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Kopfgeister

Band 7 - Winter

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkungen

1. Er ist es also doch nicht geworden, der letzte Band von Kopfgeister. Ich hätte nie gedacht, dass die ganze Sache derartige Dimensionen annehmen würde. Als ich mit dem ersten Teil anfing, ging ich nur von einer abgeschlossenen Geschichte aus. Aber meine Figuren waren so dreist ein Eigenleben zu entwickeln und belehrten mich eines besseren. Ich musste einfach wissen, was aus Thimo und Sven wurde, nachdem sie Fehmarn verlassen hatten. Dass sie bis hierher gekommen sind, hätte ich nicht gedacht.

2. Orte, Personen, Handlungen und der ganze restliche ganze Kram sind natürlich frei erfunden. Mancher Markenname mag geschützt sein. Ich empfehle jeden Juristen, der sich darüber aufregt: Schlaf mit deinem Freund (oder wenn es sich nicht vermeiden lässt, mit deiner Freundin) und vergiss es!

3. Rechtschreibung -- Na und?

4. Dieser Text ist exklusiv für Nickstories geschrieben.

5. Sex -- Sicher!

Bunte Plastikstühle und eine knurrende Leuchtstoffröhre

Berlin

»Wie geht es ihm?«, Tims Mutter kam auf mich zugestürzt, einen mürrischen, verstörten und mindestens genau so verzweifelten Nico im Schlepptau.

»Sie operieren ihn seit knapp einer Stunde. Bisher hab' ich noch nichts gehört.«

Ich saß in einem Wartezimmer vor dem OP-Trakt des Krankenhauses, in dem Tim jetzt seit ein paar Wochen lag. Vor ungefähr etwas mehr als 60 Minuten hatte man Tim in einen der OPs gebracht. Nach seinem Zusammenbruch und Miris professioneller Reanimation waren kurze Zeit später in Folge die Stationsärztin, eine Neurochirugen und ein Anästhesist in sein Zimmer gestürmt und hatten ihn untersucht. Es folgten ein CT, eine kurze Lagebesprechung und schließlich die Entscheidung, dass wie bereits vermutet, eine Not-OP durchzuführen sei. Und eben jene fand jetzt statt.

»Was ist denn überhaupt passiert?«, Tims Mutter packte mich. »Sven, nun red' schon.«

Schlimm genug, dass ihr Sohn im Koma lag. Aber diese akute Verschlechterung seines Zustandes gab ihr den Rest. Ihrer Stimme hörte man deutlich eine Unterschwingung von Angst, wenn nicht sogar Panik, heraus.

Bevor ich irgendetwas sagen konnte, fiel mir Miri ins Wort.

»Ich sah' auf den Monitoren, dass mit Tim etwas nicht stimmte, und wollte er mir gerade genauer ansehen, als er auch schon kollabierte. Ich habe dann sofort mit Beatmung und Herzmassage angefangen und Sven losgeschickt, um die Stationsärztin zu holen. Die dann auch kurze Zeit später kam.«

Tims Mutter stutzte und sah Miri irritiert an. Sie hatte mit mir gesprochen und hatte Miri überhaupt nicht wahrgenommen.

»Und wer sind sie?«

Mit dieser Frage wurde mir schlagartig klar, warum sie Miri bisher ignoriert hatte. Sie kannte Miri nicht. Genauso wenig, wie ich Miri noch vor zwei Stunden gekannt hatte. Das Tims Vater mit Miri ein Verhältnis hatte, wusste sie schon. Wahrscheinlich kannte sie sogar Miris Namen, aber deswegen musste sie noch lange nicht wissen, wie Miri Endersen aussah. Für Sonja Mannteufel war die Person neben mir eine Fremde, die sich rein zufällig im selben Raum wie ich aufhielt. Aber diese Einschätzung änderte sich sofort.

»Sie sind Miri?«, eine rhetorische Frage.

»Ja«, und eine rhetorische Antwort.

»Was wollten Sie bei meinem Sohn?«, Tims Mums Stimme klang gereizt. Miri wurde von oben bis unten gemustert. Sonja Mannteufel taxierte ihre Konkurrentin. Obwohl, war Miri jemals eine wirkliche Konkurrenz?

»Ich wollte den Halbbruder meiner Tochter kennen lernen«, Miri klang nüchtern, fast abgeklärt.

»Und?«, Sonja der Eisschrank.

»Er darf nicht sterben!«, Miri Endersen zuckte mit ihren Schultern. »Ich kann verstehen, wenn Sie mich verachten. Mein Gott, schließlich hat Ihr Mann mit mir … ähm, na ja … die Ehe gebrochen. Es tut mir leid. Wirklich. Ich weiß, dass es falsch war und ihr habe dafür bezahlt. Ich … ich … Ach was soll's. Es tut mir leid.«

Sonja Mannteufel starrte Miri Endersen an. Miri schien es durchaus aufrichtig mit ihren Worten gemeint zu haben. Und bezahlt hatte sie wirklich. Mit 16 oder 17 Mutter zu werden, war sicherlich ein hoher Preis.

Was hingegen Sonja dachte, blieb im Dunklen. Sie starrte nur. Ausdruckslos und schweigend hafteten ihre Augen auf Miri. Tims Mutter schien nachzudenken, zu grübeln, die Situation zu bewerten und in ihr Weltbild einzuordnen.

»Sonja?«, seit ein paar Monaten durfte ich Sonja duzen. Tims Mutter fand es übertrieben und affig (O-Ton), dass ich sie einerseits als »Frau Mannteufel« ansprach und andererseits mit Tim schlief.

Sonja reagierte nicht.

»Sonja?«, ich wurde lauter und tippte sie vorsichtig an ihrer Schulter an. Mit dieser Aktion erntete ich einen Teilerfolg. Sie drehte sich zu mir und starrte jetzt mich an.

»Sonja, Miri hat Tim das Leben gerettet! Wenn sie nicht so schnell reagiert hätte, dann ...«

Ich sprach nicht weiter, schließlich war noch lange nicht entschieden, ob Tim überhaupt überleben würde.

Sonjas Lippen bewegten sich und formulierten Worte, ohne sie auszusprechen. Kein Laut entwich ihrem Mond. Sonja war mit ihren Gedanken weit weg. Den Blick nach innen gerichtet, schien sie ihre Welt neu zu ordnen.

Wir schwiegen. Niemand im Raum, nicht einmal das Energiebündel Nico, wagte zu sprechen und die Stille zu stören.

Mein Blick wanderte durch den Warteraum. Bunte Plastikstühle prägten die Einrichtung. Ihr vergilbte Lehnen und Sitzflächen erzählten von einer Zeit, in der die Zigarette noch als legitimes Mittel zur Beruhigung von Nerven galt. Zwei Holztische, Marke Amtsstube - Katasteramt, auf denen Zeitschriften lagen, deren Ausgaben durchschnittlich drei bis vier Monate dem aktuellen Datum hinterherhinkten, bildeten in ihrer Nichtfarbigkeit den stilistischen Kontrapunkt zu den Stühlen. Ich ließ mich in ein ehemals babyblaues Sitzmöbel plumpsen und starrte vor mich hin. Die in die Wand eingelassene Normalzeituhr machte »Klack« und sprang um eine Minute weiter. Auf dem permanent frisch gewischten PVC-Boden, dessen Grau an Trostlosigkeit nicht zu übertreffen war, reflektierten sich die knurrenden Leuchtstoffröhren der Zimmerdecke. Diesen Raum als öde zu bezeichnen, wäre einer schamlosen Untertreibung gleichgekommen. Dieser Raum war ein Parasit, ein Schmarotzer, der einem alle Lebensgeister entzog.

»Miri, sie tragen keine Schuld.«

Ich zuckte zusammen. Sonjas Stimme zerriss die Stille wie ein Presslufthammer Asphalt zerriss.

»Es wäre so oder so gescheitert. Unsere Ehe ...«, Sonja schüttelt leicht ihre Kopf. »Wer weiß, was geworden wäre? Ihnen kann ich keinen Vorwurf machen. Sie waren jung - zu jung. Wenn ich jemand einen Vorwurf machen muss, dann meinem Mann. Er hätte wissen müssen, dass es falsch war, was er tat. Er hat Sie ausgenutzt, so wie er mich und viele andere Menschen ausgenutzt hat. Und das Sie jetzt hier sind ...«, Sonjas Stimme stockte, »und er eben nicht - nicht ein mal war Tims Vater hier - sagt alles.«

Sonja ging auf Miri zu und reichte ihr ihre Hände: »Danke! Danke, dass Sie meinen Sohn gerettet haben.«

Während der ganzen Zeit hatte Nico schweigend in einer Zimmerecke gesessen. Der kleine sonst so harte Kerl zeigte Nerven. Aber wen hätte das wirklich gewundert? Mich nicht. Mich als aller letztes. Die letzten paar Wochen hatte ich mich auch nicht sonderlich normal verhalten. Wieso sollte es ausgerechnet Nico tun?

Ich stand von meinem Stuhl auf, ging zu ihm und setzte mich neben ihn. Er muss völlig in Gedanken versunken gewesen sein, denn als ich schließlich saß, zuckte er erschrocken zusammen und sah mich mit großen Augen an.

Ich nickte ihm zu und legte meine Hand auf seine Schulter. Es war gar nicht meine Absicht gewesen, aber Nico schien meine Geste falsch zu interpretieren. Ich wäre nie auf die Idee gekommen Nico in den Arm zu nehmen, aber er schien es zu vermuten, denn er kuschelte sich sofort an mich. Nico, der Harte, schmiegte sich dicht an meine Seite und schluchzte leise.

Nun, es war Ok. Ich kramte meinen Restvorrat an seelischer Kraft zusammen und versuchte, so viel Zuversicht wie möglich zu vermitteln. Ich wollte nicht, dass sich Nico Sorgen machte. Ich wollte nicht, dass er dieselben dunklen Gedanken dachte, die meinen Geist quälten. Ich wollte nicht, dass er sich diese eine unmögliche Frage stellte: »Was, wenn Tim nicht wieder ...?«

Über die Dummheit und das Wesen der Wahrheit

Portland

»Bist du von allen Geistern verlassen?«

Jimmy Reynolds schrie Thimo an. Sein spärlicher Haarwuchs war zerzaust. In den letzten fünf Minuten war er sich weit mehr als dreißig Mal mit beiden Händen durch die Haare gefahren. Dazwischen hatte er geflucht, hatte gegen die Wände getreten oder auf Thimo eingeredet. Genaugenommen hatte geschrien.

Nachdem Thimo völlig überraschend ein Geständnis abgelegt hatte, und damit Marcel, die Richterin, den Ankläger, seinen Verteidiger und nicht zuletzt die Geschworenen verblüffte, hatte Jimmy Reynolds sofort eine Unterbrechung der Verhandlung beantragt, die ihm von Richterin Cunningham auch sofort bewilligt wurde.

»Jesus, was hast du dir dabei nur gedacht?«

Jimmy Reynolds stiefelte wie in Tiger im Käfig auf und ab und trat erneut ein paar Mal gegen eine Wand, die das Pech hatte, eben gerade dort zu stehen, wo sie gerade stand.

Thimo hingegen saß still und stumm an einem Tisch und starrte Löcher in dessen Oberfläche.

Anwalt und Mandant befanden sich in einem Besprechungsraum des Gerichtsgebäudes. Ein kleines, dunkel getäfeltes Zimmer, das genau für diesen Zweck vorgesehen war; für Besprechungen zwischen Anwalt und Mandant. Durch eine halb geschlossene Jalousie strömten Lichtstrahlen der tiefhängenden Spätherbstsonne in den Raum. Thimo saß mit dem Rücken zum Fenster. Mit Interesse beobachtete er den aufgewirbelten Staub, der in den Lichtstrahlen aufleuchtete.

Thimo träumte. Nachdem er, weswegen, wusste er nicht mehr, gestanden hatte, Scott getötet zu haben, hatte er seine Augen geschlossen und sich aus der Wirklichkeit verabschiedet. Völlig geistesabwesend dämmerte er dahin. Sie durften Marcel nicht weiter quälen. Der Staatsanwalt war sowieso von Thimos Schuld überzeugt und würde die Geschworenen schon noch auf seine Seite bringen. Er würde ein perfektes Motiv liefern - Mord aus Liebe. Also, warum Marcel dann noch quälen?

»Thimo, hörst du mir überhaupt zu?«

Ein Ruck ging durch die Tischplatte und riss Thimo aus seinem Tagtraum. Er erschrak und sah Jimmy Reynolds verstört an. Dieser hatte sich mit beiden Händen an der gegenüberliegenden Seite auf die Tischplatte fallen lassen und dem Möbelstück einen kräftigen Stoß gegeben.

»Thimo, ich muss es wissen! Es ist extrem wichtig, dass du mir die Wahrheit sagst!«, Jimmy fixierte Thimo mit seinen Augen. Seine Stimme war ruhig, sachlich, aber eindringlich: »Hast du Scott umgebracht?«

Thimo hielt Jimmys Blick stand: »Nein, dass habe ich nicht.«

»Verdammt, warum hast du denn gesagt, dass du es warst?«

»Weil sie aufhören sollten Marcel zu quälen.«, diesmal war es Thimo der schrie. »Er sollte das nicht noch mal müssen. Er darf das nicht noch mal durchmachen müssen! Niemals!«

»Und deswegen wirfst du dein Leben weg?«, Jimmy fauchte zurück. »Hast du mal daran gedacht, was aus Marcel wird? Verdammt, er ist schließlich mein Sohn! Glaubst du, mir fiel das leicht, ihn dort im Zeugenstand sehen zu müssen? Zu sehen, wie er litt? Wie ihn dieser Aasgeier Tanner in die Mangel nahm? Glaubst du wirklich, dass ich so ein Eisklotz bin, dem das nicht das Herz zerreißt?«

Jimmy Reynolds setzte sich auf einem Stuhl, direkt Thimo gegenüber. Thimo blickte auf und sah Jimmy, Marcels Paps an. War da etwas von Marcel zu sehen? Jimmy Reynolds sah verzweifelt aus. Der Fall forderte ihn; in mehrfacher Hinsicht. Und genau diese Verzweiflung war es, in der Thimo Marcel wiedererkannte. Vater und Sohn waren sich sehr ähnlich und gleichzeitig auch wieder nicht. Immerhin reichte diese plötzliche Erkenntnis aus, um Thimo in die harte Wirklichkeit zurückzuholen. Und in der sah es eher bescheiden aus.

»Ich habe Mist gebaut?«

Jimmy zog die Augenbrauen hoch. War der Kleine etwas zu sich gekommen?

»Worauf du einen lassen kannst.«

»Kann ich die Aussage denn nicht zurücknehmen?«, in Thimo baute sich langsam ein Panikpotential auf. Es wuchs ungefähr in dem Maße, wie er kapierte, was er mit seinem Geständnis für einen Bock geschossen hatte.

Jimmy seufzte und fuhr sich, zum x-ten Mal, durch seine Haare. Kinder - Warum setzt man so was nur in die Welt?

»Was glaubst du, was die Geschworenen jetzt denken?«, Jimmy dachte konzentriert nach, rupfte an seinen Haaren und schüttelte schließlich seinen Kopf. »Verdammt, dass wird dir nicht gefallen. Aber das ist jetzt auch egal.«

»Was?«

»Wenn du dein Geständnis zurück nimmst, und das ist deine einzige Chance, dann muss Marcel auspacken, alles auspacken.«

»Nein!«, Thimos Stimme war mit einem mal fest und nachdrücklich. Wenn vorher noch Untertöne von Verzweiflung mitschwangen, waren diese jetzt wie fortgefegt.

»Sag' mal, begreifst du eigentlich worum es geht?«

»Ja! Absolut!«, Thimo holte tief Luft. »Kann ich meine Einlassung von unschuldig auf schuldig ändern?«

»Ja!«, Thimos Anwalt zog erneut seine Augenbrauen hoch.

»Wenn ich dem Staatsanwalt anbiete, mich schuldig zu bekennen, würde er mit dem Strafmaß runtergehen?«

»Ich weiß es nicht ... Was hast du vor?«

»Ich will nicht, dass Marcel nochmals leiden muss. Niemals. Ich habe ihn erlebt. Auf seinem Baumhaus. Er hat mir die ganze Geschichte von ihm und Scott erzählt und ...«, Thimo musste schlucken, als er sich an jene Nacht erinnerte, »er hat es damals erneut durchlebt! Ich will nicht, dass er es nochmals durchleben muss! Niemals! Wenn der Preis dafür ist, dass ich ins Gefängnis muss. Ich bin dazu bereit.«

»Oh, wie edel! Aber Thimo, du bist noch ein halbes Kind und diese Entscheidung steht dir nicht zu!«

»Doch! Sie sind mein Anwalt, oder? Der Prozess wird nach dem Strafrecht für Erwachsene geführt, oder? Dafür, dass der Staatsanwalt für mich die Todesstrafe beantragen will, bin ich alt genug, oder? Bin ich dann etwa nicht alt genug diese Entscheidung zu treffen? Bin ich oder bin ich nicht?«

Jimmy Reynolds senkte seinen Blick. Er hatte solche Wandlungen schon häufiger beobachtet. Prozesse dieser Art machten Menschen hart und älter. Auf Thimo traf dies doppelt zu.

»Ja ...«, Jimmy seufzte, »... du bist alt genug. Und ich respektiere deine Entscheidung ... als dein Anwalt. Als Vater deines Freundes und auch als dein Freund, muss ich dich fragen, ob dir die Tragweite wirklich klar ist. Das Urteil wird bestimmt nicht unter 40 Jahren liegen, eher höher.«

»Ja. Aber ich will nicht im Gefängnis bleiben. Ich will, dass ihr den wahren Mörder von Scott findet und überführt. Dann müssen sie mich doch freisprechen, oder?«

»Nicht unbedingt. Wenn er ein Geständnis ablegt, vielleicht ...«, Jimmy wiegte seinen Kopf hin- und her, »... das Urteil der Geschworenen wiegt sehr viel. Kein Richter stößt ein einmal gefälltes Urteil leichtfertig um. Dafür müssen unumstößliche Beweise vorliegen. Und außerdem wird die Staatsanwaltschaft aus allen Rohren schießen, um eine Wiederaufnahme zu verhindern.«

»Die Staatsanwaltschaft, oder doch eher der Staatsanwalt

»Was?«, Jimmy Reynolds zuckte zusammen.

»Es ist doch offensichtlich, dass Sie mit dem Staatsanwalt eine offene Rechnung haben.«

»Jetzt nenn mich endlich Jimmy, verdammt. Verdammt, ja, da gibt es eine offene Rechnung ...«

»Und, wirst du sie mir erzählen?«

»Viel ist da nicht zu erzählen. Der Staat Maine gegen Sutherland. Mann muss, auch wenn das nie bewiesen wurde, davon ausgehen, dass Tanner damals gewusst hatte, dass Sutherland unschuldig war. Aber er stand damals kurz davor Oberstaatsanwalt zu werden und dieser Fall hätte ihn sofort dazu befördert. Staatsanwälte werden vom Volk gewählt, wie die Richter, der Bürgermeister und der Polizeichef. Sutherland wurde dreifacher Mord an minderjährigen Mädchen vorgeworfen. Vorher soll er sich an ihnen auch noch sexuell vergangen haben. Ich habe Sutherland verteidigt.«

»Sie verteidigen Kinderschänder?«, Thimo war entsetzt.

»Jeder, wirklich jeder Mensch, hat Anspruch auf Verteidigung. Das ist ein Grundpfeiler der Demokratie. Und gerade in diesem Fall war es absolut richtig, dass ich ihn verteidigt habe, denn er war unschuldig. Du weißt, dass der durchschnittliche IQ aller Menschen bei 100 liegt?«

»Ja.«

»Ok, ab 120 gilt man als begabt. Aber 130 hochbegabt. Sutherland hatte einen IQ von 69.«

»Oh, ich verstehe. Doch wie kam man überhaupt auf Sutherland?«

»Er befand sich in der Nähe des Tatorts. Was auch eigentlich nicht weiter überraschte, denn er war obdachlos und wohnte in einem Regenwasserüberlaufrohr bei den Bahnanlagen, wo die Morde passierten. Dort von der Polizei aufgegriffen, verhielt er sich merkwürdig, oder ,verdächtig` , wie die Polizei meinte. In Wirklichkeit war er nur verwirrt und verstand einfach nicht, was man von ihm wollte. Sie versuchten ihn zu verhaften und er wehrte sich. Sogar ziemlich gewalttätig. Drei der Polizisten waren hinterher krankenhausreif. Sutherland war der ideale Täter. Zum einen war er der Einzige, den man hatte. Die Öffentlichkeit schrie nach Ermittlungserfolgen und da gilt: besser irgendeinen als gar keinen. Dann war er ja auch noch gewalttätig und obendrein hatte er einem der Mädchen das Portemonnaie geklaut. Man fand sie in seiner Behausung. Für Polizei und Staatsanwaltschaft passte alles perfekt zusammen. Na ja, da er nicht sonderlich viel Hirn im Schädel hatte, verhaspelte er sich auch prompt beim Verhör und gestand schließlich alles, bzw. er unterschrieb ein Geständnis, das man ihm vorlegt hatte. Sie müssen auf ihn stundenlang eingeredet haben, denn schließlich glaubte er am Ende selbst, der Täter gewesen zu sein.«

»Und?«

»Ich nahm die Ermittlungen nach Strich und Faden auseinander. Verhöre ohne anwaltlichen Beistand, keine psychologische Untersuchung der Schuldfähigkeit, und vor allen, kein Vergleich der Spermaproben, die man den Mädchen entnommen hatte, mit seinen. Denn aus völlig unerklärlichen Gründen waren alle Proben der Mädchen versehentlich vernichtet worden und die Leichen bereits freigegeben und unter der Erde.«

»Oh, wie passend.«

»Nicht wahr?«, Jimmy Reynolds strich sich seine zerzausten Haare glatt. »Und so zerlegte ich eine Schlampigkeit der Ermittlungen nach der anderen. Etwas, dass man mir übrigens sehr übel nahm. Wir, das heißt meine Familie und ich, erhielten anonyme Drohungen, so in der Art, dass ich nicht besser wäre als dieser Sexualstraftäter. Du siehst, du stehst mit deiner Ablehnung nicht allein.«

»Hm, sorry.«

»Schon gut.«

»Und dann?«

»Tja schließlich passierte was passieren musste, wenn man den falschen verhaftet. Mitten im Prozess kam es zum vierten Mord. Der richtige Täter wurde verhaftet und gestand. Er gestand sogar alle vier Morde und noch zwei in einem anderen Bundesstaat. Der Prozess gegen Sutherland platzte in 10.000 Meter Höhe. Und da sich unserer lieber Staatsanwalt Tanner sehr weit aus dem Fenster gelehnt hatte, fiel er auch prompt raus.«

»OOPS!«

»Genau, OOPS! Die Fehler bei den Ermittlungen hatten Folgen. Es gab eine Untersuchungskommission, die kein gutes Haar an den Beteiligten ließ. Wenn man den Untersuchungsbericht genau las, konnte man zwischen den Zeilen herauslesen, dass man vermutete, dass Tanner die Beweismittel manipuliert oder sogar zerstört haben könnte. Aber nachweisen konnte man es ihm nicht. Tanner wurde immerhin erst einmal kaltgestellt. Er war sozusagen auf Bewährung. Aber auch für Staatsanwälte gilt: unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils. Jetzt ist er wieder da, und trägt mir nach, dass ich damals indirekt seine Wahl zum Oberstaatsanwalt verhindert habe. Denn wenn es nach ihm ginge, wäre er heute schon Gouverneur.«

»Wow! Deswegen will er meinen Kopf?«

»Ja unter anderem. Es geht halt nicht nur um dich. Mich will er auch vernichten. Der Liebhaber des schwulen Sohns eines bekannten und renommierten Portlander Anwalts ein Mörder? Mord aus Rache? Nicht wirklich toll ... Dieses Land ist doch so was von durch und durch bigott. Erst recht die New England Staaten.«

»Ich dachte immer, im mittlere Westen würden die bibelfesten Fundamentalisten hausen.«

»Für dein Alter bist du schon ganz schön abgeklärt. Aber du hast Recht ... Fast ... Im ,Bibel Belt` glauben sie, was sie tun, sagen und predigen. Hier wird der weiße angelsächsische Puritanismus als Waffe zum Machterhalt verwendet. Tanner ist der typischer Vertreter. Er holt immer gleich mit der Bibel und dem moralischen Hammer aus und weiß sich die Mehrheit seiner Wähler auf seiner Seite. Dabei ist seine Entrüstung meist nur so falsch wie seine Zähne: alles Blendwerk. Der Zweck heiligt die Mittel. Und wenn er mit diesem Prozess einen ungeliebten liberalen Anwalt diskreditieren kann? Na perfekt. Das wäre die Sahnehaube auf seinem Kuchen!«

Thimo zögerte, dachte konzentriert nach und fragte schließlich: »Denkst du, Tanner hat damals Beweise vernichtet oder manipuliert?«

»Ja, absolut. Das Drama mit Tanner ist, dass er an sich und seine Sache glaubt. Sutherland musste einfach schuldig sein! Ausrufungszeichen! Im Zweifelsfall muss man eben die Realität entsprechend anpassen. Es dient schließlich einem höheren Ziel, der Gerechtigkeit! Und wenn Sutherland halt doch unschuldig sein sollte? Wenn interessierst? Ein Penner mehr oder weniger ist doch kein Verlust für die Gesellschaft, oder? Eher das Gegenteil. Hauptsache, Tanner wird Oberstaatsanwalt, denn dann kann er der Gerechtigkeit noch viel, viel besser dienen«, Jimmy Reynolds schüttelte den Kopf. »Mich wundert, dass bei seiner Vereidigung die Bibel nicht aus seiner Hand gesprungen ist.«

»Hm, wenn er damals an der Realität gedreht hat, wer sagt denn, dass er es heute nicht wieder tut?«

Nicos Gewissen und das Problem ein "hartes Kerlchen" zu sein

Berlin

»Und? Was ist mit meinem Sohn?«, Sonja Mannteufel war von ihrem ehemals babyblauen Plastikstuhl aufgesprungen. Vor drei Sekunden hatte der operierende Neurochirurg das Wartezimmer betreten. Alle Blicke richteten sich auf ihn. Alle Gesichter waren bleich vor Angst. Allerdings wirkten sie noch viel bleicher. Von Warmtonleuchtstoffröhren hatte man in diesem Krankenhaus noch nie etwas gehört.

»Ok, Tim lebt ...«

Mühlsteine polterten von allen anwesenden Herzen. Minus einem, dem des Chirurgen.

»In seinem Gehirn hatte sich ein Blutgerinnsel gebildet. Eins, dass wir nicht sofort entdecken konnten. Auch nicht im CT. Dieses Blutgerinnsel drückte auf einen Gehirnlappen und ist vermutlich auch für sein Koma verantwortlich gewesen?«

»Gewesen?«

»Ja! Wieso? Ach ja, ähm, er ist wieder bei Bewusstsein.«

Das waren die besten Nachrichten seit Wochen. Warum muss man Ärzten so was immer aus der Nase pulen? Ich war schon drauf und dran in Tims Zimmer zu rennen, als seine Mutter noch eine kleine Frage stellte: »Und, wird er wieder ganz gesund? Wird er mein alter Tim?«

Die Reaktion des Arztes ließ mir mein Herz in die Hose fahren. Auf seinem Gesicht war deutlich abzulesen, dass da noch etwas war. Eine wohl sehr ernste Sache, denn er schien nicht zu wissen, wie er es uns sagen sollte.

»Er wird wieder ganz gesund. Davon bin ich überzeugt. Ob er aber ganz der Alte wird ...«

In Sonjas Augen leuchteten die Ps für Panik auf: »Was ist mit ihm? Nun sagen sie doch schon? Was ist mit Tim?«

»Das Gehirntrauma, das man ihm zugefügt hatte, war wohl doch stärker, als wir angenommen hatten. Dann noch dieses Blutgerinnsel. Tims Gedächtnis scheint davon ...«

Er konnte nicht weiterreden und er brauchte auch nicht weiterreden. Wir wussten alle, was er meinte.

Sonja fand als Erste ihre Sprache wieder: »An was kann er sich erinnern?«

»Er weiß, wie er heißt und wo er wohnt und so. Es scheint hauptsächlich die Erinnerungen der letzten Zeit zu fehlen. Er kann sich nicht erinnern. angegriffen worden zu sein, und fragte, was eigentlich passiert sei. Mir ist das völlig unverständlich. Eigentlich ist so was physisch gar nicht möglich. Einen derartigen selektiven Gedächtnisverlust habe ich noch nie bei einem Hirntraumapatienten erlebt.«

»Mein Gott!«, Sonja war entsetzt. Nico, Miri und ich schlicht sprachlos.

»Nun ja, es kann ja alles noch wieder werden. Häufig kommt die Erinnerung ganz von allein zurück. Das braucht halt Zeit.«

»Kann ich zu meinem Sohn?«

»Ja, aber nur kurz. Und bitte auch nur Sie. Und denken Sie dran, es kann sein, dass er sich merkwürdig verhält. Schließlich fehlen ihm ein paar Erinnerungen.«

Sprach's und war weg. Der Arzt, dessen Namen wir nicht mal kannten, da er es nicht für nötig befand sich vorzustellen, hatte genauso schnell das Wartezimmer verlassen, wie er es betreten hatte.

Tims Mum schluckte. Genau so sehnsüchtig, wie sie vor ein paar Minuten noch ihren Sohn unbedingt wiedersehen wollte, genau so mulmig war ihr jetzt, als sie davorstand, ihren Wunsch in die Tat umzusetzen.

»Ok, dann will ich mal. Bitte wartet hier.«

Unsicher verließ Sonja Mannteufel das Wartezimmer. Wir restlichen drei Figuren sahen uns fragend an. Timmy mit Gedächtnisverlust, was würde das wieder bedeuten?

Wir warteten. Niemand sagte etwas. Die Einzige, die in regelmäßigen Abständen einen Kommentar von sich abgab, war die Normalzeituhr, die alle 60 Sekunden »Klack« machte, wenn der Minutenzeiger eine Stelle vorrückte. Eine Leuchtstoffröhre brummte. Das Licht war kalt und unfreundlich. Die abwartende Stille im Raum wurde immer drückender. Die Stille wurde regelrecht schmerzhaft laut. Ich nahm ein hämmerndes Geräusch wahr und erschrak, als ich merkte, dass es mein eigener Puls war, der da durch meine Schläfen strömte. Vor Schreck fuhr ich in meinem Plastikstuhl auf und verursachte damit ein ohrenzerfetzendes Quietschgeräusch der Gummifüße des Stuhls auf dem PVC des Bodens.

Wie ein antwortendes Echo quietschten zwei weitere Stühle. Nico und Miri sahen mich halb vorwurfsvoll, halb verschreckt an. Ich zuckte entschuldigend mit meinen Schultern.

»Sorry, aber ich glaube meine Nerven liegen etwas blank.«

»Is' schon ok«, seid Nico mit Sonja angekommen war, waren dies seine ersten Worte. »Wessen nicht.«

Nico schaute mich mit traurigen Dackelaugen an.

»Ich schäm mich so ...«

Hatte ich richtig gehört? Nico schämte sich?

»Wofür?«

»Hast du es gar nicht bemerkt?«

Ich verstand nur Bahnhof.

»Was bemerkt?«

Nico schniefte und wischte sich mit seinem rechten Handrücken seine laufende Nase trocken. Hatte Nico etwa feuchte Augen?

»Ich war nur einmal bei Tim ... Die ganze Zeit war ich nur einmal hier! Ich bin sein Bruder und war nur ein einziges Mal hier im Krankenhaus. Er hätte heute Nacht sterben können und ich hätte ihn niemals wieder gesehen!«

Das stimmte. Mir war es wirklich nicht aufgefallen. Ich war immer da. Sobald die Schule zu Ende war, war ich ins Krankenhaus gelaufen, oder besser, gerannt. Nico war genau einmal da und das auch nur kurz.

Ich sah ihn an. Sein Gesicht war gerötet und glühte. Jetzt war mir auch klar, warum er die ganze Zeit so ausgesprochen still war. Man sah, dass er versuchte, sich unter Kontrolle zu halten, um nicht loszuweinen.

»Warum?«, kein Vorwurf, keine Schuldzuweisung, ich fragte, soweit ich es konnte, neutral, bestenfalls interessiert.

»Ich hatte Angst ...«, Nico schniefte erneut, schluckte und fuhr dann, mit stockender Stimme fort: »Er sah so ... so ... Er sah fürchterlich aus. So wie sie ihn zusammengeschlagen haben. Das war nicht mehr mein Bruder. Ein Klumpen blutiges Fleisch, aber nicht mein Bruder. Ich ... ich ... ich konnte ihn nicht ansehen. Scheiße, ich hab' mich vor meinem Bruder geekelt, so wie er aussah. Ich! Ich, sein Bruder! Verstehst du das? Ich wollte Tim nicht ansehen müssen!«

Nicos Selbstkontrolle versagte und er flennte los. Ich versuchte ihn zu beruhigen und legte eine Hand auf seine Schulter, aber er schlug sie weg.

»Fass mich nicht an. Ich bin es nicht wert! Ich bin sein Bruder und wollte ihn nicht sehen!«

»Nico?« Nicos Offenbarung hatten einen Kloß in meinem Hals geparkt, den ich erst mal runterschlucken musste. Im zweiten Anlauf war meine Stimme schon fester. »Nico?«

»Lass mich!«

Ok, wenn er es auf die sanfte Tour nicht wollte, dann auf die harte. Ich packte ihn links und rechts an seinen Schultern und schüttelte das Häuflein Selbstmitleid erst mal kräftig durch.

»Nico?«, der angesprochene reagierte und sah mich verstört an. »Ahhh, da du mir jetzt etwas Aufmerksamkeit gönnst, kann ich dir endlich etwas sagen.«

Nico glotzte mich verwirrt an.

»Du brauchst dich nicht schämen. Du nicht und alle anderen auch nicht. Timmy sah wirklich ekelhaft aus. Als ich ihn das erste Mal wiedersah, wurde mir speiübel und ich hab' mich gepflegt ausgekotzt!«

»Du?«

»Ja ich. Du hast Recht, er sah beschissen aus. Aber jetzt nicht mehr. Mann, Nico, selbst deine Mutter war bleicher als diese Kalkwände hier. Na ja, eigentlich wurde sie sogar grün im Gesicht. Biene wurde schlecht und unser Hartei Dirk, mit seinen klugen Biosprüchen, musste rausrennen. Also, wo ist das Problem?«

»Ich bin doch sein Bruder? Ich hätte für ihn da sein müssen!«

»Ja, aber das warst du doch. Du warst unsere Augen und Ohren in der Schule. Du weißt, was läuft und wirst früher oder später rausbekommen, wer Tim das alles angetan hat.«

»Aber ich ... ich hätte hier sein müssen. So wie du?«

»Quatsch! Was ich getan habe, war alles andere als normal und ich hab' mich mehr als einmal gefragt, ob ich noch richtig ticke. Inzwischen bin ich mir sicher, dass nicht. Das Einzige, was zählt, ist, dass du jetzt da bist und dass du da bist, wenn er wieder wach ist. Er wird dich brauchen!«

Nico sprang auf und fiel mir in die Arme. Der Kleine heulte los und ich schloss mich ihm an. So richtig klar war mir der Grund für meine plötzliche Tränenflut nicht. Emotionale Anspannung, Freude über Tims Rettung oder riss mich Nico einfach nur mit? Vermutlich war es von allem ein bisschen.

Wir befanden uns noch im Zustand der gegenseitigen Umarmung, als Sonja zurückkehrte und uns beide erst einmal verblüfft ansah. Ich nickte ihr zu und sie verstand sofort, was los war. Ein kurzeitiges Aufflackern von Erleichterung in ihrem Gesicht sagte mir, dass sie Nicos Problem bereits kannte und froh war, dass es sich offensichtlich langsam auflöste. »Eine Sorge weniger«, schien ihr Gesichtsausdruck sagen zu wollen.

Sonja wartete bis Nico sie bemerkte und sich von mir löste. Ein kleines, fast winziges Lächeln huschte über sein Gesicht: »Wie geht es Timmy?«

»Soweit gut. Er war eben bei Bewusstsein und wir haben miteinander gesprochen. Jetzt schläft er.«, Sonja sah wirklich erleichtert aus. Dann sah sie mich an und ihre Mine verfinsterte sich: »Er darf wohl in vier oder fünf Tagen Besuch empfangen. Sven, wenn du ihn besuchst ...«, sie unterbrach sich, »... du solltest jemanden mitnehmen. Kuki oder Dirk!«

Ich sah sie an. Sie erwiderte meinen Blick. Mein Herz erstarrte zu Eis.

Deja Vue - Fehler in der Matrix

Es vergingen schließlich vier Tage, bis die Ärzte einen Besuch von »nicht Familienangehörigen« erlaubten. Wir, dass waren Kuki und ich, trafen uns mit Sonja im Krankenhaus.

»Ihr wollt ihn also wirklich Besuchen?«, Sonja sah uns forschend an und verunsicherte uns mit ihrer Frage.

»äh, ja ...«, Kuki und ich schauten uns gegenseitig fragend an. »Tim ist unser Freund. Er ist mein Freund. Du weißt doch, dass ich ihn liebe.«

Sonjas Gesicht drückte Mitleid aus: »Sven, bitte, erwarte nicht zu viel. Tim ist ...war krank. Es könnte ihn verändert haben. Sein Wesen verändert haben.«

Ich begann zu ahnen, was Tims Mum mir durch ein Dickicht von Blumen sagen wollte. Doch mein Verstand verweigerte sich bestimmten Erkenntnissen und stellte sich auf stur.

»Das wird schon nicht so schlimm sein. Noch was?«

»Ja, seid vorsichtig mit dem was ihr sagt. Überfordert ihn nicht.«

»Natürlich nicht.«

»Ich meine das ernst. Ich habe mit seiner Psychologin gesprochen. Sie meint zwar, dass er mental stabil ist und seine Freunde ihm helfen könnten, sich zu erinnern. Aber trotzdem, seid vorsichtig.«

»Sind wir. Sonja, du weißt doch, ich könnte Tim niemals weh tun! Niemals!«

Sonja schluckte und sah verbittert aus: »Nein, aber er vielleicht dir!«

Ich hörte weg. Bestimmte Dinge wollte ich einfach nicht wissen.


Wir entschieden, dass Kuki Tims Zimmer zuerst betreten und ich ein paar Schritte hinter ihm folgen sollte. Ich hatte Tage und Wochen an Tims Bett verbracht und über ihn gewacht, jetzt fehlte mir der Mut ihm gegenüberzutreten. Schon den ganzen Morgen über hatte ich ein flaues Gefühl im Magen gehabt und war, wie vor Klassenarbeiten, mehrmals zum Klo gerannt.

Kuki klopfte an der Tür, wartete drei Sekunden und drückte dann die Klinke herunter.

»Hallo?«, unser Altmetalllager steckte seinen Kopf durch den sich öffnenden Türspalt und luscherte ins Krankenzimmer.

»Kuki!«, Tims Stimme! Es war Timms Stimme in all ihrer Fröhlichkeit! Mein Herze ließ ein paar Schläge aus. »Mensch, toll das du gekommen bist. Komm doch rein.«

»Ich hab noch jemanden mitgebracht.«

»Soll auch rein kommen. Wer ist es denn? Dirk, Biene, Sven?«

»Sven!«

Schluck! Jetzt gab es kein zurück mehr. Ich folgte Kuki. Wir gingen durch die Tür. Und da lag, besser gesagte hockte Tim in seinem Bett. Er sah gut aus. Deutlich besser als noch vor ein paar Tagen. Die Blutergüsse von den Schlägen waren fast vollständig verschwunden. Einzig eine kleine kahle Stelle und eine Naht am Kopf waren zu sehen. Dies war wohl der Ort, an dem Tim operiert worden war.

»Aber das ist nicht Sven! Kuki, wer ist das?«

Ich erstarrte. Meine Beine wurden weich und begannen zu zittern. Übelkeit stieg in mir auf. Das war es also. Es war genau das, was ich befürchtet hatte und wovor mich Sonja warnen wollte. Tim konnte sich nicht an mich erinnern.

Ich war unfähig etwas zu sagen. Wie auch? Ich war schließlich auch unfähig zu denken. In meinem Schädel blinkte nur ein einziges Wort auf: »TILT!«

»Das ist Sven. Du kennst ihn«, Kuki kratzte sich an seinem Lippenring. »Du hast ihn gekannt.«

Tim musterte mich. Von oben bis unten und von links nach rechts. Sven unterm Scanner. Tim, ich bin es! Keine außerirdische Lebensform! Plötzlich lächelte er: »Wenn Kuki sagt, dass ich dich gekannt habe, dann wird das wohl stimmen.«

Tim zuckte entschuldigend mit seinen Schultern: »Es tut mir leid, aber ich kann mich an dich nicht erinnern. Ich weiß nicht, ob du es weißt, aber ich hatte wohl einen Unfall und teilweise mein Gedächtnis verloren.«

Tim lächelte mich an. Shit, ich schmolz dahin. Ich spürte, wie meine die Tränenflüssigkeit in meine Augen schießen wollten. Mit einem Ruck drehte ich mich um und rannte aus dem Zimmer. Ich konnte das nicht. Es war zu viel. Ich rannte auf die Toilette und schloss mich in einer der Kabinen ein. Ich heulte los. Tim kannte mich nicht mehr. Er wusste nicht, wer ich war oder was ich für ihn empfand und was er für mich empfunden hatte. Für ihn war ich ein Fremder.

Scheiße! Nicht Tim, sondern ich, ich ganz alleine, brauchte einen Psychologen. Was sollte ich ihm sagen? »Hi, Tim, ich bin Sven, dein schwuler Freund!«

»Schwuler Freund?«

»Ja, doch. Nur so nebenbei, du bist doch auch schwul! Wir lieben uns, wir schlafen miteinander und, übrigens, Sven, der andere Sven, ist Tod. Er wurde von schwulenfeindlichen Schlägern zu Tode geprügelt. Bei dir haben sie es nicht ganz geschafft.«

Nein, so was konnte ich ihm unmöglich sagen, oder?

Ich verließ das Klo, ging zum Waschbecken und schaufelte mir mehrere Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht. Eine dumme Idee. Ich hätte vielleicht vorher hinsehen sollen, dann hätte ich vielleicht bemerkt, dass es weder Handtücher noch Papiertücher gab. Nur einen infrarotgesteuerten Lufttrockner. Super, Svenni, dass hast du ja wieder perfekt hinbekommen.

Mit trockenen Händen und nassen Haaren kehrte ich zu Tim und Kuki zurück. Die Situation war beschissen, aber Tim aufgeben war keine akzeptable Option für mich. Niemals.

»Entschuldigung, aber mir geht es heute nicht besonders gut. Ich musste dringend zum ...«

»Ach was! Das ist Ok. Dies ist schließlich ein Krankenhaus. Aber, Sven, könntest du die Tür ...?«

Ähm, ja, ich konnte. Ich schloss dir von mir offengelassene Tür. Womit wir, Kuki, Tim und ich, jetzt mehr oder weniger alleine waren.

Tim sah von mir zu Kuki und wieder zurück.

»Ok ihr zwei. Mir sagt ja keiner was. Alle haben nur Sorge um meine ,geschundene Psyche`! Das kotzt mich an. Mum weicht mir auch nur aus. Also, was ist passiert. Ich kann mich an rein gar nichts erinnern.«

Tim sah mich an. Er wirkte nervös und beunruhigt. Es war die gleiche Nervosität, diese unterschwellige Spannung, die schon vor knapp einem halben Jahr zwischen uns bestand, als ich neben ihm auf einer Liegewiese am Schlachtensee lag. Dem Tag, an dem wir uns das erste Mal gesehen hatten.

Tim schüttelte seinen Kopf und bereute es sofort: »Aua, ich sollte eigentlich an meine Naht am Kopf denken. Sven, du ... du kommst mir bekannt vor, aber da liegt irgendwie ein Nebel auf meinen Erinnerungen. Shit, ich bekomme Kopfschmerzen.«

Kuki warf mir einen vielsagenden Blick zu und schwieg. Ich war nervös und schwieg auch.

»Also, wollt ihr mir jetzt sagen, was los ist, oder nicht?«

Kuki schaute auf den Boden: »Bist du sicher?«

Tim lächelte immer noch, aber es war kein fröhliches Lächeln, eher ein schiefes Lächeln, das aus Verunsicherung geboren war.

»Ich denke schon ...«, Tim zögerte bevor er weiter sprach. »Mir scheint fast ein halbes Jahr zu fehlen. Als ich aufwachte, dachte ich, es müsse Anfang oder Mitte August sein, aber wir haben November. Was ist passiert? Das war kein Unfall, oder?«

»Nein, war es nicht.«, Kuki konnte Tim nicht ansehen und sprach statt dessen mit Tims Bettgestell.

»Was ist passiert?«

»Du wurdest zusammengeschlagen.«

»Was? Ich wurde ...? Wieso?«, Tim war überrascht und verblüfft. An seiner Stelle wäre ich entsetzt gewesen, aber er war nur verblüfft.

Kuki sah mich hilfesuchend an, ich zuckte mit den Schultern. Wie soll man einem Menschen so was erklären. Ich versuchte es.

»Es ist sehr viel passiert. Wenn du dich wirklich an nichts erinnern kannst und das über eine so lange Zeit, dann weiß ich nicht, ob wir dir das erzählen können.«

»Bitte, tut es! Kuki, du bist mein Freund! Und wenn du, Sven, hier bist, dann nehme ich an, dass du auch mein Freund bist, oder?«

Kuki griff mir vor: »Und ob er das ist!«

»Kuki, nicht!«, ich wusste nicht, ob ich das durchstehen würde. »Wenn wir dir erzählen, was los ist ... Nein, ich kann es nicht.«

»Sven ist Tod!«, kurz und schmerzhaft. Kuki hatte sich für die Schockmethode entschieden. Tims Reaktion war entsprechend. Erst klappte sein Unterkiefer herunter, anschließend wich sämtliche Farbe aus seinem Gesicht, um kurze Zeit später mit einem kräftigen Rotton wieder zu kehren. Aus seinem Mund entwich ein undefinierbares Geräusch, dass einer Vereinigungsmenge der Gefühle Entsetzen, Überraschung, Trauer und Schmerz gleichkam.

»Sven ist ... Tod?«

»Ja. Ihr wurdet beide zusammengeschlagen. Sven hat es nicht überlebt.«

Tim fasste sich an seinen Kopf. »ähhh ...«, nach seiner Mimik zu urteilen hatte er Schmerzen.

»Tim, was hast du?«, entsetzt sprang ich Tim entgegen, doch er wehrte mit einer Handbewegung ab. Ich stoppte: »Ist alles in Ordnung?«

»Ja! Nein! Ich habe Kopfschmerzen ...Aber es geht langsam wieder. Kuki, Sven, Sven , erklärt es mir. Was? Wie? Wann? Wo? Warum? Wer?«

Ein ausgesprochen mulmiges Gefühl beschlich mich. Ein Gedanke, der einfach nicht sein konnte - nicht sein durfte - dämmerte am Horizont meines Bewusstseins empor. Konnte es wirklich so einfach sein? Und auch so abgrundtief kitschig? Wo befand ich mich? In einem Arztroman aus der nächstgelegenen Bahnhofsbuchhandlung?

»Wo setzt deine Erinnerung aus?«

Tim entspannte sich und dachte nach: »Ich weiß nicht genau. Ich glaube, dass Letzte woran ich mich erinnere, ist, dass die ganze Gang an den Schlachtensee wollte. Aber das war im Sommer ...«

Ich war definitiv in einem Arztroman gelandet. Tim hatte schlicht und einfach unsere komplette Beziehung von seiner Festplatte gelöscht. Mit anderen Worten: Vor mir lag Tim Mannteufel, der Junge, den ich liebte, der aber nicht die geringste Ahnung davon hatte und der nicht wusste, dass er mich ebenfalls mal geliebt hatte. Und das aus einem einfachen Grund: Schließlich wusste er ja nicht mal mehr, dass er schwul war.

Ein einmaliger Notfallgefallen

Portland

Jimmy Reynolds sah Thimo verblüfft an. Konnte Tanner den Fall manipuliert haben?

»Die Idee ist mir noch gar nicht gekommen. Ich werde da mal nachforschen. Ich glaube es wird Zeit, dass ich einen Gefallen einfordere.«

Marcels Vater sah auf seine Uhr: »Wir müssen zurück in den Gerichtssaal. Die Pause, die uns die Cunningham gewährt hat, ist vorüber. Mist, ich weiß immer noch nicht, wie wir weiter vorgehen sollen.«

Jimmy sah Thimo nachdenklich an: »Meinst du, du könntest dich unter Kontrolle halten und so was wie vorhin nicht noch einmal abziehen?«

Thimo hielt dem Blick stand: »Ja!«

»Auch, wenn alles, was Marcel wiederfahren ist, vor den Geschworenen ausgebreitet wird?«

Thimo nickte: »Ja!«

»Ok, dann machen wir Folgendes ...«


»Euer Ehren, bevor wir mit der Verhandlung fortfahren, möchte mein Mandant eine Erklärung abgeben.«

»Erhebt die Staatsanwaltschaft Einspruch?«

Selbstsicher schüttelte Bezirksstaatsanwalt Tanner seinen Kopf und spielte mit einem Kugelschreiber: »Keine, Euer Ehren!«

Thimo erhob sich. Er richtete seine Augen auf die Geschworenen und sprach mit ruhiger sachlicher Stimme: »Ich möchte mich für meinen Ausbruch beim Gericht entschuldigen. Es ist einfach mit mir durchgegangen. Ich habe Scott nicht getötet. Ich wollte nur, dass der Staatsanwalt aufhört, Marcel zu quälen.«

Tanner warf Thimo einen bösen Blick zu: »Ich? Quälen?«

Die Geschworenen waren überrascht. Es sah zu mindestens so aus. Der eine oder andere zog seine Augenbrauen hoch. Manche ließen sogar ein überraschtes Zischen von sich hören.

Richterin Cunningham war ähnlich verblüfft: »Nur damit wir hier alle klar sehen, Ihr Mandant will seine Einlassung nicht abändern?«

Jimmy Reynolds erhob sich: »Ja, Euer Ehren. Mein Mandant plädiert weiterhin auf Nicht schuldig

Ein Geschworener konnte sich nicht zurückhalten und gab einen Pfeiflaut von sich - und erntete einen strengen Blick von der Richterin.

Felicitas Cunningham rückte ihre Brille gerade, musterte einen Augenblick Thimo, schüttelte ihren Kopf und murmelte schließlich: »Herr Staatsanwalt, ich denke Sie haben noch einen Zeugen zu befragen.«

»Ähm, ja euer Ehren.«

Tanner erhob sich von seinem Schreibtisch und ging herüber zum Zeugenstuhl, auf dem nach wie vor Marcel saß. Zu Thimos, Marcels und seines Vaters Überraschung schien Tanner unsicher geworden zu sein. Er sah ein paar Mal von Marcel zu Thimo und wieder zurück, zögerte einen Moment und sagte schließlich:

»Ich habe keine weiteren Fragen.«

»Was ist denn jetzt los?«, Thimo flüstere.

»Er ist unsicher und weiß nicht, ob es ihm etwas bringt, wirklich alles offen zu legen.«

»Ein Glück, dann braucht Marcel nicht aussagen.«

»Irrtum, ich werde ihn fragen. Es wird ihm helfen und es wird dir helfen. Wir müssen zeigen, dass wir nichts zu verbergen haben.«

Jimmy erhob sich und nahm seinen Sohn ins Kreuzverhör. Bevor er mit seiner ersten Frage loslegte, nahm er Blickkontakt mit seinem Sohn auf: Bitte, vertrau mir! Marcel nickte.

»Wofür hat sich Scott bei dir entschuldigt?«

»Einspruch!«, Tanner blockte.

»Warum? Es ist Ihre Frage gewesen?«

»Das seh' ich auch so. Abgelehnt! Der Zeuge darf die Frage beantworten.«

Traurig und schüchtern sah Marcel seinen Paps an. Dieser lächelte, blinzelte mit seinen Augen und drückte damit aus, dass nichts passieren würde.

»Scott ...«, Marcel musste ein paar Mal Schlucken. Sein Mund und Hals waren vor Aufregung völlig trocken und so hatte seine Stimme versagt: »Scott hat ... Er hat mich seit Jahren zu Sex gezwungen. Er hatte mich vergewaltigt und bat mich jetzt, ihn dafür zu verzeihen.«

Marcels Blick senkte sich. Man konnte spüren, dass er sich schämte, obwohl er keinen Grund dazu hatte. Er war nicht der Täter gewesen, er war das Opfer. Durch die Geschworenenbank zog ein Raunen.

»Ich weiß, dass dir das sehr schwer fällt, aber könntest du das genauer erklären?«

Marcel erzählte. Stockend, aber er erzählte. Thimo atmete auf. Er konnte sehen, dass Marcel inzwischen das Geschehene sprechen konnte. Es war nach wie vor schwer und Marcel trank eine Menge Wasser, aber er kam damit klar. Während er erzählte, wurde es im Gerichtssaal sehr still. Die Öffentlichkeit war ausgesperrt, aber Anwälte, Gerichtsdiener, Richter und Geschworene waren immer noch da.

»Welche Rolle hat der Angeklagte dabei gespielt?«

»Thimo? Thimo ist der Mann, den ich liebe! Er hat mich gerettet. Er hat Scott klar gemacht, dass er die Finger von mir lassen soll.«

Oh, das war ein Eigentor! Jimmy Reynolds zog eine Grimasse, als wenn er auf eine Zitrone gebissen hätte. Marcel hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Nur der Staatsanwalt strahlte.

»Wie ist das zu verstehen?«

»Sie haben sich geprügelt. Thimo hat um mich gekämpft! Um mich!«

»Hat er Scott dabei verletzt?«

»Bestenfalls sein Ego. Nein, ganz im Gegenteil. Thimo wurde niedergestochen!«

»Gut, was hast du zu Scotts Bitte um Verzeihung gesagt?«

»Dass er krank im Kopf ist und dass das nicht so einfach geht.«

»Und was hat Thimo dazu gesagt?«

»Das es meine Entscheidung ist, ob ich Scott verzeihe. Er hat mich dazu gebracht, darüber nachzudenken. Thimo kann Scott nicht umgebracht haben. Es macht logisch überhaupt keinen Sinn!«

»Einspruch, der Zeuge spekuliert!«

»Stattgegeben!«

»Ich habe keine weiteren Fragen.«

»Dann ist der Zeuge entlassen. Das Gericht vertagt sich auf Montag 10:00 Uhr. Die Verhandlung ist geschlossen.«

Der Richterhammer fiel mit einem lauten Klack. Es war Donnerstagabend. Drei Tage Zeit, eine neue Verteidigung aufzubauen.


»Könnt ihr hiermit was anfangen?«

Thimo, Marcel, Ellen und Jimmy Reynolds saßen in seinem Anwaltsbüro. Der Begriff »Büro« war allerdings eine maßlose Übertreibung. Jimmys Büro hatte die Dimension einer etwas zu groß geratenen Besenkammer. Und so war es auch eingerichtet. Sämtliche Wände waren mit Bücherregalen vertäfelt, in denen sich Unmengen von Büchern kreuz und quer stapelten. In manchen Fächern waren die Bücher sogar in mehrere Reihen hintereinander gequetscht worden.

Thimo verfügte zwar über keine juristische Ausbildung und konnte unmöglich sagen, was die Bücher und Folianten zu sagen hatten, aber er war sicher absolut sicher, dass ihre Anordnung keiner systematischen Ordnung unterlag. Ein Buch landete dort, wo Platz war.

Neben den Regalen gab es noch einen zweiten Einrichtungsgegenstand: Einen Schreibtisch - Eiche massiv. Linker- und rechterseits gab es Fächer, die natürlich ebenfalls überquellen. Auf dem Schreibtisch stand ein sehr moderner Rechner (ein Stilbruch), eine Schreibtischlampe mit länglichen grünen Glaslampenschirm und, wenn man genau hinsah, eine grün-türkise Schreibunterlage. Natürlich war der Schreibtisch mit massenweise Zetteln übersät.

Jimmy Reynolds Büro war der Ursprung sämtlichen Chaos auf dieser Welt. Das Maximum der Entropie.

Um sich setzen zu können, mussten Marcel und Thimo erst einmal den Stuhl gegenüber von Jimmys Schreibtisch frei räumen. Und auch das nur, damit sich Ellen setzen konnte. Marcel und Thimo setzten sich jeweils auf einen Stapel Bücher - Kommentare zu Gesetzen - die in den Ecken des Büros vorfanden.

Jimmy kreiste mit seiner rechten Hand kurz über seinem Schreibtisch, zielte, packt zu und fuchtelte schließlich mit einem Zettel vor sich rum.

»Was ist das?«, Marcel stellte dir Frage, die alle dachten.

»Das Ergebnis des Gefallens den ich eingefordert habe.«

»Und was steht drauf?«

»Man hat mir nur zwei Namen genannt. Mehr war wohl nicht drin.«

»Was für Namen? Und was für einen Gefallen?«

»Der Gefallen? Jemand in der Staatsanwaltschaft schuldet mir noch etwas, weil ich ...Wie sagt ihr heute so schön: ,... ihm den Arsch gerettet habe ...` Die Namen? St. James School für Boys und Vandenberg, Alexander Sean. Kann jemand was damit anfangen?«

»Was ist das für eine Schule?«

»Hab' ich überprüft. Eine sehr exklusive, dass heißt eigentlich nur extrem teure, Privatschule in der Nähe von Kennybunk Port. Was den anderen Namen betrifft ...«, Jimmy zuckte mit seinen Schultern. »Keine Ahnung. Es muss aber wichtig sein. Das war ein einmaliger Gefallen und nur für absolute Notfälle bestimmt.«

Thimo sah Marcel fragend an, aber der schüttelte auch nur seinen Kopf:»Sagt mir überhaupt nix. Ist das ein Schüler dieser Schule?«

»Nun, dass lässt sich doch rausbekommen. Moment ...«

Jimmy griff präzise zielend unter einen Stapel Zettel und beförderte ein Telefon an die Oberfläche. Er rief die Auskunft an und hatte nach knapp einer Minute die Nummer der Schule rausgesucht bekommen. Jimmy Reynolds hörte ein Freizeichen und wenig später eine weibliche Stimme.

»Ja, guten Tag. Mein Name ist Rice, Edward Rice, man hat mir ihr Institut empfohlen und ich erwäge, meinen Sohn bei ihnen anzumelden. Was? Zahnarzt ... Ich betreibe eine Privatklinik ...Wer Sie mir empfohlen hat? Die Vandenbergs ... Ihr Sohn, Alex, war ... Hallo? ... Hallo? ... Aufgelegt! Ich muss wohl was Falsches gesagt haben.«

»Ach Paps, so bekommst du heute doch keine Informationen mehr ... Thimo übernehmen Sie!«

Marcel strahlte seinen Freund an, der sich grinsend erhob, um den Schreibtisch ging und sich auf Knien vor Jimmy PC hockte.

»Setz dich auf meinen Stuhl«, Jimmy erhob sich und überließ Thimo das Feld. »Kann dein Freund das?«

»Können ist gut. Thimo spielt auf dem PC wie Geiger auf einer Stradivari. Nich' wahr mein Kleiner?«

»Was immer du sagst ... Ok, die Schule hat eine Homepage. Das ist doch schon was. Mal sehen, was die für einen Server verwenden ... Schade, kein IIS¸ die Microsoftteile sind ja meistens leicht zu knacken ... Oh, wie modern. Die verwenden ein CMS, ein Content Managment System, zum Verwalten ihrer Site. Zope unter Linux, nicht schlecht, aber schlecht konfiguriert. Wie kann man einem Hacker wie mir nur freiwillig so viele Informationen preisgeben. Tja, wenn man den Serverstring nicht abschaltet ...«

»Thimo ... Bitte kein Fachchinesisch. Wir glauben dir, dass du gut bist.«

»Ok, ok. Mal weitersehen ... So, jetzt heißt es abwarten.«

Thimo legte sich zufrieden in seinem Stuhl zurück. Drei Augenpaare sahen ihn mit Verblüffung und sehr irritiert an.

»Was denn?«, Thimo sah erstaunt von Augenpaar zu Augenpaar.

»Sohn, du weißt, was du da machst? Das müssen wir jetzt nicht verstehen, oder?«, Ellen sah ihren Sohn mit einer Mischung aus Skepsis und Ehrfurcht an.

»Ja ...«, Thimo fuchtelte ungelenk mit seinem Finger rum und deutete mit beiden Zeigefingern auf den Monitor. »Ich brech' da in den Rechner ein.«

»Du bist ein Hacker?«

»Ähm ... tja ... also ... Jein! Ach Mama! Sieh mich nicht so an! Ich bin kein Hacker! Na ja, kein wirklicher. Du weißt doch, dass ich auf Fehmarn für Hinrichsens Webbude den Sysop gemacht habe. Da musste ich auch Hacker abwehren, da lernt man schon einiges.«

»Und was machst du jetzt gerade?«

»Ach nichts weiter. Das CMS hat einen Verwaltungszugang, der kennwortgeschützt ist. Ich lasse jetzt ein Programm laufen, dass alle möglichen Kennwörter ausprobiert. Es versucht sich zuerst mit Wörtern, die es aus der Webseite extrahiert, dann einem Wörterbuch der häufigsten Passworte und probiert auch ein paar Permutationen aus. In den meisten Fällen kommt man recht schnell zum Erfolg.«

Piiiiep!

»So wie jetzt ... Oh, wie primitiv: Schulheft«

»Und jetzt?«

»Jetzt sehen wir mal, was auf dem CMS-Server sonst so rumliegt. Hm, so wie es aussieht, lagern die auch ihre Schülerdatei auf dem System. Ah, da haben wir ihn ja ... Alexander Sean Vandenberg ... Oh ...«

Thimo wurde käsebleich.

»Thimo was ist denn?«

»Hier steht, dass Alex Vandenberg die Schule nach einem Selbstmordversuch verlassen hat. Mein Gott, dass kann nicht wahr sein ...«

»Thimo, nun sag' schon was los ist!«, Ellen war besorgt und schon ein wenig panisch. Typisch Mütter.

»Mir ist etwas eingefallen, dass Sam erwähnt hatte. Ich muss das sofort prüfen. Moment noch ...«

»Sam?«, Ellen waren die vielen neuen Namen unheimlich.

»Samuel del Ray, einer der Footballspieler und Freund ... Treffer! Diese zwei Namen sind Dynamit. Wisst ihr, wer zum gleichen Zeitpunkt die Schule verlassen hat? Unser lieber Brandon!«

Sven läuft weg und kommt bis zum Kaffeeautomaten

Berlin

»Warum hat man uns zusammengeschlagen?«

»Weil dich ein paar Typen ziemlich hassen!«

»Wieso? Was für Typen? Nazis, Skins, was für Typen?«

Kuki war mit der Situation überfordert. Ich eigentlich auch. Schließlich waren wir keine ausgebildeten Psychofuzzis. Wir hatten so was nicht studiert. Wir waren Schüler, 16 bzw. 17 jährige Schüler.

»Tim ich glaube für heute reicht es ...«, Kuki wollte nur schnell weg. Panik?

»Nein! Bitte bleibt. Ich seh' ja, dass euch das nah geht. Ich bin nicht blind. Aber bitte, ihr seid die Einzigen, die mir die Wahrheit sagen. Alle anderen weichen aus und sehen betreten weg. Bitte!«

Ich seufzte und atmete tief ein und aus. Dabei spürte ich plötzlich die Kette um meinen Hals. Die Kette mit der halben Goldmünze, die mir Tim zu meinem Geburtstag geschenkt hatte. Ich sah Tim an und entdeckte bei ihm ebenfalls eine Kette um seinen Hals. Die Polizei hatte sie am Tatort im Schlamm gefunden, als sie dabei war, die Spuren zu sichern. Sie war gerissen, aber ich hatte sie sofort zu einem Juwelier gebracht, der sie dann auch sofort reparierte. Es war zwar mit einiger Überredungskunst verbunden, aber schließlich hatte die Oberschwester noch auf der Komastation eingewilligt, dass ich Tim seine Kette wieder umhängen durfte.

Ich wusste, dass ich alles auf eine Karte setzte, aber was hatte ich zu verlieren. Ich zog die halbe Goldmünze hervor und hielt sie Tim hin.

»Kennst du die?«

Tim stutzte und zog seine Augenbrauen hoch. Unwillkürlich wanderte seine Hand zu seiner Brust genau an die Stelle, an der seine Hälfte der Münze hängen musste.

»Ja, dass ist die Goldmünze meiner Oma. Woher hast du sie?«

»Du hast sie mir geschenkt. Du hast sie mir an meinem Geburtstag umgehängt. Weißt du, was sie bedeutet?«

Tim war mit seinem Gedanken weit weg. Seine Augen schauten wie gefesselt auf das funkelnde Gold. Als er sprach, war es wie in Trance.

»Ja ...«, Tim zögerte etwas mit seiner Antwort. »Ich wollte sie irgendwann mal meiner Freundin schenken ... Nicht irgendeiner ... Sondern einer, die ich wirklich lieben würde.«

Kuki hielt seinen Atem an. Ich sagte nichts und beobachtete Timmy. Wie würde er reagieren?

Als Erstes griff er sich erneut an seinen Kopf. Die schmerzverzerrte Grimasse machte jede Frage überflüssig, ein erneuter Migräneanfall hatte Tim im Griff.

»Ahhh ...«, Tim biss seine Zähne zusammen und drückte seinen Kopf.

»Alles in Ordnung?«, Kuki sprang auf, doch Tim winkte ab.

»Nein! Verdammt. Ahhrrg ...«

»Sollen wir einen Arzt rufen!«

»Nein!«, Tim fauchte aggressiv und etwas ruhiger: »Es geht schon wieder ...«

Das sah aber gar nicht so aus. Tim hatte seine Augen fest zusammengekniffen, seine Lippen hatten sich zu einem dünnen Strich verengt. Seine Hände ballten sich zu Fäusten als er, immer noch mit geschlossenen Augen, wieder zu sprechen begann: »Es ist nur ... Immer wenn ich mich versuche ... argh ... Es ist, als wenn mein Schädel gleich platzen würde.«

Entsetzt sah ich die Münze an, die an ihrer Kette von meiner Hand herab baumelte. Sie musste Tims Anfall ausgelöst haben.

»Ich glaub für heute ist es wirklich genug ...«, Tim quälen? Niemals!

Ich wollte gerade meine Hand zurückziehen, als Tim mit einer völlig unerwarteten und blitzschnellen Bewegung mein Handgelenk packt und mit einer ungeheuren Kraft fest hielt.

»Nein!«, seine Stimme war streng und aggressiv, mindestens so aggressiv, wie die Kraft seiner Hand. »Wo hast du die Münze her?«

»Das willst du nicht wissen! Und ich will dir nicht weh tun! Niemals, das hab' ich dir versprochen!«

Mit aller Kraft riss ich mich los. Riss die Kette mit mir und lief aus dem Zimmer. Ich rannte und kam erst an einem kleinen Krankenhauscafé wieder zu mir. Ich konnte Tim einfach nicht die Wahrheit sagen. Nicht, wenn es ihn derart quälen würde. Mit leicht zittrigen Händen steckte ich eine Münze in einen Kaffeeautomaten und zog mir einen Becher dieser heißen, braunen Brühe. Es war zwar Herbst, November und kalt, sogar saukalt. Aber nicht im Krankenhaus. Trotzdem fröstelte mir. Ich nahm meinen Becher, setzte mich an einen der freien Tische, wärmte meine Hände an dem Becher und studierte gedankenversunken die kleinen Bläschen auf der Oberfläche des trüben Gesöffs.

Tim aufgeben? Wenn es sein muss. Es war alles so, wie ich es habe kommen sehen - und wie ich es nicht wahrhaben wollte. Ich hatte sämtlichen Anzeichen ignoriert oder beiseite geschoben. Tims Erinnerung setzte genau dort aus, als wir uns kennen gelernt hatten. Kennen und lieben gelernt, wenn man es genau nahm. Er hatte diese Erinnerungen einfach verdrängt, gelöscht, negiert. Faktisch waren wir wieder am Anfang. Oder, nein, er war wieder am Anfang. Er war wieder der verunsicherte Hetero, ich hingegen ...

Wie auch immer. Ich liebte ihn noch immer. Ich konnte ihm einfach nicht weh tun, ihn verletzen. Ich ertappte mich bei einem bösen Gedanken, für den ich mich sofort schämte: Wäre Tim gestorben, es wäre leichter für mich gewesen. Wir hätten unsere Liebe gehabt. Unvergessen und unwiderruflich. Doch so? Tim hatte seinen Teil einfach gelöscht. Er hatte die Datei »Tim und Sven« einfach gelöscht. Futsch ...

Ein Papiertütchen Kristallzucker löste sich in meinem Kaffee auf. Gedankenversunken ließ ich das Rührstäbchen rotieren.

Nein, ich würde Tim nicht im Weg stehen. Wenn ihm ein neues Leben geschenkt worden war und dieses ohne mich stattfinden sollte, dann würde ich das akzeptieren.

»Bäh!«, der Kaffee war scheußlich, viel zu süß.

Viel besser als der Kaffee, war die Situation, in der ich mich befand, auch nicht gerade. Einfach ungenießbar süß, geradezu von barocker Schwülstigkeit. Der selbstlose Sven opfert sich aus Liebe zu Tim! Das war wirklich »Bäh«, das war »Mega-Bäh.« - Dumm nur, dass es genau meine Lage beschrieb. Ich lebte in einen Kitschroman. Na super!

»Wie viel Zucker willst du dir eigentlich noch in den Kaffee kippen?«

Vor Schreck fast vom Hocker fallend, drehte ich meinen Kopf in Richtung der mich ansprechenden Stimme und entdeckte einen Haufen Metall, hinter dem sich ein gewisser Kuki verbarg.

»Oh, äh ...Was hast du gesagt?«

»Ich fragte, wie viel Zucker du noch in deinen Kaffe kippen willst. Da liegen gut sieben leere Tüten vor dir.«

»Oh, ach so ... Kuki, ich habe eine Entscheidung getroffen.«

»Das klingt ernst, na, dann lass mal hören.«

»Ich werde Tim in Frieden lassen. Er hat alles vergessen, was wir zusammen erlebt haben.«

»Stimmt, dass ist mir auch schon aufgefallen. Na und?«

»Nichts ,Na und?` Ich lass ihn ziehen. Ich will ihn nicht weiter quälen. Er hat die Chance sich neu zu entscheiden und ich will ihm dabei nicht im Weg stehen. Dafür lieb ich ihn viel zu sehr.«

»Sven?«, Kukis Lippen bildeten eine gekräuselte Linie, obendrein hielt er seinen Kopf schief, sah mich provozierend an und verschränkte die Arme vor seiner Brust.

»Ja«

»Du bist zwar ein geiles Stück Mann, aber manchmal bist du ein megaegozentrisches Arschloch. Da möchte ich die am liebsten an die nächste Wand klatschen!«

»Hä?«, in welchen falschen Film war ich denn nun wieder geraten.

»Oh, du nobles Wesen. Du Sonnenstrahl in tiefster Finsternis. Deine Selbstlosigkeit lässt uns Sterbliche erbleichen und wir werfen uns vor dir in den Staub.«

»Hä! Was ist das jetzt für eine Scheiße?«

»Das wollte ich dich auch gerade fragen. Was ziehst du hier für eine Arie ab. Tim wurde fast todgeprügelt, er hatte ein massives Gehirntrauma und jetzt kann er sich an manche Sachen nicht mehr erinnern. Ja, und wo ist das Problem? Dann helfen wir ihn eben dabei, dass er es wieder kann.«

»Ja, aber ist dir nicht aufgefallen, an was er sich nicht erinnern kann?«

»Natürlich ist mir das aufgefallen. Mein Gott, das bisschen Psychologie hätte ich von dir schon erwartet. Sein Hirn hat seine Schotten dichtgemacht. Wundert dich das? Es will nicht an Sven erinnert werden. An Sven und alles, was damit zu tun hat. Und mehr oder weniger fing die ganze Geschichte im Sommer an. Mit dir! Oder nicht?«

»Na also! Also werde ich sie auch wieder beenden.«

»Toll, ganz toll. Du beendest sie also einfach. Hast du mal Tim gefragt, was er davon hält? Natürlich nicht! Unser ach so edler Sven hat mal wieder eine Gelegenheit gefunden, um uns allen seine grenzenlose Selbstlosigkeit zu demonstrieren. Man, das kotzt mich an!«

»Das hat Sven auch gesagt«, ich wurde kleinlaut. Zu meiner Überraschung wurde Kuki aber auch kleinlaut.

»Oh, es tut mir leid. Ich ...«

»Vergiss es! Du hast ja Recht. Sven hatte auch Recht. Es steckt einfach in mir drin. Was soll ich tun? Ich weiß nicht, wie ich Tim gegenübertreten soll.«

»Wieso dass den nicht?«

»Na du bist gut! Wie stellst du dir das denn vor? Hi Tim, du kannst dich nicht daran erinnern, aber übrigens, du bist schwul. Ich übrigens auch, wir sind seit 'nem halben Jahr zusammen und hatten beim Ficken viel Spaß. So etwa?«

»Warum nicht?«, Kuki grinste.

»Ok, wen frag ich da eigentlich? Du würdest so was bestimmt bringen!«

Jetzt musste ich auch lachen. Hatte Kuki es mal wieder geschafft.

»Sven? Denk mal nach. Glaubst du Tim wird nicht erfahren, was im letzten halben Jahr so alles passiert ist? Wie ihr zwei zusammen gekommen seid, die Sache mit seinem Vater, Svens Tod und was damit zusammen hing? Glaubst du das wirklich?«

Er hatte wieder mal recht: »Nee, wohl nicht.«

»Na also. Warum sollte er es dann nicht von jemanden erfahren, der ihm viel bedeutet oder bedeutet hat? Warum nicht von dir?«

»Ich habe Angst ...«, da war ich wohl das erste Mal ehrlich zu mir selbst. Es geschehen noch Zeichen und Wunder.

»Natürlich hast du Angst. Er aber auch! Liebst du ihn oder nicht?«

»Blöde Frage, natürlich lieb ich ihn!«

»Dann handle auch so!«, Kuki sah mir tief in die Augen. »Er erwartet dich und will mit dir reden. Jetzt!«

Fehler in juveniler Kommunikaiton

Portland

Keiner der Anwesenden verstand so richtig, was Thimo soeben gesagt hatte.

»Gut, Brandon war auch auf der Schule, und?«, Marcel machte eine Handbewegung die seine Frage unterstrich, so als wenn sie sagen wollte: »Und was bedeutet das für deinen Prozess?«

Thimo lehnte sich in seinem Stuhl zurück: »Sam hat mir erzählt, dass Brandon bevor er auf die Liberty High kam, auf eine Privatschule ging. Das ist an und für sich nichts Besonderes. Interessant wird es erst, wenn man weiß, dass Brandon die Schule nicht freiwillig verlassen haben soll. Man hat ihm nachdrücklich zu dieser Entscheidung geraten, nachdem ein Schüler versucht hat, sich umzubringen.«

»Alex!«, Marcel nickte zustimmend.

»Das ist anzunehmen«, und Thimo grinste ihn an, weil er wusste, dass seinem Freund der gleiche Gedanke gekommen war, wie ihm.

Ellen sah noch etwas verwirrt aus, offenbar waren ihr die Zusammenhänge noch nicht ganz klar: »Und wie soll das deinen Fall retten?«

Und wie soll mich das vor der Todesstrafe retten? übersetzte Thimo den Satz seiner Mutter für sich selbst.

»Wenn mich nicht alles täuscht, ist Alex einer von uns.«

»Wie?«

»Mama, sei nicht so schwer von Begriff. Er ist schwul! Brandon ist ein ausgemachtes homophobes Arschloch. Er versteht Leute zu manipulieren und weiß, wie man an einer Schule Macht akkumuliert. Und wie Marcel und ich aus leidvoller Erfahrung wissen, kann Brandon einem das Leben verdammt schwer machen. Marcel hat ja auch ...«

Thimo biss sich auf die Zunge und warf einen unsicheren Blick zu Marcel herüber. Der wurde kurz blass, seufzte und schüttelte den Kopf.

»Marcel ... ich wollte nicht ...«

»Es ist gut. Paps weiß Bescheid, dass ich versucht habe, mich umzubringen. Es liegt hinter mir. Eine weitere unangenehme Erinnerung. Aber ich kann damit umgehen. Dank dir!«

Dies war wieder einer der Momente, in denen das besondere an Marcels und Thimos Beziehung fast real zu spüren war. Beide Jungs sahen sich tief in die Augen und vergaßen für einen Moment die Welt.

Später, als Ellen mit Jimmy Reynolds allein war, fragte sie Marcels Vater: »Die beiden sind mir unheimlich.«

»Du hast es auch bemerkt?«

»Ja. Zwei so junge Menschen ... Keine 18 Jahre alt. Wie kann man so total ineinander aufgehen?«

»Ja, es geht weit über das hinaus, was man so als Jugendliebe bezeichnen könnte. Mir ist fast, als hätten die beiden die ganze Zeit aufeinander gewartet ...«

Marcel griff das Gespräch wieder auf: »Du wolltest noch was erklären.«

»Richtig! Alex! Ich denke, wir sollten versuchen mit ihm zu sprechen und rausbekommen, was damals passiert ist. Ich kenn ja das amerikanische Rechtssystem nur aus TV-Serien, aber wenn ich richtig liege und Brandon verwickelt ist, dann könnte das Ganze auf ,Berechtigte Zweifel` rauslaufen? Oder?«

»Das ist der Terminus, ja. An was denkst du?«

»Brandon hat beim Selbstmordversuch mitgeholfen. Warum sollte er bei Scotts Tod nicht ebenfalls beteiligt gewesen sein?«


Die St. James School for Boys hatte tadellos gepflegte Akten. Mit ein paar Tastendrücken hatte Thimo die Akten von Alexander Vandenberg und Brandon auf den PC von Jimmy Reynolds kopiert. Neben den üblichen Daten, wie Zensuren, Beurteilungen der Lehrer und Testergebnissen, gab es auch Daten zur Person. Man hatte nicht nur die alte Adresse der Schüler gespeichert, sondern auch deren neue Adressen, inklusive des Namens ihrer neuen Schulen, die sie besuchten, nachdem sie die St. James School verlassen hatten.

Thimo hatte Glück. Alex wohnte jetzt in Portland und ging auf die John F. Kennedy Memorial High School. Die JFK war zwar eine staatliche Schule, genoss aber trotzdem einen recht brauchbaren Ruf.

Am nächstem Morgen, einem Freitag, fuhren Thimo und Marcel zur JFK. Da Thimo vom Unterricht suspendiert war, stellte dies für ihn kein Problem dar. Marcel hingegen ließ sich nicht davon abbringen, den Unterricht zu schwänzen und mitzufahren.

In den Unterlagen der Schule befand sich auch ein Bild von Alexander Vandeberg. Allerdings war dieses Bild bereits vier Jahre alt. Es zeigte einen ca. 15 jährigen, schüchternen und ängstlich wirkenden Jungen. Als Marcel das Foto sah, musste er sofort loslachen: »Oh mein Gott, das arme Schwein. Mit der Aufmachung hätte ich mich auch versucht umzubringen!«

»Hast du ja!«, Thimo präsentierte sein Zähne.

»Deine Witze waren auch schon mal geschmackvoller. Aber sieh' dir das Bild selbst an.«

Thimo sah und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn: »Oh, no! So was bringen nur Mütter fertig.«

Alex war auf süß getrimmt worden. Mit Klamotten Marke »Konfirmationsanzug« hatte man, dass heißt mutmaßlich seine Mutter, Alex auf braves Muttersöhnchen gestylt. Ein Outfit und Auftreten, für dass man ihn sicherlich nicht nur gehänselt, sondern auch gegretelt haben dürfte.

»Ok, wir suchen also Mamas Liebling.«

Beide Jungs schüttelten ihre Köpfe, trotzdem hofften Thimo und Marcel, Alex unter all den andern Schüler erkennen zu können.

Sie erreichten das Campusgelände gerade rechtzeitig zur Mittagspause. Es wimmelte von Schülern. Es war Spätherbst, Anfang Dezember. In den letzten Tagen war das Wetter kalt geworden. Sehr kalt sogar. Der nahende Winter schickte einen frühen Gruß übers Land, was zur Folge hatte, dass die meisten Schüler sich in dicke und dickste Klamotten eingemümmelt hatten, inklusive klobigen Thermohandschuhen und -Mützen. Die Identifizierung von Alex würde dadurch sicher nicht einfacher werden.

»Was machen wir jetzt?«, Marcel saß auf dem Beifahrersitz und sah Thimo fragend an.

»Unters Volk mischen?«

»Ok!«

Marcel wollte gerade aussteigen und hatte seine Hand bereits am Türgriff, als Thimo ihn stoppte. »Sie mal da drüben.«

Da Thimo den Motor bereits abgestellt hatte, wurde es im Wagen schnell kalt und die Fenster begannen zu beschlagen. Marcel wischte eine Stelle frei und blickte raus: »Ah, wie bei uns, Cliquenbildung. Fragen wir die?«

»Klar!«

Beide Jungs verließen den Wagen. Die JFK war ein staatlicher Vorzeigebau der 80iger Jahre. Ein großzügig angelegter Campus, durchsetzt mit ein bis dreigeschossigen Gebäuden. Braun eloxierte Aluminiumfassaden, Wege aus Waschbetonplatten, immergrüne Nadel- und Strauchgewächse und dazwischen kleine Sport- und Aufenthaltsplätze auf denen sich kleine Gruppen von Schülern gebildet hatten. Oberflächlich betrachtet schien die JFK eine High School wie jede andere zu sein. Nicht ganz so nobel wie die Privatschulen, aber nicht schäbig oder verwahrlost.

So verwunderte es nicht auch nicht sonderlich, dass auch an dieser Schule die gleichen Leute zusammenstanden, wie an der Liberty High. Die Latinos waren unter sich, die Schwarzen, die Streber, die Normalos, die Retropunks, die Nazis, ein paar Gothics, die Jocks. Jeder hatte sein kleines Getto.

Marcel und Thimo steuerten die erste Gruppe Jungs an, die ungefähr in ihrem Alter und auch so ungefähr ihrem Gruppentypus entsprachen.

»Hi!«

Fünf Augenpaare musterten zwei Fremdlinge von oben bis unten.

»Ja ...«

Die Zurückhaltung in der Stimme des Sprechers, einem mittelgroßen, schlanken Typen mit Wollmütze, war deutlich zu spüren. Seine Kollegen schwiegen und beobachteten.

»Wisst ihr, wo wir Alexander Vandenberg finden könne?«

Die Zurückhaltung schlug in offenes Misstrauen um.

»Was wollt ihr von Lex?«

»Mit ihm reden. Es ist wichtig.«

Irgendetwas lief schief. Marcel hatte sogar das ungute Gefühl, dass etwas ganz extrem schief lief. Statt ihnen zu sagen, wo sie Alexander Vandenberg finden könnten, bauten sich die anwesenden fünf männlichen Schüler sehr demonstrativ vor Thimo und Marcel auf, verschränkten ihre Arme vor ihren Brüsten, hielten ihre Köpfe schief und sahen sie mit dem Blick eines Diskothekentürstehers an, der einem grade gesagt hatte: »Du nicht!«

»Bitte, ich muss Alexander sprechen. Es ist wirklich wichtig!«

Thimo musste schlucken. Bei näherer Betrachtung entsprachen die Typen doch nicht ganz seinem Gruppentypus. Bis auf Wollmütze waren sie groß und wirkten mächtig kräftig.

»Ich glaube, ihr geht jetzt besser«, der Wollmützentyp schien der Gruppenleiter zu sein, denn er war der einzige, der sprach. Die anderen beschränkten sich darauf zu knurren und möglichst bedrohlich auszusehen. Was ihnen auch fabelhaft gelang.

»Was ist denn los? Was haben wir denn getan? Wir wollen doch nur mit ihm sprechen«, Marcel war total verunsichert.

»Aber er nicht mit Leuten wie euch! Also verpisst euch!«

»Nein!«, Thimo sagte nur dieses eine Wort, aber die Art wie er es sagte, reichte aus, damit Wollmütze für eine Sekunde nicht ganz so ablehnend war. »Außerdem, was willst du mit ,Leute wie euch` eigentlich andeuten?«

»Andeuten?«, Wollmütze lachte schrill auf. Thimo hatte zwar nicht den Eindruck etwas komisches gesagt zu haben, doch der Typ ihm gegenüber, schien amüsiert.

»Andeuten ist gut ...«, Wollmütze zog sich seine Wollmütze vom Kopf. Dunkle, fast schwarze Haare kamen zum Vorschein und verliehen dem Typ einen ganz anderen Karakter. Er wirkte dunkler und trotz seiner nur mittelmäßigen Größe bedrohlicher. Seine ganze Körperhaltung drückte Entschlossenheit aus. Die anderen vier Figuren rückten näher, die Situation schien zu eskalieren, »Ich sag's euch direkt in's Gesicht: Mit Typen wie euch wird sich Lex nie mehr rumärgern müssen.«

»Ich bin ...«, weiter kam Thimo nicht. Eine Faust landete in seinem Bauch und raubte ihm den Atem. Er keuchte, sackte ein Stück ein, sammelte sich, sprang plötzlich auf und schlug zurück. Die Situation war eskaliert.

Fünf gegen zwei konnte man nicht wirklich als ein ausgeglichenes Verhältnis bezeichnen. Zumal die Fünf noch den Vorteil auf ihrer Seite hatten, zu wissen, warum sie über Thimo und Marcel herfielen. Diesen beiden blieb nur übrig, sich mehr schlecht als recht zu verteidigen, ohne zu wissen, warum ihre Anwesenheit soviel Missfallen verursachte.

Der Kampf war kurz, heftig und schmerzhaft. Nach ein paar Minuten lagen Marcel und Thimo am Boden. Thimo schmeckte Blut in seinem Mund. Marcel lief der dunkle Saft aus der Nase. Man ließ von ihnen ab.

»Scheiße, was soll das?«, Thimo war wütend, aber auch resigniert. »Wir wollen Alexander doch nur etwas fragen.«

»Habt ihr es immer noch nicht begriffen? Er hat euch aber nichts zu sagen! Hat dieses Arschloch, wie hieß er noch, Brandon, nicht schon genug angerichtet? Muss er jetzt auch noch solche Witzfiguren wie euch schicken, um Lex zu tyrannisieren?«

Marcel und Thimo sahen sich verblüfft an und mussten plötzlich bitter lachen. Ein Witz. Ein böser und makaberer Witz. Das Lachen war schmerzhaft.

»Du hältst uns für Freunde von Brandon?«, Marcel schüttelte seinen Kopf und bereute es im selben Moment. »Oh, Shit! Was für eine Scheiße ...«

»Miguel, was ist hier los?«, eine sechste Figur war aufgetaucht und betrachtete verwirrt die Szene. Miguel, die Wollmütze, drehte sich zu dem Neuankömmling um.

»Lex, darf ich vorstellen? Zwei von Brandons Lakaien!«

Alex

Alexander Vandenberg sah auf Marcel und Thimo hinab. Sie lagen immer noch auf dem Boden und hatten auch nicht gewagt aufzustehen.

»Scheiße noch mal! Wir kommen nicht von Brandon, verdammt! Wir kommen bestenfalls wegen ihm!«

Alex musterte erst Thimo dann Marcel. Er überlegte einen Moment und meinte schließlich: »Ok, nehmt sie mit in den Aufenthaltsraum.«

Die zwei Jungs wurden gepackt und in Richtung eines der flachen Gebäude navigiert. Dort angekommen wurden sie recht unsanft in einen Raum geleitet und auf zwei Stühle gesetzt. Ihre Begleiter verteilten sich gleichmäßig im Raum. Sie lehnten entweder an den Tischen, hatte sich verkehrt herum auf die herumstehenden Stühle gehockt oder setzten sich gleich auf einen Tisch. Wie Alex, der sich Thimo und Marcel direkt gegenüber niedergelassen hatte.

Der Raum war geheizt und es war deutlich wärmer als im Freien. Alex, Wollmütze Miguel und die anderen zogen ihre dicken Jacken, Schals, Mützen, Handschuhe und Mäntel aus.

Thimo und Marcel schauten nicht schlecht, als sie Alex sahen.

»Du bist wirklich Alexander Vandenberg?«, Thimo wollte es kaum glauben und griff sich an seine Jackentasche. Sofort sprang Miguel auf.

»Es ist nur ein Bild! Verdammt bist du neurotisch.«

Der Junge auf dem Bild und der Junge der Thimo gegenüber saß, war die gleiche Person - theoretisch. Denn damit endeten schon sämtliche Ähnlichkeiten. Der aktuelle Alex sah nett, eigentlich sogar ganz süß aus. Aber auf eine herbe Art, wie Zartbitterschokolade. Alex brachte es fertig, die beiden Gegensätze, sehr männlich zu sein und trotzdem eine gewisse Weichheit zu besitzen, in sich zu vereinen. Schulterlange Haare waren seit ewigen Zeiten so out wie sonst was. Aber er konnte sie tragen und es passte perfekt. Von dem Klamotten Marke »Mamas Liebling« war absolut nichts zu sehen. Alex überzeugte mit lässiger, unaufdringlicher Coolness und war damit der totale Gegensatz zur krassen Markenfixierung vieler seiner Mitschüler, die mit dem Versuch scheiterten, als Fashion-Victim dem letzten Trend hinterher zu hecheln.

Alex wirkte durch seine Natürlichkeit und war in sich schlüssig. Unter der Kleidung zeichnete sich ein kräftiger Körperbau ab. Er war wohl ganz gut gebaut, war aber kein sportlicher Typ. Mehr so das knuffige Kerlchen. Jedenfalls passte sein Körper zum Kopf. Dunkle, braune Augen, dunkles Haar, ein schönes Gesicht. Alex wirkte sympathisch. Ein Typ, mit dem man gerne befreundet wäre.

Miguel, dessen lateinamerikanischen Ursprung man jetzt deutlich erkennen konnte, entriss Thimo das Bild und brachte es Alex. Alex sah erst Miguel an, dann das Bild, stutzte einen Moment und lachte schließlich laut los.

»Wo habe ihr das denn aufgetrieben«, Klein Vandenberg fuhr sich durch seine langen Haare und navigierte eine Strähne, die ihm ins Gesicht gefallen war, wieder zurück hinter sein Ohr. »Man hab' ich damals Scheiße ausgesehen.«

Er hielt Miguel das Bild hin: »Das warst du?«, dem Blick zu urteilen, schien Wollmütze nicht sicher zu sein, ob er das glauben sollte. »Das ist ja strafbar, wie du rumgelaufen bist. Lex, dich hät' man hier in Quarantäne gesteckt. Hatten dich Aliens entführt?«

Miguel zeigte Alex sein Haifischzähnchen, soll heißen, ein böses, kleines Lächeln. Alex schmunzelte, ein kurzes freches Flackern lag in seinem Blick, als er den von Miguel erwiderte.

»Ja, meine Mutter ... Doch zurück zu euch Komikern. Ihr seid also nicht von Brandon geschickt worden? Was treibt denn dann das weiße Oberschichtenpack der ach so noblen Liberty High in die Untiefen einer staatlichen Bildungsanstalt?«

Der spricht ja wie Rob. Thimo versuchte ein Lächeln, ließ es aber sofort wieder sein, als der Versuch mit einem unangenehmen Schmerzgefühle quittiert wurde. Er wischte sich über seinen Mund. Blut.

»Gebt den beiden mal ein paar Taschentücher und was zum sauber wischen.«

Erstaunt bemerkte Marcel, dass die anderen Jungs Alex aufs Wort gehorchten. Und das waren nicht irgendwelche Jungs. Miguel war noch der kleinste, gefolgt von Alex. Der Rest waren entweder echte Schränke, Muskelpakete und offensichtlich Footballspieler oder Typen wie Alex: kräftig, aber nicht dick, allerdings viel größer. Sie konnten gut zum Basketballteam der Schule gehören. Miguel hingegen war ein ausgesprochen agiler Typ. Schlank und athletisch.

Man wartete, bis Thimo und Marcel sich gereinigt hatten. Thimo war sich nicht mehr so richtig sicher, ob es eine gute Idee gewesen war herzukommen. Alex schien hier das Alphamännchen zu sein. Ein Arsch wie Espen oder Brandon, vielleicht etwas intelligenter, denn er benahm sich nicht so blöd, aber er schien hier das Sagen zu haben. So ein Typ, würde ihm unmöglich helfen.

»Ich warte immer noch auf eine Antwort ...«, Alex war hart, aber auch schwer einzuschätzen. Er hatte sich offenbar stark verändert, seid das Bild von ihm aufgenommen worden war.

»Ums überleben kämpfen ...«, Thimo setzte auf Offenheit und die schien zu wirken.

»Ich warte immer noch ...«, der Inhalt des Satzes war provozierend, Alexanders Stimme war es nicht - nicht mehr. Thimo hatte sein Interesse geweckt.

»Ich stehe unter einer Mordanklage«, unruhiges Geflüster von den anwesenden Personen, »Ich soll einen Schüler, unseren Quaterback Scott, ermordet haben. Wegen ...«

»Wegen mir! Warum ist jetzt egal«, alle Blicke wechselten zu Marcel.

»Ich war es nicht! Aber ich vermute, dass dein spezieller Freund Brandon etwas damit zu haben könnte. Scott war mal mit ihm befreundet ... Mehr oder weniger. Es war wohl eine recht einseitige Sache von Scott. Brandon hat ihn wohl nur für seine Zwecke benutzt.«

»Das ist ja sehr interessant und macht auch alles Sinn, doch was hat das mit mir zu tun?«

Thimo hatte den Eindruck, dass Alex ganz genau wusste, was die Sache mit ihm zu tun hatte. Offenbar wollte er auf etwas Bestimmtes raus.

»Es könnte damit zu tun haben, was zwischen dir und Brandon ...«, Thimo sprach nicht weiter.

»Tu dir keinen Zwang an. Du kannst hier alles Sagen. Vor meinen Freunden hier habe ich keine Geheimnisse.«

»Mann sagt, dass Brandon dich zu einem Selbstmordversuch getrieben hat.«

»So, sagt man das?«, Alex verzog das Gesicht als er sich eine schmerzhafte Erinnerung bewusst machte. »Dem war aber nicht so. Brandon hat versucht mich abzustechen und hat es hinterher so dargestellt, dass ich versucht habe, mich umzubringen. Da seine Eltern mehr Kohle haben als meine, hat man ihm geglaubt und mir nicht. Ich stand als Lügner und verweichlichtes Mamasöhnchen da, für den sich sogar die eigenen Eltern schämten. Erst da versuchte ich mich umzubringen, was mich für ein viertel Jahr in die Klapse brachte.«

»Versucht abzustechen? Mit einem Messer?«

»Nein, mit einem Löffel - natürlich mit einem Messer.«

»Reg' dich ab, dass ist wichtig. Scott wurde mit einem Messer ermordet.«

Alex Vandenberg war wirklich überrascht. Ihm wurde plötzlich klar, worauf Thimo hinaus wollte. Sein Gesicht flackerte und für einen kurzen flüchtigen Moment war da Sorge, Mitleid und Angst zu sehen. Von diesem Zeitpunkt an veränderte sich Alex. Er gab seine abweisende Art auf und begann, zu Anfang etwas ungelenk und auch verlegen, zu lächeln. Sein Stimmungsumschwung übertrug sich auf die ganze Gruppe. Selbst Heißsporn Wollmütze Miguel kühlte ab. Als die JFK-Jungs begriffen, dass sie möglicherweise die falschen Typen rundgemacht hatten, begannen sie unruhig auf ihren jeweiligen Sitzgelegenheiten hin und her zu rutschen.

»Alex, darf ich dir eine sehr persönlich Frage stellen. Eine Frage, die du möglicherweise nicht unter soviel Augen ...«

»Ich sagte doch schon: Meine Freunde können alles hören.«, die Antwort kam diesmal müde und nachsichtig. Die Aggressivität war fast vollständig verschwunden.

»Bist du schwul?«

Miguel sprang auf und wollte sich auf Thimo stürzen, doch Alex packte ihn und zog ihn zu sich heran. Er umarmte ihn liebevoll und sah Miguel tief in die Augen, während er Thimo antwortete: »Ja ...«

»War das der Grund für Brandon dich ...?«

»Ja ...«, Alex antwortete, schaute aber weiterhin in die Augen von Miguel.

»Er war es wieder ... der Grund ...«

Alex löste seinen Blick von Miguel und betrachtet Thimo und Marcel. Allerdings tat er es diesmal mit ganz anderen Augen, als er es zuvor getan hatte. Schließlich begann er breit und fies zu grinsen: »Ich verstehe ... Ihr zwei passt gut zusammen.«

»Danke!«, kam es zweistimmig. Thimo und Marcel drehten sich einander zu und mussten lachen.

Alex Lächeln verschwand und machte einem besorgt-schuldbewußten Gesichtsausdruck Platz.

»Ich glaube, wir müssen uns bei euch beiden entschuldigen. Ähm, wir haben euch wohl etwas zu voreilig zusammengefaltet.«

Thimo sah sich um. Den Jungs waren ihre schnellen Fäuste plötzlich peinlich. Was war nur so besonders interessant am PVC-Fußboden, dass sie ihn alle völlig gebannt anstarrten. Mit einer gewissen Genugtuung entdeckte Thimo, dass seine Widersacher bei ihrer kleinen Schlägerei nicht völlig ungeschoren davon gekommen waren. Fast alle hatten Hämatome oder würden spätestens morgen welche haben. Einer der Typen, ein absolutes Tier von 190cm purer Muskelmasse, hatte eine geplatzte Augenbraue, zwei andere dürften demnächst ebenfalls Sonnenbrillen im Winter tragen.

Thimo sah Marcel fragend an, der auch sofort auf Thimos unausgesprochene Frage antwortet: »Wir könnten es als ein Kommunikationsproblem abbuchen und einen zweiten Versuch starten. Vielleicht reden diese Jungs diesmal erst mit uns, bevor sie zuschlagen?«

Marcels Schmunzeln steckte an. Einer nach dem anderen begann zu grinsen oder leise zu kichern, sogar Wollmütze Miguel entglitten die Gesichtsmuskeln, obwohl er sich alle Mühe gab, weiterhin ernst und bedrohlich zu wirken.

Alexander Vandenberg stand auf, ging zu Thimo und Marcel und reichte ihnen seinen Hand: »Ich bin Alex und es tut mir leid!«

»Es freut mich dich kennen zu lernen. Ich bin Thimo Camron-Bach und das ist mein Freund, mein Ein und Alles, Marcel Reynolds.«


Das Eis bekam Risse, die Risse verbreiterten sich zu Spalten und am Ende brach das Eis. Alex, Thimo, Miguel, Marcel und der Rest machten es sich im Besprechungsraum gemütlich. Als Erstes machte man sich untereinander bekannt. Die anderen Typen stellten sich als Freunde von Miguel und Alex vor und waren heil froh, dass weder Thimo noch Marcel ihnen den kleinen Kampf ernsthaft nachtrugen. Schließlich war es schon peinlich genug, als hirnloser Muskeldepp da zu stehen, der erst schlägt und dann redet.

Leider konnten die meisten nicht lange bleiben. Die zweite Hälfte des Schultages lag noch vor ihnen. Der Unterricht wartete nicht und die Mittagspause ging viel zu schnell zu Ende. Zum Schluss waren nur noch Alex und Miguel übrig geblieben. Sie hatten noch eine weitere Freistunde, also 45 Minuten mehr Zeit als die anderen.

»Wo wir jetzt so in intimer Runde zusammen sitzen, würde ich gern erfahren, was ihr eigentlich von mir wollt?«

»Vielleicht sollte ich erst einmal erzählen, wie es zu meiner Mordanklage gekommen ist.«

Thimo und Marcel erzählten wechselweise die ganz Geschichte. In Kurzfassung und kamen nicht mal bis zur Hälfte, als die Freistunde auch schon um war.

»Sorry, wir müssen zum Unterricht, aber wenn ihr hier wartet ...?«, Alex sah fragend in die Runde.

»Klar warten wir.«

Miguel und Alex packten ihre Sachen und wollten gerade gehen, als einer der Typen von vorhin den Raum betrat.

»Jan, was machst du denn hier? Du hast doch jetzt Schluss?«

»Ich dachte, dass es bei euch wohl noch länger dauern könnte und da ihr beiden ja jetzt noch zum Unterricht müsst, könnte ich mich um Marcel und Thimo kümmern?«

Jan war das 190cm Muskelpaket. Ein offensichtlich sehr schüchternes Muskelpaket, denn er fragte ganz leise und schüchtern nach: »Natürlich nur, wenn ihr zwei das überhaupt wollt ...«

Marcel und Thimo strahlten. Eineinhalb Stunden waren zwar nicht so lang, aber nur rumsitzen und warten ist auch öde.

»Ich denk' wir gehen in die Caffete, kommst du und Mig später dort hin?«

»Sicher ... Ok, wir sind dann jetzt wech ...«, sprach's und verschwand.

Jan, Thimo und Marcel machten sich auf zur Cafeteria der Schule, holten sich etwas zu Trinken und zu Essen und setzten sich an einen der leeren Tische. Die Auswahl war groß, Freitag mittags war in der Caffete nie viel los.

Keiner sagte etwas, doch schien Jan eine Sache auf dem Herzen zu liegen. Mehrfach wollte er anfangen etwas zu sagen, ließ es dann aber doch wieder.

Marcel erbarmte sich: »Nun schieß schon los! Du willst doch etwas sagen, oder?«

Jan sammelte sich, atmete tief aus, betrachtete seinen Milchkaffe, oder was Amis so für Milchkaffee halten, und meinte dann: »Ihr werdet Alex nicht weh tun, oder?«

»Weh tun? Wie meinst du das? Er machte auf mich nicht den Eindruck, als wenn man ihn leicht verletzen könnte.«

Jans Frage überraschte. Alexander Vandenberg schien auf der JFK das Sagen zu haben. Bisher hatten Thimo und Marcel nur gesehen, wie er sich in seiner Gruppe von Freunden benahm, doch dort war er das unangefochtene Alphamännchen. Das war auch der Grund dafür, dass Thimo am Anfang bei Alex ein sehr mulmiges Gefühl hatte, er fühlte sich zu sehr an Brandon und Espen erinnert. Jans Sorge um Alex Seelenheil kam daher völlig unerwartet.

»Ihr zwei fragt euch jetzt, was ich meine, stimmt’s?«, Jan grinste. »Ich kann euch noch mehr verwirren. Glaubt ihr mir, wenn ich erzähle, dass Alex Schülersprecher ist und mit rund 98 Prozent der Stimmen gewählt wurde. Oder, dass es auf der JFK kaum jemanden gibt, der Alex nicht respektiert?«

Thimo und Marcel glotzten sich gegenseitig an, dann Jan: »Du willst uns weiß machen, dass ein schwuler Schüler Schulsprecher ist. Auf einer amerikanischen Schule?«

»Nein, ich will euch weiß machen, dass ein offen schwuler Junge Schulsprecher ist.«

»Wow! Wenn ich das Rob erzähle, bricht sein Weltbild zusammen.«

»Wer ist Rob?«

»Ein zynischer Freund von uns.« Marcel ging die andere Sache nicht aus dem Kopf: »Ok, nur das ich klar sehe. Du sagst, Alex wird von allen voll akzeptiert und respektiert, obendrein scheint er so was, wie eine moralische Instanz zu sein, sonst hättet ihr ihn nicht zum Schulsprecher gewählt. Wo ist dann das Problem?«

»Er wurde nicht immer so respektiert ...«

Coming Out - Version 2.0.99-Beta

Berlin

»Hi ...?«, ich stand im Türrahmen von Tims Zimmer. Der Angesprochene blickte auf, sah mich an, lächelte müde und winkte mich zu sich.

»Komm rein ... bitte.«

Ich schloss dir Tür hinter mir, durchquerte das Zimmer und setzte mich neben Timmys Bett auf einen Stuhl.

»Kuki sagte, dass ich dir die Münze zum Geburtstag geschenkt habe?«

Tim sprach langsam und stockend. Er hatte starke Kopfschmerzen. Ich sah es in seinen Augen und in seinem Gesicht.

»Ja, hast du ...«, ich erinnerte mich genau. Es war wirklich mein Geburtstag gewesen. Tim musste noch zu einem Wettkampf und hatte deswegen ganz früh bei mir vorbeigeschaut. Es war einer der schönsten Tage, die ich je erlebt hatte. Für Tim war er hingegen irgendwo in den Tiefen seines Schädels verloren gegangen.

»Dann ...«, wieder dieses Zögern in Tims Stimme, »musst du mir wohl ... Tja, wie soll ich das ausdrücken ...?«

Tim schaute mich nicht direkt an. Er betrachtete verträumt die Falten seiner Bettdecke: »Dann musst du mir wohl viel bedeutet haben ...«

War das eine Feststellung oder eine Frage? Ich war mir nicht sicher und antwortete deswegen erst nach ein paar Sekunden: »Du weißt, was für eine Bedeutung diese Münze für dich hat. Du hast es vorhin selbst gesagt. Kannst du dich wirklich nicht mehr an mich erinnern?«

»Hm, ich bin mir nicht sicher. Du wirkst mir vertraut, als wenn ich dich schon ewig oder sehr gut kennen würde. Wenn du in der Nähe bist, fühl ich mich merkwürdig ... Es ist so, als wenn etwas da ist, was sonst fehlt. Aber ...«, Tim schüttelte seinen Kopf und verzog sofort sein Gesicht vor Schmerz.

»Was hast du gefühlt, als du mich vorhin zum ersten mal gesehen hast?«

»Unsicherheit!«, die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.

»Warum?«

»Du hast so eine merkwürdige Wirkung auf mich. Kann das sein?«

»Und ob!«, es war nur eine Idee die mich beschlich. Ich hoffte einfach, dass es funktionieren würde, und versuchte mein Glück: »Könntest du dir vorstellen, dass du schon mal vor mir weggelaufen bist?«

»Ich?«, Tim war verblüfft. »Nö, wieso? Bin ich?«

»Ja, genau 13 Stunden nachdem wir uns kennen gelernt hatten.«

»Erzähl!«, immerhin war Tims Neugierde geweckt worden.

Ich erzählte von unserem ersten Treffen. Mit Dirk, Sven, Biene, Katja und Co. am Schlachtensee, der Pizza von Liberty, Quatschen und Klönen bis spät in die Nacht, der Übernachtung von ihm und Sven bei mir und von dem Morgen danach. Na ja, nicht alles. Ich endete bei der Freundschaftskiste.

»Also, wenn das wirklich so abgelaufen ist, dann kann ich mir gut vorstellen, dass Sven, Dirk und ich geplant hatten, dir die Freundschaft anzubieten. Und was lief schief?«

»Nix, mit Sven lief es super.«

»Und mit mir nicht?«

»Nö, du hast dir deine alten, verschwitzen Klamotten geschnappt. Den gleichen Klamotten, in denen du gepennt hast, und bist ohne einen Kommentar aus dem Raum gerannt. Nicht gegangen oder gelaufen, sondern gerannt. Auf den Weg hast du noch Dirk umgerannt, der im Modder landete.«

»Ich? Krass! Wieso denn?«

»Ich war ehrlich zu dir. Wenn mir schon jemand die Freundschaft anbietet, dann dachte ich, verdient er auch Ehrlichkeit von mir. Ich habe euch etwas von mir erzählt.«

Timmy lachte, und meinte scherzhaft: »Nu mach' es nicht so spannend! Das hier ist kein Theater und ich kann außerdem nicht wegrennen. Du bist doch nicht etwa schwul, oder?«

Ich zog die Münze hervor und hielt sie Tim hin: »Doch - so wie du!«


»Ich bin nicht schwul!«, wenn das die Feststellung einer Tatsache sein sollte, warum klang es dann wie eine Frage?

»Hm, vielleicht bist du es nicht. Nicht mehr. Aber das letzte halbe Jahr ...«

Tim schaltete auf Abwehr. Sein ganzer Körper ging auf Verteidigung und versteifte sich: »Ich will davon nichts hören!«

»Auch gut ...«, war es natürlich nicht. Aber was blieb mir anderes übrig als ein bisschen zu tricksen.

»Wer weiß davon?«, Tim fauchte mit scharfer Stimme.

»Wovon?«, ich tat ahnungslos und wusste, dass ich ihn damit zu Weißglut treiben würde.

»Typ, mach mich nicht kirre! Wer weiß, dass ich schwul bin?«, Tim kurz vorm Platzen.

»Ich denk du willst darüber nicht reden?«, eigentlich hätte ich mich beherrschen sollen, doch Tim ein bisschen zu piesacken, machte Spaß.

»Sven, nerv' nicht ...«, trotz der weiterhin gereizten Wortwahl, meinte ich aus Tims Stimme ein unterdrücktes Grinsen herauszuhören. So eine Art unterschwellige Amüsiertheit. Er schien langsam aufzutauen.

»Na gut. Also wissen tun es: Dirk, Biene, deine Mum, Nico, Peter, deine Schwimmmannschaft, also Chris I und II, Heiko, Holger, Kuki, Nina ...«

»Es reicht! Es reicht! Es reicht! Also jeder, oder?«

»Lass mich mal kurz überlegen ... Ja, jeder! Bis auf einen ...«

»Und der wäre?«, Tim mit verblüfftem Gesicht.

Ich hielt meinen Kopf schräg und wackelte mit meinen Augenbrauen. Hatte Tim schon immer einer dermaßen lange Leitung?

»Ok, ich weiß. Ich weiß es noch nicht. Ganz toll!«

»Kannst du dich wirklich an nichts erinnern?«

Tim überlegte. Für einen Moment schloss er seine Augen und massierte seine Stirn. Seinem Gesichtsausdruck nach musste er immer noch tierisch starke Kopfschmerzen haben.

»Ich bin mir nicht sicher ... Ich müsste doch eigentlich schockiert sein, oder? So einfach als Homo aufzuwachen ...?«

»Ey!«

»Als Schwuppe? Na, wie du es auch immer nennen willst ... Müsste ich nicht eigentlich pflichtgemäß rumzetern und pöbeln: ,Ich bin nicht schwul!` oder: ,Hau ab du Schwuchtel!` Irgendwas aus der Richtung?«

»Weiß nich'. Sag du es mir!«

»Ich weiß es auch nicht ...«, Tim zuckte mit seinen Schultern. »Ich bin selbst überrascht, aber der Gedanke schwul zu sein, schockt mich nicht. Eigentlich sollte man doch wissen, auf was man steht, oder? Im Moment könnte ich dir das aber gar nicht sagen. Mädchen? Jungs? Tja ...«

»Du weißt nicht, was du bist?«

»Ich könnt es dir nicht mit Bestimmtheit sagen. Hm, du sagst, wir waren zusammen?«

»Yap!«

»So richtig mit ... ähm ... Küssen?«

»Auch ...«

»Auch?«, Timmy sah sich ängstlich um. »Etwa auch ... Sex?«

»Yap!«

»Ähm, was denn?«, Tim war ziemlich blass.

»Na, was wohl?«

Ich hielt meinen Kopf schief. Da war nix gewesen, wofür wir uns hätten schämen müssen. Ganz im Gegenteil, mit Tim zu schlafen war immer ein wahnsinns Erlebnis gewesen. Ein Megakick für Geist und Körper.

»So mit stöpseln und so?«

»Yap!«

»Krass! Woran ich mich auf jeden Fall erinnern kann, ist, dass es mit meinen Freundinnen nie lange gehalten hat ...«, Tim dachte eine Weile schweigend nach.

Plötzlich umspielten Tims Mundwinkel ein arglistiges Grinsen, »Könntest du mir einen Gefallen tun?«

»Immer! Welchen?«

»Küss mich.«

»Wow! ... ähm, Moment mal, ... Wieso?«

»Na ja, wenn ich schwul bin, dann wird es mir gefallen ...«

»Und wenn nicht?«

»Dann hast du gleich zwei blaue Augen!«

»Tolle Aussicht!«

»Nich' wahr?«, Timmy grinste breit.

Doch was tut man nicht alles für einen Freund? Vorsichtig tat ich das, worum mich Timmy gebeten hatte. Schüchtern und ängstlich berührten sich meine und seine Lippen. Ich zögerte noch und wusste nicht so genau, wie weit ich gehen sollte, als Tim plötzlich seinen Mund öffnete und seine Zunge sich in ein fremdes Hoheitsgebiet vortastete.

Timmy schnellte zurück. Doch hetero geworden?

»Gulp, Svenni? Was, um Himmelswillen, ist das?«

Im ersten Moment war mir nicht klar, was Tim meinte. Als es mir einfiel, musste ich laut loslachen.

»Das war mein Satz!«

»Hä?«

»Ich hab' dich exakt das gleiche gefragt. Als wir uns das erste Mal so nahe kamen, wie eben. Es ist ein Geschenk von Kuki ...«

»Du hast das Piercing von ihm zum Geburtstag bekommen, richtig?«

»Du kannst dich wieder erinnern?«

»Dunkel ... Da war was ... Eine Party ... Ich korrigiere: eine geile Party. Und ... Kuki und, Moment mal, Kuki ist auch schwul, oder?«

»Yap! Du kannst dich ja wirklich erinnern.«

»Dann darfst du mich jetzt Schneewittchen nennen.«

»Hä?«

»Na, die Erinnerungen kamen mit deinem Kuss zurück ... Teilweise immerhin ...«

»Oh wie romantisch. Und weißt du jetzt, ob du ne Hete geworden bist?«

»Ich denke, eher nicht ...«, Tim funkelte mich regelrecht verliebt an.

»Und woran machst du das fest?«

»,A` daran, dass ich nicht aufhören möchte dich zu küssen, ,B` dass ich dir am liebsten die Kleider vom Leib reißen würde und ,C` dass ich eine hammerharte Latte habe.«

»Ziemlich vulgär!«

»Aber eine Tatsache.«, Tim zog mich zu sich ran. »Komm, leg doch noch ein paar Erinnerungen frei ...«

Apokalypse Now

Portland

Jan zögerte bei der Wahl seiner Worte: »Alexander hat viel durchgemacht. Wo er vorher war und auch hier auf der JFK. Inzwischen haben ihm eine Menge Leute sehr viel zu verdanken. Ich auch. Wir respektieren ihn nicht nur, wir lieben ihn ... Nein, ich bin nicht schwul, falls ihr das denkt. Alex hat die JFK verändert. Er hat die Leute verändert. Und deswegen lassen wir nichts auf ihn kommen ... Auch, wenn wir dabei übers Ziel hinausschießen sollten. Sorry, für vorhin. Also, wenn ihr mit ihm sprecht, seid nett zu ihm, ja? Er wirkt so hart, aber er ist es nicht.«

»Er hat die JFK verändert?«

»Ja und wie!«, Jan schaute strahlend auf. »Kurz nachdem er zu uns kam.«

Jan erzählte. Alexander Vandenberg kam genau zu einem Zeitpunkt auf die JFK, als ein brutaler Krieg zwischen den einzelnen Fraktionen der Schülerschaft wütete. Mit dem letzten Jahrgang hatten viele einflussreiche Schüler, Schüler mit Hausmacht in und unter ihren Cliquen, die Schule verlassen und waren entweder aufs College oder direkt in eine Berufsausbildung gegangen. Was sie zurückließen, war ein Machtvakuum. Es kam, wie es kommen musste. Sofort kämpften die einzelnen Gruppen um die Meinungsführerschaft. Die Basketballer gegen die Footballer, die IQ-Bestien gegen die Nihilisten, hypersportliche Cheerleader gegen arrogante, weiße Bräute, Männlein gegen Weiblein, weiß gegen schwarz, Latinos gegen Asiaten, oben gegen unten. Eigentlich kämpfte jeder gegen jeden, manche kämpften sogar gegen sich selbst.

Jede neue Woche brachte einen neuen Schritt in Richtung Eskalation. Was mit harmlosen Verarschungen und Sticheleien anfing, führte über Beschimpfungen, kleine Rempeleien, über heftigen Wortgefechten, schließlich zu regelmäßigen Schlägereien unter der Schülerschaft. Offener Rassismus war plötzlich an der Tagesordnung. Man wusste genau, wie man den anderen treffen konnte.

Ob die Schulleitung oder die Lehrer nun lustlos, unfähig oder einfach nur inkompetent waren, Fakt war, dass sie nicht eingriffen. Man überließ die Schüler sich selbst und beschränkte sich darauf, gelegentlich einzelne Personen vom Unterricht auszuschließen. Keiner der Ausgeschlossenen nahm seinen Ausschluss zur Kenntnis und nahm weiter am Unterricht teil. Konsequenzen gab es keine. Die Bildungsvermittler hatten auf ganzer Linie versagt. Ihre Autorität lag weit unter dem Nullpunkt.

»In diese Situation wurde Alexander geworfen ...«, Jan hielt inne und nahm einen Schluck Cola. »Ihr müsst euch das mal vorstellen. Wir, also meine Gruppe damals, alles Basketballspieler, waren gerade dabei zusammen mit den Footballern unsere Streber, die IQ-Bestien und Computerkiddies aufzumischen. Und ich sag' euch, dass mit dem Aufmischen, war bitterer Ernst gewesen, es wäre Blut geflossen. Möglicherweise, und das ist kein Scheiß, wären der eine oder andere dabei auf der Strecke geblieben. Wir hatten erfahren, dass einer der Computerfreaks zum Waffenschrank seines Daddys Zugang haben soll. Auf der Website des Typen gab es Quake III und UT-Maps der JFK. Die haben Deathmatches quasi in unserer Schule gespielt. Ihr wisst ja, was an anderen Schulen so passiert ist. Na ja, was die anderen können, können wir schon lange. Also liefen wir auch mit Waffen rum. Kaum einer der Leute hier hatte nicht mindestens eine Waffe im Mantel oder Rucksack.«

»Was für ein ausgesprochen netter Laden.«, Thimo schüttelte seinen Kopf. Er war jetzt knapp ein halbes Jahr im Land und hatte auch schon die Untiefen der US-amerikanischen Gesellschaft am eigenen Leib erlebt, aber Jans Schilderung war mehr als krass: »Und Alex?«

»Alex ...«, Jan bekam einen verträumten und sinnlichen Blick. »Alex ... wie soll ich das beschreiben? Mitten in die Kriegshandlungen platzte ein neuer Schüler. Schüchtern, etwas weichlich, unsicher ... Mit anderen Worten, der totale Verlierertyp. Niemand nahm ihn wirklich ernst. Ein Blick genügte und man wusste sofort: ,Keine Konkurrenz!` Er wurde ein, zwei Mal angemacht und sollte damit begriffen haben, wo er hingehört - hat er aber nicht.«

Jan erzählte weiter. Der Konflikt zwischen den Basket- und Footballtypen auf der einen und den Computerjunkies auf der anderen drohte, außer Kontrolle zu geraten. Die Computerjunkies hatten auf ihrer Website eine Quake III und UT-Body/Skin-Mods geparkt. Die Skins und Bodys waren digitalisierte Fotos der Foot- und Basketballer, d.h. man konnte in der Map der JFK Bots abknallen, die das Aussehen realer Personen hatten.

»Ich weiß noch als Sean, einer der Footballspieler, an kam und schrie: ,Jetzt knallen sie uns ab! Diese scheiß Computerwichser knallen uns ab!`Sean hatte recht, sie taten es. Zwar virtuell, aber wie lange noch, bis einer von denen durchdreht und es real ausprobiert? Die Lage war mit einem Mal mehr als gespannt. Keiner von uns ging ohne Angst in die Schule. Ich weiß von etlichen, die einfach zu Hause blieben. Tja, und dann passierte es. Mitten im Atrium des Hauptgebäudes, Peter, ein Freund von mir, und Aron, der Obercomputerjunkie, gerieten aneinander. Eine Rempelei, ein blödes Wort, ein Missverständnis, was auch immer. Es war eigentlich scheißegal warum, doch was passierte, war heftig: Plötzlich hatten beide eine entsicherte Waffe in der Hand und zielten aufeinander. Sekunden später waren die beiden nicht mehr allein. Wie in einem schlechten Film scharrten sich um die Jungs ihre Anhänger. Wir hinter Peter, die anderen hinter Aron. Es blieb nicht bei einer Waffe. Ungefähr die Hälfte von uns hatte Waffen. Könnt ihr euch vorstellen, was das für ein Blutbad gegeben hätte?«

Thimo und Marcel schüttelten mit ihren Köpfen. Sie konnten es sich nicht vorstellen. Last man standing an einer amerikanischen Highschool, diese Schule war wirklich sehr knapp an der Apokalypse vorbeigeschliddert.

»Und wie ging's weiter?«

»Alex! Er kam gerade vorbei. Wie gesagt, wir hatten ihn nie vorher wirklich beachtet. Wir kannten seine Geschichte nicht ... Jedenfalls machte er etwas sehr Verrücktes, Selbstmörderisches.«

Alex stellte sich zwischen Peter und Aron, mitten in die Schusslinie.

»Geh' bitte aus dem Weg!«, Aron zitterte bereits vor Anspannung. Ihm rannen Schweißperlen von der Stirn.

»Nein!«

»Alex, verpiss dich. Das geht dich hier nichts an!«, Peter war ähnlich mürbe, auch seine Hand zitterte.

»Ich werde nicht gehen! Ihr wollt euch gegenseitig umbringen? Gut, aber dann müsst ihr erst mich erschießen. Los, worauf wartet ihr?«

»Du kleiner Wichser, dass hier ist kein Spiel!«

»Ich bin kein Wichser und es ist für mich auch kein Spiel! Ihr wollt wissen, wie es ist jemanden zu töten, na los! Schießt, verdammt noch mal! Dann habt ihr gezeigt, was ihr für tolle Jungs seid, echte Kerle!«

Aron und Peter wurden immer unsicherer. Die Entschlossenheit, mit der Alex auftrat, machte ihnen Angst. Und dann setzte Alex auch noch einen drauf.

»Ist das so schwer? Ok, ich mach's euch leichter. Ich verrate euch ein Geheimnis: Ich bin ne' Schwuchtel! Und nun los, zeigt, dass ihr echte Männer seid!«

Das muss der Moment gewesen sein, bei dem bei allen Anwesenden der Groschen fiel. Aron und Peter ließen fast gleichzeitig ihre Waffen fallen. Man hätte meinen können, sie hätten sich an ihnen die Hände verbrannt. Als kollektiv die Gehirne eingeschaltet worden wären, begriffen Aron, Peter und Co., an welchen Abgrund sie standen. Sie sahen sich und ihre Gegner an und waren mehr oder weniger verblüfft, auch nur normale Leute zu sehen, die mindestens genauso viel Angst hatten, wie man selbst. Nur Alex schüttelte seinen Kopf, seufzte und wollte gehen.

»Wohin willst du?«

»Weg!«, Alex ging weiter.

»Warte, du kannst doch nicht wegrennen, nachdem du eben ein Massaker verhindert hast?«

»Warum nicht? Ihr begreift doch sowieso nichts.«, Alex blieb stehen, drehte sich aber nicht um.

»Was begreifen wir nicht?«

Alex drehte sich um: »Alles? Warum macht ihr das hier? Wofür bekriegt ihr euch? Dafür, wer hier das Sagen hat? Und das ist es wert, dass ihr euer Leben und das der anderen zur Hölle macht?«

Aron und Peter hatten, stellvertretend für alle anderen, ihre Köpfe gesenkt. Offenbar begriffen sie, wenn auch quälend langsam, in welche Sackgasse sie der Schulkrieg geführt hatte. Dieser Loser von Alex, der sich auch noch selbst als schwul bezeichnete, hatte sie vorgeführt und obendrein klargestellt, worum es bei dem ganzen Streit eigentlich ging, nämlich wer den längeren hat. Also eigentlich um rein gar nichts.

»Kannst du uns helfen?«, Aron fand als erster ein paar Worte.

»Wer? Ich? Wobei?«

»Dabei, diese Schule wieder aufzubauen?«, Peter sprach aus, was Aron meinte.

So endete Jans Erzählung: »Von diesem Zeitpunkt an war Alex so etwas wie ein Vermittler, unser Botschafter des Friedens. Jede Seite vertraute ihm, weil er zu keiner Seite dazugehörte. Parallel gab es noch eine andere Entwicklung. Die Schulbehörde hatte von der ganzen Geschichte Wind bekommen und fürchtete noch nachträglich einen Skandal. Schnell und geräuschlos wurden massenweise Lehrer ausgetauscht, der Laden schnell noch modernisiert und auch ein neuer Prinzipal eingesetzt. Die neue Bildungsmannschaft ist wirklich ok. Nicht so upgefucked desinteressiert wie die alten Lehrer. Plötzlich war der Wille da, etwas zu verändern. Bei uns und bei den Lehrern. Und alles wegen Alexander. Er war regelrecht unheimlich, wie er immer wieder die Finger in die Wunden legte. Er wusste ganz genau, wo die gekränkten Seelen verletzt waren. Er hat das zwar nie gesagt, aber ich hatte das Gefühl, dass er sich in der Zeit selbst therapierte. Für andere da zu sein, schien ihm Lebensenergie zu geben, denn er blühte auf und veränderte sich zu dem Prachtkerl, der er heute ist. Als wir ihn schließlich mit 98 Prozent zum Schulsprecher gewählt haben, hat er geheult. Es hat ihn einfach umgehauen, doch wie hätten wir ihm sonst danken können. Wenn er nicht gewesen wäre, würde manche von uns möglicherweise nicht mehr leben.«

Jan, Thimo und Marcel schwiegen eine Weile. Alex war schon ein einzigartiger Typ. Nach ein paar Minuten räusperte sich Jan und sprach schließlich leise und nachdenklich: »Ich habe darüber noch nie mit jemanden gesprochen, aber ich glaube, dass alles auf einem Missverständnis basiert.«

»Wie meinst du das?«

»Na ja, Aron, Peter und die anderen denken, dass Alexander einfach nur mutig war, als er dazwischen gegangen ist ...«

Marcel nickte. Er ahnte, was Jan sagen wollte, schwieg aber und überließ es ihm, seinen Gedanken zu Ende zu bringen.

»Alex hatte mit der Welt abgeschlossen. Ihm war es egal, was mit ihm passierte. Er war nicht mutig, nur lebensmüde. Doch das ist egal. Wir lieben ihn trotzdem.«

Schwestern, Ärzte und Patienten und eine Märchenstunde

Berlin

»Was machen Sie da mit meinem Patienten?«

Die laut-kreischige Stimme der Schwester hatte den gleichen Effekt wie ein Eimer Eiswasser. Nämlich einen extrem abkühlenden. Ich lag neben Tim, zwar immer noch vollständig bekleidet, doch waren meine und seine Händen auf lustvollen Abwegen zu Gange. Ich will nicht übertreiben, meine Hände hatten ausschließlich ihren Weg unter sein T-Shirt gefunden und seine unter meins. Ich war ein wenig zu Tim ins Bett gerobbt, lag aber eigentlich noch ziemlich züchtig auf seiner Bettdecke.

»Ich helfe Ihrem Patienten dabei, sich zu erinnern.«

Die Schwester war sprachlos. Wie ein Karpfen im Aquarium öffnete und schloss sie mehrfach ihren Mund, ohne dass sie auch nur eine Silbe über ihre Lippen brachte. Nachdem sie sich schließlich wieder eingefangen hatte, setzte ihre Kreissägenstimme wieder ein: »Das ist Insubordination! Ich werde sofort den Arzt holen!«

Und weg war sie.

»Was ist eigentlich Insubordination?«

»Ferkelkram ... Hey, Timmy, was hast du? Du siehst nicht gut aus?«

»Ahhh, Shit, diese verdammten Kopfschmerzen ... Ich kann kaum noch richtig gucken. Ich bekomm die Augen kaum noch auf ...«

Sekunden später tauchte der von Schwester »Kreissäge« herbeigerufene Arzt auf.

»Was ist hier los?«, der Doc sah sich müde im Zimmer um. Wahrscheinlich hatte er die letzten 26 Stunden durchgearbeitet, war jetzt auf Bereitschaft, wollte gerade schlafen, als er vom Wohlklang eines speziellen Pflegepersonals davon abgehalten wurde. Obwohl der er schätzungsweise noch keine dreißig Jahre alt war, sah der Arzt viel, viel älter aus. Offenbar eine Folge chronischer Arbeitsüberlastung.

»Die beiden haben aneinander rumgemacht!«, kreischsägte es.

»Stimmt gar nicht, wir haben nur ein paar Zungenküsse ausgetauscht und etwas gekuschelt. Alles noch jugendfrei.«

Der Doc musste sich auf seine Lippen beißen, um nicht lauthals loszulachen. Immerhin grinste er und wirkte spontan zehn Jahre jünger. Sich gerade eben noch beherrschend, murmelte er zu der Schwester: »Ich werde diesen unerhörten Vorfall umgehend klären, ja? Wären Sie bitte so nett und warten kurz draußen? Ich möchte Ihnen das Folgende nicht zumuten.«

Irritiert und ganz offensichtlich säuerlich darüber, die nun folgende Standpauke nicht miterleben zu dürfen, warf uns die kranke Schwester einen bösen und drohenden Blick zu und stiefelt mürrisch davon. Dass der Doc sie gerade verarscht und keineswegs vorhatte uns eine Standpauke zu halten, lag jenseits ihrer Vorstellungskraft.

Der Arzt schloss die Tür, sah uns an und fragte: »Musste das sein?«

»Ähm, ja also ...«

»Ok, vergesst es«, er schüttelte den Kopf. »Tim, du wirst morgen entlassen. Physiologisch spricht nichts dagegen. Du wirst noch zu Nachuntersuchungen vorbeikommen müssen, genauso müssen wir noch die Fäden ziehen, aber sonst ...«

»Er hat Kopfschmerzen. Sehr, starke Kopfschmerzen ...«

Der Arzt löste sich von der Tür, an die er sich mit seinen Rücken gelehnt hatte und kam näher. Sein freundlich-amüsierter Gesichtsausdruck erlosch und machte der Mimik eines Profis Platz: konzentriert und überlegt. Aus der Brusttasche seines Arztkittels zog er eine kleine Taschenlampe hervor. Ich sprang vom Bett, damit der Arzt Tim untersuchen konnte.

Als Erstes leuchtete er in Tims Augen. Erst zielte er direkt hinein und beobachtete, wie sich seine Pupillen verengten, dann bewegte er das Licht weg und beobachtete die Gegenreaktion.

»Ich werde dich jetzt kurz mit eine Nadel piken. Du sagst mir, ob du es spürst.«

Nadel war reichlich übertrieben. Jede Heftzwecke war spitzer. Der Doc pikte nacheinander in Tims Zehen, die jedes Mal auch sofort reagierten.

»Ok setzt dich mal auf ...«, gesagt getan. »Achte auf meinen Finger und folge ihm nur mit den Augen.«

Tim tat es.

»Gut, jetzt versuch mal mit ausgestreckten Armen mit deinem rechten Zeigefinger deine Nasenspitze zu berühren.«

Auch diese Übung vollbrachte Tim ohne Befund.

»Und jetzt mit links ...«

Tim handelte sofort und ohne Probleme. Zum Abschluss folgte noch ein Test mit dem berühmten Hämmerchen gegen das Knie. Tims Bein zuckte.

»Körperlich scheint alles Ok zu sein. Beschreib mal deine Kopfschmerzen.«

Tim beschrieb seinen Schmerz, soweit man Schmerzen überhaupt beschreiben kann. Der Doc nickte, sagte aber nichts. Erst als Tim endete, fragte er: »Und wann sind die aufgetreten?«

Tim blickte zu mir: »Als Sven ins Zimmer kam und mir etwas zeigte ... Es war wie ein elektrischer Schlag ...«

Ich hielt dem Arzt meinen Anhänger in. Die goldene Münze funkelte.

»Sind vielleicht Erinnerungen zurückgekehrt?«

Tim nickte: »Ja, und jedes Mal wurden die Schmerzen stärker.«

»Das hättet ihr mir sofort sagen müssen! Ihr hättet mich gleich rufen sollen.«, der Doc überlegte eine Weile: »Ihr zwei seid doch patente Jungs, was meint ihr?«

Der Doc blickte von Tim zu mir und wieder zurück.

»Irgend so was psychologisches? So in der Art, dass sich mein Unterbewusstsein wehrt, sich zu erinnern. So in der Art?«

»Ziemlich genau so. Ich kenne deine Geschichte. Ich weiß, was dir und deinem Freund passiert ist. Neben dem körperlichen Trauma, das du fast überwunden hast, hast du auch ein schweres, sehr schweres, seelisches Trauma. Es wird dir noch eine ganze Weile zu schaffen machen. Aber ...«, dabei sah er zu mir und lächelte, »ich glaube, du hast jemanden, der dir dabei helfen wird.«

»Keine Psychiater? Kein auf der Coutsch liegen und über meine Kindheit sprechen?«

»Du bist doch fast noch ein Kind. Und ein Kindskopf sowieso«, der Doc grinste uns frech an. »Meinst du, dass du einen Psychiater brauchst?«

»Ich weiß nicht. Brauch ich?«

»Das hängt allein von dir ab. Wie ich schon sagte. Du hast wirklich viel durchgemacht. Im Moment kannst du dich daran nicht erinnern, aber die Erinnerung wird wiederkommen und mit ihr auch viel Leid und Trauer. Wenn du psychologische Unterstützung brauchst, sollst du sie selbstverständlich erhalten, aber meine Erfahrung ist, dass ein guter Freund mehr bewegen kann als jeder Psychologe.«

Warum sah der Arzt mich so intensiv an?

»Ihr zwei solltet vielleicht weniger aneinander rumfummeln, als mehr miteinander reden.«

»Wir haben nicht gefummelt!«

»Nein, und ich bin der Kaiser von China. Nee, es ist schon Ok und sicherlich auch gut, wenn du Tim, jemanden hast, der dich liebt und stützt. Erkundet eure gemeinsame Erinnerung. Sven, du weißt, was passiert ist, du kannst Tim alles erzählen, aber übertreib es nicht. Geht langsam vor, dann kommt der Rest von alleine.«

Ich machte mir immer noch Sorgen: »Aber seine Kopfschmerzen?«

»Ich könnte Tim ein Schmerzmittel geben. Aber das möchte ich eigentlich gerne vermeiden. Die Schmerzen sind so was wie der Lichtstrahl eines Leuchtturms. Wenn der Kapitän eines Schiffes das Licht sieht, weiß er, dass er auf dem richtigen Kurs ist. Ich weiß, das ist nicht angenehm, aber lass dich von deinen Kopfschmerzen leiten. Sie werden dich zu deinen Erinnerungen führen. Sollte es doch zu viel werden, klingele einfach nach der Schwester.«

»Nach der Schwester?«

»Hehehe, sie ist etwas nervig, was?«

»Oh, ja!«

»Ok, Jungs, dass war's. Benehmt euch und lasst euch nicht wieder erwischen. Ich sag der Schwester wegen dem Schmerzmittel bescheid. Aber besser wäre, mit ohne auszukommen. Alles klar?«

Der fragende Blick wurde mit Kopfnicken bestätigt und der Doc schwirrte ab. Wir waren wieder unter uns. Nicht mal die Kreissäge ließ sich blicken. Tim saß in seinem Bett und ich züchtig neben ihm auf einem Stuhl.

»Und?«

»Und was?«

»Keine Ahnung.«

»Scherzkeks!«

»Wie geht es deinen Kopfschmerzen?«

»Den geht es blendend! Hämmern, bohren, meißeln ... Alles was du willst.«

»Soll ich die Schwester rufen?«

»Nee! Erzähl mir lieber mehr von uns beiden«, Tim lächelte mich ein wenig schüchtern an, sein Gesicht war ungewöhnlich rot.

»Was willst du hören?«

»Alles! Aber insbesondere, was Nico davon hält. Weiß mein Paps, was los ist?«

Ich erzählte. Ich erzählte, wie wichtig Nicos Mitwirkung war. Dass es ohne ihn wohl nie dazu gekommen wäre, dass wir beide zusammen gekommen sind. Ich erzählte von meiner Geburtstagsparty, von Kuki und Holger, von allem, was wir Schönes und Positives erlebt hatten. Meine einseitige Schilderung fiel natürlich auf.

»Ok, dass klang ja alles traumhaft schön. Und jetzt bitte die ganze Wahrheit. Was ging alles daneben?«

»Du willst es wirklich wissen, oder?«

»Ja. Genaugenommen will ich nicht. Ich muss! Es scheint eine der wichtigsten Episoden meines Lebens zu sein, die mir da fehlt. Was du mir bisher erzählt hast, passiert sonst bestenfalls in 10 Jahren.«

»Gut. Ich werde weiter erzählen, aber vorher will ich wissen, wie es deinen Kopfschmerzen geht.«

»Nach wie vor sehr gut. Wenn ich den Doktor richtig verstanden habe, sind wir auf dem richtigen Weg. Vieles, was du mir erzählt hast, klingt vertraut. Bei manchen Dingen tauchen ganz kurz Bilder in meinem Kopf auf. Aber da ist mehr! Dunkle Dinge, unschöne und schmerzhafte Erlebnisse. Erzähl mir von meinem Vater.«

Ich nickte und erzählte - alles.

Ob der Arzt mit der Schwester gesprochen hatte? Ich vermutete es, denn nicht nur Tim, sondern auch ich bekam etwas zum Abendbrot. Außer dieser kurzen Unterbrechung wurden wir nur noch einmal ganz kurz gestört. Tim hatte zwar kein Einzelzimmer, aber das zweite Bett war nicht belegt. Eine Schwester der Nachtschicht kam herein und deckte das zweite Bett: »Der Stationsarzt meinte, dass du wohl heute Nacht hier bleiben würdest.«

Was ich zu erzählen hatte, brauchte lange. Ich saß bis spät in die Nacht bei Tim. Tim hörte mir zu, lauschte meinen Worten oder fragte gelegentlich nach. An manchen Stellen schien er sehr mit seiner Migräne kämpfen zu müssen. Er nahm dann meine Hand und hielt sich an ihr fest. Als ich in einem solchen Moment aufhören wollte, schüttelte er nur seinen Kopf und sagte: »Nein, hör nicht auf. Ich muss alles wissen.« Dies war sein einziger Kommentar. Die Tatsache eine Halbschwester zu haben oder das sein Vater ihn verstoßen hatte, nahm er ohne sichtbare Gefühlsregung hin.

Schließlich kam ich mit meiner Erzählung bei Sven I an. Es war schon spät in der Nacht und ich war vom langen Reden müde geworden. Tim schien hellwach zu sein und bat mich, fast bettelnd, jetzt nicht aufzuhören. Ich erzählte weiter. Langsamer als vorher und zögernd fuhr ich fort. Wenn man etwas selbst Erlebtes erzählt, beginnt man beim Erzählen nachzudenken. In der letzten Zeit war ich viel zu sehr mit Selbstmitleid und der Sorge um Tim beschäftigt gewesen und so war es für mich das erste Mal, dass ich mich mit den Geschehnissen um Svens Tod auseinandersetzte.

Ich begann meine Erzählung mit unserer kleinen missglückten Sexorgie im Pool von Kukis Sommerhaus. Tim lachte und steckte mich damit an.

»Wir haben was?«

»Zu viert - genau! Kuki, Holger, du und ich.«

»Hatte ich einen ... du weißt schon ... naja, ähm ... im Mund?«

»Einen?«, ich zeigte Tim ein Haifischgrinsen und er wurde bleich.

»Das kann nicht sein!«

»Kann nicht? Sag' mal, was erwartest du von vier Jungs, wenn die nur noch mit ihrem Schwanz denken?«

»Ähm ja ... Erzähl weiter ...«

Ich nahm den Faden wieder auf und erzählte weiter. Der amüsante Teil war mit Svens Auftritt schnell vorbei. Meine Erzählung wurde ernster und Tim nachdenklicher. Er lauschte meiner Stimme, sagte aber, wie vorher auch schon, kein Wort. Je mehr ich erzählte, Svens Flucht, meine Begegnung mit ihm bei Bürger King, Nicos Informationen, desto angestrengter wirkte Tim. Wenn ich seine Mimik richtig deutete, litt er in diesem Moment Höllenqualen. Ein Wunder, dass sein Schädel nicht platzte. Jedes Mal, wenn ich meine Erzählung unterbrach und fragte, ob es noch ging, sagte Tim mir, ich solle weiter machen. Und so machte ich weiter. Bis zum bitteren Ende.


Die LEDs des Radioweckers, der auf Tims Nachttisch stand, zeigte 2:53 Uhr. Meine Schilderung der Ereignisse hatte mit dem Tod von Sven geendet.

Tim schwieg.

Ich schwieg.

Wir sahen uns an und überließen das Sprechen unseren Augen. Wir lasen des anderen Gedanken.

3:13 Uhr.

Im Krankenzimmer leuchtete nur noch Tims Bettlampe. In der Stille hörte man sie leicht summen. Es war das einzige Geräusch im Raum.

3:24 Uhr.

Ich ging zum meinem »Gästebett«, zog mich bis auf die Unterhose aus und legte mich hinein. Es machte Klick und Tims Licht war aus. Das Summen erstarb. Absolute Stille. Dunkelheit erfasste das Zimmer.

3:27 Uhr.

Die LEDs des Weckers leuchteten hell. Ich konnte sie von meinem Bett aus gut sehen.

»Sven?«, Tims Flüstern zerriss die Stille.

»Ja?«, ich flüsterte zurück.

»Du machst dir Vorwürfe ...«

Dieser Junge war unheimlich. Er hatte sein Gedächtnis verloren, aber brachte eine perfekte Punktlandung bei der Deutung meiner Psyche fertig. Dass ich mir Vorwürfe machte, hatte ich mir selbst gegenüber noch gar nicht zugegeben. Aber er wusste es und ich wusste es jetzt auch; es war die Wahrheit.

»Ja ...«

»Du denkst, dass dies alles nicht passiert wäre, wenn wir uns nicht kennen gelernt hätten. Du gibst dir eine Mitschuld am Tod von Sven und hast deswegen Tage lang neben meinem Bett gewacht ...«

Woher wusste er, dass ich die ganze Zeit da war?

»Kuki hat es mit erzählt.«

Natürlich. Die Frage hätte ich mir auch selbst beantworten können.

»Sven?«

»Ja?«

»Es ist Quatsch!«

»Wieso?«

»Weil du keine Schuld hast! Die Arschlöcher, die uns zusammen geschlagen haben, die sind Schuld.«

»Das versuch' ich mir auch immer einzureden, aber ...«

»Nix aber! Es ist so! Sven hat einen Fehler gemacht und für den hat er bezahlt. Viel zu viel bezahlt. Ab und zu zuckt so ein Erinnerungsfetzen in meinem Kopf auf. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sie stammen von einem Gespräch mit Sven kurz bevor wir ...«

»Ja.«

»Wir haben uns ausgesprochen. Ich bin mir fast sicher, dass es so ist. Nein, wenn ich nachdenke, da sind keine bösen Gefühle. Wenn ich an Sven denke, dann an einen Freund. Kannst du dir vorstellen, dass ich so denken würde, wenn wir uns nicht ausgesprochen hätten?«

»Nein.«

»Tust du mir einen Gefallen?«

»Sicher, welchen?«

»Sei wieder der fröhliche, dröge norddeutsche Curryheringvernichter, den ich geliebt habe. Wenn sich meine vagen Erinnerungsbruchstücke richtig zusammenfügen, dann warst du um ein paar Stufen fröhlicher.«

»Nach allem was passiert ist?«

»Gerade deswegen! Kehr endlich ins Leben zurück. Vom Trübsal blasen wird Sven nicht wieder lebendig! Er hätte es auch nicht gewollt.«

»Nein, wahrscheinlich nicht. Aber ...«

»Was aber ...«

Tja, da war noch die Frage der Fragen. Obwohl die Dunkelheit ein netter Schutz war, traute ich mich nicht - nicht sofort. Ich ließ die LED-Anzeige weiterzählen. Die Sache wurde nicht einfacher. Ich würde nicht einschlafen können, und Tim würde nicht einschlafen wollen, solange ich meine Frage nicht gestellt hatte.

»Was wird aus uns?«

»Du meinst wohl eher, ob ich dich noch liebe?«, warum musste Tim immer so analytisch sein.

»Ja. Ich kann nicht von dir verlangen, dass du ...«

»Sven - Schnauze!«, Tim zischte. »Es ist wie Kuki gesagt hat. Du hast diesen unerfreulichen Märtyrertick und willst dich ständig für andere opfern. Hör' mir jetzt mal für ein paar Minuten zu und halt dabei die Klappe: An das meiste, eigentlich an fast alles, was du mir erzählt hast, kann ich mich immer noch nicht erinnern. Ab und zu flackert hier und da mal ein Bild auf. Aber das war es auch schon.«

Super, dass klang nicht sonderlich vielversprechend.

»Aber ich fühle, dass alles so passiert ist. Es fühlt sich richtig an. Es kommt mir vertraut vor. Du kommst mir vertraut vor! Und du hast eine Wirkung auf mich! Ich glaub' auch nicht, dass ein paar Schläge reichen, um aus 'ner Schwuppe 'nen Hetero zu machen. Für den Fall, dass das deine Befürchtung war. Die kann ich dir nehmen. Du bist süß. Mega-süß! Und wenn dies hier kein Krankenhaus wäre und ich keinen Presslufthammer im Kopf hätte, dann könnte ich für nichts garantieren. Soweit zum körperlichen Begehren. Nur weil man einen geil findet, heißt dass ja noch lange nicht, dass man auch zusammenpasst. Aber auch da kann ich dich beruhigen. Es passt. Ich hab dir meine Münze gegeben. Dann, Sven, dann musst du mir mein Herz geraubt haben! Es kann nicht anders sein und ich fühle einfach, dass es so war und auch wieder so sein wird. Ich fühle mich wohl in deiner Gegenwart. Deine Anwesenheit beruhigt mich. Als du vorhin aus dem Zimmer gelaufen bist, war es fürchterlich. Ich habe Kuki angefleht, dich zurückzuholen. Es kann gar nicht anders sein. Sven, ich liebe dich! Unsterblich!«

Mit diesem Satz eroberte Tim unser Leben zurück. Er brach den Bann, den die Schläger und Mörder von Sven über uns gelegt hatten. Wir waren wieder zusammen.

Anatomie eines Psychopathen

Portland

»Glaubt bloß nicht alles, was dieses sentimentale Riesenbaby euch erzählt.«

Jan fuhr herum und strahlte: »Alex!«

Miguel und Alex kamen aus Richtung des Eingangs auf Jan, Marcel und Thimo zugelaufen: »Hi, da sind wir wieder. Wie ist es gehen wir zu mir? Jan, kommst du mit?«

Thimo und Marcel sahen sich fragend an: »Ja klar, warum nicht?«

»Ähm, ich mach leider den Abflug. Ich muss heute auf meine kleine Schwester aufpassen. Thimo, Marcel, war nett euch kennen gelernt zu haben. Und, sorry noch mal für vorhin, aber ihr könnt auch gut austeilen.«

Man verabschiedete sich voneinander und Jan zog von dannen.

»Netter Kerl ...«, Thimo so Jan sinnend hinterher.

»Ja, aber ich bin dein Kerl.«, Marcel knuffte seinen Freund.

»Aua! Is' ja schon gut.«

»Seid ihr zwei immer so?«, Alex schmunzelte.

»Nein, schlimmer ...«

»Miguel, fährst du bei den beiden mit und zeigst ihnen den Weg?«

»Klar, wenn du noch etwas einkaufst, wir haben nämlich nix mehr zu Hause.«

»Umpf, echt nich?«

»Nöh!«

Man verließ den Aufenthaltsraum und begab sich zum Parkplatz. Alex stieg in einen kleinen Golf aka. Rabbit (»Klein, aber mein.«) und der Rest in Thimos Pickup. Miguel machte ein paar Richtungsangaben und Thimo fuhr los.

Marcel tippte Miguel auf die Schulter: »Ihr habt eine eigene Wohnung?«

»Lex hat eine. Er lebt nicht mehr bei seinen Eltern. Erst mal leben die nicht hier in Portland und zweitens ... Also, ihre Beziehung zu Lex ist nicht die Beste.«

»Wie lange seid ihr schon zusammen?«

»Etwas mehr als ein Jahr. Allerdings hatten wir einen etwas ... wie soll ich sagen ... holperigen Start. Ihr dürft nicht vergessen, ich habe puertoricanische Wurzeln ...«

Miguel grinste und entblößte seine schneeweißen Zähne. Ein Blinzeln in seinen Augen verriet ihn. Miguel war die Ursache für den holperigen Start.

Alexanders Wohnung war zwar klein, aber dafür um so gemütlicher. Mig musste erst aufschließen, da Alex noch nicht eingetroffen und wohl noch mit den Einkäufen beschäftigt war.

»Wohnst du auch hier?«

»Nöh, ich wohn bei meinem Bruder. Bei unseren Alten hab' ich's nicht mehr ausgehalten. Sind zwar an sich super nett, aber ich weiß nicht, ob ihr so was kennt, es ist ne' Großfamilie. Bei meinen Eltern wohnen noch meine zwei Schwestern, mein kleiner Bruder und meine Oma. Wir haben einen kleinen Einkaufsladen, nichts Großes, so für die Nachbarschaft. Meine Eltern sind auch froh, dass ich und mein Bruder da raus sind. Na und mit Paps ... Er ist halt aus 'ner anderen Generation. Männer sind nicht schwul, also, keine echten Männer, wenn ihr wisst, was ich meine.«

Und wieder dieses Grinsen.

»Ich weiß was ihr denkt!«

»Was denken wir denn?«

»Latino, Macho, Gockel, Drogendealer, die laufen alle mit öligen Haaren und Haarnetzen rum ... Ich kenn das alles ...«

»Und?«

»Es stimmt ...«, Miguel grinste noch breiter, was eigentlich unmöglich war. »Na ja, nicht wirklich. Es stimmt ungefähr so sehr, wie alle Schwulen Ledertrinen oder Tunten sind. Es gibt beides, genauso wie es drogendealende, haarnetztragende Macholatinos gibt. Hey, wollt ihr Musik hören?«

Inzwischen hatte man es sich gemütlich gemacht. Alexanders Wohnung bestand aus nicht mehr, als einem mittelgroßen Raum in dem sich auch eine Kochecke befand. Es gab keinen Flur. Ging man durch die Eingangstür, stand man mitten im Wohn-, Ess- und Schlafzimmer. Es gab' noch genau zwei weitere Räume: eine Besenkammer und ein kleines Bad. Der Raum war länger als breit. Viele Möglichkeiten ihn aufzuteilen gab es nicht. Die Kochecke war durch einen kleinen, niedrigen Tresen abgetrennt, vor dem ein Tisch mit drei Stühlen stand. Ansonsten gab es noch ein Bett, dass tagsüber als Sitzgelegenheit diente und einen Sessel. Mig hockte auf dem Bett und griff zum CD-Regal, das längs über dem Bett angebracht war, fischte eine CD heraus und legte sie ein.

»Die kommen aus Frankreich, dass liegt in Europa, sie nennen sich Air.«

Aus dem Lautsprecher quoll »Sexy Boy«. Thimo brach in einen Lachkrampf aus.

»Was hat der denn?«

Marcel schmunzelte und meinte: »Thimo kommt aus Deutschland, dass liegt ebenfalls in Europa und hat sogar eine gemeinsame Grenze mit Frankreich. Außerdem weiß ich, dass er Air total mag.«

Miguel sah betreten drein: »Du hättest mich ruhig mal vorwarnen können, statt mich hier in ein offenes Messer rennen zu lassen.«

Thimo fing sich wieder ein und betrachtete Wollmütze. Man schien es mit zwei Personen zu tun zu haben: Wollmütze, der harte Kerl im Kreis seiner Gang, und Miguel, der liebe Junge privat, wenn man mit ihm allein war. Es war, als wenn er hier bei Alex keine Rolle spielen musste. Wirkte er sonst manchmal aufbrausend, fast verbissen und immer sprungbereit einen Konflikt wortstark und notfalls auch handgreiflich auszufechten, war er hier total offen, fröhlich, sogar ein bisschen kindisch, wie er sich auf dem Bett rekelte.

Die Tür ging auf und Alex kam rein. Es war ein Moment von Deja Vue. Thimo sah Alexanders Blick und war sprachlos: Alex sah Miguel an und sah glücklich aus. Ein inneres Leuchten vor Freude. Das war keine einfache Verliebtheit. Alex und Miguel verband mehr. Ungefähr so, wie mehr als nur Freundschaft Thimo mit Marcel verband. Thimo drehte seinen Kopf und betrachtete Marcel, der genau im gleichem Moment seinen Kopf zu Thimo drehte. Ihre Blicke kreuzten sich und traten in einen wortlosen Dialog ein.

»Hey ihr zwei, flirten könnt ihr zu Hause.«, Mig sorgte, fies grinsend, dafür, dass sich alle wieder in der Wirklichkeit einfanden.

Alex hatte inzwischen ein bisschen Fertigfraß und was zu trinken ausgepackt und war nun dabei, das Zeug unters Volk zu bringen. Er platzierte das Zeug auf dem Tisch, nahm sich selbst etwas und setzte sich zu Miguel aufs Bett. Kaum saß er da, zog Mig Alex zu sich ran. Alex braucht sich nur zurückzulegen, sofort wurde er von Miguel sanft umarmt. Alex genoss es sichtlich und er schien auch ein klein wenig stolz zu sein, denn sowohl Thimo als auch Marcel waren sprachlos, mit welcher Selbstverständlichkeit die beiden ihre Zuneigung demonstrierten.

»Ok, Thema Brandon. Was wollt ihr wissen?«

Alex riss sie alle wieder aus ihren Gedanken. Wie ein kalter Schauer kehrte die unerfreuliche Realität der Mordanklage in das Bewusstsein von Marcel und Thimo zurück.

»Am besten Alles. Was weißt du über ihn. Was könnte mir helfen?«

»Erst einmal: Brandon ist ein Psychopath. Er hasst Schwule. So bin ich auch in seine Schusslinie geraten. Wie ihr ja wisst, waren wir damals noch an der St. James, einem exklusiven Internat für die Kinder wohlhabender Eltern. Für die Außenwelt eine Institution, an der die zukünftige Elite dieses Landes heranwächst. Für die Insassen die Hölle auf Erden.«

The Boys of St. James

Kennybunck Port, St. James School for Boys

Die St. James School for Boys ist ein Internat. Ich kam vor ungefähr vier Jahren dort hin. Damals war ich gerade mal 14. Ich weiß nicht, ob ihr euch ein Jungeninternat vorstellen könnt. Für uns Frischlinge, und das waren wir mit 14 Jahren, war es der Horror. Mein bisheriges Leben endete, als sich die Tore hinter mir geschlossen hatten. Die St. James ist keine Militärschule, wie es sie hier auch viele gibt, aber der Unterschied ist nicht sonderlich groß.

Die meisten Jungs waren die totalen Snobs. Kinder neureicher Eltern, denen man bisher Zucker in den Arsch geblasen hatte. Leider schien Geld alleine die Kiddies nicht pflegeleicht zu halten. Entweder stellten Herr Börsenmakler und Frau Rechtsanwältin fest, dass Sohnemann Zeit beanspruchte, Zeit die man doch lieber mit Freunden im Country Club verbringen will. Oder man kam einfach mit Söhnchen nicht mehr klar, weil der, trotz aller Kohle dieser Welt, Scheiße baute, wie Autos klauen. An dieser Stelle kommt dann die St. James ins Spiel mit ihrem Versprechen, einem die Last der Erziehung abzunehmen.

Bei mir war es fast genau so. Ich hatte gerade meine ersten feuchten Träume und begann regelmäßig an mir rumzuspielen, als ich auch prompt merkte, dass sich diese Träume nicht notwendigerweise um Titten und Mösen drehten. Wie klärt man ultrakonservative, bibelfeste Eltern über so was auf? Gar nicht. Statt dessen wurde ich aufsässig, aggressiv und schließlich lästig. Innerlich war ich eigentlich nur total verunsichert.

Und so landete ich auf der St. James. Sollten die sich doch mit mir rumärgern. Die St. James ist eine Lüge. Die Anstaltswärter, auch Lehrer oder Betreuer genannt, tun gar nichts. Sie überlassen die Jungs sich selbst. Und das heißt, dass man sich der Hackordnung unterwirft oder zu Grunde geht. Man lebt in sogenannten »Häusern«. Jedes Haus beherbergt eine Anzahl von Jungs, durchgehend von den Frischlingen bis zu den sogenannten Tutoren, den Jungs in den Abschlussklassen. Jedes Haus hat einen Hauschef alias einem Oberarschloch. Es ist der Typ, der sich innerhalb des Hauses gegen alle durchgesetzt hat. Die notwendigen Attribute eines Chefs sind Aggressivität, Kraft, Skrupel- und Rücksichtslosigkeit. Kein Wunder also, wenn aus ihnen später Staatsanwälte, Politiker oder Wirtschaftsbosse werden.

Das erste, was ich nach meiner Ankunft lernte, war, dass Frischlinge dienen. Wir waren quasi die Leibsklaven der älteren. Eine Regel der Internatsleitung lautete, dass alle Schüler ihre Zimmer, die Flure und Waschräume sprich, das sie ihr ganzes Haus selbst sauber machen müssen. Angeblich bildet das den Charakter. Ich vermutete eher, dass es dem Internat einfach eine Menge Geld spart. Die Regel wurde natürlich auch überprüft. Peinlich genau sogar. Man wollte ja eine saubere Schule sein. Allerdings wurde nur das Resultat und nicht der Weg dorthin überprüft. Mit anderen Worten, wir, die Frischlinge, machten sauber. Und zwar alles. Weiterhin durften wir auch noch waschen und bügeln. Erst für den Chef, dann für die restlichen Tutoren, gefolgt von den elder Guys und was sonst noch vor uns Frischlingen kam.

Wer jetzt aber erwartet, dass unter den Frischlingen so was wie Solidarität herrschte, quasi die Partnerschaft der Parias, der irrt. Jeder Frischling war einem Tutor zugeordnet. Mehr oder weniger ging die Zahl immer auf, das heißt, es gab fast immer gleich viele Tutoren wie Frischlinge. So sehr die Tutoren auch uns Frischlinge tyrannisierten und gegen uns zusammenhielten, so sehr kämpften sie natürlich untereinander um die Vorherrschaft. Jeder wollte Chef werden. Und um dem Ganzen noch eins obendrauf zu setzen, gab es auch noch einen Kampf unter den Häusern.

Dieses System sorgte dafür, dass man relativ schnell sehen konnte, wer einmal später einer der führenden Tutoren werden würde und wer nicht. Schwäche war das Letzte, was man zeigen durfte. Innerhalb kürzester Zeit wurden wir hart, kalt und abgestumpft. Wenn man Snobismus mit Intelligenz und Sarkasmus mit Kultur verwechselt, dann war man auf dem richtigen Pfad. Missgeschicke und Fehler anderer waren Glücksfälle, die man mit lässiger Genugtuung zur Kenntnis nahm. Notfalls stellte man auch einfach Fallen oder ließ jemanden in ein offenes Messer rennen. Wer auf die Hilfe eines anderen Schülers setzte, hatte bereits verloren. Die St. James war ein kalter Ort. Kälter als Sibirien. Man muss sich eins klar machen. Alle, wirklich alle von uns, ob Frischling oder Chef, hassten diesen Ort. Wir verachteten das System. Wir verachteten, was es aus uns machte. Wir verachteten unsere Eltern, dass sie uns hier hergebracht hatten. Wir verachteten uns selbst. Aber trotzdem spielten wir mit.

Ich gebe es zu. Selbst ich spielte mit. Mein Start war megascheiße gelaufen. Ich kam an, eingetütet in den allerfeinsten, allerbravsten Anzug, den meine Mutter je für mich gekauft hatte und jeder wusste Bescheid. Da kommt Mamas Liebling. Ihr habt das Bild gesehen. Grausam. Hohn und Spott kübelweise.

Und ich? Nun, ich ahnte ja bereits, dass ich schwul war, auch wenn ich das Wort noch nicht mit mir verband. Ich war entsprechend unsicher und lag völlig quer zu meiner Umwelt. Einerseits gab es ein paar wirklich geil aussehende Jungs, anderseits waren dies aber auch die totalen Arschlöcher. Ich war todunglücklich, unsicher, schüchtern und vor allem total naiv. Ich war das gefundene Fressen für die älteren. Wenn mir jemand Hilfe bei etwas anbot, nahm ich sie an, ohne zu ahnen, dass es nur eine Falle oder Verarschung war. Mehr als einmal stand ich umringt von allen meinen Hausgenossen und musste mir ihr Hohngelächter anhören.

Tja, und dann gab es da noch eine besondere Person. Mir wurde ein Zimmer zugeteilt, dass ich mit einem anderen Neuankömmling teilen musste. Mit Brandon.

Brandon war völlig anders drauf. Er war der Einzige, der sich freute, auf die St. James gekommen zu sein. Er glaubte was man ihm sagte. Stählung des Geistes. Schule für das Leben. Tugendhaftigkeit, Sauberkeit, Tapferkeit, Ehre und Glaube. Er stand voll hinter dem ganzen Mist: Chorgeist, er hatte ihn verinnerlicht. Zwei Tage dabei und schon waren alle anderen Häuser in seinen Augen minderwertig. Zwei Wochen später brauchte Brandon nicht mehr putzen, er wurde »Adjutant« des Hauschefs, der es wohl witzig fand, einen persönlichen Kofferträger und Speichellecker zu haben, der an den Scheiß glaubte.

Bei mir sah die Welt dagegen etwas anders aus. Ich durfte für Brandon mitputzen. Ich hasste ihn dafür und war prompt auf dem besten Weg ein Arschloch zu werden.

Die ersten Wochen waren ein Albtraum. Wir Frischlinge, außer Brandon, wurden regelmäßig tyrannisiert. Niemals körperlich sondern nur geistig. Angeschrien, zum Kloputzen mit der Zahnbürste abkommandiert, alles so ein Scheiß. Fairness gab es keine. Einmal war ich mit dem Scheißhaus gerade fertig, als einer der älteren rein kam. Er war noch kein Tutor, ein Jahr davor. Offensichtlich war er gerade selbst abgekanzelt worden. Jedenfalls hatte er eine stink Wut, als er ins Klo kam. Er sah, dass ich gerade fertig war, und pisste gezielt neben das Pinkelbecken: »Du hast was übersehen!« In diesem Moment hätte ich ihn umbringen können.

Ach ja, körperliche Gewalt. Sie wurde von den Chefs nicht geduldet, nur als Bestrafung für Verfehlungen gegenüber den Hausgesetzen. Einmal ist einem Tutor die Hand gegenüber einem Frischling ausgerutscht. Er wurde zu zehn Stockhieben verurteilt. Über solche Dinge richtete der Rat der Chefs. Kam es zu einer Verfehlung, hielten die Chefs aller Häuser zusammen Gericht. Und auch hier war das System pervers. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass man mindestens ein Mal während des Aufenthalts auf der St. James gegen das Gesetz verstoßen haben musste. Von jedem wurde erwartet, dass er einmal den Stock spürte. Mich hat er nie erwischt.

Doch obwohl körperliche Gewalt fehlte, war es dadurch nicht viel besser. Die psychische Gewalt war einfach stärker und wurde ständig perfektioniert. Wir Jungs wirkten nach außen hin so hart und unnahbar. An uns perlte alles ab. Jede Demütigung nahmen wir gelassen auf. Dabei war das alles Fassade. Wie oft habe ich nachts gehört, dass sich eine verletzte Seele in den Schlaf heulte.

Wenn ich vorhin sagte, dass es keine körperliche Gewalt gab, dann ist diese Aussage nicht ganz korrekt. Es gab nämlich eine Ausnahme: Halloween oder kurz »Die Nacht«. Die Halloweennacht war einem postpubertäreren Initiationsritus vorbehalten, bei dem aus den »Frischlingen« die »Jungkeiler« wurden. Bereits einige Wochen vorher wurden uns gegenüber gewisse Andeutungen gemacht, was in »Der Nacht« mit uns passieren würde. Das war natürlich alles Quatsch und ausgemachter Blödsinn. Es diente nur zwei Zwecken: uns in panische Angst zu versetzen und der Befriedigung der älteren an unserer Angst.

Ich weiß nicht, wessen krankem Hirn diese Sache entsprungen war. Soweit ich das herausbekam, war es schon seit Jahren eine Tradition. Man wollte aus uns Männern machen. Wir sollten zu unseren Ängsten stehen. All solch einen Scheiß erzählte man uns. In Wirklichkeit wollten sich die, die es schon überstanden hatten, einfach an uns Neuen beömmeln. Doch hatte sich aus einem anfangs noch relativ harmlosen Spaß über die Zeit etwas entwickelt, was keineswegs mehr harmlos war. Ein paar Typen nahmen die Sache sehr ernst und waren völlig fanatisch dabei, sich immer neue Sachen auszudenken. Einer davon war Brandon. Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat, aber Brandon musste nicht »Die Nacht« überstehen. Ganz im Gegenteil, er exekutierte sie an uns anderen Frischlingen. Erbarmungslos und mit totaler Hingabe war er bei der Sache.

Die Sache an sich war einfach nur peinlich und krank. Eine Mischung aus pubertären Wichsphantasien, schlechten und üblen Scherzen auf Kosten anderer und dem geilen Gefühl, unmittelbare und direkte Macht über jemanden auszuüben. Es begann damit, dass uns Frischlingen die Augen verbunden wurden. Alles sehr feierlich und rituell. Wir wurden in einen Raum geführt, einem Konferenzraum im Haus, den wir vorher nicht betreten durften. Dort wurden uns die Hemden oder T-Shirts ausgezogen. Auf unsere nackten Oberkörper wurden mit einem breiten Faserstift Nummern gemalt und uns die Augenbinden abgenommen. Für den Rest der Nacht waren wir die Nummer 6 oder die 7. Ich war dir 3. Namen hatten wir keine mehr. Da muss wohl jemand mal ein ganz schlechtes Psychologiebuch gelesen haben.

Als dann trat unser Hauschef vor uns und schwafelte etwas von »Heute werdet ihr zu echten Männern..« und »Seid tapfer« oder »Zeigt, dass unser Vertrauen in euch gerechtfertigt war.« Was dann ablief, konnte man bestenfalls, als »Homosexualität für Heten« bezeichnen. Ein paar von uns musste Frauenklamotten (wo sie die auf einem Jungensinternat auch immer herhaben mochten) und blonde Perücken anziehen und die »verbliebenen« Jungs mussten uns, unter dem Gejohle der anderen, abknutschen. Ich fand's albern, aber für einige meiner Leidensgenossen war es schwer. Sie schämten sich, insbesondere als sie merkten, dass Fotos von uns geschossen wurden.

Offiziell war Alkohol auf der St. James strengstens verboten. In »Der Nacht« wurde gesoffen ohne Ende. Wir bekamen natürlich nichts ab, das heißt, nicht direkt. Man begoss uns mit Bier, dass wir uns dann gegenseitig ablecken durften. Mit steigendem Alkoholpegel bei unseren Peinigern sank deren Hemmschwelle bei den Dingen, die sie uns zumuteten. Hier lernte ich Brandon hassen. Brandon trank kaum etwas, er blieb weitestgehend nüchtern. Statt die anderen auszubremsen, kam Brandon mit immer neuen Ideen, bei denen unsere Tutoren, hackezu wie sie waren, nicht mehr urteilen konnten, ob die Sache nicht viel zu weit ging.

So kam Brandon auf die Idee, dass die Frischlinge sich gegenseitig die Haare scheren sollten. Bis auf 0mm, also Glatze. Ich weiß, dass spätestens an dieser Stelle des Abends zwei Jungs zu heulen anfingen. Derjenige, dem ich die Haare abschnitt, schluchzte leise in sich hinein, bis ich ihm zuzischte, damit zu warten, bis er wieder alleine war. Er sollte den Arschlöchern nicht ihren Triumph gönnen. Er nickte, schniefte einmal und hielt sich dann wacker.

Inzwischen waren wir bis auf unsere Unterhosen entkleidet worden. Nach unserer Rasur waren wir allerdings voller Haare. Brandon hatte natürlich sofort eine Lösung. Alle unter die Dusche! Gesagt getan. Wir landeten unter den Duschen, wo auch noch die letzte Hülle fiel. Brandon hatte das uneingeschränkte Kommando. Alles, was nicht schon im Alkoholkoma lag, trottete ihm johlend und grölend hinterher, amüsierte sich köstlich auf unsere Kosten und feuerte Brandon und uns an. Es war nicht das erste Mal, dass wir nackt mit anderen Jungs zusammen duschten, in einem Gemeinschaftsduschraum ist das normalerweise der Regelfall, doch diesmal war es anders. Wir schämten uns, was Brandon und Co. natürlich urkomisch fand. Brandon hatte sich total in seine Rolle als »Ausbildungsleiter« reingesteigert.

»Findet ihr nicht auch, dass unsere Kleinen richtig schwul aussehen?«

Lallende Ja- und Yo-Rufe.

»Und was machen Schwule? Sie blasen einander die Schwänze. Los macht!«

Das war die Eskalation. Brandon geiferte, die Hälfte von uns Jungs hatten Tränen in den Augen, wagten sich aber nicht, etwas zu sagen. Ich war zu sauer und zu wütend, um zu weinen. Ich kochte innerlich und hatte meine Hände zu Fäusten geballt und ... tat nichts. Ich war zu feige Brandon gegenüberzutreten. Dafür schäme ich mich noch heute. Dass ich nichts getan habe. Ein etwas kleinerer Kerl als ich, aber genau in meinem Alter, kam heulend zu mir und nahm zitternd meinen Schwanz in seinen Mund. Ich wollte schreien, aber ... Ich tat es nicht.

Das tat jemand anderes.

»Was ist hier los?«

Eine kraftvolle, wütende Stimme unterband jegliche Aktion. Unser Hauschef sah aus völlig verklärten und glasigen Augen den Neuankömmling an und sagte: »Nichts, wir haben etwas Spaß!« Kaum hatte er dies gesagt, viel er auch schon um und war, alkoholbedingt, für die nächsten Stunden weg.

Der Neuankömmling war ein Typ aus einem anderen Haus, kein Tutor, sondern ein »elder Guy«, aber trotzdem schien man ihn sehr zu respektieren. Jedenfalls war sofort Schluss. Der Typ löste unsere Halloweennacht auf. Wir Frischlingen wurden weggeschickt.

»Alex, bitte bleib noch einen Moment.«

Alle durften gehen, bis auch mich. Verschreckt drehte ich mich, nackt, wie ich war, zu dem Typen um. Für einen kurzen Moment huschte so etwas wie ein Grinsen, so der Blick, wenn man jemanden auf seine Attraktivität abcheckt, über sein Gesicht. Was er sah, schien ihm zu gefallen. Naiv, wie ich war, bemerkte ich nur das kurze Lächeln.

»Zieh dir erst mal was an.«

Der Typ warf mir frische Klamotten, Shorts und T-Shirt, zu und wurde sofort wieder ernst.

»Mein Name ist Mike, ich muss mit dir reden. Komm mit.«

Ich folgte Mike in einen kleinen Raum. Dort angekommen musste ich ihm alles schildern, was in der Nacht vorgefallen war. Insbesondere auch, wie sich Brandon verhalten hatte. Er hörte sehr ernst und sehr aufmerksam zu. An manchen Stellen fragte er sogar nach oder machte sich Notizen. Anschließend schickte er mich ins Bett, wobei noch einmal diesen kurze, aber nette, Lächeln aufblitzte.

»Die Nacht« hatte Konsequenzen. Wie wir später erfuhren, war unser Haus weit über das übliche Maß hinausgeschossen. Unser Hauschef wurde vorgeladen und vom Rat der Häuserchefs in geheimer Sitzung zu 50 Stockhieben und Verlust seines Postens verurteilt. Dies soll einer der schwersten Strafen gewesen sein, die jemals verhängt wurde. Die Demütigung ging sogar so weit, dass unser Haus faktisch aufgelöst wurde. Man war sich einig, dass unser Hauschef seine Pflichten in unverantwortlicher Weise missachtet und seine Macht missbraucht hatte. Einzelne Leute mussten mit anderen Häusern tauschen, da man die Führungsstruktur in unserem Haus zerschlagen wollte. Unter anderem kam so Mike zu uns ins Haus. Er übernahm, ohne Tutor zu sein, die kommissarische Leitung. Obwohl Brandon formal nicht bestraft wurde, traf ihn die Sache indirekt sehr schwer. Sein Chef, für den er den Laufburschen gespielt und der seine schützende Hand über ihn gehalten und ihn protegiert hatte, war weg. Alle, denen Brandon vorher übel mitgespielt hatte, und das waren viele, begannen sich an ihm zu rächen. Brandon fiel und er fiel tief.

Und dann machte ich einen folgenschweren Fehler, der Brandons und mein Schicksal besiegeln sollte.

Leuchtstoffröhre am Morgen

Berlin

»Guten Morgen die Herren ...«, ein viel zu waches, viel zu geschäftiges und viel zu viel Fröhlichkeit verbreitendes Etwas stürzte in das noch stockfinstere Krankenzimmer. Mit einer Erbarmungslosigkeit, die ausschließlich den Krankenschwestern zu eigen ist, wurde das Deckenlicht eingeschaltet. Der Schalter schloss den Stromkreis, Elektronen schossen durch die Kupferleitungen bis zu den vier Doppelleuchtstoffröhren, die Drosselspulen knurrten, die Starter zirpten und mit zwei, drei »Plop, Plop« Geräusch-Flacker-Kombinationen sprangen die Röhren an und verbreiteten eine infernalische Helligkeit.

»Uhhaaa«, das grelle Licht schmerzte in meinen Augen, mir blieb kaum Zeit mich von diesem ersten morgendlichen Schock zu erholen, als auch schon der Vorhang vom Fenster zur Seite gerissen und das Fenster sperrangelweit aufgerissen wurde. Eisige Winterluft strömte in das Zimmer. Ich verkroch mich unter die Bettdecke.

»Brrrr ...«, Timmy wurde ebenfalls wach. »Ich bin krank und mit Kranken geht man vorsichtig und liebevoll um.«

»Soso, krank also. Dann willst du heute also nicht entlassen werden?«, Schwester Gudrun grinste breit.

»Der Punkt geht an Sie. Ok, ich bin gesund. Kann ich sofort gehen?«

»Nicht so schnell. Erst mal wirst du dich noch waschen, dann noch eine Abschlussuntersuchung vom Arzt, dann muss ich noch die Papiere fertigmachen und Frühstück ...«

Die letzten Worte waren nicht mehr zu verstehen. Schwester Gudrun war genau so schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen war.

»Wie spät ist es eigentlich?«

Statt einer Antwort drehte mir Tim die Anzeige seines Radiowecker zu: 5:56 Uhr, quasi Mitternacht.

»Die spinnen die Krankenschwestern!«

»Oh, heute ist Samstag, da sind die spät dran. Sonst kommen die schon um halb 6.«

Waschen, Frühstück, Abschlussvisite. Der Doc war mit Timmy sehr zufrieden. Als er hörte, dass wir in der letzten Nacht lange miteinander geredet haben und dass bei Timmy einzelne Erinnerungsfetzen zurückkehrten, war er regelrecht begeistert. Aber Arzt bleibt Arzt, soll heißen, er konnte es nicht lassen noch eine Mahnung auszusprechen: »Übertreibt es nicht. Wenn dir irgendetwas merkwürdig vorkommt, wenn dir zum Beispiel übel wird, kommst du sofort wieder her, ist das klar? Und noch etwas, du bist schwach, du hast lange im Koma gelegen und deine Muskeln sind nicht mehr trainiert. Lass es also langsam angehen. Und nun, haut ab' ihr zwei ...«

Ich hatte in der Zwischenzeit Timmys Sachen gepackt. Der Doc lächelte uns noch mal zu, wir sagten artig »Tschüß!« und der Doc war auch weg.

»Können wir?«, ein Blick zu Timmy.

»Auf jeden Fall. Ich will keine Minute länger in diesem Krankenhaus bleiben.«

Ich schnappte mir Timmys Sporttasche und ließ ihn vorgehen. Tim zögerte, die Klinke der Tür niederzudrücken.

»Ich habe Angst ...«

»Das brauchst du nicht. Ich bin bei dir!«

»Was werde ich hinter der Tür vorfinden?«

»Dein Leben!«


Timmy öffnete die Tür und wir gingen hindurch. Wir marschierten durch die Gänge und Flure des Krankenhauses, wanderten vom Seitenflügel zum Zentralkomplex und standen wenig später am Pförtner vor dem Haupteingang.

»Wie kommen wir eigentlich nach Hause?«

»Wohin willst du denn? Zu mir oder zu dir?«

Timmy sah mich mit schief-zugekniffenen, skeptisch-kecken Augen an: »Ich wohn bei dir?«

»Öhm, ja, also ... Mehr oder weniger schon ...«

»Vielleicht sollte ich erst mal meine Mum anrufen. Was meinst du?«

»Das wird nicht notwendig sein ...«, kam Sonjas Stimme von der Seite. »Hallo Sohn! Hast du geglaubt, ich würde dich nicht vom Krankenhaus abholen?«

»Mami!«, freudestrahlend stürzte Timmy seiner Mutter entgegen und umarmte sie erst einmal herzlich.

»Und um dir die Entscheidung abzunehmen, wir fahren erst mal zu Svenni.«, Sonja lächelte mich fragend an. Ich verstand ihre unausgesprochene Frage Alles gut gelaufen mit euch zwei? und nickte Alles Ok.

»Du kennst Svenni?«, Tim klatschte seine Hand gegen seinen Kopf. »Ja, natürlich kennst du ihn. Mumi, es dauert alles noch ein wenig ...«

»Kein Problem. Lass dir Zeit.«

Wir fuhren zu mir. Sonja fuhr ihren Wagen durch unsere Toreinfahrt den Kiesweg hinauf und parkte vor dem Carport. Ich wollte gerade den direkten Weg zu meinem Bungalow nehmen, als mich Sonja griff und eilig in Richtung Haupthaus bugsierte: »Wir sollten erst mal bei deinen Eltern vorbeischauen.«

Etwas verblüfft meinte ich nur: »Ähm, ja, natürlich.«

Ich griff meinen Schlüssel und wollte gerade die Haustür aufschließen als, sie von innen aufgerissen wurde. Durch die Tür quollen plötzlich Biene, Dirk, Kuki und Nico. Gefolgt von meinen Eltern, die sich aber, vorbildlich, wie ich sie mir erzogen hatte, im Hintergrund hielten. Unsere Freunde stürmten auf Tim ein, dem, erst verblüfft und dann total gerührt, die Freudentränen im Gesicht standen.

»Ihr seid wahnsinnig, Leute ... Ich ...«, Timmy musste schniefen und sich die Tränen aus den Augen wischen. »Danke Leute! Danke, das hab' ich echt gebraucht ...«

Wir gingen alle Mann ins Haus, wo meine Eltern zusammen mit unseren Freunden ein kleines Festessen zum Wiedersehen vorbereitet hatten. Es war ein richtiges kleines Fest, wenn es auch eigentlich nur ein Mittagessen war. Wir lachten, wir hatten Spaß, Kuki flirtete ganz unverschämt mit Tim, der mir immer wieder dankbare und glückliche Blick zuwarf, Biene erzählte, was bisher passiert war, Dirk gab' seine blöden Kommentare von sich, die jeder so liebte. Das Essen zog sich hin. Es wurde ein toller und unbeschwerter Nachmittag. Wir saßen schließlich beim Kuchen, als Timmy sich räusperte. Wie auf Kommando erstarben alle Gespräche, jeder spürte, dass Tim etwas Wichtiges sagen wollte und schwieg.

»Ich muss euch danken.«, Timmy strahlte in die Runde. »Ihr seid die besten Freunde, die man haben kann. Es ist eine tolle Wiedersehensfeier, die ihr für mich vorbereitet habt. Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne euch machen würde, denn, ihr wisst es sicherlich, mir fehlen gut 90% der Erinnerungen an die letzten 6 Monate. Also, wenn ich in der nächsten Zeit etwas merkwürdig erscheinen mag ...«

»Du bist doch immer merkwürdig!«, Kuki grinste.

»Und das sagt mir jemand, der von Metallringen zusammengehalten wird.«

»Püh!«

»Ich wollte eigentlich nur Danke sagen.«

»Dann sag es doch!«

»Danke!«

»Cool, war's das?«

»Nicht ganz ... Die Stimmung ist toll, trotzdem, es fehlt jemand ... Svenni, ich vermisse dich!«

Es war wie ein Toast. Jeder von uns erhob schweigend und nachdenklich sein Glas, sei es mit Wasser, Cola oder sonst was gefüllt.

»Auf Sven!«

Jeder im Raum hielt für einen Moment inne. Sven I fehlte. Sein Verlust war wie eine offene Wunde, die nicht richtig heilen wollte. Jeder konnte sie spüren und jeder von uns versuchte auf seine eigene Weise damit umzugehen. Es war das erste Mal, dass wir nach Svens Tod zusammensaßen. Wir sahen uns schweigend an und begriffen, dass von nun an nichts mehr so sein würde, wie es früher einmal war. Unsere Welt hatte sich schlagartig verändert. Wir standen mit unseren Fußspitzen an einem neuen Abschnitt in unserem Leben und waren gerade im Begriff, den ersten vorsichtigen Schritt zu wagen.

Die Dialektik schwuler Heteros

Kennybunck Port, St. James School for Boys

An der St. James gab es ein zentrales Thema: Sex! Wir Jungs redeten drüber. Eigentlich redeten wir über nichts anderes. Man prahlte damit, wie man in den Ferien die Mädels reihenweise aufgerissen, und was man alles Tolles mit ihnen angestellt hatte. Man beachte: Wir sagten, »was wir mit ihnen ...« und nicht etwa »was man miteinander«, angestellt hatte. Mädchen schrumpften zu Wichsvorlagen und Objekten. Ich bezweifle, dass auch nur ein Prozent von dem stimmte, was so erzählt wurde. Je hässlicher der Typ war, desto mehr Mädels hatte er angeblich flachgelegt. Das war schon merkwürdig.

Nach den Ferien war immer vor den Ferien. Ferien gab es zwei Mal im Jahr. Für sechs Wochen im Sommer und zu Weihnachten zwei Wochen. Die restliche Zeit verbrachten wir Jungs nur unter uns, was sowohl für die heterosexuellen als auch für uns wenige schwule Jungs, die reinste Folter war. Für die Heten, wegen der Unerreichbarkeit des weiblichen Geschlechts, für uns andere, wegen der Unerreichbarkeit des eigenen Geschlechts. Denn Schwule galten als das Letzte. Man hörte hier und da, dass es welche geben sollte, aber wer sie waren, erfuhr man nicht. Kam jemand in einen entsprechenden Verdacht, war er sofort ein Unberührbarer, jemand, mit dem man sich tunlichst nicht abgab. Der Betroffene kämpfte um seinen Ruf und musste möglichst schnell etwas weibliches und war es noch so hässlich, vorweisen können. Komischerweise waren es immer nur Heten, die in den Verdacht kamen schwul zu sein.

Ich war gut in Selbstverleugnung. Meine Weibergeschichten waren mit die Besten, oder die am besten ausgedachtesten. Die St. James befreite mich von meiner Ahnungslosigkeit. Nach weniger als 8 Wochen auf dem Internat, wusste ich, was schwul bedeutet und dass ich es war. Denn neben den endlosen Weibergeschichten wurde auch ständig darüber geredet, was eben jene schlimmen Schwulen miteinander trieben. Das schien die Heten mächtig zu interessieren. Mit vordergründiger Ablehnung wurde das Thema intensivst erörtert. Dabei versicherte man sich natürlich ständig gegenseitig, wie abartig und widerlich man das alles fand und dass solche Leute auf der St. James niemals glücklich werden würden.

Wenn nach dieser Definition Glück ein inverses Maß für Homosexualität war, dann mussten alle Jungs auf der St. James schwul gewesen sein, denn glücklich war keiner. Man war bestenfalls weniger unglücklich.

Kann man sich vorstellen, dass eine Horde Jungs, ohne den Zugriff auf das weibliche Geschlecht, auf Sex verzichten würde? Nicht wirklich. Und so tat man das, was man ständig und permanent verteufelte. Jeder wusste davon, aber keiner sprach drüber. Die Jungs hatten Sex miteinander, obwohl Sex das falsche Wort dafür ist. Es war bestenfalls Triebbefriedigung und passierte, natürlich, heimlich und sehr diskret. Natürlich war ich auch mal dabei. Es war sehr merkwürdig.

Eine Form der Lustbefriedigung fand in Jack Off Partys statt. Kollektives Wichsen, bei dem jeder nur seinen eigenen Schwanz in der Hand hielt und man sich gegenseitig heterosexuelle Phantasien erzählte. Ich hörte weg und sah mir, möglichst unauffällig die Jungs um mich herum an. Nach einiger Zeit stellte ich fest, dass ich mir die Jungs auch ganz unverblümt ansehen konnte. Ich musste nur derjenige sein, der die geilsten Heteropoppstories erzählte. Ich erzählte gut, man hing mir an den Lippen und ich konnte mich sattsehen.

Dies war der Moment, an dem ich begriff, dass ich schwul war. Ich wollte mir die Jungs nicht nur ansehen, sondern auch anfassen. Womit mir auch gleich klar wurde, dass ich damit an der St. James ein größeres Problem bekommen würde. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es außer mir noch andere Jungs geben könnte, die ebenfalls auf Jungs stehen. Zu der Zeit war ich schlecht drauf und kompensierte meinen Frust damit, andere Jungs, schwächere Jungs, zu tyrannisieren. Ich war auf dem besten Weg zu einem derjenigen Arschlöcher zu werden, die wir alle so hassten.

Es war so leicht, ein Arschloch zu sein und es erleichterte sehr vieles. Je arroganter ich wurde, desto mehr wurde ich respektiert. Vordergründig zu mindestens. Mein Lieblingsopfer war natürlich Brandon. Selbst ein Arschloch, aber abgestürzt durch den Fall seines Mentors, war er quasi Freiwild.

Es gab da eine seltsame Denkweise an der St. James, die besagte, dass je arroganter und fieser man sich gab, desto mehr galt man als ganzer Heterokerl. An der Stelle schlug dann die Doppelmoral einen gewagten Haken und erlaubte einem plötzlich wesentlich mehr bei der Triebbefriedigung. Mit anderen Worten, man lud mich ein zu einer »intelligenteren Sache«, als dieses »gemeinsame Gewichse«, denn dass wäre »doch nur Kinderkram.«

Ein paar »elder Guys« und auch zwei »Tutoren« luden zu einem »diskreten Treffen« ein. Ich galt zwar immer noch als Frischling, aber man wäre von mir und meinem Verhalten (als Arschloch) sehr beeindruckt. Nach oben buckeln, nach unten treten. Die Technik funktionierte einfach immer, auch wenn ich merkte, dass es mich auffraß. Innerlich wusste ich, dass ich mich falsch verhielt. Das war nicht ich. Aber ich war zu schwach, etwas daran zu ändern und fing an, mich deswegen zu hassen. Diesen Hass wiederum ließ ich dann wieder an den Schwächeren aus. Ein scheiß Spiel.

Ähnlich wie die »diskreten Treffen«, die nichts weiter waren, als dass man sich gegenseitig einen runterholte. Man war dem anderen einfach behilflich. Diese Treffen hatten ihre eigenen Regeln. Tabu waren jegliche Formen von Zärtlichkeit. Mann wichste jemanden, aber man streichelte ihn nicht. Der Saft wurde sofort mit einem Taschentuch weggewischt. Gesprochen wurde kein Wort und leise gestöhnt.

Die ersten paar Mal, war es geil, von einem anderen Jungen berührt zu werden. Ich träumte davon, dass er außer meinem Schwanz meinen ganzen Körper berührte. Dass er sich auszog und unsere Körper sich aneinander pressten. Doch dies passierte nicht. Jeder war peinlich darauf bedacht, etwas anderes zu tun, als den Schwanz zu wichsen. Schließlich war man ja nicht schwul!

Langsam dämmerte mir, dass es an der St. James gewisse elitäre Zirkel gab. Das gemeinsame Wichsen war der Einstieg. Stieg man in der Hackordnung auf, wurde man zu privateren und diskreteren Veranstaltungen eingeladen. Diese verfolgten genaugenommen zwei Zwecke. Der erste war primitiv: Einen den Druck von der Eiern zu nehmen. Der zweite war hinterhältiger und konnte auch nur an einem kranken Ort wie dem St. James geboren werden. Da schwuler Sex bekannter weise tabu war, war das gemeinsame gegenseitige Wichsen natürlich ein Tabubruch. Plötzlich war man voneinander abhängig. Man konnte demjenigen, an den man gerade Hand angelegt hatte, unmöglich in Pfanne hauen, ohne sich selbst gleich mit in die Pfanne zu legen. Auf diesem Prinzip basierte das gesamte Machtgefüge an der Schule: wer es mit wem tat. Sex war Macht und hatte mit Liebe, Freundschaft, Geborgenheit und Zärtlichkeit soviel gemein, wie ein Käsecracker mit französischer Küche.

Ich entwickelte eine Hassliebe zum Sex. Da Sport, wie an allen amerikanischen Schulen, groß geschrieben wurde, waren wir alle mehr oder weniger gut gebaut. Manche von uns waren aber echte Sahneschnitten, an die ich liebend gerne Hand angelegt hätte. Es war so frustrierend. Ich musste ständig auspassen, dass niemand bemerkte, dass es mir möglicherweise Spaß machte. Aber wie sollte so was Spaß machen?

Wie auch immer, die heterosexuelle Schülerschaft der St. James schaffte das eigentlich unmögliche Kunststück, miteinander schwulen Sex zu haben und dabei absolut hetero zu bleiben. Und ich setzte noch einen drauf, in dem ich als schwuler Junge heterosexuellen, schwulen Sex praktizierte. Können mir noch alle Folgen?

Ich lag zum Beispiel neben Jerome, einem süßen, absolut geilen, aber durch und durch heterosexuellen Jungen. Er massierte mein bestes Stück, ich hatte die Augen geschlossen und träumte davon, dass er wirklich zärtlich zu mir sein würde, mich küssen, mich streicheln und dass ich dies erwidern könnte. Und während ich so träumte, musste ich so tun, als wenn mir das alles absolut nichts bedeuten würde. Sobald man kam, war schnell ein Kleenex zur Stelle, die Hose wurde wieder hochgezogen und man ging, ohne ein Wort zu wechseln, jeder seinen Weg. Deprimierender kann Sex, der eigentlich das Schönste auf der Welt sein sollte, nicht sein.

Und dann gab es da noch Mike, der elder Guy, der bei uns »Die Nacht« beendet hatte. Mike war anders. Seit dem Vorfall wohnte er nicht nur bei uns im Haus, er hatte auch die kommissarische Leitung. Das war außergewöhnlich. Wir gingen eigentlich alle davon aus, dass die Tutoren unseres Hauses einen neuen Hauschef wählen würden, aber das passierte nicht. Ganz im Gegenteil. Obwohl Mike ein Fremder aus einem anderen Haus war, wurde er respektiert.

Mike war einer der wenigen, die kein Arschloch waren. Alleine dies unterschied ihn deutlich von den anderen Jungs. Was ihn aber noch stärker von der Masse hervorhob, war, dass er trotzdem keiner der Losertypen war. Denn normalerweise waren die Nichtarschlöcher auch gleichzeitig die totalen Verlierer. Nicht so Mike. Mike war stark, zurückhaltend, zögerlich, entschlossen, allein, introvertiert, extrovertiert, brutal, sanft oder einfach nur faszinierend. Er vereinigte die krassesten Widersprüche in sich, ohne dabei unglaubwürdig zu werden. Aber er war auch kein Übermensch. Er machte Fehler, er war auch mal unfair, er konnte auch mal jemanden anbrüllen, doch tat er dies nie, nur weil's ihm gerade Spaß machte.

Nach der Halloweennacht begann mein Aufstieg in der Haushierarchie. Ich wurde kälter, arroganter und ätzender. Man begann mich nicht zu respektieren, man begann mich zu fürchten. Ich merkte nicht einmal, dass ich mich veränderte. Es war dieser verfluchte Kampf möglichst den perfekten Hetero abzugeben, was hieß, immer ein Tick mehr zu tun als nötig. Also behandelte ich Frischlinge fieser, tat beim gegenseitigen Wichsen noch stärker so, als wenn es absolut nichts bedeutete. Ich war die perfekte Fassade eines potemkinschen Dorfes. Nach außen der Sieger, die strahlende Zukunft. Innen fühlte ich mich leer und ausgebrannt. Ich ekelte mich vor mir selbst.

Bis mir Mike den Spiegel vorhielt.

Mike war der Einzige, der von meinem neuen Ego nicht beeindruckt war. Eigentlich war er genau das Gegenteil. Je mehr ich zum Megaarschloch mutierte, desto distanzierter, geradezu feindlich wurde Mike mir gegenüber. Nicht dass sich unsere Wege häufig gekreuzt hätten, aber wenn sie es taten, war eine Spannung spürbar, die ich bei keinem anderen der Jungs fühlte. Mike frustrierte mich. Ich wusste nicht warum, aber er war der Einzige, von dem ich mir wünschte, er würde mich mögen, mich respektieren. Alle anderen waren mir total egal. Aber genau dieser Eine ging mehr und mehr auf Distanz. Und trotzdem, ich hatte das Gefühl, dass er mich heimlich beobachten würde.

Eines Tages, ich war inzwischen ein Mitglied des elitärsten Wichsclubs unseres Hauses, dem sonst fast nur Tutoren und elder Guys angehörten, kam einer von ihnen, es war Ken, mit einem Frischling an.

»Ich habe euch etwas mitzuteilen.«, eröffnete er uns mit einem breiten, fiesen Grinsen, »Dieses Küken hier, ist, ihr werdet es kaum glauben, eine echte Schwuchtel!«

Hört! Hört! Ken gewann unsere totale Aufmerksamkeit. Üblicherweise kultivierte jeder von uns eine snobistische, gestylte Langweile, die wir wie Orden vor uns hertrugen.

»Woher willst du das wissen.«

»Von seinem älteren Bruder. Meine Schwester ist mit ihm zusammen auf dem College und haben was miteinander.«

Das Objekt, Vincent, über das gerade gesprochen wurde, sah während der ganzen Zeit total verängstigt aus und sah sich panisch um.

»Und was gedenkst du jetzt mit deiner Schwuchtel zu tun?«

»Ich denke, wir könnten ihm einen Gefallen tun ...«, begeistert von seiner Idee strahlte uns Ken an, »Wo er doch Schwänze so mag ... Du magst doch Schwänze, oder?«

Vince wagte nicht, seinen Kopf zu heben. Angewurzelt stand er da und rührte sich nicht.

»Na los, komm schon her. Zeig' uns doch mal, was dir so gut gefällt.«

Ken packte Vince und zog ihn zu einem Sessel, in den er sich setzte. Vince stand zitternd daneben, während Ken seine Hose öffnete und seinen Schwanz rausholte.

»Na' dann zeig mal, was du kannst!«

Vince stand da und wusste nicht, was er machen sollte. Worauf Ken sein rechtes Handgelenk packte und zu seinem Schwanz führte.

»Los, wichs ihn mir. Zeig mir, wie gefühlvoll ihr Wichser sein könnt!«

Zögernd und vorsichtig begann Vince mit seiner Arbeit. Ich sah die Szene und war im ersten Moment amüsiert und fand es witzig, einfach geil. Wie alle anderen im Raum sahen wir fasziniert zu.

Doch Ken war nicht zufrieden: »Ah, ich sehe, du kommst nicht auf deine Kosten, mein Kleiner. Na, dann wollen wir mal nicht so sein. Ich weiß ja, ihr mögt so was ja sehr gerne. Los, blas ihn mir!«

Mit einer plötzlichen Handbewegung hatte Ken Vincent am Nacken gepackt und zog dessen Kopf zu seinem Schwanz hinab. Mit der anderen Hand packte Ken seinen Schwanz und begann ihn Vince in den Mund zu schieben.

Ich hörte noch, wie die anderen riefen und johlten: »Ja, gib's der Schwuchtel. Fick ihr ins Maul! Die brauchen das!«, als Vincents Blick den meinen traf und mich paralysierte. Vince rannten Tränen über die Wangen. Er kämpfte dagegen an, aber es gelang ihm nicht. Er heulte. Dieser Blick traf mich ins Herz. Vince, das war ich! Ich war auch schwul! Ich ließ es zu, dass man einen harmlosen Jungen, der gerade ein paar Wochen auf der Schule war, vergewaltigte. Das war kein harmloser Wichsspaß. Das war bitterer Ernst. Ich begriff, wie weit ich gekommen war. Ich war nicht aufgestiegen, ich war gesunken! Gesunken unter das niedrigste Niveau, das möglich war. Ich war Abschaum, weil ich mich soweit selbst verleugnet hatte, dass es zu so etwas wie der Sache mit Vince überhaupt kommen konnte.

»Hör auf! Sofort!«

Ich schrie Ken an. Vor Schreck flutscht sein Schwanz aus Vince Mund. Sprachlos sah er mich an.

»Ken, dass geht zu weit! Das ist kein Spaß mehr.«

»Mein Gott, was ist denn in dich gefahren. Bist du neidisch, dass ich die Schwuchtel zuerst entdeckt habe? Keine Angst, du hättest sie auch haben können.«

»Es ist keine Schwuchtel! Es ist ein Mensch! Er heißt Vincent. Und du hörst sofort auf! Ist das klar.«

Von irgendwo wurde mir das Wort »Spielverderber« an den Kopf geworfen.

Ich fuhr herum und sah die anderen an: »Was heißt hier Spielverderber? Haltet ihr das für ein Spiel? Ist es nämlich nicht! Es ist Vergewaltigung!«

»Mann, reg' dich ab!«

»Ich will mich aber nicht abregen. Ich sage, dass dies zu weit geht.«

Ich ging zu Vince und sprach leise mit ihm. Meine Stimme hatte einen warmen, mitfühlenden, entschuldigenden Klang, einen, an den ich mich fast nicht mehr erinnern konnte: »Es wird dir nichts mehr geschehen. Dafür werde ich sorgen. Dich wird niemals wieder jemand anfassen.«

Ganz leise, kaum hörbar, sagte Vince: »Danke!«

Und noch leiser, so, dass wirklich nur er es verstehen konnte, sagte ich: »Nein, ich muss dir danken. Du hast mich gerettet!«

Vince sah mich fragend an, mit leicht verheulten Augen und sah ein schüchternes, entschuldigendes und sehr verräterisches Lächeln. Er verstand, lächelte glücklich zurück und eilte aus dem Raum.

»Ok, was machen wir nun, nachdem unser lieber Alex einen Moralanfall bekommen hat?«

Typisch, die Sache war für die anderen bereits erledigt, man war gelangweilt und gähnte lakonisch, um mir zu demonstrieren, dass ich sie um einen tollen Spaß beraubt hatte.

»Ihr begreift es nicht, oder?«

»Alex, hör' auf damit. Die Rolle als Retter dieser Tucke steht dir nun wirklich nicht.«

»Verdammt! Es reicht. Ihr kotzt mich an. Ich halt das nicht mehr aus. Was denkt ihr eigentlich, was das war?«

»Na nix, wir haben ner Schwuchtel die Gelegenheit geboten, einen Schwanz zu lutschen. Das sollte ihr doch gefallen. Also, wo ist das Problem?«

»Wo das Problem ist? Ich sag' dir, wo das Problem ist. Vincent wollte vielleicht niemandem einen blasen?«

»Natürlich wollte er! Er ist doch schwul. Die wollen doch immer!«

»Ach ja, und deswegen hat er geweint.«

»Oh, nein, jetzt regst du dich darüber auf, dass so einer heult. Das tun die doch ständig. Noch mal, es sind Schwule! Kapierst du es jetzt?«

»Ja, ich kapiere ... Ich kapiere so langsam, dass ich mit euch rein gar nichts gemein habe. Dass es ein Fehler war, bei euch einzusteigen. Ok, das war das letzte Mal, dass ich dabei war.«

»Alex ...?«, einer der Jungs wollte mich aufhalten.

»Lass ihn gehen, der fängt sich auch schon wieder. Der ist nur sauer, dass er den Kleinen nicht für sich haben durfte.«

Sie hatten wirklich nichts verstanden. Ich ging, ich raste aus dem Raum und fühlte mich beschissen. Warum hab' ich nicht den Mumm gehabt, ihnen an den Kopf zu werfen, dass ich auch so eine Schwuchtel bin. Dass sie die ganze Zeit so jemanden unter ihrer Mitte hatten. Warum? Warum hatte ich kein Rückgrat? Warum hasste ich mich so dafür? Warum?

Ich weiß nicht mehr, wie ich dahin gekommen bin, aber ich fand mich überraschend im Kreuzgang unseres Hauses wieder. Ich stand im Freien und schrie meine Wut aus dem Bauch. Ich brüllte einfach drauf los. Völlig durchgeknallt, aber befreiend. Ein paar Typen sahen mich irritiert an, gingen aber ihres Weges. Also brüllte ich weiter. Ich brüllte, bis mir die Puste ausgegangen war.

Ich geriet ins Hyperventilieren und mir wurde schwummerig vor den Augen. Wie betrunken torkelte ich in den Rosengarten, einen kleinen Heckengarten mit Bänken. Die St. James sollte aussehen, wie eine ehrwürdige englische Schule. Ich fand eine der Bänke, ließ mich drauffallen und brach mehr oder weniger seelisch zusammen. Mit auf die Knie gestützten Armen fing ich an zu heulen. Mein Gewissen war von seiner monatelangen Urlaubsreise zurückgekehrt und präsentierte mir die Rechnung für mein Verhalten während seiner Abwesenheit. Es war eine beschissen hohe Rechnung.

Was war nur für ein gottverdammtes Arschloch aus mir geworden? Wir konnte ich mich nur so verändern, mich dermaßen selbst verleugnen, dass ich fast zugelassen hätte, dass man einen armen, unschuldigen Jungen vergewaltigt hätte? Wo war ich angekommen?

»Selbstzweifel?«, die Stimme klang vertraut. Ich blickte auf, wischte mir mit dem Handrücken ein paar Tränen aus den Augen, um klar sehen zu können, und erblickte Mike.

»Mike? Du hier?«

»Ja! Ich wollte wissen, was hier so am Quicken war. Hast du gesehen, ob hier ein Schwein abgestochen worden ist?«

»Ja, hab' ich. Das Schwein war ich. Jetzt ist es Tod!«

Mike zögerte. Er klang nicht mehr so distanziert wie in der letzten Zeit. Er lächelte mich sogar an. Wo waren früher meine Augen gewesen, dieses Lächeln war einfach traumhaft. Der ganze Typ war schnuckelig. Ich musste blind gewesen sein.

»Du meinst, du bist jetzt kein Schwein mehr?«

»Hm, wenn ich das so genau wüsste ... Momentan neige ich dazu, mich vor mir zu ekeln. Mike, kannst du dir vorstellen, dass man sich selbst verleugnen kann? Das man sein eigentliches Ich in eine Schachtel stecken, diese abschließen und den Schlüssel wegschmeißen kann?«

»In St. James ist alles möglich. Und so was kommt ständig vor. Aber ich glaube, du hast geraden den Schlüssel wiedergefunden ...«

»Ja! In den Augen von Vincent ...«

Mike zog seine Augenbrauen hoch, kratzte sich am Kinn und setzte sich neben mich. Wir sahen beide geradeaus und betrachteten die Rosengewächse.

»Er dankt dir dafür, was du vorhin für ihn getan hast!«

»Du weißt, was passiert ist?«, ich war überrascht.

»Ja, er hat es mir erzählt. Ich könnte Ken seinen Schwanz abschneiden ...«

»Ich auch ... Ich könnte mir meinen eigenen abschneiden ...«

»Bevor du das tust, warte noch einen Moment. Ich habe dir etwa zu erzählen.«

Ein kleiner Schritt für Tim, aber ein großer Schritt für ...

Berlin

»Uff! Hört das denn nie auf?«, Tim glotzte ungläubig auf das nächste Ringbuch mit schwer verdaulichen Schulstoff, »Bist du sicher, dass ihr das wirklich alles durchgenommen habt? Das ist doch Stoff für Jahre.«

»Unsere lieben Lehrkörper haben kräftig angezogen. Mayerbröger rast durch die Mathematik, als wenn ihn der Leibhaftige jagen würde.«

»Mathe? Würg!«, Timmy steckte sich symbolisch einen Finger in den Hals und betrachtete ungläubig seine eigene Schrift auf den eingehefteten Blättern.

»Sonst noch was?«

»Deutsch! Das Referat ...«

Dieser Einwurf kam nicht von mir, sondern von Kuki. Wir saßen in Tims Zimmer in der Steglitzer Wohnung seiner Mutter. Wir waren gerade dabei, Tim auf den aktuellen Stand der Schule zu bringen. Zwar hatte er das meiste schon mal selbst genossen, aber da war immer noch das Problem seiner partiellen Amnesie. Immerhin: Die Beschäftigung mit dem Stoff schien zu helfen. Er konnte sich zwar selten daran erinnern, ein Thema live im Unterricht miterlebt zu haben, aber er schien unterbewusst über das dazugehörige Wissen zu verfügen. Gerade bei Mathe wurde dies überdeutlich. Er überflog seine Unterlagen und hatte den Stoff fast vollständig wieder drauf.

»Was ist mit Deutsch?«, Tim drehte sich auf seinem Bürostuhl Kuki zu, der auf Tims Bett hockte. »Und was für ein Referat?«

»Du hast es ihm nicht erzählt?«, Kuki mich fordernd fragend.

»Ähm, nein ... Es gab' noch keine Gelegenheit ...«

Tims Blick floppte wild zwischen Kuki und mir hin und her.

»Leute, könnte mich mal jemand aufklären?«

»Wie? Das bist du noch nicht?«, Kuki grinste »Also, was sie dir über die Bienen und die Blumen erzählt haben ... Vergiss es!«

»Ku-ki!«, Tim knurrte.

»Ok, Ok!«, Kuki setzte sich gerade hin. »Unser liebes Rüdigerchen fand die Idee, Projektarbeit zu machen, ultra genial. Modern, didaktisch gewagt. Er hat sich so richtig in seinem eigenen intellektuellen Glanz gesuhlt.«

»Ich kann's mir vorstellen ... Weiter! Was für ein Thema.«

»Ein ganz einfaches. Sex unter Jugendlichen.«

»Krass! Und was macht unsere Arbeitsgruppe?«

»Schwule Jungs!«

Tim klappte der Unterkiefer herunter und atmete, wie ein Karpfen im Aquarium, mit offenem Mund weiter.

»Wer ist den auf die Idee gekommen, dass wir das Thema bearbeiten?«

»Du, mein Lieber!«

Tim flammte krebsrot auf, »Das ist nicht war. Das kannst du mir nicht erzählen. Nutz ja nicht aus, dass ich mich an manches nicht erinnern kann. Irgendwann kann ich es wieder und dann ...«

Ich sprang Kuki zur Ehrenrettung bei: »Kuki hat aber Recht. Es war deine Idee. Unsere speziellen Freunde um Rolf wollten uns verarschen und meinten zu Doc Rüdiger, als er fragte, wer das Thema machen wolle, er könne ja mal uns fragen.«

»Und ich habe gesagt:,Klar, machen wir!`?«, Tim hielt ungläubig seinen Kopf schief.

»Mit fast diesen Worten.«

Tim schüttelte seinen Kopf: »Hm, passt zu mir ... Na gut. Ist noch jemand in der Gruppe, außer uns dreien?«

»Svenni war in unserer Gruppe.«

Gedämpfte Stimmung.

»Ich verstehe ...«, Tim überlegte. »Nach allem was geschehen ist, muss unser Projektreferat ganz anders aussehen. Das sind wir Svenni schuldig, oder?«

Blick zu Kuki. Zustimmendes, stummes Nicken. Blick zu mir. Gleiche Antwort.


Die nächsten drei Wochen vergingen ohne erwähnenswerte Vorfälle. Kuki und ich versorgten Tim mit dem Schulstoff. Tim verzehrte das Zeugs widerwillig. Mit der Zeit lösten sich immer mehr Gedächtnislücken auf. Tim begann sich an immer mehr Ereignisse zu erinnern. Und mit der Erinnerung kam auch seine Fröhlichkeit zurück. Tim war und blieb ein Quatschkopf. Selbst der ihn betreuende Seelenklempner war mit den Fortschritten, die Tim machte, zufrieden. Gelegentliche emotionale Rückschläge, die Tim drohten herunter zu ziehen, wurden von mir, sofort und unmittelbar, mit besonders intensiven körperlichen Zärtlichkeitsattacken begegnet.

Und schließlich näherte sich der Tag, ein Montag, an dem Tim das erste Mal nach seinem Überfall die Schule wieder besuchen sollte. Tim war die Ruhe selbst. Während ich den ganzen Sonntag davor wie ein Tiger im Käfig in meinem Bungalow auf und ab lief, lümmelte sich Tim vor meinem Fernseher und spielte mit seiner Playstation, die er vor ein paar Monaten mitgebracht hatte.

»Wieso kannst du nur total ruhig bleiben?«, meine Nervosität ließ mich schlechte Angewohnheiten annehmen, denn ich begann an meine Fingernägel zu knabbern.

»Svenni, Baby - Cool down!«, Tim legte den Spiele-Controller beiseite, erhob sich von seinem Sessel, ging auf mich zu, nahm mich am Arm und zog mich auf mein Bett herunter. »Warum bist du so nervös? Ich werde morgen nur zur Schule gehen. Wie die letzten 9 1/2 Jahre zuvor auch schon.«

» Nur zur Schule ... Du weißt, dass es mehr als wahrscheinlich ist, dass du auf Svens Mörder und deine Schläger treffen wirst?«

»Ja, natürlich! Deswegen muss ich auch dort hin. Ich muss zeigen, dass wir uns nicht unterkriegen lassen. Niemals!«

Ich seufzte und bewunderte seinen Mut: »Du willst dir das mit dem Referatstext nicht noch mal überlegen?«

Wir hatten unser Thema komplett überarbeitet. Genau genommen hatten wir ja vorher noch gar nicht angefangen. Wir hatten zwar ein paar Ideen, aber dann passierte Sven. Das Tim wieder zur Schule ging, war schon eine kleine Handgranate, aber unser jetziger Projektreferatstext war die reinste Wasserstoffbombe.

»Nein! Der Text bleibt!«, Tim musterte mich prüfend und ich signalisierte Zustimmung, »Svenni, entspann dich!«

Tim beließ es nicht bei Worten. Da wir sowieso schon auf dem Bett lagen, konnte man diese Gelegenheit nicht ungenutzt vorbeiziehen lassen. Tim zupfte an meinem T-Shirt und begann mit seinen Händen unterhalb des Gewebes auf Wanderschaft zu gehen. Wenige Momente später hatten wir das Thema Schule für die nächsten Stunden vollkommen vergessen.


Die erste Stunde. Deutsch. Vorstellung des Projektes »Schwule Jungs« durch die Schüler Tim Mannteufel, Kuki (Wie heißt der eigentlich wirklich?) und Sven Jacobsen.

Doc Rüdiger beim hoffnungslosen Versuch seine Unterlagen zu ordnen: »Wo hab' ich denn? Ah, da ... Nein, dass war es doch nicht ... So hier, hmpf ... Was hab' ich da geschrieben? Das kann doch kein Schwein entziffern.«

Während der Lehrkörper noch mit seinem Chaos kämpfte, musterten wir die Klasse - und die Klasse musterte uns. Wir, also Tim, Kuki und ich, hatten uns erst unmittelbar vor Stundenanfang in die Schule und das Klassenzimmer gemogelt. Wir wollten jede Unterhaltung mit unseren lieben Mitschülern vor unserem Referat vermeiden.

»Ähm, Ok!«, Doc Rüdiger räusperte sich und hob seine Stimme. Es ging los: »Heute hören wir ja das erste Referat unserer einer unserer tollen Projektgruppen. Tim, Sven, Sven und Kuki hatten sich ja dem Thema ,Schwule Jungs`angenommen. Der andere Sven ... Nu ja, am besten fangt ihr mal an.«

Ich zitterte und musste zu Kuki und zu Tim rübersehen. Die zitterten genau so vor Anspannung. Plötzlich kam mir unser ganzer Text so lächerlich und peinlich vor. Aber jetzt war es zu spät. Wir standen gemeinsam auf, gingen mit weichen Knien nach vorn, um uns mit debil blödem Grinsen auf der Fresse auf den Lehrerschreibtisch zu setzten.

Kuki, Tim und schließlich ich. So hatten wir uns aufgereiht. Wir kamen uns vor wie auf dem Präsentierteller. Von wohlwollender Spannung über totales Desinteresse, bis hin zur krassen Ablehnung konnte man alle möglichen Emotionen in den Gesichtern unserer Mitschüler ablesen.

Ein Blick zu Timmy und ein geflüsterter Satz: »Willst du anfangen?«

Er nickte, holte Luft und ...

»Ein Vorbemerkung: Dieses Referat, das Ergebnis unserer Projektarbeit ist, haben wir einem Menschen gewidmet, der heute nicht mehr bei uns ist. Sven wurde das Opfer eines feigen Angriffs. Sven, wir werden dich niemals vergessen!«

Von einer Nanosekunde zur nächsten, war es in der Klasse totenstill geworden. Simone ließ vor Schreck ihren Stift fallen. Das Geräusch war ohrenbetäubend, als es die Stille zerfetzte.

Tim ließ seien Prolog wirken. Eiskalt berechnend wartete er darauf, dass sich die Leute vom ersten Schreck erholt hatten, um gleich die nächste Bombe nachzuschieben.

»Und das ist unser Projekttitel zum Thema Sexualität: ,Schwule Jungs`Wir hatten viele Möglichkeiten an die Sache ran zu gehen. Nach Svens gewaltsamen Tod gab es aber nur eine: die persönliche ...«

Wieder eine Kunstpause. Die letzten Penner in unserer Klasse waren mittlerweile wach geworden, so langsam dämmerte es auch der größten Dumpfbacke, dass dieses Referat anders werden würde.

Und dann legten wir los:

»Ich heiße Tim und ich bin schwul!«

»Ich heiße Kuki und ich bin schwul!«

»Ich heiße Sven und ich bin schwul!«

Ein unerwartetes Netzwerk und die Entdeckung der Sinnlichkeit

Kennybunck Port, St. James School for Boys

Mike knuffte mich aufmunternd in die Seite: »Aber nicht hier, du Trauerklos. Das, was ich dir zu sagen habe, sollte wir etwas privater besprechen. Komm mit.«

Ich folgte Mike, ohne darauf zu achten, wo wir eigentlich hingingen. Ich war immer noch von meinem Mikro-Nervenzusammenbruch (so was war das wohl gewesen, was mich im Rosengarten ereilt hatte) benommen und trottete einfach nur hinterher. Ein paar Minuten später fand ich mich in einem kleinen, gemütlichen Raum wieder, den ich noch nie zuvor betreten hatte. Wo ich war ...? Ich hatte keine Ahnung.

»Setz dich doch!«, Mike bot mir an Platz zu nehmen. Ich sah mich schüchtern um, und ließ mich in einem schweren englischen Ledersessel nieder, d.h. er sollte so aussehen, wie ein schwerer englischer Ledersessel, er war es aber nicht. Genauso wenig, wie die St. James ein englisches Internat war. Sie sah nur so aus. Alles nur Imitation, der Sessel wie die Schule. Und die Schüler?

Mike setzte sich mir gegenüber, ebenfalls in einen Sessel, und musterte mich eine Weile. Ich wurde unsicher und rutschte unruhig in meinem Sessel hin und her.

»Nervös?«

»Ja, verdammt.«, ungeplante Aggressivität.

»Warum?«

»Ich weiß nicht, was ich hier soll. Ich glaub', das war doch keine so gute Idee mitzukommen.«

Bloß wieder weg hier. Was wollte Mike von mir? Hatte ich nicht genug Probleme?

»Eben hast du noch den Campus zusammengeschrien und gesagt, dass du dich vor dir ekelst und jetzt ...«

»Ich hatte Stress mit ein paar Leuten. Wir haben uns gestritten und ich war sauer. Aber das ist jetzt wieder vorbei! Kann ich gehen?«, ich verstand mich selbst nicht. Wieso blockte ich plötzlich ab.

»Klar kannst du gehen.«, Mike sah enttäuscht aus. »Also kann ich Vince sagen, dass er sich in dir getäuscht hat und du doch lieber ein Arschloch bleibst?«

Vince? Der Name traf mich unvorbereitet. Wir war schon halb aufgestanden als mich die Nennung des Namens zurück in den Sessel warf: »Verdammt, Mike, was willst du von mir?«

»Ich? Von dir?«, Mike schüttelte seinen Kopf. »Nichts, außer dass du ehrlich zu dir bist. So ehrlich, wie du es vorhin zu dir warst, als du zwar weinend, aber befreit auf der Bank im Rosengarten saßt.«

»Was laberst du da für einen Stuss zusammen? Wozu soll ich ehrlich sein?«, Seelenklempner hätten sicher tolle Begriffe für die Show, die ich da gerade abzog.

Mike sah mich scharf an: »Das wird die zwar nicht passen, aber einer muss dir ja mal in den Arsch treten. Mir ist es völlig egal, ob du dir gegenüber zugibst, dass du schwul bist oder nicht ...«

Ich sprang auf und ballte die Fäuste, doch das Wort war mächtiger als das Schwert.

»Alex, setzt dich wieder hin! Ich bin noch nicht fertig mit dir! Also, mir ist es scheißegal, wie du mit dir selbst klarkommst. Aber sollte ich erleben, dass du Jungs wie Vince missbrauchen solltest in einem dieser snobistischen Wichsclubs der Heterogockel, wirst du den Tag verfluchen, an dem du mich das erst mal gesehen hast! Ich werde nicht zulassen, dass einer von uns einen anderen von uns missbraucht, nur weil er mit sich selbst auf Kriegsfuß steht und ne' Klemmschwester ist! Kapiert? Gut! Jetzt kannst du gehen!«

Jetzt wollte ich nicht mehr gehen. Meine Stimmung war wieder umgeschlagen. Ich bekam das große Zittern. Das erste Mal in meinem Leben hatte mir jemand auf den Kopf zugesagt, dass ich schwul sei.

»Woher weißt du es?«, wie der Körper so die Stimme. Sie zitterte und klang nervös bis panisch.

»Das du schwul bist?«, Mike erlaubte sich ein maliziöses Lächeln, er hatte sein Ziel erreicht und ein Loch in meinem Panzer geschlagen, »Nenn es mein Gaydar. Aber eigentlich braucht man dich nur aufmerksam zu beobachten. Natürlich nur, wenn man weiß, worauf man achten muss. Außerdem bist du nicht der Erste und wirst auch nicht der Letzte sein.«

Ich sah Mike nur mit weit aufgerissenen, staunenden Augen an.

»Nun glotz nich' so. Es ist einfacher als du denkst. Als ich dich am Tag deiner Ankunft sah, hatte ich mir schon gedacht, dass du einer von uns bist. Und sie da, du hast dich exakt so verhalten, wie es zu erwarten war. Immer der 110%ige Hetero. Auf der einen Seite die geilsten Weibergeschichten bei euren kleinen Wichstreffen erzählen, dass die halbe Schule vor Neid erblasst. Auf der anderen Seite, von Tag zu Tag ein größeres Arschloch werden. Immer ein Tick arroganter als nötig, immer ein Quäntchen mehr Sarkasmus als angebracht. Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit, bis dich dein Gewissen an den Eiern packt. Dass es Vince war, nun, nennen wir es göttliche Fügung.«

Ausgepunktet!

»Du bist ...«

»Schwul, ja!«, Mike grinste breit. »Du bist nicht der einzige auf der Welt. Nicht mal hier. Von den etwas mehr als 500 Jungs hier auf dem Campus kenne ich allein 35, die es außer uns beiden auch sind.«

»Echt?«, das hätte ich niemals erwartet. »Ich dachte hier ...«

»Du dachtest, hier, auf einem Jungeninternat, wärst du der einzige?«, Mike sah müde aus, »Ja, dass denken alle ...«

Ein neuer Schwall Wut kam in mir hoch: »Verdammt Mike, du bist ein selbstgefälliger Kotzbrocken! Wenn du gewusst hast, dass ich schwul bin, warum hast du mir dann nicht früher geholfen? Warum musste ich erst so werden, wie ich bis vorhin noch war? Warum musste erst Vince darunter leiden?«

»Bin ich deine Mami? Du bist alt genug, deine eigenen Entscheidungen zu treffen und damit zu leben. Eine andere Antwort hast du dir eigentlich auch schon selbst gegeben. Hier laufen massenweise schwule Heteros rum. Verklemmte, kleine, notgeile Jungs, denen ihre Eltern den Kontakt zu Mädchen verwehren, indem sie sie auf der St. James parken. Die haben gar keine Ahnung, was für Seelenkrüppel sie damit heranzüchten. Aber du, mein lieber Alex, du warst ein heterosexueller Schwuler und zwar nicht, weil man dir die Jungs vorenthalten hätte, sondern, weil du nicht bereit warst, dich zu akzeptieren, so wie du bist. Dass es da irgendwann zum großen Knall kommen musste, war doch irgendwo klar, oder? Aber du hast erstaunlich lange durchgehalten.«

»Und jetzt?«

»Suchst du dir einen netten Freund.«

Was ich auch gerne getan hätte, aber es war leider nicht Mike. Mike war wirklich ein geiles Stück Mann: attraktiv, mehr Zartbitter- als Vollmilchschokolade, also nicht süß, aber trotzdem schnuckelig - nur leider schon vergeben. Doch wusste ich das damals noch nicht. Woher auch? Es wäre einfach zu schön gewesen, um wahr zu sein. Mike mochte mich, wir haben viele Monate später sogar mal miteinander geschlafen und es war einfach ein Traum.

Aber in diesem Moment wollte ich nur eins: Ich wollte Mike!

Er lächelte darüber, fühlte sich geschmeichelt und meinte dann nur, dass ich lieber meinen eigenen Weg finden sollte. Und er wisse auch jemanden, der mich bei meinem Weg begleiten könnte: Vincent.

Mike meinte, dass wir uns quasi gegenseitig gerettet hätten. Ich hatte Vince vor Ken gerettet und Vince hatte mich vor mir selbst gerettet. In meiner Aussprache mit Mike, die noch lange bis weit in die Nacht ging, erklärte er mir ein paar Dinge, wie man als Schwuler auf der St. James zurechtkam. Das Wichtigste war, dass man sich selbst akzeptierte und sich nicht versteckte. Ich bin schwul und ich bin stolz darauf! Das war unser Mantra. Es funktionierte. Die Heten waren wie Trüffelschweine. Sie rochen sofort, wenn man unsicher war und sich schämte, schwul zu sein und fielen sofort über einen her. So war es Vince passiert. Man hatte also nur zwei Alternativen: Mit den Wölfen heulen und den 110% Hetero spielen oder sich akzeptieren. Sobald man sich seiner bewusst wurde, und es offensiv als einen Aspekt seiner Persönlichkeit begriff, für den man sich auf keinen Fall schämen muss, verloren die Heten sofort jegliches Interesse an Sticheleien und Angriffen. Starke Schwule waren ihnen unheimlich, da sie nicht in ihr Weltbild passten. Es wirkte alles etwas klischeehaft, aber auf der St. James gab es keine Grautöne, nur schwarz und weiß.

Und außerdem gab es da noch das Netzwerk, nämlich eben jene 36, und mit Vince und mir jetzt 38 schwulen Jungs, die sich häuserübergreifend organisierten und damit einen Machtfaktor darstellten. Doch dazu später mehr.

Die Tage der Neuentdeckung meines Gewissens waren auch mein wahres inneres Coming Out. Ich begann mich zu akzeptieren, was dazu führte, dass sich auch mein Charakter änderte. Die arrogante geheuchelte Hete war passe'. Ich geb' es zu. Mein Vorbild war Mike. Ich wollte so werden wie er. Souverän, bedacht, überlegt, geachtet, vernünftig, kultiviert, besonnen, freundlich, hart und auch weich.

Bereits an einem der nächsten Tage besuchte ich Vincent, um mich noch mal für mein altes Verhalten und für meine alten, nun ehemaligen, Freunde zu entschuldigen. Das war natürlich nur vorgeschoben. Insgeheim wollte ich einen anderen schwulen Jungen kennen lernen, wissen, was er so denkt und fühlt.

Vince schien es ähnlich zu gehen. Er freute sich über meinen Besuch und dankte mir noch tausendmal dafür, dass ich ihn gerettet hatte. Worauf ich meinerseits antwortete, dass ich mich ziemlich dafür schämte, zugelassen zu haben, dass es überhaupt soweit gekommen war. Schließlich sei ich ja selbst schwul.

Es war raus! Das erste Mal in meinem Leben hatte ich das jemand anderem gegenüber offen zugegeben. Vince grinste hinterhältig und meinte, dass Mike schon so was vermutet hätte. Wir redeten, wir lachten. Das erste Mal seit Monaten fühlte ich mich wirklich wohl, hatte ich das Gefühl, wieder ich selbst zu sein. Und irgendwann im Laufe unserer Unterhaltung passierte es. Ich saß auf seiner Schlafliege und Vince hatte sich mit den Rücken auf die Liege gelegt, seinen Kopf auf meinen Beinen. Eine andere Sitzgelegenheit als die Liege gab es nicht. Unsere Schülerzellen zeichneten sich nicht durch ein übermäßiges Raumangebot aus und nebeneinander auf dem Bett zu sitzen, wäre doof und unkommunikativ gewesen. So konnten wir uns beim Erzählen gut in die Augen sehen und hatten es einigermaßen bequem.

Vince war gerade dabei, von sich zu erzählen, als er plötzlich stoppte und mich merkwürdig ansah. Beide sahen wir uns schweigend an, unsere Augäpfel scannten kurz die Situation, um sich anschließend wieder auf das gegenüberliegende Augenpaar zu konzentrieren.

30 Sekunden starrten wir uns regungslos an. Jeder von uns lauschte in sich hinein und versuchte zu deuten, was der andere gerade dachte.

In der 31igsten Sekunde fielen wir übereinander her. Wir umarmten uns und begannen uns wild zu küssen. Eng umschlungen lagen wir bei Vince im Zimmer auf seinem Bett. Als wenn wir nie etwas anderes getan hätten, landeten unsere Hände unter dem Hemd des anderen und gingen über Bauch und Brust auf Entdeckungstour.

Plötzlich wussten wir ganz genau, was wir wollten. Wir wollten uns! Ohne Anleitung und ohne jegliche Erfahrung pulten wir uns gegenseitig aus unseren Klamotten, kicherten albern und landeten schließlich, bis auf die Unterhosen vollständig entblättert in Vince Bett. Wir kuschelten uns ganz dicht aneinander, umarmten uns so fest, dass uns fast die Luft wegblieb, und fanden es einfach traumhaft. Geilheit pur.

Es war das genaue Gegenteil von dem, was ich bisher in meinen Wichssessions mit den Heteroboys erlebt hatte. Dort hatten wir ausschließlich unsere Schwänze gepackt und peinlichst darauf geachtet, ja keinen anderen Körperteil zu berühren. Mit Vince hatte ich ausschließlich Vollkörperkontakt, bis auf den Schwanz, der trotzdem oder gerade deswegen, granithart in meinem Slip pochte.

Was hatte ich bisher bloß alles verpasst? Vince zu küssen, seine Zunge in meinem Mund zu haben und zu spüren, wie sie begierig dieses sensorische Erlebnis aufsaugte, war einfach fantastisch. Wenn ich früher in die Augen eines der anderen Jungs gesehen hatte, während ich sie wichste, dann sah das immer so aus, als wenn sie ein Experiment im Physik- oder Chemieunterricht überwachen würden. Keine Emotionen, nur Kontrolle. Mit Vince schien sich mir eine völlig neue Welt zu erschließen. Er hielt seine Augen schlossen und sah einfach nur glücklich aus. Und das Beste, ich wusste, was er fühlte, denn ich fühlte das gleiche.

»Alex?«, ein leises Flüstern an meinem Ohr.

»Ja?«

»Bei Ken wollte ich es nicht ... Bei dir würde ich gerne ...«

»Du musst es nicht! Nicht meinetwegen!«

»Ich weiß ...«

Vince lächelte mich kurz an und begann dann unter die Bettdecke zu entschwinden. Ich fühlte, wie zwei Hände das Bund meiner Unterhose umfassten und begannen, die Hose langsam, aber nachdrücklich, meine Beine hinunterzuschieben. Plötzlich lag ich nackt im Bett.

»Warte!«

»Warum?«, Vince sah enttäuscht aus.

»Du bist mir gegenüber im Vorteil!«, ich grinste in frech an. »Was ist mit deiner Hose?«

Bevor Vincent nachdenken konnte, hatte ich schon damit begonnen, das Ungleichgewicht zu beheben. Wir waren beide nackt.

»Keine Decke!«, Vince pfefferte das Oberbett in eine Zimmerecke. »Ich möchte dich sehen! Ich will, dass du mich sehen kannst!«

Da saßen wir uns nackt gegenüber. Die Entledigung von den Unterhosen hatte wieder zu etwas Distanz zwischen uns geführt. Wir sammelten Mut. Ich sammelte Mut. Ich legte meine rechte Handfläche auf Vince Bauch und streichelte ihn, dabei wanderte ich langsam immer tiefer und Vince atmete immer tiefer. An der Spitze seiner Eichel, die kerzengrade gegen die Zimmerdecke deutete, funkelte ein kleiner feuchter Tropfen. Mit meinem Zeigerfinger tippte ich ihn an und begann ihn auf Vince Eichel zu verreiben. Vince gurrte. Der erste Mann, der offen zeigte, dass ihm das Spaß machte und dass er es wollte. Der erste Mann, der seine Geilheit nicht unterdrückte, sondern offen präsentierte.

Obwohl er mir es vorher gesagt hatte, traf es mich völlig unerwartet. Vincent umgriff meinen Schwanz mit einer Hand beugte seinen Kopf vor und küsste meine Schwanzspitze. Einen Augenblick verweilten seine Lippen dort, bis sie sich langsam öffneten und mein Schwanz von Vince Mund aufgesaugt wurde.

Es war einfach fantastisch. Ich schloss meine Augen, öffnete meinen Mund, atmete tief, legte meinen Kopf in den Nacken und ließ es passieren.


Was folgte, war ein Aha-Erlebnis. Wir verbrachten nicht nur den Nachmittag miteinander, sondern die Nacht. Für uns beide war es das erste Mal. Keiner hatte vorher schon mal mit einem anderen Jungen geschlafen. Wir tasteten uns vor, probierten rum, kuschelten, kicherten, alberten, schmusten, lutschten, massierten, drangen ein. Wir taten alles, worauf wir Lust hatten. Dabei stellte ich fest, dass der schüchterne Vince im Bett zum richtigen Tier werden könnte.

Liebe ist ein inflationär gebrauchter Begriff. Sehr viele Leute verwechseln Sex mit Liebe. Vince und ich sprachen nie von Liebe. Wir haben sie uns auch niemals gegenseitig erklärt. Das war auch nicht nötig. Wir wussten es so. Selbst heute liebe ich ihn noch, obwohl ich mit Miguel zusammen bin. Dabei vermute ich, dass wir, also Vince und ich, heutzutage gar nicht zusammenkommen würden. Die St. James schweißte uns zusammen. Ohne sie? Ich weiß es nicht. Aber Vince war mein Erster und ich sein Erster. Es war etwas ganz Besonderes. Das, was wir miteinander erlebt haben, waren mit die schönsten und intimsten Momente meines bisherigen Lebens. Ich ... wir werden sie sicherlich nie vergessen.

Und Siegfrieds Wunde blutet

Berlin

Dr. Volker Rüdiger war sprachlos. Wir hatten eben gerade mal unsere Einleitungssätze - »Ich heiße Sowieso und ich bin schwul!« in die Klasse posaunt, als uns unser netter, aber offenlichtlos völlig ahnungsloser Lehrkörper unterbrach.

»Ihr seid was?«, beim letzten Wort kiekste Doc Rüdigers Stimme. Der sonst so dröge Altachtundsechziger war für einen Moment aus dem Konzept.

»Schwul.«, Kuki brachte es ebenso trocken wie treffsicher auf den Punkt. Wir hatten eigentlich nicht damit gerechnet, dass unser »Going Public« für Aufsehen sorgen würde. Nicht nach dem, was auf meiner Geburtstagsfeier gelaufen war. Tim und Kuki, genauso wie ich selbst auch, gingen davon aus, dass die halbe Schule über uns bescheid wissen musste. Dem war aber nicht so. Ganz im Gegenteil.

Die Reaktionen waren interessant und reichten von totaler Verblüffung, über maßloser Enttäuschung bei einigen Mädchen, vereinzelten wissendem Grinsen, demonstrativer Gleichgültigkeit, unverhohlener Neugier, purem Desinteresse, erstaunter Faszination bis hin zu offener Ablehnung. Wir waren einer netten Fehlkalkulation erlegen. Ich wurde unsicher, was Tim sofort bemerkte und mir zuraunte: »Da müssen wir jetzt durch. Wir packen das!«

Nervöser als geplant stammelten wir los. Wir hatten uns verschiedene Rollen gegeben. Tim zitierte persönliche Quellen von Jungs im Coming Out, die wir in Büchern oder im Internet gefunden hatten. Kuki übernahm die Darstellung von Statistiken, z.B. in welchen Ländern Schwule noch immer verfolgt werden, oder das die Selbstmordquote bei jungen Schwulen wesentlich höher ist als bei gleichaltrigen Heterojungs. Meine Aufgabe war es, das Ganze miteinander zu verbinden.

Wir fingen ganz harmlos an. Tim las einen Text von einem Coming Out vor, dass perfekt verlaufen war. Eltern, Freunde, alles lief cool. Wir hatten nicht vor, uns als weinerliche Schwächlinge oder in der so oft zitierten Opferrolle darzustellen. Eine Geschichte, die Tim erzählte, war die Geschichte von Marcel und Thimo. Allerdings ließ er Thimos Verhaftung aus.

Unser Referat zeigte Wirkung. Der überwältigende Teil der Klasse hörte uns mucksmäuschenstill zu. Aus Desinteresse und Langweile wurde Neugier. Selbst unsere Alibiausländer Tarek, Akim und Erkan nickten zustimmend. Nur Rolf, Andre und der Rest der Idiotenbande belauerten uns verbissen und deutlich hasserfüllt.

Wir kamen zum letzten Comming Out Text. Dieser Text war etwas Besonderes. Er stammte weder aus einem Buch, noch hatten wir ihn aus dem Internet geladen. Es war unsere Geschichte: Die Geschichte von Tim und mir, Sven, dem Jungen von der Küste. Vor unserer Gesichte präsentierte Kuki die letzte Statistik des Referats.

»In Burton, Staffordshire, wurde der 15jährige Darren an seiner Schule wegen seines Schwulseins gehänselt, getreten und geschlagen. Zudem haben Gleichaltrige mindestens einmal Zigaretten auf seinem Rücken ausgedrückt. Das ergab eine offizielle Untersuchung seitens der Schule, nachdem sich Darren erhängt hatte, weil die Belastungen für ihn zu viel wurden.

Für sehr viel Aufsehen sorget im Oktober 1998 der Mord an dem 22-jährigen Studenten Matthew Shepard in Wyoming/USA. Shepard wurde brutal geschlagen und dann an einem Zaun wie ein Stück Vieh angebunden, um zu sterben. Selbst der amerikanische Präsident hat angesichts dieses Mords seiner Betroffenheit Ausdruck verliehen. »

Was Kuki vortrug, wirkte wie ein Schock. Er betete seinen Text mit der Sachlichkeit eines Tagesschausprechers runter. Er unterließ jegliche Dramatik oder emotionale Untertöne. Es ließ die Fakten für sich sprechen. Und die Fakten schrien. Es war wir ein Faustschlag in die Magengrube. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Als Kuki endete, war es totenstill.

Tim wartete einen Moment und setzte dann mit unserer Geschichte an. Die vielen fragenden Gesichter zeigten ganz deutlich, dass unsere Zuhörer nicht wussten, wie Kukis Schreckensstatistik mit unserer Gesichte zusammenhing. Die meisten dachten schon, wir wollten nach Kuki mit etwas Versöhnlichem enden. Weit gefehlt.

Rolf und Andre begriffen als Erste, was gespielt wurde. Ich beobachtete, wie sich Andre an seinem Tisch festkrallte. Seine Fingerknöchel waren weiß, so stark packte er zu. Langsam wich auch die Röte aus seinem Gesicht und machte einem mehr grünlichen Farbton Platz.

Tim erzählte die ganze Geschichte. Na ja, fast. Unsere Aktion im Pool ließ er aus. Aber er erzählte offen von unseren Fehlern, von der Entfremdung Svens und vom Bruch unserer Freundschaft.

Und dann kam Tim zum entscheidenden Punkt. Dem Abend, an dem Sven starb und er selbst fast zu Tode geprügelt wurde. Andre, Rolf und Co. hatten fast Schaum vor dem Mund. Bisher war es niemandem möglich gewesen, ihnen etwas nachweisen zu können. Die Kripo hatte es versucht und war gescheitert. Sie war absolut überzeugt, dass sie die Täter gewesen sein mussten. Aber sie konnte es nicht beweisen. Vielleicht vorhandene Spuren am Tatort waren durch das Wetter und unsere Suchaktion vernichtet worden. Und selbst gaben sie sich gegenseitig Alibis. Sie behaupteten, alle bei Rolf zu Hause gewesen zu sein. Das dies sonst niemand bestätigen konnte war halt Pech, aber seine Eltern waren gerade im Urlaub gewesen, doch daraus könne man ihnen doch unmöglich einen Strick drehen.

Die Kripo hatte es dann mit Einzelverhören versucht. Nichts. Keiner der Typen verwickelte sich in Widersprüche. Ganz im Gegenteil. Ein Polizeibeamter ließ durchblicken, dass er in seiner ganzen Laufbahn noch nie so abgebrühte Typen erlebt hätte, wie Andre' und seine Gang. Er hätte es mit schon mit einigen »schweren Jungs« zu tun gehabt, knallharte Berufskriminelle, aber die hätten alle noch eine Seele gehabt. Andre', Rolf & Co. waren eiskalt. Als schließlich die Anwälte dieser Herzchen auftauchten, blieb den Strafverfolgungsbehörden nichts anderes übrig, als die Jungs gehen zu lassen. Der zuständige Staatsanwalt musste sich arg zusammenreißen, um nicht Amok zu laufen. Doch mit den vorhandenen Indizien hätte ihm kein Richter der Welt einen Haftbefehl ausgestellt.

Solange Tim im Koma lag, gab es keinen Zeugen. Und zuerst sah es auch so aus, als wenn sich dieser Zustand niemals ändern würde. Die Täter machten sicherlich ein Fass auf. Als dann doch das unglaubliche Wunder geschah und Tim aus dem Koma aufwachte, litt er unter Amnesie. Für seine Peiniger zwar nicht ganz so beruhigend wie das Koma, aber immerhin.

Doch jetzt, Auge in Auge, war alles anders. Andre, Rolf und den anderen war klar, dass sich das Blatt gewendet hatte, denn Tim erzählte.

Ich fand Sven am Schlachtensee. Er saß alleine auf einer Bank, die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf gezogen. Der Wind hatte sich gelegt, aber die feuchte, kalte Luft war geblieben, die er mitgebracht hatte. Vom See erhoben sich Nebelschwaden und krochen die Liegewiese empor. Sven wirkte in sich zusammengefallen. Körperlich und seelisch. Wir wussten ja, dass er die Schule geschwänzt hatte. Ich setzte mich neben ihn und schwieg.

Die Kälte kroch mir die Beine und Arme hoch, aber ich rührte mich nicht, sondern wartete.

»Tim?«

Svens Stimme klang müde und etwas krächzend. Er hatte sich nicht bewegt. Er hockte weiter neben mir auf der Bank und beobachtete die vorbeiwabernden Nebelschwaden.

»Ja?«

»Ich habe alles falsch gemacht.«

Ich atmete laut aus.

»So wie wir ...«, ich drehte mich Svenni zu, nahm seinen Kopf in meine Hände und drehte ihn so, dass wir uns in die Augen sehen konnten, »Svenni, ich habe etwas falsch gemacht. Ich hätte merken müssen, dass du dich unwohl und zurückgesetzt fühltest. Aber ich war zu sehr mit mir und meinem Inselboy beschäftigt. Das war mein Egotrip und du warst das Opfer. Mensch, ich war dein bester Freund! Ich hätte merken müssen, was abgeht, aber ich hab' dich im Stich gelassen.«

»Hey, Alter, du bist so nett zu mir. Aber wir beide wissen, dass das so nicht stimmt. Ich hätte etwas sagen können. Stattdessen hab' ich euch verraten. Ein toller Freund, nicht war?«

»Ich weiß, was du getan hast.«

Sven zuckte zusammen: »Du weißt es? Woher? Und wenn du es weißt, wieso redest dann noch mit mir?«

»Ich sagte doch, dass ich dein Freund bin. Außerdem hat man dich reingelegt.«

Ich erzählte Sven, was mein Bruder Nico in Erfahrung gebracht hatte. Die ganze Geschichte von A bis Z. Sven zitterte vor Wut als er Begriff, dass man ihn als Werkzeug missbraucht hatte. Dass man seine verletzten Gefühle ausgenutzt und ihn gegen uns eingesetzt hatte.

»Timmy, ich schäm mich so. Man war ich blind, das nicht zu sehen. Aber es passt alles Perfekt. Nachdem ich meinen Auftrag erfüllt hatte, hat man mich fallen gelassen. Aber ihr nicht. Ihr kämpft und mich und ich ...«

Sven konnte nicht weiterreden. Die arme Sau flennte los. Was blieb mir anderes übrig als ihn in den Arm zu nehmen und sich ausheulen lassen.

»Svenni, wir wollen dich zurückhaben. Als unser aller Freund!«

»Obwohl ich eure Sachen sabotiert habe?«

»Vielleicht sogar weil du es getan hast. Darüber sprechen wir ein anderes Mal. Jetzt ...«

»Oh schaut euch dass mal an. Ist das nicht süß?«, eine andere Stimme unterbrach mich. Ihr Klang war kalt, zynisch, brutal und hasserfüllt. »Wusste ich es doch, dass du auch so ein Warmduscher bist. Bäh, sich bei dieser Schwuchtel ausflennen. Sven, du bist so jämmerlich.«

Tim stoppte. Er verließ seinen Platz und ging zu Rolf und Andre'. Die zwei Typen waren kalkweiß. Sämtliche Augenpaare richteten sich auf sie aus.

»Warum habt ihr das getan? Andre', warum hast du Sven todgeprügelt? Er lag doch schon regungslos am Boden, aber du hast immer wieder auf ihn eingetreten. Rolf, was hab' ich dir getan, dass du dich so vor mir ekelst, dass du mich lieber tot als lebendig siehst? Ich versteh es nicht. Wir sind zusammen aufgewachsen. Wir waren zusammen im Kindergarten, du, Andre, Sven und ich. Erklärt es mir: Warum hasst ihr uns so?«

High Noon und die Manifestation einer Phobie

Portland

»Und was ist mit mir?«, Wollmütze boxte Alex mit gespielter Eifersucht in die Rippen.

»Was soll mit dir sein?«, Alexander grinste Miguel provozierend an.

»Ich bin wohl zweite Wahl, was?«

»Klar. Schon etwas angegangen und leicht bräunlich.« Wenn man dazu Alexanders verliebten Blick in seinen Augen sah, wusste man sofort, wie er das meinte. Miguel war wirklich braun oder besser, bronzen. Er konnte seine lateinamerikanischen Gene einfach nicht verstecken. Was auch schade wäre, denn dann hätte man den folgenden Energieausbruch verpasst. Mig sprang auf, packte Alex Arme und Beine und nagelte ihn so am Bett fest.

»Pass bloß auf ...«, Miguell grinste und »erzwang« sich einen Kuss, indem er seinen Kopf langsam auf Alex hinsenkte, der sich natürlich wehrte. Allerdings nicht sonderlich stark.

Thimo und Marcel sahen sich lächelnd an.

»Irgendwie süß die zwei, oder?«

Alex hörte Marcels Bemerkung, zuckte zusammen und rollte sich schnell unter Wollmütze hinweg. Die zwei schauten etwas verlegen aus der Wäsche.

»Ähm, ja sorry. Da ist es wohl mit uns etwas durchgegangen.«

»Schon ok. Solange ihr zwei nicht auf die Idee kommt eine Nummer zu schieben ...« Für diese Bemerkung handelte sich Thimo einen Knuff von Marcel ein. »Aua! Was denn?«

»Das weißt du ganz genau. Wir sind hier, um dein Leben zu retten!«

Marcels Kommentar brachte die Wirklichkeit zurück. Die vier Jungs wurden wieder ernst.

»Wo war ich stehen geblieben?«

»Bei Vincent. Ihr habt euch gefunden, doch seh' ich immer noch nicht, wie Brandon in die ganze Sache rein passt.«

»Brandon. Natürlich ...Also, dass war so ...«, Alexander fuhr mit seiner Erzählung von seinen Erlebnissen auf der St James fort.

Die Freundschaft mit Vince ging sich gut an. Beide Jungs lernte die Schule weniger zu hassen und so etwas wie Freude an ihrem Leben zu empfinden. Des einen Freud, des anderen Leid. Brandon hatte sich nur schwer von seinem Sturz von der Hackordnungsleiter erholt. Nach wie vor machte er Alex dafür verantwortlich, dass er immer noch als einer der Frischlinge, oder sogar weniger als dies, angesehen wurde. Er weigerte sich einzusehen, dass sowohl der abgelöste Hauschef als auch er selbst, für seine Lage verantwortlich war.

Mit der Zeit setzt sich in seinem Hirn der Gedanke fest, es würde sich bei seiner Situation, um eine »Verschwörung der Schwulen« handeln. Da waren Vince, Alexander und schließlich der neue Hauschef Mike. Alles Schwuchteln, denen es so unverschämt gut ging, wo es ihm so beschissen ging.

Brandon wagte einen mutigen Schritt und versuchte sich als Einzelgänger durchzuschlagen. Er hielt sich nicht an die ungeschriebenen Regeln, war aggressiv und ging dabei auch keinen, manchmal handgreiflichen, Streit aus dem Weg. Was viele überraschte, Brandon gewann Anhänger. Andere Schüler, denen das System an der St. James ebenfalls auf den Zeiger ging. Er fühlte sich geschmeichelt. Er ging lockere Freundschaften ein. Aber nie ist ihm jemand wirklich nahe gekommen. Brandon schien immer eine gewisse Distanz zu suchen. Pervers, aber genau diese manchmal herablassende Art, diese Reserviertheit, faszinierte seine Anhänger.

Zu diesem Zeitpunkt entdeckte Brandon, dass er Macht über Menschen hatte. Er erkannte, dass er seine Anhänger manipulieren konnte und in der Lage war, ihnen Idee zu vermitteln, die nicht ihre eigenen waren.

»Wisst ihr, eigentlich hatte Brandon ein gutes und gerechtes Ziel vor Augen. Er wollte etwas an der St. James ändern. Und genau das hatte der Laden schon lange nötig.«, Alex schüttelte resigniert seinen Kopf. »Nur ... Brandons Analyse der Ausgangssituation war falsch. Er machte Mike für die Situation verantwortlich. Er hätte sich überall eingemischt. Einen guten Hauschef aus purem Egoismus entmachtet, und dass wohl nur, weil er ohne solche Tricks nie Hauschef werden würde. Brandon war ja so ahnungslos. Niemand mehr als Mike verabscheute das System und lehnte die Allmacht der Hauschefs ab.«

»Und weiter?«

»Zuerst war es nur Mike, den Brandon hasste. Dann begann er alles zu hassen, wofür Mike stand. Also auch uns vier Handvoll schwule Jungs. Es wurde zwanghaft. Brandons pathologische Homophobie wurde geboren, weil einheterosexueller Hauschef die Kontrolle über die Halloweennacht verloren hatte und weil er selbst, Brandon, bei der Sache viel zu weit ging. Aber um das einzusehen, müsste Brandon kritikfähig sein. Aber Brandon machte keine Fehler, niemals. Jeder der dies behauptete, spürte früher oder später seine Rache.«

»Klingt nach unserem guten alten Brandon.«, Marcel lächelte verbittert.

»Ach ja richtig, er hockt ja jetzt bei euch auf der Schule.«

»Entschuldige, wenn ich etwas drängle, aber was war jetzt mit diesem angeblichen Selbstmordversuch?«

»Also, aus Brandons Hass auf Mike war ein Hass auf Schwule geworden. Wie meinte später meine Psychotante: ,Seine Homophobie wurde manifest.` Das klingt irgendwie beeindruckender, oder? Wie auch immer. Brandon hasste Mike, traute sich aber nicht gegen ihn vorzugehen. Mike hatte den Respekt der Hauschefs und Tutoren. Und so wie sich Brandon nicht an Mike ran traute, traute er sich auch nicht an uns andere ran. Ich ahnte, dass ich die Nummer zwei auf seiner Abschussliste war. Für ihn war ich genau so schuld an seiner Lage wie Mike. Tja, und dann passierte das Unvermeidliche. Mike verließ die Schule und die Hölle brach über mich herein. Dass ich Vincent vor Ken gerettet hatte und damit ein paar Jungs in eine peinliche Situation gebracht hatte, war nicht vergessen worden. Überhaupt wurde die Lage von uns 40 Jungs schwieriger. Mike war so was wie unser Schutzschild gewesen. Und es war niemand da, der sein Format hatte ihn zu ersetzten. Ich selbst war zwei Jahre jünger als Mike. Ich war gerade mal fünfzehneinhalb. Mike war 18. Außerdem war Brandons Homophobie ansteckend. Viele Heterojungs sahen uns plötzlich als willkommene Opferlämmer, die wir aber nicht waren. Es brauchte seine Zeit und ein paar gebrochene Nasen, bis die das schließlich begriffen hatten. Und wieder fühlte sich Brandon gedemütigt. Sein Haupthassfokus wechselte von Mike auf mich. Nur, dass er mir gegenüber wagte, es offen auszuleben.«

Alexander Sean Vandenberg war am Kernpunkt seiner Geschichte angelangt. Marcel, Thimo und Wollmütze Miguel lauschten jedem einzelnen Wort.

»Zuerst waren es nur verbale Attacken. Offene Beschimpfungen, die ich ihm natürlich nicht durchgehen ließ. Als er merkte, dass der plumpe direkte Weg nicht funktionierte, versuchte er es indirekt. Rufmord, Unterstellungen, Verleumdungen, ein vollgewichstes Kondom in meinem Spind. Einmal wurde mir sogar auf mein Bett geschissen. Sehr appetitlich.«

»Eindeutig Brandons Handschrift.« Marcel und Thimo mussten plötzlich an Hühnercremesuppe denken.

»Ach, ihr habt auch eure Erfahrungen gemacht?«, Alex schmunzelte. »Dann kennt ihr auch das Problem: Wie soll man reagieren? Ignorierst du es, bist du ein Feigling. Regst du dich auf, bist du die hysterische Tucke. Ich wählte die High Noon Methode. Nur war es nicht 12 Uhr mittags, sondern eher 12 Uhr mitternachts.

Ich traf Brandon in der Turnhalle an. Fechten! Selbst das war ein Klischee auf dieser Schule. Wir waren aber leider nicht allein ...»

Alex Schilderung war mehr als plastisch:

Der Haufen Scheiße auf meinem Bett war der Punkt, der das Fass bei mir zum Überlaufen brachte. Ich wollte Brandon zusammenschlagen. Vermutlich war er stärker, aber das war mir egal.

»Brandon, du Arsch! Heute bist du eindeutig zu weit gegangen!«

Ich stürmte in die Halle und wollte mich gerade auf ihn stürzen, als ich einen Pulk von seinen Anhängern entdeckte.

»Ah, mein lieber Freund Alexander. Stimmt etwas nicht? Moment mal, was riecht denn hier mit einem Mal so streng? Äh, das riecht ja nach Scheiße. Alex, bist du etwa noch nicht stubenrein?«

Seine Claqueure grölten und kugelten sich vor Lachen.

»Klären wir das! Jetzt! Wie unter Männern!«

Ich wollte mich gerade auf ihn stürzen, als Brandon mich stoppte, indem er mir ein Florett vor die Füße warf.

»So, so, wie Männer? Ich bezweifle ja, dass du ein Mann bist, aber du sollst deinen Kampf haben. Du hast mich herausgefordert, also habe ich das Recht die Waffen zu wählen!«

Was war das? Ein lächerliches Duell? Aber Brandon meinte es ernst. Er wollte mit mir fechten. Ich wusste, dass er gut war. Brandon ist ein wahrer Meister im Florettfechten. Was er nicht wusste, war, dass ich es auch war. Dreifacher Juniorenmeister. Nach einer Sehnenverletzung hatte ich pausiert und hatte gerade erst mit dem Training wieder begonnen.

»Wir machen es noch etwas interessanter. Wir fechten ohne Gesichtsschutz mit scharfen Klingen. Wer dem anderen einen Schmiss verpasst, hat gewonnen.«

Brandon war total durchgeknallt. Ich machte mir keine Sorgen um mein Gesicht. Ich machte mir Sorgen um seins. Ich hätte mich weigern sollen, aber ich war so sauer auf Brandon, dass ich einwilligte. Einer seiner Schergen holte zwei scharfe Klingen, während ich meinen Fechtanzug anlegte. Brandon stutzte, als er sah, dass ich einen eigenen Anzug besaß. Aber immer noch siegessicher und voller Überheblichkeit erwartete er mich auf der Plangue.

Ich nahm das Florett auf und zog es ein paar Mal durch die Luft. Es lag gut in der Hand. Was wir da vorhatten, war unverantwortlich. Aber das war uns egal. Er oder ich. Diese Frage galt es zu klären. Einer würde an diesem Abend sein Gesicht verlieren.

Wir begannen zu fechten. Müdes Geplänkel um den Gegner abzutasten, Schwächen zu ermitteln und über die eigenen Fähigkeiten im unklaren zu lassen. Brandon versuchte mit Provokationen meine Konzentration zu stören: »Für 'ne Schwuchtel nicht schlecht. Nur sind deine Bewegungen viel zu tuckig! Hältst du deinem Stecher den Arsch auch immer so schön wackelnd hin?«

»Wollen wir fechten oder Scheiße labern?«

Dann lieber fechten. Ich machte etwas mehr Druck. Brandon hielt sofort sein Maul und konzentrierte sich. Er war gut, wirklich gut. Nur leider etliche Klassen unter meinem Leistungsniveau. Wie auch? Ich betrieb diesen Sport, seitdem ich in der Lage war, eine Klinge in meiner Hand zu halten. Brandon hatte mit dem Sport auf der St. James erst begonnen. Dafür war er brillant und ich erkannte ein gewisses Talent, aber das war es dann auch. Auf der anderen Seite wollte ich meine Genugtuung. Na ja, es war nicht meine Idee die Sache mit dem Florett auszutragen. Ich spielte mit Brandon. Ich ließ ihn kommen, Hoffnung schöpfen, wich zurück, schien mich mühsam vorzukämpfen und Raum zu gewinnen, um sofort wieder vor ihm zurückzuweichen.

Brandon strahlte. Er spürte, dass sein Triumph in greifbare Nähe rückte. Seine Fans feuerten ihn an. Man sah bereits dieses gewisse Leuchten der Siegessicherheit in seinen Augen.

Ich grinste. Er war reif für eine Demonstration: »Brandon du bist wirklich gut ... Als Trainingspartner

Und dann legte ich los. Mit nur wenigen Schritten hatte ich ihn an das andere Ende der Plangue getrieben. Ein Hieb und sein Florett flog Brandon aus der Hand. Aus Siegessicherheit wurde Panik. Damit hatte er nicht gerechnet.

»Wo möchtest du deinen Schmiss hin haben? Unentschieden? Dann lass mich die Last der Entscheidung tragen.«

Mit einem perfekt gezielten Hieb ritzte ich ihm die rechte Augenbraue. Ich muss wahnsinnig gewesen sein. Wie leicht hätte ich ihm das Auge verletzen können. Aber es ging gut. Brandon Augenbraue blutete leicht. Nichts Aufregendes. Es würde eine kleine weiße Narbe zurückbleiben. Die Narbe, die ich auf seinem Ego hinterlassen hatte, ging da schon viel tiefer.

Thimo und Marcel schauten sich an. Sie kannten die dünne, weiße Linie in Brandons rechter Augenbraue, wussten aber bisher nichts über ihre Herkunft.

»Brandon verbiss sich jeglichen Kommentar. Er gestand seine Niederlage ein. Das muss für ihn eine unerträgliche Demütigung gewesen sein: vor seinen Anhängern von einem schwulen besiegt zu werden. Er hatte sich erstaunlich gut unter Kontrolle. Ich hatte nur Glück, dass Blicke nicht töten können.«

»Und wie ging es weiter? Gab' es noch andere Vorfälle?«

»Nur einen. Nach unserem Duell war erst mal Ruhe angesagt. Weder ich noch einer der anderen Jungs wurden von Brandon oder einem seiner Freunde belästigt. Ich hoffte schon, dass die Sache ausgestanden war. Aber dem war nicht so.«

Von Zeit zu Zeit veranstaltete die Schulleitung mehrtägige Exkursionen. Da ich für ein Chemieprojekt ein Experiment laufen hatte, das regelmäßig nach Aufmerksamkeit verlangte, konnte ich nicht teilnehmen. So kam es, dass ich fast das ganze Internat für mich hatte.

Ich kam gerade von einem abendlichen Kontrollgang zum Chemielabor zurück, bei dem ich ein paar Messungen durchgeführt, Chemikalien nachgefüllt und mein Berichtsheft auf den aktuellen Stand gebracht hatte, als mich auf dem Weg zwischen dem Naturwissenschaftsgebäude und unserem Haus jemand von hinten packte. Noch bevor ich reagieren konnte und begriff, was passierte, hatte man mir eine dunkle Kapuze über den Kopf gezogen. Ich spürte etwas Spitzes sich in meine Seite bohren.

»Keine falsche Bewegung du Schwanzlutscher. Was du da spürst, ist eine sehr scharfe Klinge.«

Die Kapuze hätte ich nicht gebraucht. Brandons Stimme erkannte ich auch so. Mein Hirn war an dem Abend nicht mehr sonderlich wach. Statt in Panik zu verfallen oder zu begreifen, dass man mich gerade überfallen hatte, fragte ich nur, warum Brandon das Wort »Schwanzlutscher« so abfällig und angeekelt aussprach. Ich lutschte Vincents Schwanz eigentlich ganz gerne und fand das überhaupt nicht ekelhaft, eher ausgesprochen lustvoll.

Recht unsanft wurde ich eine bestimmte Richtung geschubst. Brandon manövrierte mich zu einem unbekannten Ziel, dabei fühlte ich ständig diesen spitzen Gegenstand in meiner Seite.

»Brandon, was soll der Scheiß?«

»Halts Maul!«

Soweit mir die Kapuze erlaubte mich zu orientieren, erreichten wir nach ein paar Minuten ein Gebäude. Die Luft roch muffig und abgestanden, so, als wenn dieses Haus nicht mehr in Benutzung war.

Wir hielten an. Ich erhielt einen Schlag auf meinen Kopf. Mir wurde schwarz vor Augen. Ich war weg.


Als ich wieder zu mir kam, stellte ich als Erstes fest, dass ich mich nicht bewegen konnte. Es brauchte eine Weile bis meine Augen wieder klar sehen konnten. Wir schienen auf einem Dachboden zu sein. Über mir hing eine funzelige Glühbirne und verbreitete ein blasses Licht. Brandon hatte mich an einen Holzstuhl gefesselt. Kein Wunder, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte. Meine Hände waren hinter meinen Rücken an der Lehne festgebunden worden. Meine Beine hatte Brandon ebenfalls fixiert. Ich wollte gerade etwas sagen, Brandon beschimpfen und fragen, ob er jetzt völlig durchgeknallt war, als ich mich die Panik packte. Brandon hatte mich geknebelt. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an.

Dieser Blick schien ihn zu befriedigen. Er schaute dermaßen verklärt, als ob ihn gerade einer abgehen würde. Brandon war ein Schweinesadist und ich hatte die Hosen gestrichen voll. Mit einem Psychopathen alleine im Internat in einem leerstehenden Haus? Soweit heißt Panik - Megapanik!

»Ach, Alexander. Weilst du wieder unter uns?«, grusel, jetzt fing der Typ auch noch an zu sprechen. Seine Stimme klang ... durchgeknallt!

»Grmmmppfff«, wie soll man sich mit 'nem Knebel verständlich machen?

»Lass es. Du brauchst nicht antworten. Du wirst dich sicherlich fragen, was du hier sollst, stimmt's?«

Ich wusste nicht, was schlimmer war. Gefesselt zu sein oder Brandons kranken Monolog anhören zu müssen. Furchteinflößend war beides.

»Du glaubst doch wohl nicht, dass ich dich mit deinem Sieg einfach so davon kommen lassen kann? Ich lasse mich doch von einem Arschficker wie dir nicht vorführen. Du hast mich gedemütigt! Vor meinen Freunden! Es muss dir doch klar gewesen sein, dass so ein Sieg sehr teuer ist, oder?«

Plötzlich blitzte ein Bowiemesser in Brandons Hand auf: »Alex, heute ist Zahltag!«

Nachwort

Tja, das war es dann doch noch nicht. Band 7 ist nicht das Ende, denn es gibt noch so viel zu erzählen. Was ist mit Thimos Prozess? Hat Alex den Schlüssel zu seiner Freiheit? Was ist mit Brandon? War er wirklich der Täter? Und wie geht es mit Sven und Tim weiter? Legt sich Kuki noch weitere Piercings zu? Fragen über Fragen ... Alles dies und noch viel mehr in der nächsten Folge von ... ähm ...

Schöne und fröhliche Weihnachten!

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