kennt meinen Doc! Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie er meinen behandelnden Arzt - ich zitiere - von der ausgesprochenen Dringlichkeit einer zügigen Genesung zu überzeugen versuchte. Die Schule hat doch tatsächlich einen Teil der Behandlungskosten bezahlt. Aufbaupräparate und medizinisches Konditionstraining. Die spinnen!«
»Kannst du dich eigentlich inzwischen erinnern, wer dich aufgeschlitzt hat?«
»Gute Frage, ich hab schon meinen arg schmerzenden Kopf gemartert, aber nix. Ich kann mich an die Sache kaum erinnern, aber ich glaub, dass ich auch niemanden gesehen habe.«
»Das war Brandon, hundertpro!«, Rob kultivierte mal wieder seine Vorurteile.
»Rob, das kannst du nicht sagen.«, Marcel mischte sich ein, »Das Einzige, was sicher ist, ist, dass es nicht Scott war.«
»Was macht der eigentlich?«, Thimo fand, dass es so langsam Zeit wurde, sich auf den aktuellsten Stand der Entwicklung zu bringen. Schließlich lief immer noch ein potenzieller Messerstecher auf der Liberty High frei herum.
»Tja, eigentlich nix«, Rob lehnte sich auf Thimos Schreibtischstuhl zurück, schloss die Augen, drehte sich mit dem Stuhl hin und her, wobei er mit den Armen lustige Gegenlenkbewegungen machte. »Das Licht das doppelt so hell brennt ... Scott ist draußen, soll heißen, unser innig geliebter Oberaffe ist inzwischen fast ein Unberührbarer ...«
»Fast?«
»Er ist wieder Captain der Footballmannschaft. Du wirst es nicht glauben, aber er ist sogar besser als je zuvor. Nur Freunde hat er keine mehr. Naja, wirkliche Freunde hatte er ja wohl schon lange nicht mehr.«
Eine volle Stuhlumdrehung linksrum.
»Das wirklich Witzige ist, er hat sich von allen Leuten zurückgezogen. Er sitzt allein in der Kantine, in den Kursen, überall. Scott ist jetzt der einsame Wolf ...«
Stuhldrehung rechts.
»Ansonsten herrscht gespannte Stille. Seit ich dich das letzte Mal gebrieft habe, ist wirklich nichts, rein gar nichts passiert. Nach wie vor Totentanz und allgemeine Lähmung. Es kursieren die absurdesten Gerüchte, aber keins kommt auch nur in die Nähe der Wahrheit. Dass ihr zwei schwul seid, weiß zum Bleistift definitiv niemand, und die, die es doch wissen, erzählen es nicht. Das Einzige, wovon alle sicher ausgehen, ist, dass wenn du zurückkommst, irgendetwas Großes passieren wird ... warum muss ich dabei immer an diesen scheiß Film denken? Outland, mit dem alten Knacker, Sean Connery, kennst du den? Der spielt da so einen Marshall auf 'ner Erzminenstation. Der Boss der Minengesellschaft hat zwei Killer beauftragt, den Marschall umzubringen. Jeder auf der Station weiß, dass die Killer mit dem nächsten Versorgungsshuttle ankommen werden. Alle warten auf das Unvermeidliche. Die Station hält quasi den Atem an. Alle Arbeit ruht, alle beobachten, was passiert. Ungefähr so sieht es an der Liberty High aus.«
Furiose dreifache Linksdrehung.
»Ich kenn den Film. Es ist ein Remake des uralten Westerns High Noon. Hm, danke, dass du mich zum Marshall machst, aber wenn ich mich recht erinnere, stand Connery in dem Film bis auf die Ärztin alleine da?«
Thimos fordernder, fragender Blick in die Runde war eindeutig.
»Ja, natürlich geben wir dir Deckung. Marcel?«
»Bin dabei.«
»Wenn mir jetzt noch jemand erzählen würde, wovor ihr mich überhaupt schützen wollt ...«
Keine Antwort. Wie auch. Die Situation war mehr als unübersichtlich. Thimo sortierte in Gedanken die Beteiligten auseinander: Da gab es einmal die ehemalige Loosergang, mit Rob, Marcel, Jana, Tom und Peter auf der einen Seite. Ihnen gegenüber standen jetzt nur noch Amber und Brandon, obwohl das schon gar nicht mehr so klar war. Weder Amber noch Brandon hatten offiziell Stellung bezogen. Scott stand alleine. Und Thimo stand mitten drin. Wovon auch immer.
Das Nachdenken bereitete Kopfschmerzen. Zeit, um auf etwas anderes zu kommen: »Marcel, warst du bei Franklin?«
»Ja, er hat die Geschichte geschluckt, die ich ihm aufgetischt habe. Das Attest von der Klinik wegen meines Schwächeanfalls hat wohl auch geholfen. Ich bekomme keinen Stress wegen der Zeit, in der ich nicht in der Schule war. Wahrscheinlich war ihm meine Story sogar völlig egal, er hörte mir gar nicht zu, sondern erzählte ständig, wie glücklich er ist, dass mein Vater so überaus großzügige Spenden an den Förderverein macht.«
»Für Kohle kannst du dir an dem Laden alles kaufen: Freizeit, Noten, Drogen, Weiber und Männ...«, Rob biss sich auf die Zunge, »Shit, sorry Marcel, das hab' ich nicht so gemeint.«
»Schon ok, ich werd's überleben. Aber Rob ...«, Marcel sah Rob unerwartet ernst an, »behandle mich nicht wie ein rohes Ei, wie einen emotionalen Krüppel, den man schonen muss.«
»Ok, kein Problem. Wie dem auch sei. Thimo, morgen bin ich wieder da und bring dir den Lehrstoff der Kurse von Jana, Tom, Peter und mir vorbei. Bis dann ...«
»Danke. Dann bis morgen.«
Rob dampfte ab und ließ Thimo und Marcel allein zurück.
»Na Baby, wie geht„s dir denn nun wirklich?«, Marcel robbte mit seinem Stuhl etwas dichter an Thimos Bett ran.
»Seit du da bist, deutlich besser!«, Thimo strahlte für einen Moment glücklich vor sich hin, »Ich hab' immer noch diese Kopfschmerzen und manchmal Schwächeanfälle. Aber beides wird stündlich weniger. Ansonsten fällt mir hier die Decke auf den Kopf«, ein angeödet-genervter Blick durch den Raum. »Ich kann kaum glauben, dass ich sowas sage, aber lieber Schule, als den ganzen Tag auf oder im Bett liegen. Es ist ja sowas von öde. Ich dachte, deutsches Fernsehen wär schon schlecht, aber ihr Amis schafft das noch zu toppen.«
»Was heißt hier ihr Amis? Du bist auch ein halber Ami!«
»Treffer! Baby, nimm einfach nichts ernst, was ich momentan von mir gebe. Ich steh' immer noch unter Drogen. Erst morgen soll ich sie absetzen. Ey, was ist denn mit dir? Du schaust so traurig drein?«
»Es ist nichts ...«, Marcel drehte seinen Kopf weg, sodass Thimo nicht sein Gesicht sehen konnte.
»Du sagst mir jetzt sofort, was los ist. Oder ich steh' aus meinem Bett auf und werd es aus dir rausholen. Wenn ich dann wieder zusammenklappe ... naja, du kennst ja den Weg zum Krankenhaus.«
Marcel drehte langsam seinen Kopf wieder zu Thimo um, seine Augen waren feucht.
»Ey, Baby, Schatz, was hast du denn? Warum weinst du?«
»Wegen dir!«, Marcel schniefte.
»Wegen mir? Wieso, das denn?«
»Ach, es klingt so blöd, aber niemand hat mich bisher Baby oder Schatz genannt. Bei dir klingt es so ... so, hm selbstverständlich, mich überwältigt das jedes Mal.«
»Ist es dir unangenehm?«
»Nein, auf keinen Fall, ich liebe es! Es bringt mich nur jedes Mal völlig durcheinander. Ich bekomme dann entweder 'ne Gänsehaut oder aufwallende Hitze. Aber ...«
»Ja?«
»Hmm, da ist aber noch was ...«
»Raus damit!«
»Äh, hm, ja, also ... du hast mich seit unserem Kuss im Krankenhaus nie wieder berührt. Ist es dir un...«
Thimo fiel Marcel sofort ins Wort.
»Nein! Red' nicht weiter! Denk das nicht Mal! Es ist mir nicht unangenehm. Ganz im Gegenteil! Ich sehne mich danach, dich zu berühren, dich zu umarmen, dich zu küssen, dich in den Armen zu halten, dich ... naja, du weißt schon ... aber ich möchte, dass es von dir kommt. Wir wissen beide, was Scott dir angetan hat. Ich will dich zu nichts drängen. Das hat dieser Arsch schon genug getan. Ich überlasse dir den ersten Schritt. Du bestimmst das Tempo!«
»Thimo, du übertreibst wieder!«, Marcel klang amüsiert, »Außerdem sagst du nicht die Wahrheit ...«
Thimo sah auf die Bettdecke vor sich und malte verlegen mit den Fingernägeln Muster in den Stoff.
»Du hast Recht ...«
Thimo blickte zu Marcel in der Hoffnung auf, er würde ihm weiterhelfen, aber da kam nichts. Ganz im Gegenteil. Marcel legte nur seinen Kopf schief und grinste Thimo fordernd an.
»Oh, Mann du bist hart. Also gut ... die Wahrheit ...«, Thimo atmete tief auf, »Ich habe Angst! Ich weiß nicht, wie ich mit dir umgehen soll. Ob ich dich berühren darf ... hmpf, wo ich dich berühren darf? Wie gern würd' ich mit dir schlafen ...«
»Und, warum tust du es nicht?«
»Tja, warum? Weil ich dich vielleicht nicht verletzen will? Weil ich nicht weiß, wie wir zusammen kommen können, ohne dass das, was Scott mit dir gemacht hat zwischen uns steht ...«
»Also stört es dich doch!«, Marcel war ernüchtert.
»Nein, nein, nein ... du hast mich falsch verstanden ... ich meine doch was ganz anderes ...«. Man konnte sehen, wie Thimo mit den Worten rang, »Ok, ich mach's mal konkret. Was ist, wenn wir uns näher kommen? Was ist, wenn wir mehr als küssen wollen? Was ist wenn wir ... wenn du mich ...«
»Bläst oder ...?«
Statt einer Antwort nickte Thimo, den Kopf gesenkt haltend. Marcel erbleichte etwas, als ihm klar wurde, worauf Thimo hinaus wollte.
»Du willst wissen, wie ich dann reagieren werde?«
»Ja!«
»Gute Frage!«, Marcel lächelte, »Du fragst dich ernsthaft, wie ich reagieren werde, wenn du mich bittest, dir einen zu blasen? Du hast Angst, dass es mich zu sehr an das mit Scott erinnert?«
Thimo nickte.
»Aber du bist nicht Scott! Ich glaube, dass ich damit kein Problem habe. Scott hatte vielleicht meinen Körper, aber mich hatte er nie. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du mir jemals wehtun könntest.«
Thimo war wieder in den Augen von Marcel versunken. Wunderschöne Augen, tief, niveadosenblau, mit einem geheimnisvollen Funkeln. Umgekehrt war es nicht viel anders. Marcel sah in Thimos smaragdgrüne Augen. Für beide Jungs war der Rest des Raums oder sogar der Rest der Welt völlig in den Hintergrund getreten. Und da man die Umwelt völlig vergessen hatte, wusste man später auch nicht mehr, wie Marcel den Weg in Thimos Bett gefunden hatte.
Nun lag er dort neben Thimo. Aus nicht näher erfindlichen Gründen hatten sich beide Jungs ihrer textilen Hüllen entledigt. Marcel und Thimo hielten sich immer noch gegenseitig mit ihren Augen fest. Beide Jungs lagen unter Thimos Bettdecke, aber weder Thimo noch Marcel hatten sich bisher berührt. Das sollte sich jetzt ändern. Marcel streichelte Thimo leicht und zärtlich über seine Wangen, nahm das Gesicht in seine Hände und führte es zu seinem. Zwei Lippenpaare berührten sich. Zwei Zungen fanden ihren Weg in fremde Münder. Zwei Jungs im Schwebezustand. Millimeterweise kamen sie die zwei Körper näher.
Hände gingen auf Entdeckungsreise. Thimos wanderten entlang der Linie Kopf, Hals, Schulter und Brust. Sie spürten Wärme, Nähe und Leben. Marcels Hände gingen einen anderen Weg. Sie umfassten Thimo, wanderten zu seinem Rücken und zogen plötzlich Thimo ganz dicht an Marcel heran.
Thimos Körper berührte Marcels. Dieser eine Moment, in dem der Kontakt zwischen den beiden Körpern hergestellt wurde, war wie der Kraftschluss eines elektrischen Schalters. Ein Fluss von Energie strömte von Körper zu Körper. Marcel ließ ein kleines Seufzen hören.
Und plötzlich gab es kein Halten mehr. Thimo und Marcel umarmten sich, umschlungen sich und wurden zusammen eins. Jeder erforschte den Köper des anderen und das nur aus einem einzigen Grund: Liebe. In diesem Fall körperliche Liebe. Geredet hatten sie genug miteinander. Beide kannten die Vergangenheit, aber dieser Moment gehörte ihnen beiden, und nur ihnen beiden. Weder Marcel noch Thimo verschwendeten auch nur eine Gehirnzelle mit einem Gedanken an Scott. Ganz im Gegenteil, endlich konnte Marcel jemandem die Liebe zeigen, zu der er wirklich fähig war, die nur all die Zeit tief in seinem Inneren vergraben lag. Und auch Thimo gab, zu was er in der Lage war. Wenn auch sein körperlicher Zustand ihm keine akrobatischen Höchstleistungen ermöglichte, zu einer Überdosis an Zärtlichkeit und Liebe reichte es allemal.
Thimo wurde mutiger. Vorsichtig arbeitete er sich mit seinen Händen in Richtung von Marcels Lendengegend vor. Er strich über einen definierten Bauch, fühlte die Wellen, die die Muskeln unter Marcels Haut bildeten, ertastete die feinen Haare, die unterhalb des Bauchnabels begannen, und endete mit seinen Fingern an einer Parabel, die die Haut zwischen Bauch und Schwanz beschrieb. Es war eine perfekte Parabel. Marcels Schwanz stand parallel zu seinem Bauch. Ganz zärtlich legte Thimo seine Hand auf Marcels Fortpflanzungsorgan. Keine Abwehrhaltung. Finger für Finger schlossen sich um Marcels Schwanz. Erst sanft, dann immer fester. Als Reaktion umarmte Marcel Thimo und küsste ihn dermaßen tief, dass Thimo schon befürchtete, Marcels Zunge würde irgendwo in seinen Bronchien landen. Dies war offensichtlich ein Ja.
Das Objekt der Begierde in Thimos Hand war hart, steinhart. Obwohl er es fest im Griff hatte, fühlte seine Handinnenfläche jede einzelne Ader. Er spürte das Blut pulsieren und die Wärme, die mit dem Blut herbei befördert wurde. Thimo begann Marcels Schwanz zu massieren. Wohlige Schauer und leises, glückliches Wimmern schüttelten Marcel. An der zunehmenden Verkrampfung merkte Thimo, dass Marcel kurz davor war. Er verlangsamte seine Bewegung und ließ die Erregung in Marcel kurz abklingen, um ihn schließlich wieder kurz vor den Point of no return zu bringen. Mit diesem Spiel trieb er seinen neuen Freund bis fast in den Wahnsinn. Marcels glücklich, schmerzverzerrtes Gesicht und die Glückstränen in seinen Augen gaben ein eindeutiges Signal: Marcel war im siebten Himmel. Junge, du hast es dir wirklich verdient.
Diesmal stoppte Thimo nicht, ganz im Gegenteil verstärkte er seinen Griff, presste seinen eigenen Körper gegen Marcel und küsste ihn genau in dem Moment, als Marcel kam. Stoßweise wurde es zwischen Thimo und Marcel heiß und feucht. Marcel explodierte regelrecht. Und auch Thimo konnte sich nicht mehr zurückhalten, angesteckt von Marcels Orgasmus kam auch er. Marcel nahm Thimos Kopf in seine beiden Hände und küsste ihn: »Danke!«
4.18. Morgendliche Leibesertüchtigung
Eigentlich gilt so etwas als typische männliche Schwäche: nach dem Sex einpennen. Aber Thimo hatte eine gute Entschuldigung: Schmerzmittel, zwei kürzliche OPs und allgemeine Erschöpfung. Zuerst war Marcel etwas erschrocken, als Thimo kurze Zeit, nachdem sie beide zum Höhepunkt gekommen waren, eingepennt war. Sollte er sich wieder übernommen haben? Nein, Thimos Atmung war ruhig und normal. Marcel lächelte. Er war glücklich. Was er Thimo nicht gesagt hatte: Er hatte selbst Angst! Angst davor, von einem anderen Jungen berührt zu werden, aber Thimo hatte ihm diese Angst genommen. Es war ein tolles Gefühl sich einfach hingeben zu können. »Ja«, dachte er, »mit diesem lieben Wesen, mit diesem Traum von einem Jungen kann ich glücklich werden. Wir können Sex haben und es wird mir Spaß machen. Oh, ich habe mich nicht getäuscht. Thimo, ich liebe dich und ich weiß, du liebst mich auch.«
Marcel grinste. Er streichelte vorsichtig und sanft durch Thimos Haar und sah seinen schlafenden Freund glücklich an. Marcels Grinsen wurde breiter, ihm wurde etwas klar: Scott hatte endgültig verloren. Marcel wurde plötzlich die Lächerlichkeit von Scott bewusst. Ein bemitleidenswertes armes Würstchen.
Für Scott war Sex die Befriedigung von körperlichen Bedürfnissen, seiner Bedürfnisse. Stimulation, Erektion, Abspritzen. Sehr technisch und völlig ohne Gefühl. Kein Wunder, dass Scott mit seinem Schwanz wie mit einem Presslufthammer umging. Er hasste seinen Körper, weil er sich selbst hasste. Bis vor wenigen Momenten hätte Marcel nicht bezweifelt, dass es auch anders ging. Aber Thimo hatte ihm soeben gezeigt, was passiert, wenn Sex und Liebe zusammenkamen.
Das war der Unterschied. Es war der Unterschied zwischen nutzen und benutzen. Scott, egozentrisch wie er war, benutzte andere Körper. Er benutzte Marcel, um sich zu befriedigen. Thimo hingegen nutzte seinen Körper, um einem anderen Menschen seine Liebe zu zeigen. Oder anders ausgedrückt: Scott nahm, Thimo gab. Und je mehr Thimo gab, desto mehr war Marcel bereit, zurückzugeben. War das Liebe? War es so einfach?
Je mehr sich Marcel über Scott klar wurde, desto mehr spürte er eine neu gewonnene Freiheit. Thimo hatte Marcel nicht nur seine Liebe spüren lassen, er hatte auch ohne es zu wissen den Grundstein dafür gelegt, dass sich Marcel von Scott befreien konnte. Körperlich, aber was noch viel wichtiger war, vor allem seelisch. Ja, er würde frei sein.
Nochmals sah Marcel in das schlafende Gesicht von Thimo. Er küsste ihm zärtlich auf die Stirn und flüsterte ein »Danke!«
»Jarmmmmm«, kam es von Thimo gemurmelt. Er schlief friedlich und von Marcels tiefen Gedanken völlig unberührt weiter. Marcel lächelte noch einmal, kuschelte sich an Thimo, spürte die nackte, warme Haut auf seiner und schlief ein. Marcel war glücklich. Das erste Mal, seitdem er Scott erzählt hatte, dass er schwul war, war Marcel glücklich.
Der nächste Morgen war für Marcel ausgesprochen ungewohnt und kurzzeitig auch äußerst unbequem. Das Erste, was Marcel nach dem Aufwachen bemerkte war, dass sein linker Arm eingeschlafen war. »Was zum Teufel ...«, Marcel schluckte den Fluch runter, als er bemerkte, dass neben seinem Arm auch ein ganzer Körper schlief, nämlich der von Thimo. Da dieser, schwer wie er war nun mal auf Marcels Arm lag, war das taube Gefühl nicht sonderlich verwunderlich. Blöd war es trotzdem und musste korrigiert werden.
Marcel lag links im Bett, Thimo rechts. Beide Jungs waren einander zugewandt. Marcel beobachtete Thimos friedlich schlafendes Gesicht. Wie bekomme ich meinen Arm unter ihm raus? Ganz vorsichtig begann Marcel an seinem Arm zu ziehen, die Ameisen, die in der Extremität kribbelten, waren kaum auszuhalten. Marcel zog. Ganz, ganz vorsichtig. Millimeter für Millimeter.
»Warum fragst du mich nicht, ob ich deinen Arm freilassen könnte?«
Thimos Mund sprach und lächelte frech, seine Augen waren immer noch geschlossen.
»Du bist wach?«
Der Mund sprach erneut:
»Nö, ich schlafe noch. Ich träume gerade davon, dass ein süßer, blonder Junge neben mir in meinem Bett liegt und mich küsst. Aber das kann nur ein Traum sein.«
»Ist es nicht!«
Das Kribbeln in Marcels Arm war plötzlich vergessen, stattdessen benutzte er seine beiden Arme, um Thimo zu umschlingen und zu küssen. Thimo riss die Augen auf, »Hmmmmm, doch kein Traum«, und begann sich bei Marcel für den Kuss zu revanchieren.
»Ähm, es ist mir peinlich, aber ...«, Marcel spürte eine gewisse Versteifung, die definitiv nicht davon herrührte, dass ihm eine Gliedmaße eingeschlafen war. Ganz im Gegenteil, dieses Gliedmaß war hellwach.
»Och, das braucht dir nicht peinlich zu sein. Wenn du es genau wissen willst, mir geht es nicht anders.«
Die Körper der beiden Jungs waren sich zwischenzeitlich wieder so weit näher gekommen, dass sie sich berührten. Beide mussten sie lachen.
»Und nu?«, Marcel war ein wenig verlegen.
»Nu machen wir da weiter, wo wir gestern aufgehört haben. Entspann dich ...«, sprach's und verschwand mit dem Kopf unter der Bettdecke.
Marcel dachte noch »Nanu?«, um wendige Sekunden später »Wow!« zu rufen. Ein Schauer durchwanderte seinen Körper, als sich Thimos Lippen um Marcels Schwanz schlossen. Mit solch einem Morgen hatte er wirklich nicht gerechnet. Nun, es hätte schlimmer kommen können. Viel schlimmer. Was Thimo gerade mit ihm machte, war einfach fantastisch. Es dauerte nicht lange und Marcel wäre fast aus dem Bett geschwebt, wenn Thimo ihn nicht zärtlich, aber doch bestimmt festgehalten hätte. Marcel bäumte sich auf, sein ganzer Körper war in Wallung, doch Thimo hatte sich wie ein kleiner Blutegel an Marcels bestem Stück festgesaugt. Hätte er in Marcels Gesicht schauen können, hätte er das glücklich, schmerzverzerrte Gesicht und die Freudentränen in den Augenwinkeln sehen können. Aber eigentlich brauchte er das nicht, er spürte es auch so, spätestens als Marcel mit einer Gewalt kam, die er selbst nicht für möglich gehalten hätte.
Völlig verausgabt und sehr befriedigt entspannte sich Marcel. Die Verkrampfungen in seinen Muskeln ließen nach und Marcel ließ sich gerade in die Matratze sinken, als Thimo unter der Bettdecke hervorgekrabbelt kam. Sein Grinsen war wirklich frech. Dass er sich mit der Zunge über seine Lippen fuhr und dabei einen kleinen Rest weißen Proteinsafts, der sich bis eben noch im Körper von Marcel befunden hatte, ableckte, war frecher.
Marcel war sprachlos. Eigentlich war schwul sein gar nicht so schlecht, ganz im Gegenteil. Bei einem Freund wie Thimo war es sogar absolut überirdisch.
Marcel sah in Thimos Gesicht. Es strahlte, das Grinsen schien mit der Gesichtshaut verwachsen zu sein. Und wieder kam so ein Moment, bei dem es bei Marcel Klick machte: Thimo machte der Sex Spaß. Ok, das ist sicherlich das Wichtigste am Sex. Aber da war etwas anderes. Marcel hatte schon etliche Schwänze im Mund gehabt. Oder besser einen Schwanz, den aber umso häufiger. Da diese Zusammentreffen von Mund und Schwanz nicht unbedingt frei von Zwang waren, empfand Marcel es eher als lästige Arbeit, so ähnlich wie Hausaufgaben oder Zimmer aufräumen, nein es war schlimmer, schlimmer als ein Zahnarztbesuch. Aber Thimo ... er hatte Spaß daran. Persönlichen Spaß, aber auch Spaß daran, Marcel zu befriedigen.
Mit diesem Gedanken im Kopf brach ein ähnliches Grinsen bei Marcel durch. Ehe Thimo realisieren konnte, was mit ihm passierte, hatte Marcel Thimo von sich runtergewälzt, auf die Matratze gedrückt und war nun selbst unter die Bettdecke entschwunden.
Die erste Überraschung war der Geruch. Thimo roch gut. Marcel stupste mit seiner Zunge gegen Thimos Schwanzspitze. Ein kleiner Lusttropfen landete auf Marcels Zunge. Vorsichtig kostete Marcel den Geschmack. Leicht salzig, aber auch ein Hauch von Süße. Ananassaft? Vanille? Thimo schmeckte einfach gut. Marcel begann, Thimos Schaft von der Spitze bis zu Wurzel abzulecken und das Aroma in sich aufzusaugen. Die Wirkung war einem Rauschmittel nicht unähnlich. Seine Lippen küssten die Spitze, die Zunge tastete die Struktur von Thimos Schwanz ab, keine noch so kleine Ader blieb unentdeckt.
Marcel zögerte. Zwei, drei Sekunden unbewusster Reflexion. Ja, ich will. Jetzt! Und völlig freiwillig! Marcel öffnete seine Lippen und ließ Thimos Schwanz in seinen Mund hineingleiten. Auf das, was dann kam, war Marcel nicht gefasst. Thimo forderte nicht ein, sondern genoss, er ließ sich fallen. Marcel konnte es spüren. Er besaß die völlige Kontrolle. Er steuerte die Empfindungen von Thimo. Außerdem schmeckte Thimo einfach genial gut. Marcel konnte gar nicht genug von Thimo bekommen und verwöhnte Thimo, wie er noch nie jemanden verwöhnt hatte. Es war, als wenn in ihm ein Knoten durchschlagen wurde. Ein gigantischer Strom Energie sammelte sich in Marcel, floss zu seinem Kopf und durchströmte den Berührungspunkt zu Thimo. Thimo bäumte sich auf, heftige Spasmen waren ein untrügliches Vorzeichen der bevorstehenden Explosion. Marcels Hände hielten Thimos Hüften, nahmen seine Wärme auf, registrierte jede Bewegung. Thimo kam. Und er kam wie eine Detonation. Unmengen des heißen, weißen Safts pulsierten in Marcels Mund und entfalteten dort ihr volles, würziges Aroma. Marcel wurde schwindelig. Wenn er mit einer Sache nicht gerechnet hatte, dann, dass ihn Thimo zu blasen und der abschließende Orgasmus dermaßen erregt hatten, dass er selbst wieder kam. Marcel kam wenige Sekunden nach Thimo. Die Welt um ihn machte einfach Peng und zersplitterte in Milliarden kleine glitzernde Schnipsel.
Recht matt und recht langsam robbte Marcel wieder zu Thimo hinauf. Dort wurde er von einem glücklichen, aber auch leicht fragenden Blick empfangen.
»Und?«, manchmal schlugen Thimos norddeutsche Gene in ihrer drögen Art durch.
»Geil!«, Marcel war durchaus in der Lage zu kontern. »Hat man dir schon mal gesagt, dass du nach Ananas schmeckst. Nur ganz leicht, aber doch ...«
»Wirklich?«, Thimo war echt verblüfft.
Marcel nickte. Er kuschelte sich mit seinem Rücken an Thimos Brust und wurde von dessen Armen sanft umschlungen.
»Ich wusste wirklich nicht, ob ich es konnte. Du weißt, was ich meine ...«
»Ja, ich weiß es!«, Thimo strich Marcel zärtlich durch die Haare. Er ahnte, was gerade passiert war. Marcel hatte soeben Scott besiegt. Den Scott, der in seiner Seele für Hass und Wut gesorgt hatte, »Ich sagte doch, ich könnte dich niemals verletzen.« Thimo küsste Marcel in den Nacken. Er hatte es geahnt, dieser eine kleine Kuss und Marcel weinte: leise, friedlich und befreit.
Beide Jungs lagen noch eine ganze Weile beieinander. Der körperliche Kraftakt forderte seinen Tribut. Eng umschlungen schliefen Thimo und Marcel friedlich ein.
4.19. Maik und der Adler
Berlin
»Kuki, das ist nicht dein Ernst?«, ich war verärgert. Stimmt nicht, ich hatte Panik und wahnsinnige Angst. Das sah nur aus wie Ärger.
»Es war dein Geburtstagsgeschenk«, Kuki guckte traurig drein. Er hatte scheinbar gehofft, dass ich von seiner Idee mit dem Zungenpiercing hellauf begeistert war, und war jetzt enttäuscht, dass ich eher abblockte.
»Ich wollte keine Geschenke«, blöde Antwort.
»Du bist es mir schuldig ...«, Kuki sah noch trauriger aus. Er hatte wieder diesen gemeinen Blick drauf: Mit traurigen Hundeaugen, von unten einen anwimmern. Ich spürte, dass ich dieser Psychofolter nicht lange standhalten konnte.
»Aber ich kann doch nichts dafür, dass du dich in mich verliebt hast ...«, oh, der war unfair. Im gleichen Moment, in dem mir die Worte aus dem Mund geschlüpft waren, taten sie mir auch schon Leid. Für einen winzigen Moment sah ich in Kukis Augen Schmerzen aufflackern. Shit, dieses süße Kerlchen war immer noch in mich verliebt, Holger hin, Holger her, sein Herz gehörte immer noch mir.
»Du hast es mir versprochen ...«, der Moment, in dem ich die Wahrheit in Kukis Augen sehen konnte, war verschwunden.
»Ja, du hast Recht, aber ...«, er hatte wirklich Recht. Ich stand im Wort. Ich wusste von Anfang an, dass ich um diesen Tag nicht herumkommen würde, dazu liebte ich Kuki viel zu sehr. Hätte nicht Tim, sondern Kuki am Schlachtensee gesessen, wer weiß ...?
Irgendwie musste ich mein Gesicht wahren, einzugestehen, dass ich Angst vor der großen Nadel hatte, war keine Option. »... ich hab' doch gar nicht den Stift dabei, den du mir geschenkt hast. Lass uns einfach einen Termin für später machen und ich hab' dann den Stift dabei«, einen Termin für sehr viel später. So in zehn Jahren.
»Der war nur symbolisch. Du bekommst sowieso zu Anfang einen anderen, bis die Zunge wieder abgeschwollen ist.«
Shit, Kuki hatte an alles gedacht. Dieses kleine, hinterhältige Arschloch. Ich ließ meinen Kopf hängen.
»Ok, Kuki, du hast gewonnen. Aber wehe du lachst mich aus. Ich hab' die Hose gestrichen voll.«
Kuki lachte nicht, er grinste. Das konnte er immer noch am besten: »Macht nix, ging mir beim ersten Mal genau so. Und nun komm, Svenja wartet.«
Mit dem Herz in der Hose und flatternden Hosenbeinen betrat ich mit Kuki BodyART, das Fachgeschäft für masochistisch veranlagte Selbstverstümmler. Prost Mahlzeit!
Der erste Eindruck war überraschend. Positiver als erwartet. Dieser Laden war anders. Vorletzten Sommer war ich mit Maik in Hamburg gewesen. Maik war gerade 15 geworden und hatte sich die fixe Idee in den Kopf gesetzt, sich einen Adler, ausgerechnet einen Adler, auf die Schulter tätowieren zu lassen. Nachdem wir eine halbe Stunde wie die Hühner um das Tätowierstudio geeiert waren und uns endlich trauten, den Laden zu betreten, passierten genau zwei Dinge gleichzeitig.
Das eine Ding war, dass ich den Laden einfach scheußlich fand. Er war so, wie man sich ein Tätowierstudio landläufig vorstellt. Auf einem alten Friseurstuhl saß ein Prototyp eines Motorradrockers (siebziger Jahre ließen grüßen), fett, Bart bis zum Bauchnabel, Bandana, Lederweste, halt das Klischee pur. An den Wänden hingen massenweise Flashes, also Vorlagen. Eines scheußlicher als das andere. Für mich war der Laden zum Abgewöhnen. Ein echter Abtörner. Sauber, aber schäbig. Maik hingegen schien er zu gefallen. Seine Augen hatten dieses glasige Leuchten, das er sonst nur bei den Milchdrüsenbehältnissen weiblicher Menschen bekam. Ansonsten war der Raum von einem monotonen Summen durchflutet.
»Und wo's wolld ihr hür?«, ein kleines Hutzelmännchen tauchte hinter der Rockerqualle auf. In der Hand hielt es eine Tätowiermaschine, der Quelle des Summtons.
»Adler«, Maiks Sprache war etwas stockend, die ansonsten so große Klappe hatte Ladehemmungen, »Ich möchte einen Adler auf die Schulter haben. Den da ...«
Maik zeigt mit dem Finger auf ein Flash. Instinktsicher hatte er das scheußlichste Exemplar aller ausgestellten Adler ausgesucht.
»Ok, sünd doine Alten einverstanden?«
»Klar!«, eine Lüge, die wussten nix und würden Maik den Kopf abreißen.
»750,- Tacken. Das ist nicht verhandelbar.«
Maik wurde erst rot, dann blass. Wenn er mit allem gerechnet hatte, dann nicht, dass tätowieren so teuer ist. Ich hatte mal was in einer Jugendzeitung darüber gelesen. Die schrieben, dass man wirklich niemals handeln sollte, andernfalls konnte es passieren, dass man statt mit einem Adler mit einer Waschmaschine auf der Haut rumlaufen muss.
»Echt? So teuer?«, Fehler, Maik, das war ein Fehler.
»Ey, woas denkt ihr woas ich hier moche? Wir sin' hür nich im Kindergarten. Also, wenn dir das zu toier is', hau wieder ab. Los verpisst oich. Ich muss weiterarbeiten.«
Sprach's und verschwand wieder hinter dem Fleischkloß. Das Summen setzte auch wieder ein. Soweit Maik und sein Versuch, sich tätowieren zu lassen. Soweit ich weiß, ist es bisher auch bei diesem einen Versuch geblieben.
Mein Bild von einem Tätowier- und Piercingstudio war also negativ vorbelastet. Umso überraschter war ich von BodyART. An den Wänden hing kein einziges Flash. Ganz im Gegenteil, die Wände und Decken waren kunstvoll bemalt. Der Laden schien recht groß zu sein. Es gab einen Eingang im Hochparterre und einen zweiten, der ins Kellergeschoss führte. Typischer Berliner Altbau. Kuki hatte mich zum Eingang Hochparterre geführt. Ich hatte nicht den Eindruck, mich in einem Tätowierstudio zu befinden, eher in einem biologischen Archiv. Der Empfangsraum war sehr kreativ-krass eingerichtet. Glasbehälter mit in Formalin eingelegten Präparaten standen in antiken Vitrinen, Halogenlichter beleuchteten Bilder und Fotografien. Neben Körperkunst schien der Laden auch eine Galerie zu sein, alle Bilder hatten kleine Schilder mit Titel, Namen des Künstlers und einem Preis. Es war erotische Kunst, sogar ziemlich schwul. Allerdings sah man das erst auf den zweiten Blick. Man musste schon sehr genau hinsehen.
In der Mitte des Raums stand ein kleiner Glastresen. Dahinter, auf einem echten 70iger Jahre Plüschbarhocker saß Svenja.
»Hallo Kuki!«, Svenja strahlte über alle Metallstifte. Die gute Frau, ich schätzte sie so auf um die 24, war noch um Klassen stärker durchlöchert, als mein kleiner Freund neben mir, »Ist das unser Opfer?«
Damit war ich wohl gemeint. Schluck!
»Genau! Svenja, das ist Svenni. Svenni, das ist Svenja!«
»Hi!«, nur nicht den Mund öffnen, sonst sticht sie noch sofort zu.
»Hallo Svenni. Komm ruhig näher. Ich beiß nicht und stechen tu ich auch noch nicht. Wollt ihr was trinken? Kekse?«
»Klar, Saft, so wie immer. Kekse hab' ich mitgebracht.«
Kuki und Svenja schienen sich offenbar sehr gut zu kennen.
»Na dann kommt mal mit.«
Wir folgten. Svenja führte uns durch den Empfangsraum zwei Stufen hoch in einen kleinen Flur, von dort eine steile Treppe hinab. Wahnsinn, jeder Raum war anders gestaltet. Wir landeten im Keller in einem langen Flur. Dieser war in einem leuchtenden, dunklen Blau gestrichen, der Boden bestand aus einem Mosaik aus winzigen kleinen glasierten Tonscherben. In diesem Laden hatten sich ein oder mehrere Leute wirklich künstlerisch ausgetobt. Von Schäbigkeit, wie in dem Hamburger Shop war nichts zu sehen. Stattdessen eine ungeheure Liebe zum Detail. Meine anfängliche Furcht war fast verflogen.
Völlig überwältigt hatte ich den Anschluss verloren und war in einen der Räume gelangt, in dem gerade tätowiert wurde. Auch das war anders. Der Typ auf dem Stuhl war ein ausgesprochen gut aussehendes Exemplar der Gattung Junge, so um die 19 Jahre alt. Gut gebaut, einfach zum Anknabbern. Er hatte sein T-Shirt ausgezogen und saß auf einem Stuhl. Eine junge Frau, vielleicht 27 Jahre alt, war dabei, Farbe unter die Haut des Jungen zu bringen. Als sie mich sah, lächelte sie und meinte: »Hi, komm ruhig näher, wir beißen nicht.«
Ich trat näher und betrachtete das Werk. Es war Kunst! Auf einem Tisch lag eine Vorlage, ein teures Buch mit Reproduktionen von Gemälden, ich glaube Hieronymus Bosch. Die Frau schien ihr Handwerk perfekt zu beherrschen. Mit Filzstift hatte sie offenbar freihändig das Outline auf die Haut gemalt und zeichnete jetzt die Linien mit der Tätowierpistole nach. Es war wirklich beeindruckend, ihr bei der Arbeit zuzusehen.
»Ach hier steckst du. Komm, dein Saft ist fertig«, Kuki hatte mich gesucht.
»Hallo Kuki, na, auch mal wieder da?«
»Hi, Doris. Hast du dir meine Entwürfe mal angesehen?«
»Yap!«
»Und?«
»Ich bin begeistert. Du hast wirklich Talent. Ich würde die Arbeit gerne für dich machen. Was meinst du?«
»Ey, super. Klar machen wir das. Wow, hätte ja nicht gedacht, dass dir das gefällt. Lass uns nachher gleich Termine machen.«
»Oh, oh, vor in drei Monaten hab' ich nix frei.«
»Du bist einfach zu gut.«
»Ja, leider. Keine Freizeit. Aber was bringt dich denn heute zu uns?«
»Dieser nette Junge hier soll sein erstes Piercing bekommen.«
»Wo denn?«
»Zunge!«
»Eine ausgesprochen gute Entscheidung! Ist er dein Freund?«
»Ein Freund ...«, sagte Kuki. Es klang aber wie: »Ein Freund, aber leider nicht mein Freund.« Kuki, es tut mir wirklich leid.
Ich muss wohl ziemlich verunsichert ausgesehen haben. Doris lächelte in meine Richtung.
»Kuki, ich glaube, wir haben deinem Freund Angst gemacht ...«
»Das muss er abkönnen. So Svenni, lass uns Saft trinken!«
Svenja erwartete uns in einer kleinen Küche mit den Säften. Das mit den Säften muss wohl sowas wie ein Ritual sein. Jedenfalls wurden wir mit Keksen und Bananensaft (mit einem Schuss Kirschsaft, sieht einfach genial aus) erwartet. Wir tranken Saft und knabberten Kekse. Svenja und Kuki schienen sich schon lange zu kennen. Die beiden unterhielten sich über Gott und die Welt. Ab und zu warf ich auch ein paar Gesprächsbrocken ein, aber eigentlich war ich viel zu aufgeregt. Ich muss zugeben, Svenja war eine Nette. Und ich entspannte mich - fast.
Irgendwann meinte Svenja dann: »Ok, wollen wir?«
Nicht wirklich, aber was macht man nicht alles für die Freundschaft.
4.20. Kuki, ich und die Kanüle des Grauens
Wir verließen den Keller und kletterten die Treppe zum Empfangsraum hoch. Von hier aus ging es in einen warmen, hellen Raum. Auch dieser Raum war kunstvoll bemalt. Ansonsten war er sehr sachlich und klinisch eingerichtet. Ein kleiner Metalltisch, wie man ihn bei Ärzten sehen kann, eine Liege, zwei Stühle, ein Rollhocker, ein Sterilisationsapparat, Nierenschalen und Petrigläser, Desinfektionsmittel, nach denen es auch roch und eine kleine Glasvitrine mit Piercingschmuck aller Art.
Ok, dies war wohl der Raum, an dem meine Zunge ein Loch erhalten sollte, das von der Natur nicht vorgesehen war.
»Gut!«, Svenja wurde plötzlich ernst, »Fangen wir an. Erstmal machen wir den theoretischen Teil. Ich werde dir genau erklären, was ich machen werde, dann wie du dein Piercing zu pflegen hast und schließlich werden wir dann zur Tat schreiten. Natürlich nur, wenn du es auch willst. Soweit alles klar?«
Ich schluckte, sagte aber »Ja!« Wieso sagte ich ja? Hilfe, war ich jetzt auch schon Kukis Wahnsinn verfallen. Merkwürdig, aber irgendwie schreckte mich der Gedanke an das Zungenpiercing ab und gleichzeitig war ich von der Idee fasziniert und begeistert.
»Ok! Nachdem ich dir alles gleich erklärt habe, musst du mir als Erstes diese Erklärung unterschreiben. Darin sicherst du mir zu, dass ich dich auf deinen eigenen Wunsch hin gepierct habe. Rechtlich würde ich sonst nämlich eine vorsätzliche Körperverletzung begehen. Kuki, hast du das OK seiner Eltern?«
»Yap!«
»Wie bitte? Meine Alten haben zugestimmt?«, da war ich doch wirklich verblüfft. Ich glaube, ich muss mal ein ernstes Wort mit meinen Erzeugern wechseln.
»Also, die Sache läuft folgendermaßen ab. Zuerst werde ich mit einem Filzstift den Punkt festlegen, wo ich stechen werde. Die Zunge ist eigentlich nur ein großer Muskel und relativ leicht zu piercen. Komplikationen können dann entstehen, wenn entweder ein Stümper nicht genug anatomische Kenntnisse besitzt oder durch eine Infektion. Deswegen wirst du dir deinen Mund mit einer Desinfektionslösung ausspülen. Sei bitte sehr gründlich. Mit einer Infektion ist nicht zu spaßen. Das mit der Anatomie ist eine andere Sache. Wird falsch gepierct, können Nerven zerstört werden und es kann zu einer Lähmung im Mundraum kommen.«
Svenja macht mir echt Mut. Infektion. Lähmung. Noch irgendwas?
»Wenn der Mund dann sauber ist, werde ich dir die Zunge mit einem lokal wirkenden Anästhetikum einpinseln.«
Das klang nun wieder nicht so schlecht.
»Wenn dann die Wirkung einsetzt und du mir nochmal gesagt hast, dass du es wirklich willst, kommt dies hier ins Spiel.«
Svenja hielt mir eine steril verpackte Injektionsnadel hin. Mein Herz rutschte wieder in die Hose. So ein Ding macht doch Löcher, ganz, ganz große Löcher. Hilfe!
»Diese Kanüle ist mit einem Silikonschlauch ummantelt. Nachdem ich deine Zunge durchstoßen habe, ziehe ich die Nadel wieder raus, der Schlauch bleibt aber drin. In das Ende des Schlauchs stecken wir dann deinen Barbell, ziehen dann am Schlauch und schwups, dein erstes Piercing steckt in deiner Zunge. Nur noch zuschrauben und fertig. Alles klar?«
Ich nickte. So richtig überzeugte mich die Idee immer noch nicht. Auf der anderen Seite, wenn ich so an Timmy dachte - wir hatten schon viel Spaß mit seinem Piercing gehabt.
»Gut. Da deine Zunge die ersten Tage ziemlich dick sein wird, erhältst du zuerst einen längeren Stift, den tauschen wir nach ein paar Wochen aus.«
Hatte sie Wochen gesagt?
»Aus der Apotheke holst du dir noch Mittel zum Mundspülen. Welches das ist, steht auf dem Zettel, den ich dir noch mitgeben werde. Ach ja, während der Abheilzeit auf keinen Fall Milchprodukte essen. Die enthalten Milchsäurebakterien, mit denen du dir garantiert eine Infektion einhandeln würdest. Und noch was: keinen oralen Sex. Also nichts blasen!«
Wie? Ich durfte mit Timmy keinen Spaß mehr haben? Wozu denn dann überhaupt der Rügenausflug? Jetzt war ich wirklich hin- und hergerissen. Die Prozedur klang gar nicht mehr so schlimm, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Aber die Nebenwirkungen wie geschwollene Zunge, keine Milchprodukte, ständig Mundspülungen und vor allem die Einschränkung beim Sex, sprachen dann doch gegen die ganze Geschichte. Auf der anderen Seite fand ich Timmys Piercing inzwischen richtig geil und hätte schon gern auch eins gehabt.
Kuki schien meine Bedenken erraten zu haben: »Svenni?«
»Ja?«
»Du musst es wirklich nicht machen lassen. Wenn du nicht willst, dann lass es. Bitte, fühl dich jetzt bloß zu nichts verpflichtet. Nur weil ich dir dieses blöde Geschenk gemacht habe, musst du dir keine Löcher in deinen Körper bohren lassen.«
Das hätte er mir aber auch früher sagen können.
»Aber ich glaube, du willst es ... stimmt's?«
Ertappt! Ja, ich wollte! Ich hatte einfach nur die Hosen voll, gestrichen voll, bis zum Rand.
Svenja griff ein: »Kuki hat Recht. Du musst nichts machen. Wenn du nicht willst, dann ist das auch für mich ok und Kuki bekommt seine Kohle zurück. Dafür ist er ein viel zu guter Kunde.«
Dass Kuki ein guter Kunde war, brauchte sie nun wirklich nicht extra sagen, das sah man auch so.
»Ich will ja schon ...«, druckste ich kleinlaut rum, »ich hab' nur, ähm, naja, so'n bisschen Angst.«
Als Antwort nahm Kuki meine Hand: »Keine Angst, ich halte dir dein Händchen. Ok?«
»Ok!«
Und dann ging„s los.
Ich tätigte also die Unterschrift, die mein Schicksal besiegeln sollte.
Als Antwort nahm Svenja einen Filzstift und ich streckte ihr meine Zunge entgegen. Svenja schaute, zielte, markierte und hielt mir einen Spiegel hin.
»Ok?«
»Ok!«
Wie angedroht, musste ich mir als nächsten den Mund mit einer Desinfektionslösung ausspülen. Ziemlich scheußliches Zeug. Naja, wenn's hilft. Währenddessen entnahm Svenja einen Stift, einen Barbell aus der Vitrine und legte ihn in eine Petrischale samt etwas Desinfektionslösung. Anschließend nahm sie die kleine Flasche mit dem erwähnten Lokalanästhetikum und tupfte meine Zunge damit ein. Super Zeug, das Teil in meinem Mund verwandelte sich innerhalb weniger Minuten von einer Zunge in einen schlaffen Wischmopp. So fühlte sich das Ding jedenfalls an.
»Gut, jetzt kommt die Frage: Willst du wirklich!«
Nein, natürlich nicht: »Ja! Leg los!«
Svenja nickte. Sie öffnete die Verpackung der Kanüle, legte ein paar sterile Gummihandschuhe an, nahm die Kanüle in die Hand und näherte sich unaufhaltsam meinem Mund.
Was tat ich da eigentlich? So einem blöden Modetrend folgen? Svenni, der coole? Ein echter Kerl? Wem wollte ich hier eigentlich was beweisen? Denn genau genommen wollte ich fliehen, die Beine in die Hand nehmen und weg, nur eine mich vollständig ersetzende Leere hinterlassen. Wollte ... aber irgendwas hielt mich zurück. Nein, es war nicht Kuki, der mir meine Hand hielt. Das war schon peinlich genug! Wie konnte ich in diesem Moment überhaupt an etwas anderes denken, aber Kukis Händchen zu spüren, gefiel mir richtig gut. Shit, Timmy, ich liebe dich und werd' dir immer treu sein, aber Kuki, dieser süße Kerl macht mich einfach mürbe! Ich bin einfach Wachs in seinen Händen. Wo waren bloß meine Gedanken? Eine mit doppelt so viel Metall wie Kuki behängte Frau wollte mir ein Loch in meine Zunge rammen und ich stellte vergleichende Betrachtungen über die Erotik meiner besten Freunde, Kuki und Timmy, an. Was für ein Schwachsinn! War ich dermaßen durch den Wind?
»So, fertig!«
Wie bitte? Ich war so mit meinen Gedanken beschäftigt, dass ich gar nicht bemerkt hatte, dass ich meine Zunge nicht schreckhaft in meinen Mund zurückgezogen hatte. Umso verblüffter war ich, als ich vor meine Nase einen kleinen Silikonschlauch rumpendeln sah, der eindeutig in meiner Zunge steckte. Wie ich den Schlauch so betrachtete, merkte ich auch langsam, dass es verdammt fies in meiner Zunge ziepte. Von wegen Betäubung!
Svenja war schon längst einen Schritt weiter und fummelte am unteren Ende des Schlauchs rum. Mit einer plötzlichen Handbewegung schnappte sie den Schlauch, zog vorsichtig dran und »Plöpp« war der Schlauch weg. Ein paar Handgriffe später sah Svenja sehr zufrieden aus.
»Perfekt!«, und hielt mir den Spiegel hin. Dort wo eben noch ein Filzstiftpunkt war, funkelte jetzt ein süßer kleiner Barbell.
»Herzlichen Glückwunsch, du hast soeben dein erstes Piercing erhalten.«
Ja, ja, danke, ich armes gelochtes Schwein ich.
4.21. Back to school
Portland
»Und, hast du Angst?«, Thimo schielte von seinem Fahrersitz zu Marcel herüber.
»Klar! Meine Hände sind so nass, darin könnte jemand ertrinken«
Es war der Montag, an dem die beiden das erste Mal wieder ihre so heißgeliebte High-School besuchen durften. Aus medizinischer Sicht sprach nichts mehr dagegen, dass Thimo nicht wieder am Unterricht teilnehmen könnte. Bei Marcel, der ja viel mehr geschwänzt hatte, als dass er wirklich krank war, sprach sowieso nichts gegen etwas Wissensaufnahme.
Was die beiden beunruhigte, war der Umstand, dass es nicht nur ihr erster Schultag nach ihrer längeren Abwesenheit war, sondern es vielmehr das erste Mal sein würde, dass beide Jungs ihren Gegnern von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten würden. Und die ganze Schülerschaft würde dabei zuschauen. Das war fast ein Argument, gleich wieder umzukehren und sich unter der Bettdecke zu verkriechen.
»Wir sind da«, eine ebenso wichtige, wie sinnvolle Aussage. Thimo hatte seinen Wagen auf dem Schulparkplatz zum Stehen gebracht. »Alles klar?«
»Nein! Also los ...«
»Hymne?«
»Junge, du siehst zu viele schlechte Fernsehserien ...«
»Kuss?«
Thimo sah sich vorsichtig um. Es war niemand zu sehen. Die zwei Jungs nutzten diese letzte Gelegenheit, um die jeweils andere Mundhöhle zu erforschen.
»Rucksack?«
»Check!«
»Kleidung?«
»Check!«
»Arrogant coole Sonnenbrille?«
»Check!«
»Mentale Stabilität?«
»Check!«
»Pokerface?«
»Check!«
»Ok, wir haben Green for GO! «
Zwei Autotüren wurden mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks absolut synchron geöffnet. Die MIB-Agenten T. und M. traten ins Freie, die Autotüren genauso perfekt zuschlagend, wie sie vorher geöffnet wurden. Unbeteiligte Zuschauer dieser Szenen meinten später, sie hätten tatsächlich dramatische Hintergrundmusik gehört. Agent M. und Agent T. steuerten auf das Gebäude zu. Ein bedrohlich wirkender Moloch aus Stahl, Beton und Glas. Liberty High war über die Eingangstür geschrieben worden. Welch eine Verhöhnung der Realität. Von Freiheit hatte man an dieser Stätte der Wissensvermittlung noch niemals etwas gehört.
Linker und rechter Flügel der Eingangstür flogen zeitgleich auf. M. und T. betraten den Hauptflur der Liberty High. Sämtliche anwesenden Augenpaare wandten sich ihnen zu. Jegliches lautes Gespräch brach ab. Wenn gesprochen wurde, dann nur noch hinter vorgehaltener Hand und im Flüsterton.
»Thimo?«, so ganz der Coole war Marcel dann doch nicht.
»Ja?«, zischte Thimo ganz leise zurück.
»Sie starren uns an.«
»Irrtum, nimm es mir nicht übel, aber sie starren mich an!«, und das war nicht sehr witzig.
»Stimmt. Nervös?«
»Ja, ich pisse mir gleich in die Hose!« Naja, so ganz war Thimo nicht bei der Wahrheit. Es war aber ein verdammt merkwürdiges Gefühl, von allen möglichen Leuten angegafft zu werden. Was wussten sie? Was hatte Brandon durchsickern lassen? Welcher unverdauliche Brei an Wissen, Halbwissen und Vermutungen waberte durch ihre Hirne?
»Rettung naht. Da vorn sind die anderen.« Thimo hatte am Ende des Ganges, an dem sich die Schließfächer befanden, Tom, Peter und Jana entdeckt.
»... und ein Albtraum kommt von links.« Marcel deutete in den aus eben jener Richtung zulaufenden Gang. Amber Wilson kam huldvoll wie immer den Quergang herab, das heißt, sie ging nicht, sie schritt. Das Unvermeidliche geschah. Amber entdeckte die beiden Jungs und steuerte zielstrebig auf Thimo und Marcel zu.
»Hallo Thimo, mein Schatz! Marcel«, ihre Stimme war zu Thimo so süß wie Honig, in dem man massenweise Zyankali aufgelöst hatte. Die Begrüßung von Marcel hatte hingegen die Qualität, mit der man ungeliebte Verwandtschaft begrüßt.
»Das ist ja toll, dass ihr beiden wieder da seid«, eine offensichtliche Lüge, aber mit einer fast glaubwürdigen Stimme vorgetragen.
War es Einbildung oder legte Amber eine besondere Betonung auf die Worte »ihr beiden«? Thimo war sich nicht sicher. Es könnte genauso gut sein, dass er in ihre Stimme etwas hineininterpretierte, was gar nicht da war.
»Hallo Amber«, immer schön neutral bleiben. »Gut wieder hier zu sein. Wie geht„s denn so?«
Amber sah Thimo mit einer Mischung aus Verblüffung, Erstaunen, Verlangen, Geilheit, Irritation und Abneigung an. Sie war immer noch eindeutig scharf auf Thimo, doch hatte sich etwas in ihrem Verhalten geändert. Wusste sie Bescheid?
»Och, es geht. Während du gefehlt hast, war es hier ja soooo langweilig«, die Girlienummer kam perfekt rüber. Amber-klein spielte verlegen mit ihren Haaren, indem sie mit dem Mittelfinger kleine Locken aufdrehte.
»Wirklich? Besitze ich einen so hohen Unterhaltungswert?«
»Ja aber natürlich, mein Schatz. Als wir von deinem ähm, kleinen Unfall erfuhren, waren wir alle entsetzlich schockiert.«
Marcel platzte der Kragen. Ambers Scheinheiligkeit und gespielte Naivität hatten ihn schon mehrfach auf die Palme gebracht.
»Kleiner Unfall?«, dass er Amber anblaffte, überraschte nicht nur Marcel selbst, auch Amber, an die die Message gerichtet war, sah Marcel überrascht an.
»Ich wüsste nicht, dass ich mit dir gesprochen hätte!«, Marcel oder eine Kakerlake, für Amber gab es dazwischen nur marginale Unterschiede.
»Oh, ist unsere Hoheit verärgert? Weißt du Amber, es ist mir völlig egal, ob du mich angesprochen hast oder nicht. Aber den Überfall auf Thimo einen kleinen Unfall zu nennen, ist schon ziemlich dreist, sogar für dich.«
Amber trat Marcel fast auf die Füße. Um ihren nächsten Sätzen mehr dramatischen Pathos zu verleihen, hatte sie Marcel am Kragen seines T-Shirts gepackt und bis auf wenige Millimeter zu sich herangezogen. Jetzt konnte sie ihm von Angesicht zu Angesicht zuzischen.
»Du warst schon immer ein widerlicher kleiner Wurm, Marcel, aber ich warne dich, provoziere mich nicht! Ich glaube kaum, dass du es gerne erleben möchtest, wenn die ganze Schule von deinem kleinem Geheimnis wüsste, oder? Du weißt doch, dein Arsch gehört Scott!«
Sie wusste es nicht! Nach dieser Äußerung war sich Thimo sicher, dass Amber nicht wusste, dass er schwul war. Weder Scott, Brandon oder dessen Spießgesellen hatten etwas gesagt. Thimo überkam eine Idee: Marcel vor Ambers Augen in den Arm zu nehmen und durchzuküssen. Das würde sie wahrscheinlich aus dem Konzept bringen. Er lächelte, leider zum falschen Zeitpunkt. Amber missinterpretierte Thimos Lächeln.
»Ah, so ist das. Wow, Thimo, du bist wirklich cool. Scott abserviert, die Position des VC zu gut wie sicher in der Tasche und jetzt übernimmst du auch noch Scotts Lieblingsarsch. Meine Hochachtung ...«, Amber ließ von Marcel ab und begann wieder lüstern an Thimos Hemd rumzunesteln, »... wir sollten unser kleines privates Treffen unbedingt bald nachholen.«
War diese Frau wirklich so beschränkt, dass sie ernsthaft dachte, Thimo wäre in die Fußstapfen von Scott getreten? Offensichtlich. Thimo packte Ambers Arm am Handgelenk und zog die fummelnde Hand sanft aber nachdrücklich von seinem Körper weg.
»Amber, hör bitte auf damit! Und rede nicht so über Marcel. Er ist mein Freund und hat wie jedermann Respekt verdient.«
Thimos Augen funkelten leuchtend grün, sein Gesichtsausdruck war hart und eiskalt. Amber zuckte zurück als hätte sie ein Insekt gestochen. Sie wollte sich losreißen, aber Thimo hielt immer noch ihr Handgelenk fest. Amber bekam Angst. Diese Seite von Thimos Charakter hatte sie noch nie gesehen. Nur sehr wenige Menschen hatten diesen Thimo jemals vorher gesehen. Thimo war immer der nette, gute, süße, freundliche Sunnyboy, ein verspielter Sportcrack zum Knuddeln. Jemand, den man als Freund haben wollte. Aber diese Person war in diesem Moment verschwunden. Vor Amber stand ein harter, eisiger, machtvoller und Respekt einflößender Racheengel. Es schien fast, als wenn Thimo gewachsen wäre.
»Du tust mir weh!«, Amber versuchte sich Thimos Griff zu entwinden. Es tat nicht wirklich weh. Seine Hand hielt Ambers Handgelenk fest, aber er schnürte es nicht zu. Schmerzen empfand Amber nur wegen ihrer verletzten Eitelkeit.
»Wirst du aufhören, Marcel zu tyrannisieren?«
»Was... «, zischte Amber, »... wirst du mich sonst schlagen?«
»Glaubst du das wirklich?«
»Nein!«, Amber fühlte sich gleichzeitig von Thimos starker Charakterseite fasziniert, angezogen und gedemütigt. »Ok, ich hab' verstanden. Marcel steht also unter deinem Schutz.«
»Nichts hast du verstanden! Marcel braucht keinen Schutz. Weder vor dir, noch vor irgendjemand anderem!«, Thimo ließ Ambers Arm los. »Auf Wiedersehen, Amber!«
Völlig verstört und unschlüssig, was ihr gerade passiert war, trollte sich Amber. Einer Sache war sich Amber immerhin sicher: Sie war stinksauer! Eine ihrer Hofschranzen, die nicht schnell genug Platz gemacht und sogar gewagt hatte, sie in ihrem Zustand anzusprechen, war ein willkommenes Ziel, um etwas von ihrem Zorn loszuwerden: »Verpiss dich Cynthia!«
Thimo wechselte wieder auf Sunnyboybetrieb.
»Wow, Thimo! Du hast mir echt Angst gemacht. So kenn ich dich gar nicht.« Marcel sah ängstlich aus.
Thimo sah Marcel mit traurigen Augen an: »Sorry, Babe! Ich wollte das eigentlich nicht, aber wenn mich Leute so aufregen ... ich kann das nicht kontrollieren ... ich hoffe, ich habe nichts falsch gemacht und dich bloßgestellt. Schließlich hab' ich ihr eben gesagt, dass du mein Freund bist.«
»Eben, mein Freund, nicht mein Freund! Scott scheint ihr wohl gesteckt zu haben, dass ich ihm meinen Arsch hingehalten habe. Offensichtlich weiß sie auch, dass ich schwul bin. Scheiß drauf, egal! Nur dich hält sie jetzt für eine noch bessere Hete.«
»Wie bitte?«
»Naja, so wie du mich zu deinem Freund erklärt hast? Ich merk' schon, Rob hat dich noch nicht vollständig in den Verhaltens- und Kommunikationskodex der Liberty High eingeweiht. Deswegen jetzt die Übersetzung für dich. In der kruden Syntax dieser Anstalt bist du das Alphamännchen unserer Gruppe, als da wären Rob, Jana, Peter, Tom und ich. Mit deinem Footballspiel und deinem Sieg über Scott hast du dein Revier abgepinkelt, ähm, markiert. Tja, und jetzt hast du mich gerade unter deinen Schutz gestellt. Was soviel bedeutet, wenn mich einer anpinkelt, pinkelt er in Wirklichkeit dich an. Willkommen auf der Liberty High! Thimo, du bist ja sowas von mucho macho! Die Heterosexualität in Person. Meinen herzlichen Glückwunsch!«
Marcel amüsierte sich köstlich, während Thimo knallrot anlief. Diese Schule war das reinste Minenfeld und er hatte wohl gerade eine panzerbrechende Mine ausgelöst.
»Meinst du, ich habe Amber zu stark angepackt?«
»Nö, ganz im Gegenteil. Außerdem soll sie auf brutale Typen stehen.«
»Wie bitte?« Thimo war überrascht, nicht dass es ihn wunderte. Zwischenzeitlich hatte er begriffen, dass man sich in diesem Laden über nichts wundern sollte.
Marcel zuckte mit seiner Schulter. »Wundert dich das? Du weißt doch, dass sie mit Scott zusammen ist ... war. Er kann sehr brutal sein.«
An Marcels schmerzhaft verzogenen Gesichtszügen konnte Thimo ablesen, dass Scott sich nicht nur einfach nahm, was er wollte, sondern auch durchaus mal seinen Wünschen körperlich Nachdruck verlieh. Noch ein offener Punkt mehr auf Thimos Rechnung.
»Und Brandon? Sie soll jetzt mit ihm zusammen sein.«
»Keine Ahnung. Ehrlich gesagt weiß ich über Brandon verdammt wenig.«
4.22. Das Ende einer Schlacht
Die zwei Jungs hatten schließlich ihre Freunde erreicht. Nach einer allgemeinen Begrüßungszeremonie verabredete man sich zum Mittag in der Kantine und verteilte sich schließlich auf die jeweiligen Kurse. Für Tom und Thimo hieß dies Deutsch, wie jeden Montag.
»Oh, wie schön, dass du wieder an unserem Kurs teilnehmen kannst, Thimo. Wir haben uns alle ja so viel Sorgen gemacht nach deinem..., ähm Unfall«, Mrs. Klein gluckte wieder in ihrer mütterlichen Art herum.
»Ja, ich freu mich auch, wieder hier zu sein.«
Thimo spielte dieses merkwürdige Spiel mit. Für die Schule schien zu gelten: Business as usual. Thimo war krank gewesen. Ein Unfall. Das war's. Kein Wort über Gewalt unter Schülern, oder dass es eigentlich ein Versuch war, Thimo kalt zu machen. Es war ein Unfall. Unfälle unter Jugendlichen passieren. Thimo musste Tom fragen.
»Ist das die offizielle Sprachregelung? Ich hatte einen Unfall?«
Für sein Flüstern erntete Thimo von Mrs. Klein einen bösen Blick.
»Ja! Ist es! Wir reden später.«
Ein Anflug von Resignation überkam Thimo. Er lehnte sich in seinem Stuhl etwas zurück und musterte seine Kursteilnehmer. Obwohl er schon mehr als zwei Monate an dieser Schule war, kannte er die wenigsten. Bis auf den Namen wusste er von kaum jemandem mehr. Zum einen lag es daran, dass er außer in Deutsch mit dem Großteil der anderen Schüler keinen weiteren Kurs teilte. Es sah sich um. Sam, John und John, Barbara, Monica, Susan, Amber (eine andere), Will und Vanessa. Nur Namen. Aber diese Namen schienen Thimo besser zu kennen, als er sie. Er wurde beobachtet, jede Regung, jede Äußerung wurde registriert. Nun gut, sollten sie.
Der Unterricht schleppte sich so dahin. Nach einer längeren Abwesenheit ist der erste Tag immer etwas merkwürdig. Thimo fand es anfänglich schwierig, sich zu konzentrieren und dem Unterricht zu folgen, aber mit der Zeit kehrte die alte Routine zurück.
Nach der zweiten Stunde fing ihn Skinner ab.
»Ah, Camron-Bach, gut Sie wieder bei uns zu haben. Kommen Sie bitte morgen Nachmittag bei mir vorbei, damit wir Ihr Aufbauprogramm besprechen können.«
Einwände und Widerspruch wurden von Skinner weder erwartet noch geduldet, womit das Gespräch genauso schnell endete, wie es begonnen hatte. Die zweite Hälfte des Vormittags zog sich endlos lange hin. Ein ausgelutschter Kaugummi war spannender als jeder Unterricht. Und immer wieder diese neugierigen Gesichter, das Tuscheln hinter vorgehaltener Hand, ein übertrieben respektvoller Abstand, wenn Thimo durch die Gänge ging.
»Lasst mich hier raus!«, dieser Gedanke wurde zur Mantra des Tages. Erfüllt wurde der Wunsch allerdings nicht.
Mittagspause. Thimo hatte Schwierigkeiten, sich einen Weg durch die Massen zur Kantine zu bahnen. Es schien, als wenn die gesamte Schülerschaft im Moment nur ein Ziel kannte: die Kantine. Erwarteten sie etwa einen Show-Down? Einen Dialog wie: »Diese Schule ist zu klein für uns beide! Du hast bis heute Abend Zeit, die Schule zu verlassen?« Wahrscheinlich.
Die Kantine war zu 217% gefüllt. Die Schulküche hatte ernsthafte Probleme, die plötzliche Nachfrage zu befriedigen. Kaum betrat Thimo den Saal, wurde es schlagartig sehr ruhig. Alle Augen richteten sich entweder auf Thimo oder auf Scott, der alleine an einem Tisch saß und schweigend sein Mittagessen futterte. Scott wirkte gealtert und müde.
Der Aufbau der Szene konnte spannender nicht sein. Am einen Ende befand sich der Tisch mit Thimos Freunden: Rob, Jana, Peter, Tom und natürlich Marcel. Am anderen Ende der Kantine standen die Tische mit Brandon und Amber sowie ihrem jeweiligen Hofstaat. Genau in der Mitte zwischen den beiden Fraktionen saß Scott, das Gesicht der Eingangstür zugewandt. Thimo musste also zwangsläufig Scott in die Augen sehen. Linker Hand lagen seine Freunde rechts seine Feinde. Und was war Scott? Ein, nein, der Unsicherheitsfaktor!
Thimo wusste, dass er von wirklich allen Augen beobachtet wurde. Allerdings war ihm nicht ganz klar, was von ihm erwartet wurde. Er hatte Scott seine Meinung mit seinen Fäusten mitgeteilt. Etwas, auf das er nicht sonderlich stolz war. Aus seiner Sicht gab es nichts mehr zu sagen. Außer natürlich dem Thema Marcel. Aber mit seinem Liebling war er übereingekommen, dass Marcel das selbst klären wollte.
Thimos Beobachtung war nicht ganz korrekt, nicht alle Augenpaare waren auf ihn gerichtet. Ein Augenpaar stierte auf sein Essen. Scott hatte Thimo gesehen, zur Kenntnis genommen und gesenkten Hauptes weitergegessen.
Das Volk wollte eine Show? Gut, sie sollten ihre Show bekommen. Thimo grinste, als ihm eine Idee durch den Kopf schoss und sich als ganz brauchbar festsetzte. Er ging zum Tresen, holte sein Essen, ging zu einem Tisch, an dem nur eine Person saß, und fragte freundlich: »Ist hier noch Platz?«
Im Saal wurde es noch ruhiger, als es eh schon war. Der Angesprochene schaute verblüfft auf und zuckte mit den Schultern. Thimo setzte sich der angesprochenen Person genau gegenüber. Ihre Tabletts waren nur millimeterweit voneinander entfernt. Keiner sprach auch nur ein Wort. Die Spannung stieg. Aus dem Publikum hörte man das eine oder andere Gewisper. Ansonsten würde die sprichwörtliche Stecknadel einen heiden Krach machen.
Thimo ergriff das Wort. Er sprach so leise, dass eigentlich nur sein Gegenüber seine Worte verstehen konnte.
»Das Volk scheint sehr gespannt zu sein ...«
Scott nickte: »Wundert dich das?«
»Nein! Nicht wirklich!«
»Thimo, was willst du von mir? Reicht dir dein Triumph nicht aus? Musst du dich noch an meinem Leid suhlen?«
»Oh, Scott, bitte kein jämmerliches Selbstmitleid. Das nimmt dir eh keiner ab.«
Scott grinste: »Nee, wohl nicht. Trotzdem, was willst du?«
»Zwei Dinge: Erstens. Warum das mit Marcel? Zweitens: Wer hat mich niedergestochen?«
»Ah, die Frage aller Fragen. Zu deiner letzten Frage: Ich weiß es nicht! Das müsstest du doch wissen. Schließlich hast du mich doch in das Reich der Träume geschickt. Aber wenn ich eine Vermutung anstellen sollte: Brandon! Aber das hast du vermutlich schon selbst rausgefunden.«
»Und Marcel?«
Scott setzte wieder dieses widerliche Grinsen auf, das bei Thimo erneut den Wunsch auslöste, ihn an Ort und Stelle ungespitzt in den Boden zu rammen.
»Oh ja Marcel ... du willst es also wirklich wissen? Ist er dein Freund? Liebt ihr euch? Bist du wirklich schwul?«, Scott strich sich über seine ungepflegten Dreitagebartstoppeln.
»Ich weiß zwar nicht, was es dich angeht. Aber ja, ich bin schwul und ja, ich liebe Marcel.«
Scott musterte Thimo, sein überhebliches Grinsen wich nicht eine Sekunde von seinen Lippen.
»Ok, fair ist fair. Ich hasse Marcel und ich liebe Marcel! Verrückt, was?«
»Nein! Weiter!«
»Du weißt, dass wir befreundet waren? Natürlich weißt du es. Blöde Frage. Ja, Marcel und ich, wir waren mal die besten Freunde, die man sich vorstellen kann. Kannst du dir denken, was es bedeutet hat, als er sagte er sei schwul? Nein? Natürlich nicht! Er hat alles zerstört! Er hat unsere Freundschaft betrogen.«
»Scott, du bist krank. Dieser Hass ist krank. Was haben wir dir getan?«
»Mag sein! Aber das war meine Meinung. Inzwischen ... naja, wenn„s Spaß macht. Jeder nach seiner Façon, solange ihr von meinem Arsch weg bleibt, aber es gibt andere, die nicht so tolerant denken wir ich«, ein Seitenblick auf Brandon, seine Leute und auf die Gruppe von Aushilfsnazis machten deutlich, wen er meinte. »Aber da ist noch mehr. Marcel kann mir dankbar sein, dass ich mit ihm ... du weißt schon ...«
»Dass du ihn vergewaltigt hast? Du tickst nicht richtig. Ich würde dich nur zu gern in deine Einzelteile zerlegen, aber ...«
»Oh, tu dir keinen Zwang an. Los! Tu es! Du tust mir nur einen Gefallen damit. Pah! Ob du es hören willst oder nicht. Wenn ich Marcel nicht ab und zu besucht hätte, er nicht unter meinem Schutz gestanden hätte, was glaubst du, was die anderen mit ihm gemacht hätten?«
Eine virtuelle Schlinge zog sich um Thimos Hals zu. Ein panisch, ängstlicher Blick in Richtung Marcel.
»Wer sind die anderen? Was meinst du damit?«, er ahnte es längst, wollte aber von Scott die Bestätigung seiner Befürchtungen.
»Glaubst du wirklich, du könntest an dieser Schule einfach offen als homosexueller rumlaufen? Träum weiter, Thimo! Träum weiter! Es gibt hier genug Idioten, die der Meinung sind, dass es sich dabei um ein Verbrechen wider der Natur handelt. Ein todeswürdiges Verbrechen! Ja, ich habe Marcel vergewaltigt, wenn du es unbedingt so ausdrücken willst. Ich sehe das etwas anders. Aber ich habe ihn auch geliebt und beschützt! Er war schließlich mein bester Freund. Und wenn dir wirklich was an ihm liegt, dann sieh' zu, dass du ihn keine Sekunde aus den Augen lässt. Ach ja, du selbst solltest auch immer schön auf deinen Arsch acht geben. Du warst ja so schlau, dich vor Brandon und mir zu outen. Sehr intelligent!«
Thimo zitterte. Dieses Gespräch hatte sich etwas anders entwickelt, als er erwartet hatte. Leicht wankend nahm er sein Tablett und ließ Scott an seinem Tisch allein zurück. Scott aß weiter, schmunzelte und schüttelte seinen Kopf.
»Thimo, was ist mit dir?«, Marcel sah, dass aus Thimos Gesicht sämtliche Farbe verschwunden war.
»Scott hat mir ein paar unangenehme Tatsachen klar gemacht!«
»Wovon sprichst du?«
»Wir mögen eine Schlacht gewonnen haben, aber der Krieg ist noch lange nicht zu Ende.«
Thimo ließ sich auf einen Stuhl plumpsen. Sein Blick schweifte durch die Massen. Nachdem das Gespräch zwischen Scott und Thimo so leise geführt wurde, dass niemand etwas davon mitbekommen konnte, und es leider auch nicht zu den erhofften Handgreiflichkeiten gekommen war, war man zum Normalbetrieb zurückgekehrt.
Thimos Blick wurde plötzlich erwidert. Brandon hatte ihn quer durch den Raum fixiert. Das eiskalte Augenpaar, das fiese Grinsen, das angestrengte Spiel seiner Kiefermuskeln übertrugen nur eine Botschaft: Hass!
4.23. Urlaub auf Rügen, oder "Surfin' MVP"
Rügen (und auf dem Weg dorthin)
»Na, wie geht es denn meinem Baby?«, ich saß mit Timmy auf der Rückbank des Sharans meiner Eltern. Wir waren seit ungefähr einer Stunde unterwegs. Obwohl es noch unverschämt früh am Morgen war - es war noch stockdunkel - herrschte auf der B96 schon massenweise Verkehr Richtung Norden.
»Du willft doch nur, daf ich dir waf vorlifple, du Arfff«, wer sich jemals die Zunge hat piercen lassen, weiß, mit welchen Schwierigkeiten ich zu kämpfen hatte. Es ist nämlich gar nicht so einfach, sich mit einer fast doppelt so großen Zunge wie gewöhnlich anderen Leuten gegenüber halbwegs verständlich zu machen. Mein Schatz amüsierte sich köstlich. Timmy grinste und küsste mich auf die Nasenspitze.
»Du klingst so süß!«
»Knurr!«
»Ihr Jungs spinnt! Svenni, musste das wirklich sein? Musstest du unbedingt diesem blöden Modetrend folgen?«, jetzt mischte sich auch noch meine Mutter ein.
»Daf war ein Geburtftagfgefenk von Kuki. Wie könnte ich daf ablehnen?«
»Naja, wenn dabei der eigene Körper verletzt wird ... Kuki, du warst nicht ganz ehrlich zu mir, als du von mir die Erlaubnis für Sven eingeholt hast ...«
Kuki sah schuldbewusst zu Boden und schwieg.
»Fon gut Mama, daf wird fon wieder.«
»Ich glaube, du solltest nicht versuchen zu sprechen.«
Also schwieg ich. Den Rest der Fahrt überließ ich jegliche Kommunikation meiner Mama, Tim, Nico, Holger und Kuki. Ziemlich öde, wenn man selbst nichts sagen kann.
»Kuki - ich darf dich doch Kuki nennen? - deine Eltern haben nichts dagegen, dass ihr alleine das Sommerhaus benutzt?«
»Nö. Die sind froh, dass es überhaupt mal genutzt wird. Ich glaube, wir waren dieses Jahr nur einmal da. Meine Eltern treiben sich in letzter Zeit mehr in anderen Ländern rum.«
Mir war das schon vorher aufgefallen, Kuki schien nicht sonderlich gerne von seinen Eltern zu sprechen, und wenn er es tat, dann immer sehr zurückhaltend.
»Ist da denn überhaupt genügend Platz für euch alle?«
Im Toyota von Dirks Eltern folgten noch Dirk, Biene, Svenni I und seine neue Freundin. Sie hieß Nina und war eine echte Überraschung. Es war eben jene Frau ohne Namen, die mir auf meiner Geburtstagsparty diesen netten Schreck eingebrockt hatte. Die Welt ist halt klein.
»Oh ja, Platz gibt es genug«, Kuki grinste.
In der Tat. Platz gab es wirklich genug. Die Bezeichnung Sommerhaus war eine dreiste Untertreibung. Sommerpalast wäre passender gewesen. Kukis Eltern hatten offenbar massenweise Kohle. Eine Tatsache, die man Kuki niemals anmerkte. Wie ich später erfuhr, hatten sie als gute Besserwessis dem Landkreis Rügen ein echtes Filetstück gleich nach der Wende für 'n Appel und 'n Ei abgekauft und darauf diesen Prachtbau errichtet. Es gab einfach alles. Schlafzimmer für alle Paare, ein riesiges Wohnzimmer, Schwimmbad und Sauna im Keller und eine Terrasse mit Blick aufs Meer. Das Grundstück reichte übrigens bis zum Strand. Die vorgelagerte ausgedehnte Rasenfläche bot sich mir praktisch zum Aufriggen meiner Surfsegel an. Mit anderen Worten: Es war perfekt!
Nach mehrfachen Ermahnungen von meiner und von Dirks Mutter, dass wir ja keinen Unsinn machen sollten, rauschten sie ab und ließen uns endlich allein. Juhu Ferien, wir kommen!
»Ich wufte gar nicht, daf deine Eltern fo viel Kohle haben.«
»Ach Svenni, vergiss meine Eltern!«, Kuki wirkte genervt.
»Nee, es belastet dich. Immer wenn deine Eltern zur Sprache kommen, wirkst du genervt. Was da los ist, möchte ich dann doch gerne wissen.«, Holger sah Kuki an. Kuki sah wechselweise mich und Holger an und zuckte schließlich mit den Schultern.
»Ok, ihr wollt was über meine Alten wissen? Gut. Wenn es denn sein muss. Also, die beiden betreiben eine gut laufende Werbeagentur. Und es stimmt. Wir haben Kohle ohne Ende - und ich hasse es. Ich hasse meine Eltern, weil sie denken sie können sich mit Geld alles kaufen.«
Oh, das klang nach der schlechten alten Geschichte: Geld statt Liebe.
»Zeit ist ein Luxusgut. Und Liebe kostet leider Zeit. Also kauft man sich vom Zeitbedarf frei. Ich brauch nur Pieps zu sagen und ich bekomme, was ich will. Toll was? Hm, naja nicht wirklich. Mir fehlen meine Eltern, jemanden mit dem ich auch mal reden kann. Aber der beste Weg, mit meinen Eltern zu sprechen, ist ihnen ein Memo zu schicken. Aber wieso sollte ich besser dran sein, als die beiden selbst. Ich glaube, meine Eltern haben sich seit Wochen nicht mehr gesehen. Mum ist seit drei Monaten in der New Yorker Niederlassung und Paps sitzt seit einem Monat in Moskau. Was mit mir ist, ist ihnen wohl nicht egal, aber es würde halt Zeit kosten.«
»Wissen sie eigentlich, dass du schwul bist?«
»Nö, wohl nicht. Wäre nämlich egal. Wisst ihr was sie zu meinem ersten Piercing gesagt haben?«
Kuki zeigte auf seinen Septumring.
»,Kuki', ist das ein Trend bei euch Kids? Wir müssen gleich mit den Kreativen reden! Ich hab' da so eine Idee für Pepsi!«, so haben sie reagiert. Ich geb's zu, ich wollte sie mit dem Ring schocken, mal aufwecken. Und was machen die beiden? Nehmen das als Idee für einen Werbespot! Tolle Eltern! Ich glaub, wenn ich denen erzähle, dass ich schwul bin, werden die gleich mit einer Idee für schwule kaufkräftige Jungs kommen.»
Kuki seufzte: »Aber was soll's? Wir sind ja nicht hier, um Trübsal zu blasen. Blasen können wir ja ganz andere Dinge ...«, ein Knuff von Holger, »... außerdem ist es ja noch recht früh. Gerade mal 11 Uhr. Was habt ihr denn so vor?«
Das war das Stichwort. Alle neun Leute begannen, unseren ersten Tag zu planen. Dirk, Biene, Nico, Sven I und Nina wollten ein bisschen die Insel mit den Fahrrädern erkunden, Holger und Kuki planten, sich mal um Schwimmbad und Sauna zu kümmern. Und Tim wollte mir beim Surfen zusehen und vielleicht auch mal selbst aufs Brett steigen. Gegen Abend wollten wir uns wieder treffen und zusammen etwas Kochen.
Die Fahrradgang war unterwegs. Ich sichtete mein Surfmaterial und das Wetter. Die Location hatte ein ausgedehntes Stehrevier von mindestens 250m, vielleicht sogar mehr. Der Wind war gut, so um die 5Bf, schräg auflandig und sehr konstant. Ich entschied mich fürs Windsurfen, für Kiteboarding gab es immer noch genug Zeit. Timmy half mir beim Aufriggen. Stark lispelnd konnte ich ihm gleich eine kleine Einweisung in die Materialkunde geben.
»Nein, daf ift kein Zfipfel fondern das Fothorn.«
»Fothorn!«
»Schothorn! Aua!«
Brett und Segel waren aufgebaut. Es war Ende Oktober, die Lufttemperatur lag bei 16 Grad, das Wasser hatte 8 Grad. Also kam nur der Trockenanzug in Frage. Der war zwar für die 16 Grad fast zu warm, aber Wasserkontakt war ja nicht auszuschließen.
»Wow! Du siehst ja in deinem Neo richtig geil aus!«, Timmy klappte der Unterkiefer runter. Mir war das nie so bewusst, aber offenbar war mein Surfanzug recht figurbetonend. Ich grinste Timmy an, gab ihm einen Kuss und packte Brett und Segel.
Es war fantastisch! Fast wie Sex! Naja, Sex mit Timmy ist durch nichts zu überbieten, aber endlich mal wieder über das Wasser zu heizen, kam dem schon verdammt nahe. Der Wind war einfach perfekt. Mit dem konstanten, schräg auflandigen Wind konnte man mit langen Raumshots richtig Speed machen. Mir gelang fast jede Halse. Die Zahl der Kombimanöver (unfreiwillig mit Speed absteigen, durchs Wasser schlittern, zum Brett zurückrobben, aufsteigen, weiterfahren) hielten sich in erstaunlich geringen Grenzen. Ich wurde mutiger. Nach der zehnten perfekt gelungenen Powerhalse griff ich in die Trickkiste. Duck-Jibe, Slam-Jibe, 360iger, Helicopter. Haven is a halfpipe? Irrtum meine lieben Skater! Haven is a Helicopter!
Während ich so über das Wasser glitt und die Welt um mich vergaß, begann ich zu träumen. Ich war glücklich. Ich dachte an Thimo und freute mich, dass er zu Marcel gefunden hatte. Ich freute mich für Heiko und Kuki und hoffte, dass Kuki irgendwann über mich hinwegkommen würde. Und ich träumte von Timmy. Heute Abend würde ich ihm wieder mal zeigen, wie sehr ich ihn liebte.
Der Wind nahm zu. Sowas ist völlig normal und nennt sich Natur. Am Anfang lag die Windstärke bei 5 Bf und war in den letzten 90 Minuten auf gute 7 Bf gestiegen. Ich merkte, dass mein Segel so langsam überpowert war und ich es daher nicht mehr völlig dichtziehen konnte. Nun ja, 90 Minuten waren eh genug, ich steuerte das Ufer an.
Dann erwischte mich eine Bö.
Ich zog noch etwas stärker dicht und ... verlor die Bodenhaftung. Es gab ein knirschend-krachendes Geräusch und ich wurde über mein Segel hinweggeschleudert. Schade, dass ich noch am Trapezhaken hing. Mein Flug stoppte ziemlich abrupt und ich knallte mit dem Brustkorb auf den mir zugewandten Holm des Gabelbaums.
»Uuuuummmmmmmffff«, mir ging die Puste aus. Der Schleudersturz hatte eine erstaunliche Wirkung. Zum einen wurde mir kurzzeitig schwarz vor Augen, zum anderen entleerte sich gerade meine Blase in meinen Surfanzug. Ein ebenso warmes wie peinliches Gefühl. Wieder halbwegs bei Besinnung, tauchte ich unter Wasser, öffnete meinen Kragen und ließ das saukalte Ostseewasser oben eindringen, damit es unten wieder ablaufen konnte. Diese Prozedur wiederholte ich mehrmals, bis ich mich wieder einigermaßen sauber fühlte.
Es reichte. Der Tag lief so gut und jetzt das! Ich wollte nur noch zurück ans Land. Leichter gesagt als getan. Kaum auf dem Brett erkannte ich den Grund meines Sturzes. Mein Mast war knapp unterhalb des Gabelbaums gebrochen. Scheiße! So würde ich nicht zurückkommen können und zum Paddeln war die Küste zu weit entfernt. Ich begann zu experimentieren und versuchte, den Gabelbaum an dem unteren Maststück zu befestigen. Naja, die Lösung sah nicht gut aus, aber es ging. Langsam und verdammt wackelig zuckelte ich zur Küste zurück.
Ich brauchte mehr als eine halbe Stunde, um halb durchgefroren wieder Land unter meinen Füßen zu spüren. Am Strand lief Timmy schon aufgeregt hin und her.
»Svenni, was ist? Hattest du Probleme?«
»Ja, mir ist der Mast gebrochen. Scheiße. Es war so ein super Tag und dann das. Ich hab' mir vor Schreck in den Anzug gepisst. Shit. Du, ich zieh mich erstmal aus, dusche und zieh mir frische Klamotten an.«
»Du lispelst ja gar nicht mehr.«
»Das kommt noch wieder. Momentan bin ich so mit Endorphinen vollgepumpt, dass ich überhaupt nichts spüre. Ich glaub, ich hab' mir ne' Rippe angeknackst.«
Mit hängendem Kopf, hängenden Schultern und hängender Laune stiefelte ich ins Haus, zog mich aus, kletterte unter die Dusche, ließ das warme Wasser über meine geschundene Haut laufen und entspannte mich. Wenn ich vorher eine halbe Stunde brauchte, um an Land zu kommen, brauchte ich jetzt eine halbe Stunde, um halbwegs wieder lebendig zu werden. Der Nachteil daran war, dass mit den Lebensgeistern auch die Schmerzen wiederkamen. Allerdings bereitete mir mein neues Zungenpiercing noch die geringsten Sorgen. Im Spiegel des Badezimmers entdeckte ich einen prächtigen Bluterguss auf meiner Brust. Es tat weh, höllisch weh. Mindestens eine Rippe hatte ich mir geprellt, wenn nicht sogar angebrochen. Das war zwar nicht das erste Mal, dass mir sowas passierte, aber es hieß: Schluss mit Surfen. Na klasse!
Die Tür zum Badezimmer öffnete sich. Tim schaute herein. Sein Gesicht wirkte besorgt.
»Ach Timmy, das ist nichts. Nur eine Rippe angeknackst. Das wird schon wieder.«
»Oh, ich wusste gar nicht, dass du ein Maso bist«, Timmy grinste kurz. »Aber deswegen wollte ich dich gar nicht sprechen. Könntest du mal mit raus kommen?«
»Timmy, was ist denn?«
»Zieh dir was an und komm mit. Ich habe da etwas Merkwürdiges entdeckt.«
Mehr wollte er nicht sagen. Ich zog mich an und wollte gerade das Haus verlassen, als die Fahrradgang wieder eintrudelte.
Es musste wohl der totale Pechtag sein, denn Kuki schob sein Rad, oder das, was davon übrig war humpelnd vor sich her.
»Was ist passiert?«
»Wir fuhren etwas X-Country. Da ist bei Kukis Fahrrad der Rahmen gebrochen. Er konnte von Glück sprechen, dass ihm nichts Ernsthaftes passiert ist!«
Kuki sah ziemlich lädiert aus. Er hatte eine Wunde am Kopf, seine Lippe war aufgeplatzt, sein rechtes Schienbein war aufgeschrammt.
»Na das ist wohl der absolute Scheißtag heute. Mir ist vorhin der Mast gebrochen. Kuki, komm mit, ich hab' noch massenweise Mobilat und Bepantene im Koffer.«
Während wir uns noch um Kuki kümmerten, begann sich Tim an Kukis Fahrradresten zu schaffen zu machen. Er kniete sich hin, sah sich die Trümmer an und schüttelte den Kopf.
»Svenni, kommst du jetzt bitte mal mit?«, ihm schien es wirklich wichtig zu sein. Nun gut. Widerwillig, da mir inzwischen alle Knochen schmerzten, folgte ich Tim zu den Resten meines Riggs. Der Anblick der Trümmer tat mir mindestens genauso weh, wie meine Knochen. Der Monofilm war quer gerissen. Auch wenn mein Segelmacher auf Fehmarn das Segel reparieren konnte, es wäre nicht mehr das gleiche.
Tim bückte sich zum Mast herunter und deutete mir, es ihm gleich zu tun. Meine Knochen krachten, meine Rippen brüllten, als ich mich niederbeugte. Tim hatte die Mastfragmente aus der Masttasche herausgeholt und hielt mir die beiden Teile hin.
»Sieh dir mal die Bruchkante an!«, Tims Gesichtsausdruck war todernst.
Ich nahm die Teile in die Hand und betrachtete die Bruchkante.
Und erschrak!
Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken. Das konnte unmöglich wahr sein. Ich fühlte mit meinen Fingern über die Bruchstelle. Meine Vermutung bestätigte sich. Ich musste schlucken. Ein fetter Kloß hing in meinem Hals fest und behinderte mich am Atmen. Entsetzt sah ich Timmy an, doch der nickte nur.
»Komm!«, Tim zog mich zurück zum Haus zu Kukis Fahrrad. Ich ahnte, worauf das herauslief, wollte es aber nicht glauben. Tim drückte mir die Trümmer in die Hand. Das gleiche Spiel: Ansehen, fühlen, Panik!
Es war Zeit, die anderen zu informieren. Wir gingen ins Haus und fanden sie in der Küche.
»Ähm Leute, ich habe eine schlechte Nachricht«, Timmy erhob seine Stimme. »Die Unfälle waren keine! Sowohl Svens Mast, als auch Kukis Fahrrad waren angesägt.«
»Was?«, erstaunte Schreie schlugen uns entgegen, »Timmy, erzähl nicht solchen Scheiß. Mit sowas macht man keine Witze!«
»Das ist kein Scheiß. Ich habe die Bruchkanten gesehen. Schaut sie euch selbst an! Mein Mast hatte Kerben. Die Bruchkante ist viel zu glatt. Das ist ein Carbonmast. Der bricht nicht so einfach. Außerdem ist er neu. Und wenn so ein Mast wegen Materialermüdung bricht, dann sieht das ganz anders aus. Bei Kukis Fahrrad ist es das Gleiche. Carbonmonococ und angesägt.«
»Aber wer würde sowas tun? Das ist doch Wahnsinn!«
»Möglicherweise kann ich diese Frage beantworten«, alle Blicke, auch meiner, richteten sich auf Tim.
»Diesen Zettel habe ich in Svens Surfmast gefunden«, Tim hielt uns ein DIN A4 Blatt entgegen. Der Text war mindestens so plakativ wie die fette Schrift des Eddings, mit dem die Worte zu Papier gebracht wurden: »Verreckt ihr schwulen Schweine!«
Nachwort
Das war also Band IV. Es gab nicht ganz so viel Aktion wie in den Bänden davor. Mehr lose Enden, die sortiert werden mussten. Tim und Sven, Kuki und Holger, und schließlich Thimo und Marcel haben sich gefunden. Das freut das Herz. Doch eitel Sonnenschein will sich nicht einstellen, wenn unfreundliche Zeitgenossen einem das Glück nicht gönnen wollen. Na, man wird sehen ... PS: Noch etwas. Ich muss mich bei meinen Vorbemerkungen etwas korrigieren. Einen beschrieben Ort gibt es tatsächlich, nämlich das Tattoostudio, in dem sich Svenni die Zunge piercen ließ. Es befindet sich auch ziemlich genau an der beschrieben Stelle. Die Junx und Mädels, die den Laden betreiben, machen wirklich einen super Job und haben Ahnung. Das ist aber nicht als Werbung zu verstehen (deswegen nenne ich auch den echten Namen des Ladens nicht), sondern viel mehr als Warnung. Wer wirklich mit dem Gedanken spielt, sich Metall in den Körper bohren oder Farbe unter die Haut pieksen zu lassen, sollte sich ausschließlich in die Hände von Profis begeben. Die verlangen ihren Preis und der ist recht hoch. Aber was ist besser: Ein leise vor sich hineiterndes Augenbrauenpiercing für Lau, das aber mega Scheiße aussieht, oder teure Profiarbeit, bei der man gesund bleibt, und es am Ende wunderschön im Gesicht (»Oder auch wo anders am Körper«, meint Kuki) funkelt?
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