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Nachtschatten

Teil 3 - Reflexionen

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Inhaltsverzeichnis

Opferbereitschaft - CONSTANTIN

Sonnenlicht! Bäh!

Im Gegensatz zu Laurentius, diesem treulosen Verräter, war ich weder nackt, noch an einen Stuhl gefesselt und dem Schicksal ausgeliefert, innerhalb weniger Sekunden in Flammen aufzugehen. Ich trug Kleidung, die einen Großteil der Sonnenstrahlung von meinem Körper abschirmte. Eigentlich waren nur meine Hände und mein Kopf ungeschützt und direkt dem Sonnenlicht ausgesetzt. Als gebürtiger Vampir, einer, der nicht durch einen Biss in Vampir verwandelt wurde, war ich wie alle natürlichen Vampire mit einer gewissen Widerstandsfähigkeit gegen Sonnenlicht gesegnet. Was heißt, dass ich nicht sofort in Flammen aufging und zu Asche zerfiel. Die Strahlen wirkten weitaus langsamer, wenn auch nicht weniger schmerzhaft. Ich konnte deutlich fühlen, wie meine Haut verbrannte und zu rauchen begann.

Ich war nicht begeistert, alles andere als begeistert.

Wer mich nie wütend erlebte, kann sich glücklich schätzen. Verraten, hintergangen, von meinem allerengsten Vertrauten betrogen und von Sonnenlicht angekokelt zu werden reichte, dass bei mir sämtliche Sicherungen durchbrannten. Mein Körper schaltete auf Autopilot. Innerhalb von Sekundenbruchteilen verwandelte ich mich in die ursprünglichste aller Vampirformen. Ich wurde der Jäger, der Kämpfer auf der Suche nach Blut und Vergeltung. Wem bereits vom Anblick eines Nosferatu gruselte, sollte vermeiden, mich in meiner Urform zu sehen, es sei denn, er legte keinen Wert auf albtraumfreie Nächte. Ich legte jegliche Menschlichkeit ab.

Raus aus der Exekutionskammer, raus aus dem Sonnenlicht, hieß die Devise. In einer Explosion gebündelter Kraft, Wut und Hass, sprang ich auf den Stuhl, der bisher von Laurentius besetzt war, jetzt aber nur noch ein Häufchen Asche beherbergte, zielte, und katapultierte mich vorwärts. Die Scheiben der Beobachtungsfenster bestanden aus solidem UV-Licht filternden Sicherheitsglas und hätten einem Hammerschlag locker widerstanden. Meiner Entschlossenheit, aber vor allem meiner Schädeldecke widerstand sie nicht. Mit dem Kopf voran durchbrach ich das mittlere der drei Beobachtungsfenster und landete qualmend und rauchend im Bankettsaal, der nun ebenfalls von ungefiltertem Sonnenlicht erhellt wurde.

Ein Großteil der anwesenden Vampire kreischte erschrocken auf und wich panisch zurück, teils aus Angst vor der Sonne, teils aus Angst vor mir. Leicht angeknuspert und vollständig zur blutrünstigen Bestie mutiert, wollte mir niemand ernsthaft in die Quere kommen. Oh, wie ich diese Operettenvampire verachtete, mit ihrem gesteltzen Gehabe und penetrantem Egozentrismus. Diese Typen trugen ein Selbstbewusstsein vor sich her, für das jeder noch so große Saal zig Nummern zu klein war. Im Moment war davon allerdings nichts zu spüren. Die Monsteregos waren genauso verpufft, wie Laurentius auf seinem Stuhl. Jammernd und panisch vor Angst drängten sie sich an die gegenüberliegenden Wände, möglichst weit entfernt von den sengenden Sonnenstrahlen. Was für heuchlerische Weicheier sie doch waren, die ihren Untergebenen bei kleinsten Verfehlungen schmerzhafteste und demütigste Strafen aufhalsten, aber kaum dass die Gefahr bestand, selbst ein wenig von jenem Schmerz zu erfahren, den sie ohne mit der Wimper zu zucken bereit waren, jedem anderen zumuteten, ergriffen sie kreischend die Flucht. In diesem Moment hatte ich nur Verachtung für sie übrig.

Doch nicht alle Gäste wichen zurück. Die Ruhe selbst, beherrscht und frei jeglicher emotionaler Regung standen die anwesenden Nosferatu etwas Abseits und betrachteten die Szene mit absoluter Gelassenheit. Außer ihnen befanden sich nur noch Breskoff und van Sanden in unmittelbarer Nähe des Geschehens. Genaugenommen stand Breskoff direkt an den Kontrollen der Exekutionskammer.

»Warum?«, fragte ich Breskoff, »Wieso du?«

»Weil es notwendig war!«, schrie Breskoff und stürmte mit gezücktem Dolch auf mich zu.

Ich handelte instinktiv. In meiner vampirischen Urform hatten sich meine Hände zu tödlichen Jagdklauen verwandelt, besetzt mit rasiermesserscharfen Krallen. Mit chirurgischer Präzision rammte sich meine rechte Hand in Breskoffs Brustkorb. Ich fühlte, wie sein Brustbein zersplitterte. Immer tiefer drang ich ein, bekam sein Herz zu fassen und riss es ihm heraus. Den immer noch pochenden Lebensmuskel in meinen Händen haltend, wandte ich mich an meine Gäste.

»Schaut genau hin und lasst es euch eine Lehre sein.«, rief ich ihnen zu, während ich Breskoffs Herz in die Sonnenstrahlen hielt, »Das ist es, was ein Verräter von mir erwarten kann: Den Tod!«

Breskoffs Herz fing sofort Feuer. Als gebürtige Vampire mochten wir dem Sonnenlicht zwar eine Weile widerstehen können, doch wenn unser Herz verbrennt, zerfallen wir zu Staub, endgültig und unwiderruflich. Es gibt keine Möglichkeit, einen gebürtigen Vampir wieder zu erwecken. Breskoff, durch das Gift geschwächt, hatte viel von seiner Widerstandskraft verloren, sodass bereits nach wenigen Sekunden nur noch ein Haufen Asche von ihm übrig war.

»Das war er also, der große Breskoff.«, ließ sich van Sanden vernehmen, »Was für ein Heuchler, der sogar seine Verbündeten verrät. Lass dir das eine Lehre sein, Constantin Varadin! Man kann niemandem vertrauen. Auf keinen Fall seinen Feinden, aber noch weniger seinen Freunden!«

Sprachs, hielt demonstrativ zwei Finger ins Sonnenlicht bis sie rauchten und schüttelte den Kopf.

»Der König ist tot!«, verkündete die immer noch anwesende Präsenz der Nosferatu, »Das Haus Breskopol hat keine Nachkommen, die Linie der Könige der Breskopols hat geendet. Constantin Varadin, erhebst du Anspruch auf den Thron?«

»Ja!«, wenn ich bisher an mir gezweifelt hatte, war mir jetzt klar, was ich wollte, »Ja, ich erhebe den Anspruch auf den Thron!«

»So wurde es vernommen!«, erwiderte die Präsenz ohne dabei auch nur den Hauch einer Gemütsregung zu zeigen, »Dein Anspruch wurde angenommen. In dreißig Tagen werden wir uns wieder versammeln und entscheiden, ob du der Krone würdig bist.«

»Meinen herzlichen Glückwunsch, Varadin!«, lachte van Sanden mit vor Zynismus triefender Stimme.

Mit diesen Worten verließen er, die Nosferatu und die restlichen Gäste den Bankettsaal. Ich blieb allein zurück.

»Verdammt!«, brüllte ich wütend und schlug auf den Knopf, der die Jalousien der Exekutionskammer schloss. Das Sonnenlicht erlosch.


Neben mir stöhnte jemand. Der Wachmann, den Laurentius zum Vollstrecker seiner Strafe bestimmt hatte, hockte zusammengekauert neben den Bedienknöpfen der unsäglichen Kammer. Sein Schädel trug eine Wunde, aus der es leicht blutete.

»Der König... Graf Breskoff... Er hat mich niedergeschlagen!«, krächzte der Mann, rappelte sich auf und wäre fast wieder gestürzt, als er mich in meiner kampfwütigen und mordlustigen Urform sah. »Mein Fürst!«, wich er ängstlich zurück, »Es ist alles meine Schuld! Ich hätte ihn aufhalten müssen. Aber er hat mich überrumpelt.«

Nicht nur dich! Jeder andere Stammesfürst hätte diesen Unglücklichen sofort von der Last seines unnützen Lebens befreit. Die Nummer Herz aus der Brust reißen hatte ich gerade vollführt, eine Wiederholung wäre eine Leichtigkeit. Aber ich beherrschte mich. Konnte ich meinem kleinen Wachsoldaten wirklich vorwerfen, von Breskoff getäuscht worden zu sein? Müsste ich mich dann nicht gleich selbst richten?

»Nein, Simon, es ist nicht deine Schuld. Breskoff hat uns alle getäuscht.«, so wie Laurentius, was ich aber für mich behielt. Stattdessen zwang ich mich zur Ruhe und befahl meinem Körper, zu seiner menschlichen Form zurückzukehren. Ganz der verständnisvolle Stammvater, legte ich dem immer noch verstört zitternden Jungwachmann eine Hand auf die Schulter.

»Sei bitte so lieb und sorge dafür, dass Laurentius Asche in die Gruft gebracht und streng bewacht wird. Simon, das ist wichtig! Niemand darf in die Nähe seiner Urne. Verstehst du, was ich sage? Dies ist ein direkter Befehl, den nur ich widerrufen kann. Wenn dein Vorgesetzter dich anweist, beiseite zu treten, weichst du nicht von der Stelle. Wenn der Vorgesetzte deines Vorgesetzten dir befiehlt, beiseite zu treten, weichst du nicht von der Stelle. Und du weichst ebenfalls nicht, wenn jemand kommt und sagt, er würde in meinem Auftrag handeln. Du weichst nicht von der Stelle und verteidigst Laurentius Urne mit deinem Leben!«

Der junge Vampir, er war gerade einmal 19 Jahre alt, als er zu uns stieß, starrte mich aus großen Augen an. Noch nie hatte man ihn mit einem derart wichtigen und gefährlichen Auftrag betraut, denn gefährlich war er. Wer konnte schon sagen, wie viele Verräter sich noch in meiner Nähe tummelten?

»Warte!«, rief ich Simon zu, der sich daran machte, mit Urne und Aufnehmer bewaffnet Laurentius zusammenzukehren. »Reich mir dein Handgelenk!«

Der junge Wächter starrte mich erneut an. Ängstlich und zögerlich reichte er mir sein Handgelenk. Bevor er zurückzucken konnte, packte ich seinen Arm und biss zu. Ich trank nicht viel, denn darum ging es nicht, sondern darum, eine Verbindung zwischen uns zu schaffen: »So, jetzt werde ich es fühlen, sollte dir Gefahr drohen. Richte einfach deine Gedanken an mich und ich werde unverzüglich herbeieilen.«

»Danke, Herr!«, flüsterte Simon ehrfürchtig.

»Nicht Herr!«, korrigierte ich den ängstlich zitternden Jungen, »Ich bin Constantin.«

Immer noch zitternd nickte Simon schüchtern, doch strahlten seine Augen vor Stolz, bevor er sich eilig daran machte, Laurentius aufzukehren. Ich überließ ihn seiner Arbeit und eilte in mein Büro. Dem Sonnenlicht zu widerstehen, hatte einiges an Kraft gekostet, die ich mit frischem Blut wieder herstellen musste. Wie sehr die Strahlen von mir gezehrt hatten, wurde mir erst klar, als ich meine Zähne direkt in den Beutel der Blutkonserve rammte und diese gierig aussaugte.

»Shit!«, durch Zufall fiel mein Blick auf meine Kleidung, oder besser das, was davon noch übrig war. Mein Sprung durch das Beobachtungsfenster hatte meinen Anzug aufgeschlitzt, Staub und Blut verklebten an verschiedenen Stellen den Stoff. Das Kleidungsstück war eindeutig ein Fall für die Mülltonne. Eigentlich hätte ich mich umziehen wollen, aber im Moment gab es weitaus Wichtigeres zu tun.

Meine Faust landete unsanft auf dem Sprechknopf der Gegensprechanlage: »Schafft mir Christiano her!«

Meine Laune war auf dem Tiefstpunkt angekommen, ein geradezu optimaler Zustand, um mit dem vermaledeiten Portugiesen abzurechnen, da in meiner momentanen Laune wenig Gefahr bestand, falsche Nachsicht walten zu lassen.

Das mit dem abrechnen hatte bereits jemand anderes für mich übernommen. Ziemlich unsanft wurde Christiano von zwei Kleiderschrankvampiren in mein Büro befördert, sodass dieser stolperte und auf die Nase fiel. Ein verquollenes Auge, ein Schnitt an der Oberlippe und diverse kleine Abschürfungen ließen vermuten, dass man ihn in einem Anfall voreilenden Gehorsams ordentlich aufgemischt hatte. So sehr ich Christiano die Dresche auch gönnte, ging mir diese Art von Eigenmächtigkeit zu weit. Ich verstand, warum sich meine Leute dazu hinreißen ließen. Christiano hatte mich verraten. Aber ihn deswegen zu schlagen, war der falsche Weg, jedenfalls solange noch nicht alle Fakten feststanden.

»Bitte lasst uns allein.«, bat ich die beiden Vampirkämpfer neutral, mein Büro zu verlassen. Mein Wunsch wurde befolgt. Christiano war mit mir allein.

»Sind sie weg?«, hörte ich ihn mit gepresst, rasselnder Stimme fragen. Offenbar hatte man ihm ein paar Rippen gebrochen, die nun beim Atmen und Sprechen schmerzten. Ich hatte nicht das Gefühl, Mitleid empfinden zu müssen.

»Ja, sind sie.«, knurrte ich und merkte, wie die Wut wieder in mir hoch kochte, »Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, mich vor versammelter Mannschaft dermaßen zu desavouieren? Verdammt, Christiano, ich dachte, du hättest mich verstanden und eingesehen, dass ich an Laurentius Bestrafung nichts ändern konnte. Dieser Gesichtsverlust...«

Der Typ lachte. Christiano lachte, rotzte dabei etwas Blut, wobei er aber so viel Weitsicht besaß, es nicht auf meinem Teppich zu verteilen, sondern mit seinem eh schon blutverschmierten T-Shirt aufzufangen. Laurentius Wachen mussten ihm wirklich heftig zugesetzt haben.

»Dann hat es also funktioniert.«, lachte der Typ zufrieden.

Nein! Das konnte einfach nicht sein. Sollte dieser verrückte Portugiese etwa...?

»Natürlich«, erriet Christiano meine Gedanken, während er immer noch am Boden hockte und sich sammelte, »Wir haben darüber gesprochen, mich zum Schein zu verbannen, damit du den Spion in unseren Reihen ausfindig machen kannst. Die Idee, mit dir einen Streit anzufangen, fand ich von Anfang an gut. Allerdings...«

»Was?«

»Man kann keinen Streit inszenieren. Jeder mit etwas mehr Verstand als einer Hainschnirkelschnecke hätte ein derartiges Theater sofort durchschaut und Typen wie van Sanden allemal. Wir hätten nichts gewonnen. Ganz im Gegenteil, der Spion hätte sofort begriffen, dass wir von seiner Existenz wissen und hinter ihm her sind. Also musste ich dafür sorgen, dass unser Streit überzeugend war. Und welche Gelegenheit wäre dafür besser geeignet, als dich vor allen Grafen und Fürsten zu beleidigen? Oh, du hättest dein Gesicht sehen sollen. Du warst sehr überzeugend.«

»Das ist alles?«

»Nicht ganz.«, fuhr Christiano fort, »Wusstest du, dass du wirklich extrem treue Untertanen dein Eigen nennen kannst? Shit, ich glaube die Jungs haben mir den Unterkiefer gebrochen.«

»Du siehst auch wirklich beschissen aus.«, bestätigte ich seinen Zustand, »Trotzdem, warum soll ich dir deine Geschichte glauben? Du behauptest, du hättest alles nur gespielt. Beweise es!«

»Es hat dich geärgert, oder?«, antwortete Christiano mit einer Gegenfrage, »Und du hast Recht. Ich habe dich vor allen Leuten gedemütigt und die Ehre eines Fürsten der Vampire beschmutzt. Wärst du ein Dracul, zierte jetzt vermutlich bereits ein Pflock meine Brust. Constantin, ich kann es nicht beweisen. Wie denn? Entweder du traust mir oder du lässt es bleiben. Doch wenn du mir nicht traust, nicht mehr trauen kannst, dann wär's nett, wenn wir auf die Lösung mit dem Pflock zurückkommen könnten, denn dann gäbe es für mich keinen Grund mehr zu leben.«

Wie konnte ich ihm nicht glauben. Christiano war von meinem Blut. Eine Lüge hätte ich allein mit ihm in meinem Büro und frei von fremden Gedanken anderer, sofort gespürt. Er sagte tatsächlich die Wahrheit.

»Oh, Christiano, Junge, du bist total verrückt.«, verkündete ich seine Erlösung, stand auf und hockte mich neben ihm auf den Boden. Vorsichtig strich ich ihm über den geschundenen Körper »Die haben dich wirklich übel zugerichtet. Das Problem ist, dass du das Spiel begonnen hast. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Ich kann dir keine Blutkonserve geben, damit du deine Verletzungen heilen kannst, ohne deinen kleinen Plan zu gefährden.«

»Ich weiß.« nuschelte Christiano, »Ich hab' damit gerechnet, dass es heftig werden könnte. Aber keine Angst. Ich steh das durch. Apropos durchstehen, wie lief es mit Laurentius.«

Statt zu antworten, atmete ich scharf ein. Das Geräusch ließ meinen Freund aufschrecken und aufsehen. Offenbar bemerkte er erst jetzt, dass ich auch etwas ramponiert war: »Constantin, mein Gott, was ist mit dir passiert?«

»Verrat!«

Die nächste viertel Stunde schilderte ich Christiano, was geschehen war. Angefangen beim Auflauf der Gäste, über die private Unterhaltung mit Breskoff, Laurentius Verrat, meine Flucht aus der Exekutionskammer und Breskoffs Ende. Während der ganzen Zeit hörte mir Christiano aufmerksam, aber schweigend zu. Nachdem ich meinen Bericht abgeschlossen hatte, hockte er nur da und grübelte. Es vergingen gute fünf Minuten, bevor sich mein Freund räusperte, wieder etwas Blut rotzte, und dann zu sprechen begann.

»Ich glaube, die Sache ist komplizierter als es auf den ersten Blick erscheint. Ich kenne Laurentius. Er würde dich niemals, unter keinen Umständen verraten. Meinst du, außer dir hat jemand Laurentius Bemerkung gehört?«

»Was, dass es ihm Leid tun würde?«, ich schüttelte den Kopf, »Nein, das glaube ich nicht. Wir waren allein in der Kammer. Es sprach leise, außerdem flog im gleichen Moment die Tür zu.«

»Das heißt, außer dir und mir weiß niemand, dass Laurentius von dem Attentat auf dich wusste.«

»Nein, bis auf den Attentäter natürlich.«

»Der Attentäter, Breskoff.«, Christiano wirkte sehr nachdenklich, »Meinst du nicht auch, dass es vollkommen hirnrissig ist, dir erst ein ganzes Haus zu vermachen, um dich anschließend umzubringen? Du sagst, dass du über eine gewisse Widerstandsfähigkeit gegen Sonnenlicht verfügst. Interessant, ich wusste es nicht und ich glaube auch nicht, dass ein Großteil der Gäste davon weiß. Stellt sich die Frage, wusste Breskoff davon?«

»Himmel!«, fuhr ich zusammen, »Du hast Recht. Breskoff wusste es. Er hat es mir selbst erklärt. Sein Haus, genaugenommen seine Blutlinie und die meines Hauses sind die ältesten Blutlinien überhaupt. Nur unsere sind unverfälscht. In unserem Stammbaum gibt es ausschließlich Vampire, woraus sich auch der Anspruch auf den Thron ergibt. Selbst die Dracul wie van Sanden, die sich für die wahren Vampire halten, sind Hybride aus Vampir und Mensch. Die Widerstandskraft gegen Sonnenlicht ist umso stärker, je vampirmäßiger die Blutline ist. Außer mir hätte vermutlich nur Breskoff dem Sonnenlicht widerstehen können.«

»Also wusste er, dass du entkommen würdest. Er hat das alles geplant, einschließlich seines Todes.«, subsummierte Christiano, »Es dürfte interessant sein, Laurentius zu befragen. Ich könnte mir vorstellen, dass er dir einige Antworten geben kann. Sollte es sich rausstellen, dass er doch ein Verräter ist, kannst du ihm immer noch einen Pflock verpassen, oder wie Breskoff gleich das Herz aus der Brust reißen. So, und was mich betrifft...«

»Was dich betrifft.«, fiel ich Christiano ins Wort, »Ich werde dich verbannen, allerdings...«

»...wirst du mich vorher noch öffentlich bestrafen müssen.«, fiel mir wiederum Christiano ins Wort, »Schon klar. Ich wusste, worauf ich mich einlasse und dass es unangenehm wird. Constantin, es ist ok! Wir ziehen das durch. Während ich mich um deinen Liebling kümmere und aufpasse, dass ihm nichts passiert, jagst du den Verräter in unseren Reihen. Mir ist durchaus bewusst, dass du mich hart bestrafen musst, soll die ganze Aktion glaubwürdig bleiben und nicht auffliegen.«

»Wir können die Sache immer noch abblasen...«, bot ich meinem Freund an, obwohl ich seine Antwort längst kannte.

»Nein!«, kam es daher erwartungsgemäß, »In dreißig Tagen wirst du den Thron besteigen. Bis dahin werden unsere Gegner alles versuchen, dies zu verhindern. Wir müssen den Spion ausfindig und unschädlich machen.«

»Dir ist schon klar, dass ich dich wie den letzten Dreck behandeln werde? Dass du ganz auf dich allein gestellt sein wirst?«, ich fixierte Christiano mit meinem Blick und forschte nach Zweifeln oder Anzeichen dafür, dass er die ganze Sache nur meinetwegen durchzog. Nein, ich litt unter keinem übersteigerten Selbstbewusstsein und fühlte mich auch nicht als Nabel der Welt. Das Problem bestand eher darin, dass mich die Herrschaftsstruktur der Vampire dazu machte. Jeder Mensch, den ich oder einer meiner Vampire in einen Vampir verwandelt hatte, war an mich gebunden. Er war physiologisch auf mich konditioniert, was meinem Selbstverständnis als Herrscher grundlegend widersprach. Nach meiner Überzeugung qualifizierte nicht die biologische Abstammung zum Anführer, sondern dessen Handlungen. Noch ein Grund mehr, warum mich die anderen Häuser verachteten. Sie verstanden mich einfach nicht. Sie glaubten, dass man Loyalität verordnen konnte. Ich war hingegen der Überzeugung, dass man sich die Loyalität seiner Angehörigen verdienen muss.

Die Sache hatte einen kleinen Haken. Eigentlich war es ein echtes Plus, auf das ich stolz sein konnte. Meine Leute wollten oft mehr, als gut für sie war. Was Christiano auf sich nahm, die Verbannung, die, obwohl nur vorgetäuscht, deren gesamte Konsequenzen nach sich zog, war einfach mehr als grenzwertig. Es bestand die Gefahr, dass er zu viel riskierte. Die Welt außerhalb der Häuser, ohne ihren Schutz, war lebensgefährlich. Man war vogelfrei, wurde von Vampirjägern verfolgt, während man gleichzeitig jagen musste, um an Blut zu kommen.

»Ja, mir ist klar, was es bedeutet, verbannt zu werden. Ich komme zurecht.«, Christiano quälte sich wortwörtlich ein Lächeln ab. Sein gebrochener Kiefer musste höllisch weh tun, »Wirklich, glaub' mir. Du weißt, dass ich über mein eigenes Informationsnetzwerk verfüge. Ich besitze sogar ein eigenes Apartment, das mindestens so sicher ist, wie unsere Häuser. Allerdings werde ich dir nicht sagen, wo es sich befindet.«

Das war selbst für mich eine neue und ziemlich überraschende Information. Auf der anderen Seite maßte ich mir nicht an, Christianos Methoden zu kritisieren, solange sie nicht gegen unsere moralischen Grundsätze verstießen.

»Du hast ein Apartment?«, ich nickte anerkennend, »Respekt. Ich glaube, ich unterschätze dich immer noch. Aber keine Angst, ich will auch gar nicht mehr wissen. Je weniger ich weiß, desto besser.«

Ein letzter musternder Blick, ein Nicken und wir wussten, dass es Zeit war, mit dem Spiel in die nächste Runde zu gehen.

»Ich ruf jetzt die Wachen. Wenn die kommen, werde ich dich recht unsanft behandeln.«

»Ok!«

Ich drückte die Ruftaste der Gegensprechanlage, die kurz piepste und brüllte hinein: »Wache!«

Anschließend verwandelte ich mich in meine Urform, die selbst für Vampire bedrohlich wirkte, packte Christiano mit meinen Krallen am Hals, wartete bis die Wachen in mein Büro gestürmt kamen, um genau in dem Moment meinen Freund sehr effektvoll quer durch den Raum zu schleudern. Krachend knallte er gegen die Wand, das Geräusch brechender Knochen war deutlich zu hören. Christiano brüllte vor Schmerz auf.

»Schafft dieses Stück Scheiße weg!«, ich hasste mich dafür, solche Begriffe für Christiano zu gebrauchen, auch wenn ich sie nicht ernst meinte. Die beiden Schränke von Vampiren packten Christiano und achteten sehr sorgsam darauf, ihn möglichst unsanft zu behandeln.

»Wartet!«, rief ich den beiden Wächtern nach, »Packt ihn in eine Zelle und gebt ihm etwas Blut zu trinken. Ich will, dass er morgen für die Vollstreckung seiner Strafe vollständig erholt ist.«

Die beiden Wachen grinsten, nickten und stampften mit Christiano davon. Ich hatte keine Ahnung, was sie dachten, aber die Kombination der Begriffe Strafe, Vollstreckung und vollständig erholt, schienen die wildesten Phantasien bei den beiden Jungs zu wecken. Wächtervampire wurden eher selten für ihre Intelligenz ausgewählt.

Die Gruft

Die Wiedererweckung eines Vampirs verläuft im Prinzip genau so, wie es üblicherweise in Horrorfilmen dargestellt wird, mit einem kleinen, aber dafür um so delikateren Unterschied.

Kaum hatten die beiden Wächter mein Büro verlassen, machte ich mich auch gleich auf den Weg zur Gruft. Auf keinen Fall sollte Simon länger als nötig Laurentius Urne bewachen müssen. Je schneller ich Laurentius wiedererweckt hatte, umso besser. Wie Christiano so richtig bemerkte, schuldete der Mann mir noch ein paar Antworten. Anschließend konnte ich immer noch entscheiden, was ich mit meinem bisherigen Marschall anstellen sollte.

»Constantin?«, rief Simon zwar laut, doch hörbar ängstlich, als er meine Schritte hörte.

»Ja, ich bin es. Gab es irgendwelche Schwierigkeiten?«

Der junge Vampir schüttelte seinen Kopf: »Nein, solange ich hier Wache schob, ist niemand vorbeigekommen. Obwohl, vor ein paar Minuten hatte ich das Gefühl, als...«

»Was?«

»Ich weiß nicht so genau. Ich hatte den Eindruck, dass jemand hier war. Vor einer viertel Stunde war mir, als wenn ich Schritte und Atemgeräusche hörte. Doch als ich dann >Hallo?< rief, verstummte das Geräusch. Für einen Moment überlegte ich, ob ich mich umsehen sollte, doch wollte ich die Urne nicht allein lassen und blieb hier.«

»Simon, das hast du gut gemacht.«, lobte ich den Wächter, der prompt strahlte, »Gut, dann werde ich mich mal um unseren Marschall kümmern.«

»Wirst du ihn wirklich wiedererwecken können?«, fragte Simon ängstlich, »Ich habe ihn wirklich ganz gründlich aufgefegt und die Kammer auch ausgesaugt. Die gesamte Asche befindet sich in der Urne.«

»Ja, ich kann ihn wiederwecken.«, versicherte ich Simon, »Fragt sich nur, ob er es wert ist.«

»Was?« Der Junge war alles andere als dumm und bemerkte sofort, dass ich mich verplappert hatte.

»Behalte bitte meine letzte Bemerkung für dich.«, hier war eine schnelle Entscheidung gefragt, »Ok, das war ein Fehler. Du hättest das nicht hören sollen. Es tut mir Leid, aber damit hast du dich gerade zum Assistenten der Widererweckungsprozedur qualifiziert. Denn bevor mir Laurentius nicht ein paar entscheidende Fragen beantwortet hat, kann ich nicht zulassen, dass du mit den anderen Mitgliedern des Hauses in Kontakt trittst.«

»Ähm, ok!«, stammelte Simon unsicher. Hatte er etwa Angst vor mir?

»Hey, keine Angst. Du hast alles richtig gemacht. Es war mein Fehler. Ich war mit meinen Gedanken nicht bei der Sache. Komm, lass uns in die Gruft gehen und Laurentius aus seiner Dose befreien.«

Wir betraten die Gruft, die, wie es sich für eine Vampirgruft gehörte, düster, kühl, feucht, leicht modrig und von Fackeln erleuchtet war. Wobei man erwähnen sollte, dass die Kühle durch Kältleitungen in den Wänden und die Feuchtigkeit durch elektronisch gesteuerte Wasserzerstäuber realisiert wurde. Die Fackeln waren gasbetrieben und wurden elektrisch gezündet, sobald jemand die Gruft betrat. Ansonsten sah alles wie eine typische Gruft aus: Wände aus poliertem, schwarzem Granit, ein paar doppelt breite Holzsärge und in der Mitte ein großer, schwerer Steinsarg. Bevor wir mit der Wiedererweckung begannen, verschloss ich noch den Zugang. Die Gruft war nämlich auch noch ein vollwertiger Panikraum mit autarken Versorgungs- und Kommunikationseinrichtungen. Einmal von innen verschlossen, gab es keine Möglichkeit, von außen hier einzudringen. Niemand sollte uns stören.

»Hilf mir bitte mal mit dem Deckel.«, bat ich Simon. Zusammen entfernten wir die steinerne Abdeckplatte vom großen zentralen Sarg, der eigentlich nichts anderes war, als ein großer, länglicher Steintrog.

»Die Urne!«

Simon reichte mir Laurentius momentane Behausung. Ich nahm die Metalldose, entfernte den Deckel und streute die Asche in den Trog.

»Jetzt das Blut!«, ich zeigte auf eine Marmorwandplatte. Simon ging hin und begriff sofort, dass die Platte eigentlich die Tür eines Kühlschranks war, in dem mehrere Blutkonserven bereit lagen, »Ich brauche fünf Beutel.«

Das Blut war die Basis, die Asche das Wesen. Zusammen war es die Grundlage, aus der ich Laurentius wiedererwecken konnte. Ich nahm den ersten Blutbeutel, biss ihn auf und ließ das Blut über die Asche tropfen, die sofort zu dampfen und zischen begann. Ein Beutel nach dem anderen wurde so entleert, bis im Steintrog eine einzige brodelnde Blutaschesuppe vor sich hin blubberte.

»Und jetzt?«, fragte Simon, »Es blubbert nur. Müsste sich da nicht mehr tun?«

»Ja, du hast Recht. Es fehlt die Essenz eines Stammvaters.«, erläuterte ich, »Du bist ein Sohn Christianos, oder?«

»Ja!«, antwortete Simon schüchtern, »Stimmt es, dass er dich...«

Er konnte nicht weitersprechen. Ich hätte fast vergessen, dass er bei Christianos Showact anwesend war und sich nun zu schämen schien, ein Vampir zu sein, der von einem Verräter wie Christiano erschaffen wurde. Wie gerne hätte ich ihn beruhigt, dass Christiano alles andere als schuldig war.

»Simon, was auch immer Christiano getan hat, es betrifft nur ihn. Dass du seine Schöpfung bist, ändert nichts daran, wie ich dich achte oder behandle. Du bist Simon und nicht Christiano. Aber zurück zu Laurentius. Erinnerst du dich, wie Christiano dich in einen Vampir verwandelt hat?«

Simon lief rot an, grinste verlegen aber gleichzeitig versonnen, und kicherte: »Wir haben miteinander geschlafen, er hat mich gebissen und... oh... wirklich?«

Ich grinste ihn an und nickte: »Naja, man kann die Verwandlung auch mit einem Biss einleiten. Sex macht aber mehr Spaß. Was meinst du, warum die Heterovampire am liebsten Frauen verwandeln und ihre männlichen Angehörigen schlecht behandeln. Es erinnert sie daran...«

»Aber wie willst du...?«, Simon schaute auf die blubbernde Masse, »Ich meine, es ist nur Suppe.«

Die von mir daraufhin gezeigte Handgeste war eindeutig genug. Simon lief rot an. Ich kannte seine Geschichte, die alles andere als nett war. Ich konnte mich noch sehr gut daran erinnern, wie mich Christiano bat, ihm die Erlaubnis für Simons Verwandlung zu erteilen. Nachdem ich alles angehört hatte, gab es für mich keine Zweifel, dass Christiano richtig handelte, wenn er Simon zu einem von uns machen wollte, solange dieser dies auch von ganzem Herzen wollte.

»Ich könnte dir helfen...«

Intensiv damit beschäftigt, eine halbwegs passable Erektion hinzubekommen, kam dieser Vorschlag eher überraschend, wenn auch nicht gänzlich unwillkommen. Meine Bemühungen verliefen nämlich eher fruchtlos. Mein sexuelle Lust hatte einen Tiefpunkt erreicht, was bei den Ereignissen der letzten Stunden nicht sonderlich überraschend war. Ich gestehe es nur ungern, aber ich bekam keinen hoch.

»Wie?«

»Ich könnte dir einen blasen?«, schlug Simon vor, »Du bist mein Fürst. Es bleibt in der Familie. Außerdem... du bist einfach ein geiler Typ. Bitte sei mir nicht böse, aber ich habe schon öfters davon geträumt, von dir genommen... ähm... sorry, das hätte ich nicht sagen sollen!«

Die stillsten Wasser sind immer noch die Tiefsten. Wer hätte gedacht, dass es dieser junge Vampir faustdick hinter den Ohren hatte? Ich fühlte mich geschmeichelt. Gleichzeitig amüsierte mich Simon, ohne dass ich mich über ihn lustig machte. Er war einfach nur ehrlich und das war sehr erfrischend.

»Nein!«, widersprach ich deswegen sofort, »Schäm dich niemals dafür, die Wahrheit zu sagen! Wenn du mich magst, dann ist das ok. Das Schlimmste, was dir passieren könnte ist, dass ich deine Gefühle nicht erwidere.«

»Wow!«, meinte Simon, »Du meinst das wirklich ernst?«

»Sicher!«, bestätigte ich, »Ich kann mit Duckmäusern, Schleimscheißern und Typen, die mir nach dem Mund reden, nichts anfangen. Schau dir die Mitglieder unseres Hauses an und du weißt, was ich meine.«

»Und was ist mit Christiano?« Punktladung, mit der Frage hätte ich rechnen müssen.

»Christiano hat sich nicht schuldig gemacht, weil er eine andere Meinung vertritt. Das ist völlig ok. Nur gibt es für alles den richtigen Zeitpunkt und den richtigen Ort. Ich respektiere es, wenn er der Meinung ist, dass Laurentius Verbrennung grausam ist. Ich teile sogar seine Meinung. Aber er kann nicht einfach kommen und mich vor allen Fürsten beleidigen. Verstehst du, ich bin nicht sauer, weil er mich angespuckt hat. Scheiß drauf. Christiano muss sich dafür verantworten, unser Haus in Misskredit gebracht zu haben.«

»Ok, darf ich jetzt ehrlich sein?«, fragte Simon. Seine Miene war nicht zu deuten.

»Klar. Immer raus mit der Sprache!«

»Mit dem schlaffen Teil in deiner Hand, wirst du Laurentius kaum Wiedererwecken können.«

Im ersten Moment war ich sprachlos. Obwohl ich es hätte wissen müssen, schließlich war er Christianos Schöpfung. Trotzdem, Simon erwischte mich völlig unvorbereitet, was auf eine perverse Weise erregend war. Der junge Vampir ging sogar noch einen Schritt weiter, und das wortwörtlich. Er kam auf mich zu und nahm, als ich mich nicht wehrte, meinen Schwanz in seine Hand und begann ihn sehr gekonnt zu massieren. Als sich mein Organ regte, kniete sich Simon vor mir hin.

»Nein, warte!«, stoppte ich ihn, bevor er zum Blowjob ausholen konnte, »Willst du mir nur helfen, oder willst du mit mir schlafen?«

»Ehrliche Antwort? Am liebsten würde ich mit dir schlafen.«, erwiderte Simon offenherzig, schien aber zu befürchten, bei mir abzublitzen. Nun, da kannte er mich schlecht. Ich mochte Sex. Er war ein geradezu essenzieller Bestandteil meiner Persönlichkeit, allerdings nur, wenn es auf Gegenseitigkeit beruhte, soll heißen, dass ich begann, Simon zu entkleiden. Der bekam erst große Augen, begriff dann aber, was vorging. Spätestens, als ich ihn zu mir heranzog und küsste, begann mein Freund freudig zu strahlen.

»Komm!«, flüsterte ich Simon ins Ohr und zog ihn mit mir mit. Im ersten Moment war Simon verwirrt, als ich dann begann, mich ebenfalls zu entkleiden und dann auf einen, nämlich meinen Sarg deutete, grinste er breit. Wir krabbelten hinein, schlossen den Deckel und gaben uns einander hin.


Für einen Typen, der gerade einmal für rund ein dreiviertel Jahrhundert ein Vampir war, verfügte Simon über ein erstaunliches Stehvermögen. Im Gegensatz zu den Menschen verstärkte sich mit dem Alter eines Vampirs dessen sexuelle Lust und Ausdauer. Wenn man den Gerüchten glaubte, soll sich Breskoff mit seinen rund 2200 Jahren, bis zu 48 Stunden am Stück mit seinen Mätressen amüsiert haben, wobei sich die Damen im Schichtbetrieb abwechselten. Wie viel davon wirklich der Wahrheit entsprach, sei dahingestellt. Fakt war, dass er sein Liebesleben genoss.

Im Gegensatz zu Breskoff lebte ich fast zölibatär. Das hieß nicht, dass ich keinen Sex hatte, aber er beschränkte sich auf wenige Personen, eigentlich nur auf eine, nämlich Christiano. Ich war einfach nicht der Typ, der mit jedem in den Sarg stieg. Auch wenn es gerade anders aussehen mochte, konnte ich die körperliche von der geistigen trennen. Sex der reinen Lustbefriedigung willens gab mir nichts. Christiano war da anders. Unverbindlicher Sex gehörte für ihn ebenso zum täglichen Leben, wie atmen oder trinken. Ihn jetzt für einen oberflächlichen, rein triebgesteuerten Typen zu halten, griffe allerdings zu kurz. Christiano hatte Tiefgang. Freundschaft ging ihm über alles. Nur die wahre Liebe, die war er noch am suchen.

Dass ich dafür nicht in Frage kam, kränkte mich nicht. Christiano liebte mich, allerdings auf einer anderen Ebene. Mein Herz gehörte sowieso jemand anderem, was nicht heißen soll, dass ich die Sache mit Christiano und nun Florian auf nur Sex reduzieren will. Mir lagen die beiden sehr am Herzen. Christiano, das waren mehrere Jahrhunderte gemeinsamer Geschichte. Christiano war mein Erster, der erste Mensch, den ich in einen Vampir verwandelt hatte. Und Simon? Dass ich mich von Simon angezogen fühlte, kam für mich selbst etwas überraschend. Vielleicht war es seine Unbefangenheit, die an Unschuld reichte, die mich faszinierte.

»Weißt du, Chef, dass du ziemlich cool bist?«, flüsterte mir Simon ins Ohr, während er damit beschäftigt war, mich zum dritten mal zu ficken, »Ich hätte nicht gedacht, dass du auch passiv bist.«

»Warum denn nicht?«, erwiderte ich und drückte mich dichter an Simon heran, »Ich weiß, viele Vampire halten es für ein Zeichen von Schwäche, sich hinzugeben. Alles Quatsch. Dich in mir zu spüren, ist einfach nur geil. Sollte ich mir so ein Erlebnis nur deswegen versagen, weil ein paar engstirnige Typen nicht verstehen, wie man genießt.«

»So... du genießt mich also?«, säuselte Simon in mein Ohr, umklammerte mich von hinten und begann mich mit langen, intensiven Stößen zu rammeln.

»Uhhhhh! Jaaaaahhhhh!«, brachte ich lallend heraus und genoss den Ritt.

Der Junge aus Pommern

Irgendwann dösten wir erschöpft, befriedigt und glücklich aneinander geschmiegt für eine Weile ein. So ein Zweipersonenwohnsarg in Luxusausstattung konnte sehr gemütlich sein. Simon lag in meinen Armen, den Kopf auf meiner Brust, und atmete leise vor sich hin, was ähnlich dem zufriedenen Schnurren einer Katze klang. Was für ein lieber Kerl. Ich machte mir eine innere Notiz, den jungen Vampir im Auge zu behalten.

Hans Teske hatte es in seinem Leben nie leicht gehabt. Christiano entdeckte ihn gerade einmal achtzehnjährig, zu einer Zeit, als der 2. Weltkrieg dabei war, ganz Europa zu verschlingen. Man stelle sich das einmal vor. Ein Junge, mehr oder weniger ein Unfall zwischen einer Magd und einem Großbauern irgendwo in der kalten Heimat Pommerns, verachtet, weil unehelich, chancenlos, schlägt sich auf mehr oder weniger legalen Wegen bis ins ferne Berlin durch und landet dort 14jährig am Vorabend der Machtergreifung der Nazis. Berlin 1932, eine Stadt auf einem Pulverfass. Die Weimarer Republik liegt in ihren letzten Zügen und tanzt fröhlich dem Untergang entgegen. Und was tut unser Junge, hungrig und allein? Er entdeckt, dass er etwas besitzt, das er zu Geld machen kann, seinen Körper. Und er lernt schnell. Er ist demokratisch, bedient Mann und Frau gleichermaßen, wobei die Männer überwogen. Die Moral endet dort, wo der Hunger beginnt und man sich vor Schmerzen windet.

Die Nazis kamen, doch die Party geht weiter, niemand dachte darüber nach, was kommen wird. Bis zur Nacht der langen Messer, als Hitler seinen alten Weggefährten Röhm beseitigen lässt, weil dieser ihm mit seiner SA zu mächtig und gefährlich wurde. Ein Vorwand ist schnell gefunden. Röhm war schwul. Homosexuell zu sein wird plötzlich ebenso lebensgefährlich, wie Sinti, Kommunist, geisteskrank oder Jude zu sein. Und während das normale Volk die Augen verschließt und sich von KdF-Ausflügen bestechen lässt, beginnen die Verhaftungen.

Aber unser Junge aus Pommern ist ein Überlebenskünstler, taucht unter im trüben Bodensatz des Molochs Berlin. Denn trotz der Gefahr, entdeckt zu werden, gab es immer noch genug Männer, die für eine schneller Nummer bereit waren, ein paar Reichsmark springen zu lassen.

Der 2. Weltkrieg brachte auch uns in Gefahr. Als Vampire hatten Ländergrenzen für uns nie die Bedeutung gehabt, wie für die Menschen. Für uns waren es willkürlich gezogene Linien der Anderen, die uns nicht interessierten. Ein Vampir ist dort zuhause, wo unsere Häuser sind. Doch dieser grauenvolle Krieg änderte alles. Grenzen wurden unpassierbar, auch für uns. Er zerstörte Reise- und Kommunikationswege und schnitt Häuser voneinander ab. Mehrfach standen wir kurz davor, entdeckt zu werden, und das wohl nicht ganz zufällig.

Unter anderem aus diesem Grund hatte ich Christiano nach Berlin geschickt. Er sollte einer mehr als nur Besorgnis erregenden Information nachgehen. Eines der hohen Häuser, welches war unbekannt, obwohl Anzeichen darauf hindeuteten, dass es sich um eines der Dracul handelte, soll den Nazis nicht nur Informationen über uns angeboten haben, sondern sogar mit ihnen paktieren. Weswegen war nicht ganz klar, aber die Vermutung lag nahe, dass die Informationen wohl im Austausch für Immunität getauscht werden sollten. Breskoff war außer sich und verkündete, dass jedes Haus, das mit den Nationalsozialisten kooperierte, egal in welcher Weise, ausgestoßen und für immer aus dem Kreis der Häuser verbannt sei. Dem Haus Varadin fiel die Aufgabe zu, in dieser Sache zu ermitteln, wohin die Spur auch immer hinführen mochte.

Eine führte ins Scheunenviertel, dem damaligen Zentrum der Prostitution, Armut und Kriminalität. Offenbar liefen die ersten Kontakte des verräterischen Hauses über den Umweg einer Verbrecherbande, die sich hauptsächlich mit Prostitution und Drogenhandel beschäftigte, wofür sich etliche hochrangige Nazis durchaus empfänglich zeigten, was sich auch darin zeigte, dass bestimmte Etablissements deutlich weniger von Razzien heimgesucht wurden, als andere. Christiano erschien dies als möglicher Hebel, wo er mit seinen Ermittlungen ansetzen konnte.

Die anderen Banden waren über die regelmäßigen Polizeibesuche nicht wirklich begeistert und suchten nach Abhilfe, die mein einfallsreicher Portugiese ihnen in Aussicht stellte, indem er ihnen vorschlug, die andere Bande dazu zu bewegen, ihr Geheimnis zu teilen. Schließlich sei Verbrecherehre immer noch Verbrecherehre. Man sagte ja, gewährte Christiano freie Hand und führte ihn als ihren Interessensvertreter in die einschlägigen Kreise ein. In diesem Zusammenhang stolperte er dann auch über Hans und schloss ihn gleich in sein Herz. Christiano hatte schon immer eine Schwäche für die Ausgestoßenen und Glücklosen. Außerdem fand er Hans einfach süß. Hinzu kam, dass der junge aus Pommern sich eher schüchtern und unauffällig gab, weswegen ihn niemand wirklich beachtete. Ganz im Gegenteil zu ihm selbst, dem nichts entging. Hans war ein wahres Füllhorn an Informationen.

Die Untersuchung schien sich gut anzugehen. Christiano gelang es, die gegnerische Bande zu infiltrieren, was nicht wirklich schwer war, da die Mitglieder geradezu damit prahlten, unantastbar zu sein. Als allerdings das Thema auf die Gegenleistung kam, die sie für diesen Schutz erbringen mussten, wurden die ansonsten so harten Kerle, alles Schwerverbrecher, vom Zuhälter über den Schränker bis zum Totschläger, seltsam einsilbig. Christiano meinte später, Angst in ihren Augen gesehen zu haben.

Es bedurfte daher einiges an Überzeugungsarbeit, bis sie einwilligten, ein Treffen mit einem ihrer neuen Partner einzufädeln. Ein Treffen wurde vereinbart und wieder abgesagt. Orte wurden vorgeschlagen, begutachtet und wieder verworfen, bis man sich schließlich darauf einigte, dass ein Mittelsmann das Treffen vorbereiten sollte. Christiano war einverstanden. Erneut wurden Ort und Zeit festgelegt.

Das Lokal schien vertrauenswürdig. Es befand sich auf neutralem Boden, das hieß, dass keine der Banden es als eigenes Territorium beanspruchten. Trotzdem, oder gerade deswegen war es ein Hinterhalt, den Hans nur aus purem Zufall entdeckte, als er zufällig ein Gespräch mit anhörte, während er seiner horizontalen Tätigkeit als Stricher nachging.

Das Treffen stand unmittelbar bevor, sollte in wenigen Minuten beginnen. Hans konnte keine Zeit verlieren, brachte seinen Freier daher schnell zum Schuss und eilte bereits los, während sein Kunde noch seinen Schwanz in seiner Hose verstaute. Obwohl Hans rannte, als würde der Teufel höchstpersönlich hinter ihm her sein, erreichte er sein Ziel erst, als es eigentlich schon zu spät war. Christiano hatte das Lokal bereits betreten, ohne zu ahnen, dass hinter ihm die Falle zugeschnappt war. Die Gestapo wartete bereits im Gastraum und hätte ihn auch sofort verhaftet, hätte Hans ihn nicht in allerletzter Sekunde doch noch rechtzeitig im Foyer abgefangen. Ohne über die Konsequenzen für sich selbst nachzudenken, zeigte er Christiano einen Fluchtweg, der diesen über das Dach des Gebäudes in Sicherheit brachte, sich selbst allerdings nicht. Hans wurde von der Gestapo geschnappt, in ein geheimes Gefängnis verschleppt und gefoltert.

Diese Gemengelage führte schließlich Christiano zu mir, um mich zu bitten, den Jungen aus Pommern retten zu dürfen. Natürlich willigte ich ein. Schließlich hatte er Christiano das Leben gerettet, mehr noch, unser aller Leben. Ich wollte mir kaum ausmalen, auf welche Ideen die Nazis noch gekommen wären, wäre ihnen ein waschechter Vampir ins Netz gegangen. Ich gab Christiano freie Hand.


Die Nacht ist unser Verbündeter, sie ist unser Vater, unsere Mutter, denn wir sind ihre Geschöpfe. Natürlich hatte Christiano während er mit Hans schlief - ich erwähnte, dass er den Jungen süß fand - auch gebissen und von ihm getrunken, was diesen kräftiger machte und von verschiedenen Geschlechtskrankheiten heilte, die er sich in Folge seines Broterwerbs zugezogen hatte. Seine Witterung aufzunehmen, war für Christiano ein Kinderspiel. Jeden, den wir je gebissen hatten, konnten wir wittern. Es war ein Leichtes, seiner Geruchsspur zu folgen. Man hatte den Jungen in ein Lager vor den Toren Berlins verbracht, seine Hinrichtung durch Erhängen war bereits festgesetzt. Allerdings kam es nicht dazu.

Es war Winter. Aus einer dichten Wolkendecke nieselte Eisregen. Die Luft war von jener klammen Kälte erfüllt, die einem sofort in die Glieder kroch. Die Lagerwachen hockten zusammengekauert unter ihrem Ölzeug, was ihre Aufmerksamkeit arg einschränkte. So bemerkten sie auch nicht, wie ein schwarzer Schatten aus der pechschwarzen Wolkendecke heraustrat, herabschwebte und auf dem Dach einer der vielen Baracken geräuschlos landete, anschließend hinab huschte und lautlos in ihrem Inneren verschwand. Nur die Bluthunde, die jeden Fremden witterten, schienen unruhiger als sonst zu sein und verkrochen sich ängstlich in ihren Hütten. Und so bemerkte auch niemand, wie wenig später ein ähnlicher Schatten wie zuvor, wenngleich nun etwas größer, die Baracke wieder verließ, sich lautlos aufs Dach erhob und in Richtung der tief hängenden Wolkendecke entschwebte.

Am nächsten Morgen konnte sich niemand erklären, wie der Gefangene namens Hans Teske, Simon sollte er sich erst später nennen, als er auch den Namen Varadin annahm, spurlos verschwinden konnte. Der mit tödlicher Hochspannung geladene Lagerzaun war unversehrt und die Tore während der ganzen Nacht nicht geöffnet worden. Es war ein Rätsel. Wirklich? 36 Stunden später brach eine Verhaftungswelle über das Scheunenviertel herein, in dessen Verlauf alle Mitglieder jener Bande, die angeblich über besondere Protektion verfügte, vom Erdboden verschwanden und nie wieder gesehen wurden. In gewisser Weise hatte Christiano sein Versprechen gehalten, in dem er zusicherte, das Problem zu lösen, wenn auch anders als erwartet. Die Verbindungen zwischen einem der Häuser und den Nazis schien verschwunden, die Spur, die uns zu einem möglichen Verräter unter uns Vampiren führen sollte allerdings auch.

Christiano hingegen flog mit Hans zu einem unserer geheimen Unterschlüpfe. Es war keine unserer offiziellen Niederlassungen. Nur ein kleines Häuschen, abseits von Berlin in einer dünn besiedelten Gegend der Uckermark. Dort pflegte er seinen Jungen aus Pommern gesund, kümmerte sich um dessen Wunden und die Verletzungen, die die Folter der Gestapo hinterlassen hatte. Während der ganzen Zeit über hielt er ihn durch einen mentalen Befehl in Tiefschlaf, ähnlich dem künstlichen Koma, das die moderne Medizin heutzutage einsetzt. Damit der Junge wieder zu Kräften kam, musste er allerdings essen, wozu ihn Christiano in eine hypnotische Trance versetzte. Sein Geist schlief, während er Nahrung zu sich nahm. Erst, als die physischen Spuren verheilt waren, entließ Christiano seinen Lebensretter aus seiner mentalen Kontrolle, hockte sich neben dem Bett in einen Stuhl und wachte, bis Hans eines morgens erwachte.

»Wo bin ich?«, waren die ersten Worte, die der Junge äußerte.

»In Sicherheit.«, antwortete Christiano beruhigend, »Du bist bei mir.«

»Bei dir?«, kam es erst ungläubig, dann entsetzt, als die Erinnerung zurückkehrte, »Aber ich war im...«

»Denk nicht mehr daran!«, unterbrach der Vampir, »Ich habe dich gerettet. Ich verdanke dir mein Leben. Es war meine Pflicht, dich zu retten. Allerdings... Ich konnte nicht verhindern, dass sie dir...«

»Nein, konntest du nicht.«, erwiderte Hans. Ein Schatten an dunkle Stunden huschte über Hans' Gesicht, »Und jetzt?«

»Jetzt brauch ich eine Antwort von dir. Ich werde dir die wichtigste Frage deines Lebens stellen. Da ich dir mein Leben verdanke, weicht sie von der sonst üblichen Frage ab. Die Frage lautet: willst du, Hans Teske, mir folgen, dich mir und jenem, dem ich zur Treue verpflichtet bin ebenfalls deine Treue schwören?«

»Vielleicht, wenn du mir sagst, was das bedeutet.«, erwiderte Hans trocken und trotz Christianos Pathos völlig unbeeindruckt.

»Es bedeutet in etwa Folgendes.«, erklärte Christiano, »Deine augenblickliche Situation sieht etwa so aus: Die Schweine von der Gestapo sind hinter dir her. Man hat dich ohne Prozess zum Tode verurteilt. Damit ist Deutschland für dich nicht mehr sicher. Ich kann dafür sorgen, dass du in ein anderes Land gebracht wirst, etwa in die Vereinigten Staaten. Solltest du das wollen, werden wir uns nie wieder sehen. Mehr noch, und das mag jetzt wie aus einem Zukunftsroman klingen, wirst du mich und alles was vorgefallen ist vergessen. Ich muss meine Identität schützen, was nur geht, indem ich alles in deinem Geist auslösche, was dich an mich erinnert. Diese Möglichkeit kann ich dir nur deswegen gewähren, weil du mich gerettet hast.«

»Und die andere? Was ist, wenn ich dir folge und dir Treue schwöre? Bin ich dann dein Leibeigener?«

»Du wärst an mich gebunden, ja. Aber keine Angst, es ist keine Knechtschaft, die ich dir anbiete. Es ist ein völlig neues Leben, frei von Angst und Furcht. Du kannst sein, wer du wirklich bist.«

»Ich habe das nur getan, um zu überleben!«, betonte Hans und lief rot an.

»Ach ja?«, fragte Christiano sanft nach.

»Ja!«, insistierte Hans nochmal lautstark, zögerte dann und meinte deutlich leiser, »Bis du zu mir gekommen bist. Die anderen Typen waren Schweine. Geile Böcke, die Druck ablassen wollten. Denen war es egal, wie ich mich dabei fühlte. Doch so wie du mich in deinen Armen gehalten hast... Du warst zärtlich zu mir, sanft und liebevoll. Wie kann das sein? Du bist ein Kerl, so wie ich! Das ist doch verkehrt, oder? Ein Mann hat bei einer Frau zu liegen. So ist es vorgesehen. Was ist mit mir verkehrt, dass ich für Frauen nicht so empfinden kann, wie für dich?«

»Mit dir ist nichts verkehrt. Solange es Menschen gibt, gibt es welche, die das eigene Geschlecht dem anderen vorziehen. Die Kirche, auch die Nazis sagen, dass das widernatürlich sei, aber das stimmt nicht. Es gab und gibt Kulturen in denen die Liebe zwischen Männern respektiert wird. Du weißt, dass du nicht der einzige bist. Denk doch nur mal daran, wie viele Stricher es in Berlin gibt. Da muss es schon eine Menge Männer geben, die auf Kerle stehen, oder? Glaubst du, die sind alle krank?«

»Nein, das nicht... Und du sagst, wenn ich mich dir anschließe, kann ich so leben, wie ich bin?«

»Ja!«

»Wer bist du?«

»Diese Frage dürfte ich dir eigentlich nicht beantworten.«, begann Christiano zu erklären, »Unser Gesetz schreibt vor, dass das Angebot, uns zu folgen, nur die Todgeweihten erhalten. Deine Hinrichtung war bereits angesetzt. Du kannst nicht mehr zurück in dein bisheriges Leben. Es ist vorbei. Hättest du nicht mein Leben gerettet und ich damit nicht in deiner Schuld gestanden, sähe deine Wahlmöglichkeit ganz anders aus. Entweder du wählst, mir zu folgen oder wir hätten der Geschichte ihren Lauf nehmen lassen, die mit deiner Hinrichtung geendet hätte. Hans, ich bin ein Vampir, ein Wiedergänger. Ich bin Christiano Varadin, Sohn des Hauses Varadin und biete dir an, wie ich ein Wesen der Dunkelheit zu werden. Werde ein Mitglied unseres Hauses. Streif die Fesseln der Angst ab und folge mir.«

Der Junge war plietsch. Er musterte Christiano, hielt seinen Kopf schief, zog seine Augen zu Schlitzen zusammen und meinte: »Ich erinnere mich. Du hast mich gebissen, oder? Während wir miteinander schliefen.«

»Ja, ab ich.«, gestand Christiano unprätentiös.

»Warum?«

»Ich hatte Hunger.«, erwiderte Christiano ehrlich, »Wir Vampire ernähren uns von Blut. Aber keine Angst, es war nicht viel, außerdem gefiel dir der Biss.«

»Stimmt, er war... erregend.«, Hans kratzte sich am Kopf, »Komisch, ich hätte gedacht, du würdest es leugnen. Moment... du hast mir nicht alles erzählt, oder?«

»Du warst krank, Syphilis, Tripper und Schwindsucht.«

»Wirklich? Bist du Arzt?«

»Nein, Vampir«, korrigierte Christiano, »Wir können solche Krankheiten riechen und wir können sie heilen, mit unserem Biss.«

»Und ich wunderte mich immer, warum ich mich so kräftig und stark fühlte, wenn ich bei dir war.«

»Hans, ich brauche deine Entscheidung.«, stoppte Christiano die Unterhaltung, »Und ich brauche sie jetzt. Willst du ein Vampir werden oder nicht?«

Wiedererweckung

An all dies musste ich denken, während Simon, der als Hans Teske geboren wurde, eng an mich geschmiegt zusammen mit mir in meinem Sarg lag. Er zögerte nicht, nicht eine Sekunde. Seine Antwort war ein ebenso klares wie deutliches Ja. Er wollte Christiano folgen. In jener Nacht starb Hans Teske und Simon Varadin erblickte die Schönheit der Nacht.

Wie jeder junge Vampir hatte Simon einiges zu lernen. Außer der Sonne, gibt es noch andere Gefahren, die unser Leben bedrohen. Es gab gute Gründe, warum wir uns schon vor Jahrhunderten zu Häusern zusammenschlossen. Sie bieten Schutz, ein Heim und einen Ort, an dem wir wir selbst sein dürfen.

Unser neues Familienmitglied entschied, sich meiner Wache anzuschließen. Ich hielt es für eine mutige Entscheidung. Die Vampire meiner Wachen waren bisher eher vor Muskeln strotzende Brechertypen. Die meisten hatten wir direkt vom Galgen oder Scheiterhaufen gerettet. Ich empfand es jedes mal wieder erschreckend, wie wenig den Menschen ein Leben wert war, solange es sich nicht um das Eigene handelte. Anders konnte ich mir nicht erklären, wie man aus purem Hass, Missgunst, simpler Angst vor dem Fremden oder, was ich am verabscheuungswürdigsten fand, purem Kalkül unschuldige Menschen zum Tode verurteilte. So rekrutierten sich unsere Kampfvampire zumeist aus gestandenen Männern, die als Mensch nichts mehr zu verlieren hatten und dankbar waren, eine neue Chance zu erhalten.

In dieser Hinsicht fiel Simon völlig aus dem Rahmen. Als gestandenen Mann konnte man ihn beim besten Willen nicht bezeichnen. Mit seinen gerade mal 18 Lenzen zum Zeitpunkt seiner Verwandlung war er mit Abstand der jüngste Vampir der sich entschloss, der Wache beizutreten. Zwischen ihm und dem nächstjüngsten, der im Alter von 31 Jahren zum Vampir wurde, bestand ein gewisser Unterschied. Ich war daher mehr als skeptisch, ob sein Wunsch meiner Wache beizutreten, richtig war und hätte sein Ansinnen auch abgelehnt, wäre Laurentius nicht gewesen, der sich, für mich überraschend, für Simon einsetzte. Als Kommandeur der Wache überließ ich ihm die Entscheidung. Ich hatte sehr früh gelernt, den Instinkten meines Marschalls zu vertrauen.

Und so wurde Simon ein Mitglied, ein Kämpfer und Verteidiger des Hauses Varadin, aber auch immer ein wenig der Außenseiter. Soweit ich wusste, besaß er kaum Freunde, wenn man einmal von Laurentius und Christiano absah, denen er sich anvertraute.


»Sag mal«, Simon räkelte sich neben mir, während er langsam aus seinem Nickerchen erwachte, »Was hat Laurentius eigentlich getan, dass du vorhin so wütend auf ihn warst?«

»Oh, Shit!«, anglozismierte ich, »Den hätte ich jetzt fast vergessen!«

Mit einem Satz war ich aus dem Sarg gesprungen. Im Steintrog blubberte Laurentius Protomasse nach wie vor leise vor sich hin, wenn auch die Rauchentwicklung zwischenzeitlich abgeebbt war.

»Kommen wir zu spät?«, fragte Simon besorgt.

»Nein, keine Angst. Wir könnten ihn so noch Tage vor sich hin blubbern lassen, ohne dass er Schaden nimmt. Aber der gute Laurentius ist mir noch ein paar Antworten schuldig, weswegen wir ihn jetzt wohl besser wiedererwecken sollten.«

Keine drei Minuten später landete genug von meiner Essenz im Steintrog, um den Prozess der Wiederauferstehung einzuleiten. Die Blutaschespermamischung geriet in Wallung, begann dunkelrot zu glühen, bevor sie gelierte und an Struktur gewann. Arme und Beine bildeten sich aus. Aus dem Rumpf stülpte sich etwas Masse aus, die bald die Form eines Kopfes annahm. Nach und nach verwandelte sich di, zugegeben ehemals recht ekelhafte Substanzmischung in Laurentius.

»Gruselig und eigentlich ziemlich ekelhaft, oder?«, kommentierte Simon den Vorgang.

»Ein wenig.«, gab ich ihm Recht, »Andererseits solltest du es mit Laurentius Augen sehen. Was wäre dir lieber, ein paar Momente als ekelhafter Glibber im Steintrog rumliegen, oder langsam in einer Grab vermodern?«

»Auch wieder wahr.«, gab nun Simon mir Recht, »Oh, schau mal. Er schlägt seine Augen auf.«

Und nicht nur die. Laurentius Wiedererweckung war fast abgeschlossen. Es fehlte nur noch eines, der Lebensfunke. Ich streckte meine linke Hand aus und legte sie ihm auf die Brust, genau dort, wo sein Herz noch nicht schlug. Ich konzentrierte mich, schloss meine Augen, sammelte meine Energie, fokussierte sie und ließ sie in Laurentius strömen. Dieser bäumte sich auf, riss die Augen auf und japste wie ein Erstickender nach Luft, um seine neuen, bisher noch nie genutzten Lungen mit Luft zu füllen. Ein dumpfer, erstickter Schrei und mein Marschall weilte wieder unter uns.

»Krass!«, kommentierte Simon, womit er sicherlich nicht ganz unrecht hatte.


Eine Wiedererweckung stellt selbst für einen gestandenen Vampir keine Kleinigkeit dar. Entsprechend desorientiert erhob sich Laurentius aus dem Steintrog und schaute glasig und anfangs ziemlich ausdruckslos vor sich hin. Man konnte fast sehen, wie sein ursprüngliches Bewusstsein langsam wieder zu ihm zurückkehrte.

»Constantin... was...«, stöhnte mein Marschall auf, als ihn die Erinnerung an seine Verbrennung einholte, »Oh... ich...«

Simon und ich hatten uns inzwischen wieder bekleidet und reichten nun Laurentius ebenfalls etwas zum Überziehen. Ich wurde unruhig. Ihn vor mir zu sehen, lenkte meine Gedanken auf Breskoffs Verrat und seine potentielle Beteiligung daran. Ich wollte Antworten, und das schnell.

»Ich bin überrascht.«, begann Laurentius vielversprechend, »Ich hätte nicht gedacht, dass du mich wieder zurück holst.«

»Ich kann dich immer noch hinrichten lassen, aber immerhin gibst du zu, dich mit Breskoff gegen mich verschworen zu haben?«

Eigentlich war ich nicht erstaunt. Dass Laurentius seine Tat leugnete, lag nicht in seinem Charakter.

»Verschworen? Ja, ich gebe zu, mich mit Breskoff verschworen zu haben. Aber gegen dich? Nein, niemals!«

Eine interessante Antwort. Mein hilfesuchender Blick in Richtung Simon wurde mit einem Schulterzucken quittiert. Ich hockte mich auf einen Sarg und deutete Simon und Laurentius, ebenfalls Platz zu nehmen.

»Du weißt, wo wir sind.«, richtete ich mein Wort an Laurentius, »Die Gruft ist versiegelt. Wir drei sind unter uns. Die anderen Särge sind leer. Niemand hört zu.«

»Ich sehe, dass Simon dein Vertrauen gewonnen hat.«, erwiderte Laurentius und wandte sich an den jungen Vampir, »Es tut mir Leid, dich mit in die Sache reingezogen zu haben.«

Simon zuckte mit den Schultern. Er hatte keine Ahnung, in welch außergewöhnlicher Situation er sich befand. Denn was immer wir in den nächsten Minuten besprechen würden, es dürfte genügend Sprengstoff enthalten, das sensible Machtgefüge zwischen den Häusern in ihren Grundfesten zu erschüttern. Der Marschall eines Fürsten der Vampire verschwörte sich nicht so eben mal gegen seinen Herrscher, selbst wenn er das „Gegen“ leugnete.

»Was Laurentius sagen will ist, dass dich die Umstände zur Nummer 3 unseres Hauses befördert haben.«

»Was?«, Simon erbleichte.

Ich lachte. Bei jeder anderen Gelegenheit hätte mich Simons Ahnungslosigkeit amüsiert, doch im Moment tat mir der Kleine einfach nur noch leid. Waren wir doch gerade dabei, ihm seine Unschuld zu rauben und die harte Realität der Politik zu demonstrieren.

»Constantin will von mir wissen, warum Breskoff versuchte, ihn von der Sonne rösten zu lassen und was ich damit zu tun habe, denn ich wusste, was Breskoff vor hatte. Er hatte es mir vorher gesagt.«

Das klang nach einem Geständnis, was mir zeigte, dass die ganze Sache weitaus komplizierter war, als es auf den ersten Blick schien. Ich kannte die komplizierten Gedankengänge meines Marschalls und ahnte, dass ihm ein vorschnelles Urteil nicht gerecht werden konnte. Simon hingegen besaß einen von den Abgründen der Politik unverfälschten Verstand. Für ihn war eine Verschwörung eine Verschwörung.

»Wir konntest du das tun?«, rief der Kleine. Seine Stimme war eine Mischung aus Wut und Enttäuschung, »Er ist dein Fürst! Dein Freund! Wir kannst du ihn derart verraten? Er hat dir vertraut! Ich hab dir vertraut.«

»Simon, lass ihn erzählen.«, meinte ich milde und legte dem wütenden Jungen eine Hand auf die Schulter. Er beruhigte sich und schaute mich fragend an. Ich nickte ihm zu, worauf er leise, »ok!«, murmelte.

»Du hast unseren jungen Freund gehört.«, wandte ich mich an Laurentius, »Warum?«

»Ich habe erfahren, wer Breskoff vergiftet hat. Er hat es mir vor meiner Verbrennung unter vier Augen erzählt.«, begann Laurentius, »Er hat das Gift selbst genommen mit Wissen der Präsenz der Nosferatu.«

»Was?«, ich wollte kaum glauben, was ich hörte, »Breskoff hat versucht, Selbstmord zu begehen?«

»Versucht ist gut. Er hat Selbstmord begangen, er ist nur noch nicht tot! Frag ihn doch selbst. Er wird es dir jetzt sicherlich bestätigen.«

»Ähm...«, murmelte Simon, »Das dürfte etwas kniffelig werden.«

»Wieso?«, fragte Laurentius überrascht.

»Ich habe Breskoff getötet. Er hat mich verraten. Mich dem Sonnenlicht ausgesetzt. Ich habe ihm sein Herz aus der Brust gerissen und es im Licht der Sonne verbrannt.«

»Ich verstehe.«, erwiderte Laurentius zufrieden und nickte, »Dann ist wirklich alles so gekommen, wie Breskoff es geplant hatte. Also gut. Er ist tot und ich nicht mehr an mein Wort gebunden. Constantin, bitte, hör mich an. Breskoff und ich, wir haben dich nicht verraten. Die ganze Zeit ging es nur darum, deine Position als neuen König zu stärken. Vladimir konnte und wollte nicht mehr regieren. Er sehnte sich danach, endlich für immer ruhen zu können. Seit Jahren braut sich ein neuer Krieg zusammen, den auszufechten er nicht mehr die Kraft besaß. Ja, Graf Vladimir Breskoff mochte noch kräftig und energisch wirken, aber er war es nicht mehr. Er war wirklich sehr, sehr müde. Innerlich ausgezehrt und erschöpft. Er wollte, dass du den Thron besteigst. Aber dazu musste er sicherstellen, dass man deine Autorität als neuen König anerkennt. Du weißt selbst, dass dich die Mehrheit der Häuser für zu schwach, zu menschfreundlich und, entschuldige die Formulierung, für zu weichlich hält. Sie meinen, dass ein Fürst der Vampire weder schwul sein, noch einen freundschaftlichen Umgang mit seinen Untertanen pflegen sollte. Breskoff sann nach einer Gelegenheit, wie du allen deine Stärke und Kraft unmissverständlich demonstrieren konntest. Nun, eigentlich schwebte ihm ein völlig anderes Szenario vor, doch dann kam es zum Angriff auf unsere Wagenkolonne. Breskoff ahnte, dass du mich wahrscheinlich nicht bestrafen würdest, weswegen er mir befahl, dich an deine Pflicht zu erinnern.«

»Er wollte, dass ich dich hinrichte? Damit wärst du einverstanden gewesen?«

»Ja und nein. Ich liebe mein Leben, aber ich bin nach wie vor der Meinung, dass mein Versagen unverzeihlich war. Allerdings machte mir Vladimir klar, dass ich tot niemandem nützte und setzte auf exakt die Bestrafung, die du schließlich gewählt hast, meine Verbrennung. Hättest du mich hinrichten wollen, hätte er interveniert, was zum Glück nicht notwendig war. Als König steht ihm das Recht zur Begnadigung oder Umwandlung einer Strafe zu.«

Langsam begann ich, das Konzept hinter dieser Verschwörung zu erahnen. Allerdings waren mir verschiedene Aspekte weiterhin unklar.

»Dann hatten der Überfall und Breskoffs Vergiftung nichts miteinander zu tun?«, hakte ich nach.

»Nein, das heißt nur indirekt. Wir vermuten, dass das Gerücht von Vladimirs Vergiftung ein möglicher Auslöser für das Attentat war. Außer der Präsenz der Nosferatu und den Anwesenden in diesem Raum weiß niemand, dass es Vladimir war, der sich selbst vergiftete. Diejenigen, die seit Jahren einen neuen Krieg planen, scheinen kalte Füße bekommen zu haben und glaubten, dass es außer ihnen noch eine andere Fraktion gibt, die ihnen zuvorkommen könnte. So ist das eben mit Verschwörern. Sie sind von Natur aus chronisch paranoid veranlagt. Vladimir meinte, dass es ihn amüsiert hätte, wärst du nicht beim Attentat fast ums Leben gekommen. Der alte Mann mochte dich wirklich. Er hat dich wie einen Sohn geliebt.«

»Wenn er so mit einem Sohn umgeht, möchte ich nicht wissen, wie er mit seinen Feinden verfährt.«, warf Simon recht treffend ein.

»Du meinst, weil er versucht hat, Constantin in der Kammer zu verbrennen?«, fragte Laurentius mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen, »Constantin war nie wirklich in Gefahr.«

Laurentius schaute mich fragend an. Ich nickte, weil ich wusste, was er Simon erzählen wollte.

»Unser Chef ist ein gebürtiger Vampir. Kein Mensch, den man in einen Vampir verwandelt hat. Constantin ist der letzte Nachkomme der ursprünglichen Blutlinie unserer Könige, woraus sich sein Anspruch auf den Thron begründet. Als gebürtiger Vampir besitzt Constantin eine natürliche Widerstandskraft gegen Sonnenlicht. Im Gegensatz zu mir, der sich innerhalb weniger Sekunden in Rauch auflöste, kann er der Sonne eine Weile widerstehen, allerdings auch nicht unbegrenzt, weswegen ich sicherstellen musste, dass es einen Fluchtweg gab. Warum besaß die Kammer wohl drei große Sichtfenster? Entschuldige Chef, aber ich konnte es dir vorher nicht sagen. Deine Reaktion musste echt sein. Du musstest glauben, dass Breskoff ein Verräter war, der dich umbringen wollte. Nur so war es möglich, deine urvampirischen Instinkte zu wecken und allen deine erbarmungslose und brutale Seite zu zeigen. Jeder weiß jetzt, dass Fürst Constantin von Varadin bei Verrat kein Erbarmen kennt und selbst einen väterlichen Freund wie Graf Breskoff zur Verantwortung zieht.«

Ich knurrte. Erst Christiano und jetzt auch noch Laurentius und Breskoff. Jeder schien der Meinung zu sein, mich manipulieren und fernsteuern zu müssen. War ich etwa eine Marionette, die man nach belieben tanzen lassen konnte?

»Constantin, es tut mir leid.«, sprach mich Laurentius direkt an, der meine Verärgerung natürlich spürte, »Ich könnte mich damit rausreden, dass ich einem Befehl gefolgt bin, aber das ändert nichts an meiner Verantwortung. Du hast Recht. Ich habe dich hintergangen und bin bereit, deine Strafe dafür zu akzeptieren.«

»Moment!«, hakte ich nach, »Wessen Befehl hast du befolgt? Ich dachte eigentlich, dass ich dein Fürst wäre...«

Der Angesprochene senkte schuldbewusst seinen Kopf: »Das bist du. Du bist mein Fürst, aber dein Vater war es auch. Es war sein ausdrücklicher Wunsch und Befehl, dass ich Breskoff unterstütze. Vladimir hat dir seinen Siegelring gegeben, oder? Erinnerst du dich, was er dazu sagte?«

Oh, ja. Die Stimme des alten, hinterhältigen Sacks hallte immer noch in meinen Ohren nach: »Als zukünftiger Stammvater unserer beider Häuser ist es besser, von bestimmten Dingen nichts zu wissen.«

Taktik und Strategie

Und nun? Konnte ich Laurentius noch vertrauen? Seine Geschichte konnte stimmen oder auch einfach nur gut erfunden sein. Eigentlich wollte ich Laurentius vertrauen. Ich brauchte ihn und außerdem hatte er mir bisher nie einen Anlass gegeben, an seiner Treue zu zweifeln. Allerdings gab es niemanden, der seine Geschichte bestätigen konnte. Sowohl Breskoff, als auch mein Vater lebten nicht mehr. Andererseits ging es mir massiv gegen den Strich, innerhalb eines Tages zweimal den ahnungslosen Hansel gegeben zu haben. Wenn man es streng auslegte, hatten Christiano und Laurentius Verrat begangen, wenn auch aus guter Absicht. Was die beiden voneinander unterschied war, dass ich bei Christiano sicher sein konnte, dass er mich nicht belog.

»Ich würde dir wirklich gerne glauben...«, ich zögerte einen Moment und musterte Laurentius lange, »Aber...«

»Ich weiß.«, unterbrach er mich, »Du kannst nicht wissen, ob ich die Wahrheit spreche. Ich wurde von deinem Vater erweckt, weswegen du nicht fühlen kannst, ob ich lüge. Außerdem weißt du nicht, ob du mir überhaupt noch vertrauen kannst. Ich kann dir nur versichern, dass ich dich nicht belogen habe und es keine weiteren Befehle, weder von deinem Vater noch von Vladimir gibt, die ich befolge. Alles was ich tat, habe ich für dich getan. Hätte ich auch nur eine Sekunde gezweifelt, dass Vladimir gegen dich handelte, hätte ich ihn daran gehindert.«

Das klang alles so vernünftig und konnte trotzdem gelogen sein. Ich musste eine Entscheidung treffen, doch dazu musste ich in Ruhe nachdenken.

»Gut, ich werde mir deine Worte durch den Kopf gehen lassen.«, erklärte ich, »Du wirst meine Entscheidung in deinem Apartment abwarten und unser Simon hier wird dafür sorgen, dass du während ich überlege allein bleibst und mit niemandem Kontakt aufnimmst. Wenn jemand fragt werdet ihr antworten, dass du dich von deiner Einäscherung erholst. Sollte Simon irgendetwas merkwürdig vorkommen, hat er das Recht, Gewalt anzuwenden, notfalls auch tödliche. Ist das soweit klar?«

»Glasklar.«

Laurentius von Simon bewachen zu lassen, war ein Witz. Der Jungspund wäre einem erfahrenen Kämpfer wie meinem Marschall nicht mal ansatzweise gewachsen, käme dieser auf die Idee, sich meiner Anweisung zu widersetzen. In Wirklichkeit ging es auch gar nicht darum, Laurentius aus dem Weg zu bekommen, sondern Simon. Solange die ganze Angelegenheit nicht geklärt war, sollten die beiden aufeinander aufpassen, und wenn sie dies in Laurentius Apartment taten, konnten sie sich dadurch nicht mit den anderen Mitgliedern des Hauses unterhalten und Dinge ausplaudern, die geheim bleiben sollten.

Ein Plan nahm in meinem Hirn Form an, mit dem sich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen lassen sollten. Um Christianos Verbannung noch ein wenig glaubwürdiger zu gestalten, sollte von nun an Simon seine Rolle als mein Betthäschen übernehmen, wofür bisher jeder Christiano hielt. Dazu würde er sich automatisch in meiner Nähe aufhalten, wodurch ich ihn ständig im Auge behalten konnte. Ich hielt Simon zwar für verschwiegen und ging eigentlich nicht davon aus, dass er etwas von dem verriet, was in der Gruft vorgefallen war, doch änderte dies nichts daran, dass der Junge einfach noch viel zu unerfahren war. Ein rhetorisch etwas bewanderter Vampir, der Simon etwas Honig ums Maul schmiert, und der Redefluss des Jungen wäre kaum zu bremsen. Er war einfach viel zu lieb für diese Welt und ich plante alles dafür zu tun, dass es dabei blieb. Desillusionierte, frustrierte oder gar resignierte Leute gab es schon genug.

Der Siegelring Vladimir Breskoffs - Da lag dieses mir etwas zu protzige Teil friedlich auf meinem Schreibtisch. Aber vermutlich bedeutete Protzigkeit eine Grundvoraussetzung dafür, ein guter Siegelring zu sein. Auf der anderen Seite reduzierte sich die Protzigkeit, dachte man an den Symbolgehalt, den der Ring repräsentierte. Dieses Schmuckstück war der Substanz gewordene Herrschaftsanspruch über das Haus Breskoffs. Wer diesen Ring trug, war Graf Breskoff, das heißt, sobald ich ihn mir überstreifte, akzeptierte ich Vladimirs Geschenk und war Graf Constantin Breskoff, Fürst des Hauses Varadin. Welch affig, affektierte Titelkaskade. Jedem anderen Herrscher eines Hauses wäre mit Sicherheit einer abgegangen, ich fühlte mich nur unwohl angesichts dieser Macht. Einer Macht, die ich mir nie gewünscht oder gar angestrebt hatte.

Wie leicht er doch war. Zu leicht!

Ich hielt den Ring in meiner Handfläche. Soweit mir bekannt war, sollte der Ring aus 22 karätigem, massivem Gold bestehen. Er war zwar schwer, aber dafür dann doch nicht schwer genug. Entweder er war nicht echt, oder hohl. Oder beides?

Jemand anderem wäre das fehlende Gewicht wahrscheinlich gar nicht aufgefallen, und mir vermutlich auch nicht, hätte ich nicht auch ein fast identisches Exemplar dieses Rings besessen, nämlich den Siegelring meines Vaters.

»Natürlich!« Vladimir und Paps waren die engsten Freunde gewesen, die man sich vorstellen kann. Ich erinnerte mich. Mein Vater hatte mir vor langer Zeit die Geschichte des Rings erzählt und dabei auch erwähnt, dass Vladimir ein identisches Exemplar besaß. Beide Ringe waren vom gleichen Goldschmied gefertigt worden und sollten die Freundschaft und Verbundenheit der beiden Häuser darstellen.

Die Sache begann mich zu interessieren. Der Ring meines Vaters war schnell aus meinem Bürotresor geholt. Sekunden später lagen beide Ringe in meinen Händen. Einer links, der andere rechts. Breskoffs war wirklich leichter, deutlich leichter, obwohl er die gleiche Form und Abmessungen besaß. Er musste hohl sein. Eine Lupe, die aus wer weiß welchen Gründen immer in meinem Schreibtisch lag, brachte mich auch nicht weiter. Bis auf das Siegel waren beide Ringe absolut identisch. Doch warum sollte mir Breskoff einen hohlen Ring geben?

Moment mal... Was ist das?

Zwischen der Siegelfläche und dem eigentlichen Ringkörper konnte ich mit Hilfe der Lupe einen winzigen Spalt ausmachen, den der Ring meines Vaters nicht besaß. Vladimirs schien aus zwei Teilen zu bestehen. Mir kam eine Idee, die ich sofort in die Tat umsetzte. Und tatsächlich, das Siegel ließ sich abschrauben. Der Ring war eine perfekte Nachbildung des Originals, einzig angefertigt, um ein winziges Geheimfach zu beherbergen. Eine kleine MicroSD-Karte fiel heraus. Und da soll noch mal jemand behaupten, Vampire seien altmodisch. Auf den 8GB Chip passten massenweise Daten.

Vielleicht war ich mit meinem Urteil ein wenig zu voreilig gewesen. Wenn dieser Ring auch nicht das Original war, repräsentierte er weit mehr Breskoffs Macht, als dies der echte Siegelring jemals konnte. Der Speicherchip war das Haus Breskoff. Die 8GB Kapazität waren bis aufs letzte Byte ausgenutzt, wobei es eine Weile brauchte, das Kennwort zu erraten, mit dem die Daten verschlüsselt waren.

Ich ging von der Vermutung aus, dass Breskoff wollte, dass ich das Geheimnis des Rings entdeckte und die Speicherkarte fand. In diesem Fall musste sie mit einem Kennwort gesichert sein, das ich erraten konnte. Vladimir und Breskoff waren zu simpel und funktionierten natürlich nicht. Es musste schon ein etwas komplexerer Begriff sein, etwas, auf das man nicht sofort kam. Der Vorname meines Vaters? Nein. Freund? Freundschaft? Auch nicht. Breskoffs Mitverschwörer Laurentius? Nein.

Eine geschlagene Stunde brütete ich über dem Passwort und kam nicht weiter. Ich hatte hunderte Begriffe probiert, doch nichts wollte funktionieren. Ich war kurz davor, den alten Sack zu verfluchen. Wenn er wollte, dass ich sein Haus übernahm, hätte er die Sache ein klein wenig simpler gestalten können. Schließlich hatte er davon gesprochen, mir die Sache schmackhaft zu machen. Schmackhaft?

Moment, was hatte Vladimir gesagt, als er mir den Ring gab? Die Kontostände würden mir das Haus Breskoff schmackhaft machen? Kontostand?

Jackpot! Oh dieser alte Fuchs. Bei ihm musste man wirklich auf jedes Wort achten. Hatte er mir das Kennwort doch tatsächlich mitgeteilt, ohne dass ein zufälliger, oder was wahrscheinlicher war, ein heimlicher Zuhörer es bemerkt hätte. Respekt!

Vor mir entfalteten sich Daten über Daten, angefangen bei Tabellen mit Banken, Kontonummern und den dazugehörigen Geheimzahlen, über Berichte von Firmenbeteiligungen zu umfangreichen Dossiers über Gott und die Welt. Doch am meisten interessierte mich eine Datei, die sich direkt im obersten Ordner befand und mit »Lieber Constantin« benannt war.


Lieber Constantin, wenn du diese Zeilen liest, bin ich wahrscheinlich tot und wenn alles so geklappt hat, wie ich es geplant habe, erfolgte mein Ableben durch deine Hand. Dieser Speicherchip ist mein Vermächtnis an dich. Er enthält alles, was das Haus Breskopol war und ist. Was aus meinem Haus wird, bestimmst allein du. Ich weiß, dass es in deinen Händen gut aufgehoben sein wird.

Constantin, egal was du von mir denken magst, du warst für mich immer der Sohn, der mir nie vergönnt war. Dich zu hintergehen, dir nicht die Wahrheit zu sagen, war die schwerste Entscheidung, die ich seit langer Zeit treffen musste. Aber es war nötig.

Ich kann nicht wissen, in welcher Situation du diese Nachricht lesen wirst und ob Laurentius noch am Leben ist. Deswegen werde ich mit meiner Beichte am Anfang beginnen. Das Gift, das mich töten sollte, habe ich selbst genommen. Du wirst dich sicherlich fragen warum, und es für einen selbstsüchtigen Akt halten, aber in Wirklichkeit war es ein Akt der Verzweiflung.

Constantin, ich war krank. Niemand wusste es, aber ich litt unter dem Vladsyndrom. Du kennst die Auswirkungen, jeder Vampir kennt sie; Wahnsinn, vergessen und Verlust der Identität. Jetzt weißt du, warum ich nie eigenen Nachwuchs bekommen habe. Das Vladsyndrom wird nicht nur vererbt, es verstärkt sich auch mit jeder weiteren Generation. Ich konnte mich glücklich schätzen, so viele Jahrhunderte keine Symptome zu zeigen, doch in den letzten Monaten änderte sich mein Zustand. Ich musste etwas unternehmen, bevor mir die Krankheit den Verstand raubte. Ich musste dafür sorgen, dass mein Haus mit all seinen treuen und guten Menschen und Vampiren weiter besteht. Außerdem wollte ich mit Würde die Bühne unserer Welt verlassen und dir gleichzeitig den Weg zum Thron ein klein wenig ebenen.

Jetzt kennst du mein kleines Geheimnis und musst selbst urteilen, ob meine Motive zu eigensüchtig waren, als dass man mir verzeihen könnte. Ja, ich habe dich benutzt und ich habe Laurentius benutzt. Dein guter Marschall war immer noch an ein Wort gebunden, das er vor langer Zeit deinem Vater gab, nämlich mir zu helfen, sollte ich dies wünschen. Richte nicht zu hart über ihn, denn er hatte in dieser Sache keine Wahl.

Constantin, mein Junge, höre auf meine Worte. Wir Vampire stehen an einem Scheideweg. Etwas sehr dunkles braut sich über uns zusammen. Es geht nicht mehr darum, welches Haus den größten Einfluss im Rat besitzt, es geht auch nicht um das Wiederaufflammen einer jahrhundertealten Fehde, die nur zu einem neuen Krieg zwischen den Häusern führen würde. Dies sind alles nur Geplänkel und Schattengefechte, die vom wahren Ziel ablenken sollen. Es geht um mehr. Deswegen war es so wichtig, dem Rat einen Thronfolger zu präsentieren, der neben Intelligenz, Weisheit und Güte auch die nötige Härte und Brutalität besitzt, die die Königswürde der Vampire erfordert. Mir fehlt die Kraft dazu, aber du, lieber Constantin, du bist jung, stark und besitzt die Weisheit deiner Familie. Du musst uns retten, uns alle!

Mein lieber Constantin, es tut mir leid, dir nicht mehr mit Rat und Hilfe beistehen zu können, doch wo immer ich hingehe, meine Gedanken werden dich immer begleiten. Dein Vater wäre sehr, sehr stolz auf dich, könnte er sehen, wie weit du es gebracht hast.

In väterlich-freundschaftlicher Liebe Vladimir Breskoff


Er hatte sich geopfert. Mit zitternden Händen hielt ich Vladimirs Brief in den Händen. Er hatte sich geopfert, zwar teilweise aus dem Wunsch heraus, nicht dem Vladsyndrom zu erliegen, aber auch, um mir den Weg zu eben. Dieser Brief, eigentlich der ganze Speicherchip, war Breskoffs Testament und letzter Wille. Letzter Wille... oh, dieser alte Fuchs war böse, mir so nebenbei die Aufgabe zu übertragen, kurzerhand die Welt zu retten. Danke aber auch! Vielen, vielen Dank!

Das Vladsyndrom - Ich wusste nicht, dass Vladimir daran erkrankt war. Wahrscheinlich wusste außer seinem Leibarzt niemand etwas davon. Für einen Vampir gab es kaum eine Angst einflößendere Krankheit, als der Fluch Graf Vlads, dem Pfähler. Sein Wahnsinn war dafür verantwortlich, dass man uns verfolgte, jagte und tötete. An ihr zu leiden oder auch nur die Präposition zu besitzen, daran erkranken zu können, galt als große Schande. Hätte auch nur ein Mitglied des Rats der Häuser geahnt, dass Breskoff darunter litt, hätte man seine Regentschaft in Sekunden zählen können. Natürlich sah ich auch in diesem Fall die Sache etwas anders. Das Vladsyndrom war sicherlich eine heimtückische Krankheit, weil man nie sagen konnte, ob und wann sie ausbrach. Es war gut möglich, mehrere hundert Jahre symptomlos zu sein, während der nächste bereits nach zwei oder drei Jahren die Murmeln abgab. Trotzdem war das noch lange kein Grund, jemanden dafür zu ächten, nur weil der Rat es damals versäumte, oder einfach nicht dem Mut aufbrachte, Graf Vlad Einhalt zu gebieten. Das Vladsyndrom war somit viel mehr eine Schande des Rats, als die eines seiner Opfer.

Breskoff wollte mich also nicht umbringen. Ich war also doch nicht von lauter Verrätern umgeben. Andererseits konnte ich weder Christianos noch Laurentius Eigenmächtigkeiten ignorieren. Wie edel und selbstlos ihre Motive auch sein mochten, sie hatten mich hintergangen und ich musste für mich entscheiden, ob ich damit leben und es akzeptieren konnte.

»Holt mir Chistiano noch mal her!«, teilte ich wem auch immer mit, der gerade am anderen Ende der Rufanlage hockte. Fünf Minuten später stand die bewusste Person vor mir. Auf mein Handzeichen hin verließen uns seine Wachen und wir waren allein.

»Ich sehe, man hat dich trinken lassen?«

Christiano sah erholt aus. Die Wunden waren verschwunden, was auf eine Blutmahlzeit hindeutete.

»Ja, danke.«, kam es unsicher als Antwort. Christiano schien sich nicht sicher zu sein, warum er innerhalb weniger Stunden erneut zu mir beordert wurde.

»Ich habe nachgedacht.«, begann ich langsam und mit beunruhigendem Ernst in der Stimme, »Du lagst mit deiner Vermutung, Laurentius könnte ein paar interessante Antworten besitzen, vollkommen richtig. Wie du, hat er auch hinter meinem Rücken gehandelt, wenn auch aus Verpflichtung meinem Vater gegenüber.«

Er zitterte. Christiano zitterte, ganz leicht, kaum zu sehen. Er hatte Angst vor mir. Gut, denn diese Sache musste ich ein für alle mal klarstellen.

»Zwei meiner engsten Freunde, denn so sehe ich euch in erster Linie, haben mich hintergangen. Ich weiß, ich weiß...«, erstickte ich aufkeimenden Protest, »Ihr habt nur in meinem, im Interesse des Hauses gehandelt. Christiano, ich weiß, wozu du bereit bist. Ich vermute, du würdest dich genauso wie Laurentius in dein eigenes Schwert stürzen, würde ich es von dir verlangen. Ich weiß das. Trotzdem, du musst mir schwören, mich nie wieder zu hintergehen. Bei allen strategischen Vorteilen, die dein Verhalten uns erbracht hat, darf sich so eine Sache nie wiederholen. Ist das klar?«

War ich zu hart? Vielleicht, aber Christiano musste diese Lektion lernen, auch wenn es bedeutete, dass ihm die Tränen in den Augen standen. Aus großen, traurigen Augen schaute er mich an. Ich wusste, warum ihm die Tränen die Wangen runter liefen. Ich kannte ihn. Außerdem konnte ich es spüren. Es war die pure Verzweiflung, mich enttäuscht zu haben. Gut so.

»Es... es...«, stammelte Christiano, »Es tut mir leid. Bitte, Constantin, verzeih mir. Ich werde so etwas niemals wieder tun. Wirklich! Ich schwöre!«

Ich hatte ihn da, wo ich ihn haben wollte. Eine Sache musste ich noch tun. Mit fester Stimme rief ich in die Gegensprechanlage: »Wache!«

Sekunden später standen zwei Kleiderschränke in meinem Büro und schauten mich fragend an.

»Christiano wird unser Haus morgen verlassen. Sein Apartment wird versiegelt und die Schlüssel mir ausgehändigt. Den restlichen Tag wird er in einer Zelle verbringen, bis wir ihn morgen Nacht aus unseren Reihen verbannen werden. Das ist im Moment alles. Ich werde noch ein paar Dinge mit diesem... Subjekt erörtern. Sobald wir fertig sind, werde ich euch wieder rufen.«

Die Wachen verließen uns. Christiano starrte mich entsetzt an. Ich konnte sehen, dass er darum kämpfen musste, nicht vollends die Fassung zu verlieren. Genau in diesem Moment entschied ich mich, ihn breit anzugrinsen.

»Und, was hältst du von meiner Variante, deine Verbannung noch etwas glaubwürdiger zu gestalten? Wie du so treffend sagtest, man kann keinen Streit inszenieren. Ich dachte mir, dass dies möglicherweise auch für das Urteil deiner Verbannung gilt. Ich glaube, unseren beiden Wächterfreunden hast du eine sehr überzeugende Vorstellung geliefert.«

Christiano schluckte: »Ich vermute, das hab ich verdient, oder?«

Ich lächelte freundlich, aber nicht triumphierend, und winkte meinen Freund zu mir heran, um ihn tröstend in den Arm zu nehmen.

»Nein, ich glaube nicht. Ich war grausam und habe mit deinen Gefühlen gespielt. Aber es war wichtig, dass du verstehst, wie ich mich gefühlt habe.«

»Dann ist alles wieder gut zwischen uns?«, kam eine ängstliche Frage, die ich mit einer engen, warmen, liebevollen Umarmung beantwortete, die mehr sagte als tausend Worte.

Frühstück - FLORIAN

»Schwul?«, rief der neue Azubi und klang dabei hocherfreut, »Bruder, komm in meine Arme. Ich hatte schon befürchtet, ich wäre die einzige Schwester in diesem Laden. Wie heißt du eigentlich? Ich bin Christiano.«

Ich weiß nicht, ob allgemein bekannt ist, wie so ein Aufenthaltsraum eines Handwerksbetriebes typischerweise aussieht. Von einem gestalteten Raum konnte man nicht wirklich sprechen. Unser Exemplar durfte durchaus als typischer Vertreter seiner Art gelten. Wohlwollende Gemüter belegten unser Domizil mit dem Attribut zweckdienlich. Obwohl sich die 18m² eher spröde gaben, war unser Aufenthaltsraum das Kommunikationszentrum und allgemeiner Treffpunkt der Firma. Hauptsächlich dominierte ihn ein großer, grobschlächtiger Tisch mit drei Bänken, an dem locker 12 Leute Platz fanden. Zurzeit hockten nur sieben Kollegen, die während sie auf ihren Einsatz warteten, ein zweites Frühstück einnahmen. Obwohl... die Beschreibung ist nicht ganz korrekt. In jenem Moment waren sie damit beschäftigt, unseren neuen Kollegen aus weit aufgerissenen Augen entsetzt anzustarren. Der Vorgang der Nahrungsaufnahme wurde zu diesem Zweck unterbrochen. Männer gelten gemeinhin nicht als multitaskingfähig.

Andreas, einer der sieben Kollegen, durchbrach die plötzliche Stille mit einer Hustenattacke. Offenbar war ihm der Bedeutungsgehalt von Christianos Bemerkung mitten beim Schlucken aufgegangen. Kleine, halbherzig gekaute Butterbrotstückchen flogen quer über den Tisch. Käse-Schinken, der Farbe und Konsistenz nach zu urteilen. Von dieser ebenso unerwarteten wie lautstarken Eruption aus der eigenen katatonischen Starre befreit, zuckte Marco, ein Kollege meines neuen Teams, erschrocken zusammen und verteilte dabei den Inhalt seines Kaffeebechers, den er zwar in seinen Händen hielt, aber dessen Existenz vollkommen verdrängt hatte, über die Käse-Schinken-Mischbrotstücken auf der Tischplatte.

»Shit!«, kam es daher recht treffend vom Tisch geschallt.

Ich bekam von alledem nur am Rande etwas mit, hatten mich doch die Frage unseres neuen Azubis und vor allem seine Augen gefesselt und meine Umwelt vergessen lassen. Schließlich war die Frage an mich gerichtet, wie man an Christianos wohlwollend abwartender Haltung mir gegenüber ablesen konnte.

Du solltest ihm antworten, schlug jener Teil meines Hirns vor, welches noch nicht getilt hatte. Getilt? Völlig aus dem Zusammenhang faltete sich die entsprechende Begriffserklärung in meinem Kopf auf. Tilt kommt von Kippen oder Neigen und beschreibt einen Foulversuch beim Flippern, durch eben jenes Kippen, Neigen oder Stoßen des Spielgeräts. Eingebaute Neigungs- und Stoßsensoren, sinnigerweise auch Tiltswitches genannt, registrieren jeden Manipulationsversuch und killen den Ball. Im Display leuchtet dann das Wort »Tilt« auf. Wieso wusste ich sowas und vor allen Dingen, woher?

Irgendwie hatte ich den Eindruck, ebenfalls gekippt, geneigt oder gestoßen worden zu sein, denn mein inneres Tiltlämpchen war hell erleuchtet.

»Äh...« Es ging auch schon mal elaborierter. Aber nicht in diesem Moment. Vor mir stand ein Typ, der dem abgeschmackten Begriff »Sexgott« eine Frischzellenkur verpasste. Azubi Christiano sah einfach teuflisch gut aus. Ich glaube, ich hatte schon erwähnt, dass er seine Zimmermannshose, so eine mit zwei Messingreißverschlüssen und Hosenlatz, dermaßen lasziv auf seinen Hüftknochen trug, dass es schon obszön war? Sein gesamtes Auftreten schrammte haarscharf an der Grenze zum gesellschaftlich akzeptierten vorbei. Nicht etwa, dass sein T-Shirt sonderlich knapp geschnitten wäre. Mein Gott, jede und jeder Siebtklässler zeigte mehr Bauch. Allerdings zeigten die eher schwabbelige Fleischmassen, während dieser Christiano... Nun, für jeden mit ausreichender Sehkraft gesegneten Menschen dürften selbst bei einem beiläufigen Blick alle Fragen bezüglich Christianos Anatomie beantwortet sein.

Viel schlimmer als sein Aussehen empfand ich, dass der Typ ganz genau wusste, welche Wirkung er auf mich und mein Fortpflanzungsorgan entfaltete. Dabei wirkte unser neuer Azubi nicht direkt schwul, jedenfalls nicht, wenn man die Maßstäbe der landläufigen Klischees anlegte. Obwohl er mich auf fast unerträglich sexuell erregende Weise anstrahlte und dabei wirklich sanft, weich und fast schon liebevoll rüber kam, blieb er vollkommen männlich, fast schon kerlig. Vielleicht war dies der Grund dafür, dass meine Kollegen bisher nicht mal ansatzweise an die Möglichkeit gedacht hatten, der Typ könnte schwul sein.

Pfeffer und Salz - Besser konnte man den Unterschied zwischen Christiano und mir nicht beschreiben. Während ich mit blondem Engelshaar verflucht - oder gesegnet? war, präsentierte er sich mit kohlrabenschwarzem Haupthaar. Meine Haut war hell, wenn auch nicht blass, seine dunkel, Bronze. Er strahlte mich freudig und erwartungsvoll an, ich strahlte panisch und planlos zurück.

»Ähm?«, griff der Typ meinen hochgeistigen Erguss auf und lächelte mich noch einen Tick freundlicher und zusätzlich amüsiert an, »Dir hat es doch nicht etwa die Sprache verschlagen, oder?«

»Ich... also... doch, ein wenig. Ich...«, stammelte ich drauf los.

»Hey, kein Grund schüchtern zu sein. Ich beiße dich schon nicht.«

Dieses eine Verb, beißen, es ließ mich zusammenzucken. Ein heißer, sexueller Schauer lief mir über den Rücken. Insbesondere, als Christiano breit zu grinsen begann, dabei seine Zähne entblößte und dabei auffällig lange Eckzähne aufblitzten.

»Ich...«

Weiter kam ich nicht, da sich im gleichen Moment Mario zu Wort meldete.

»Verfuckte Scheiße, noch so ein Schwanzlutscher.«

Dem Gesichtsausdruck nach schien der Kollege von Christianos sexueller Orientierung nicht wirklich begeistert zu sein. Erstaunlicherweise hielten sich die restlichen Kollegen am Frühstückstisch zurück. Selbst Andreas, der versuchte, mit Hilfe eines feuchten Lappens sein versprühtes Käse-Schinken-Brötchen wieder zusammenzukehren, wirkte in erster Linie neugierig.

Gespannte Erwartung lag in der Luft. Alle Augen ruhten auf Christiano, während ich vollkommen vergessen, oder wie üblich ignoriert wurde.

»Habt ihr noch Kaffee?«, ließ sich das Ziel der Neugierde verlauten, während er, als wäre Marios Bemerkung nie gefallen, zum Tisch schlenderte und sich auf einem der freien Plätze niederließ, sich einen Kaffeebecher und die Kaffeekanne schnappte. Noch nie hatte der eher simple Vorgang des Kaffee-in-Kaffebecher-Eingießens so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, wie bei Christiano.

»Mario, dir liegt etwas auf dem Herzen?«, fragte unser neuer Azubi zuckersüß, ohne dabei auch nur ansatzweise schwuppig rüber zu kommen.

Statt direkt zu antworten, starrte Mario Christiano mit unverhohlener Abscheu an, schaffte es aber nicht, ihn niederzustarren. Der restliche Trupp starrte mit, ebenso unverhohlen, aber voller Sensationslust. Es war genau so, wie ich immer vermutet hatte. Der überwiegende Teil meiner Kollegen waren jämmerliche Mitläufer.

»Komm, spuck's aus.«, forderte Christiano Mario heraus.

»Du...!«, erhob Mario sowohl Stimme als auch Zeigefinger, wurde dann aber von ersterem verlassen. Man konnte sehen, er wollte so viel sagen, nur fehlten ihm die Worte.

»Darf ich dir behilflich sein?«, fragte Christiano freundlich, »Dir geht es gegen den Strich, dass ich schwul bin. Nein, warte! Dich widert es an, nicht wahr? Du findest es krank, geradezu pervers. Die Vorstellung, die gleiche Luft mit mir atmen zu müssen, erweckt Ekel und Brechreiz. Ich kenne das. Stell dir vor, mir geht es wie dir. Typen wie dich finde ich einfach nur abartig und völlig krank. Es ist wirklich eine Zumutung, die Luft mit jemandem teilen zu müssen, der seine Engstirnigkeit zum Maß aller Dinge macht.«

Nein, es war nicht totenstill. Dafür knisterte die Luft am Tisch deutlich zu laut. Alle Augen waren auf Mario gerichtet. Jeder schien fest damit zu rechnen, dass er handgreiflich wurde und Christiano eine semmelte, doch stattdessen stand er nur auf, kletterte von der Sitzbank und verließ den Aufenthaltsraum unter Knurren.

»Mach doch was du willst, aber schwul mich nicht an.«

Mit diesem wenig spektakulären Abgang verloren wir das Objekt unseres Interesses, weswegen wir uns ein neues suchten. Christiano blieb natürlich nicht verborgen, dass nun er im Mittelpunkt stand. Er zuckte mit den Schultern und spielte den Ahnungslosen.

»Was?«, fragte er, als könnte er kein Wässerchen trüben, »Er hat angefangen!«

»Bist du wirklich schwul?«, kam es unerwartet und eher unsicher von Jan, einem der drei Kollegen, die zu meinem Team gehörten.

»Sieht man das nicht?«, lachte Christiano, wurde dann aber einen Tick ernster, »Aber ja, ich bin schwul.«

»Das gibst du einfach zu?«, hakte Marco, der andere Kollege meines Teams, verblüfft nach.

»Sicher«, meinte Christiano und tat so, als wenn es das Selbstverständlichste der Welt sei, so etwas in einer Umgebung wie unserer offen homophoben Firma zuzugeben.

»Ok...«, kam es unsicher, was aber nicht bedeutete, dass Marco Christianos Enthusiasmus teilte, sondern nur, dass er nicht wusste, wie er mit Christianos Offenheit umgehen sollte. Marco und seine Kollegen waren es nicht gewohnt, dass man ihren Sticheleien und Mobbingversuchen etwas entgegensetzte.

»Ihr scheint mir überrascht...«

Unser neuer Kollege war unheimlich. Er klang nicht sonderlich ernst, sein Miene wirkte fröhlich, gar ausgelassen, und trotzdem hatte seine Stimme, sein ganzes Auftreten etwas zwingendes. Christiano fesselte uns, brachte uns dazu, ihm aufmerksam zuzuhören, was wirklich überraschend war. Ich kannte meine Kollegen. Einer Schwuchtel zuzuhören war wahrscheinlich das Letzte, was sie wollten, und trotzdem hingen sie an seinen Lippen.

»Ich möchte euch etwas erzählen.«, fuhr Christiano fort, »Ich bin schwul. Punkt. Ich weiß zwar nicht, warum das so wichtig sein sollte, aber euch scheint das Thema ja sehr wichtig zu sein. Ich kann nur sagen: Lebt damit, akzeptiert es und versucht erst gar nicht, mich deswegen anzumachen. Es würde eh nicht funktionieren. Ich halte euch zwar für ein friedliches Völkchen, trotzdem: es wäre eine ausgesprochen dumme Idee, mich mobben zu wollen oder gar... nun, sagen wir mal physischen Druck gegen mich anzuwenden.«

Wir zuckten zusammen. Christiano wirkte eigentlich ganz harmlos. Er war ein ganz normaler Typ von Mitte zwanzig. Er sah zwar sehr attraktiv aus und war auch gut gebaut, aber ein Brecher, ein Muskeltier, das es locker mit einem ganzen Trupp aufnehmen konnte, war er beileibe nicht. Und doch zweifelte niemand am Tisch, dass er es mit jedem von uns aufnehmen konnte. Wir wussten zwar nicht wie, waren uns aber sicher, dass Christiano uns körperlich haushoch überlegen war. Diesen Typen umgab eine Aura von Stärke, Dominanz und Überlegenheit, die einfach unheimlich war. Auch weil er sie nach Lust und Laune an und abschalten konnte. Während er uns davor warnte, ihn zu mobben, wirkte er regelrecht unnahbar, um Sekunden später wieder der ganz normale, kumpelhafte Typ zu sein.

»Nachdem wir das geklärt hätten«, Christiano richtete einen fröhlich strahlenden Blick auf mich, »Du bist also mein Chef.«

»Nein, nein...«, stammelte ich überrumpelt, »Nur Obermonteur auf Probe. Wenn der Job schief geht, bin ich der, der die Schuld hat.«

»Na, dann sollten wir dafür sorgen, dass der Job nicht schief geht, oder?«, meinte Christiano und schaute Marco und Jan an, die anderen beiden Kollegen unseres Teams.

»Ähm, ja... klar...«, stammelte Marco.

»Sicher...«, brummelte Jan wenig enthusiastisch.

»Was denn?«, hakte Christiano nach, »Ihr wollt... sag' ma', wie heißt du eigentlich?«

»Florian.«

»Ihr wollte doch Florian nicht hängen lassen, oder?« Unser neuer Kollege fuchtelte mit seinem Zeigefinger zwischen Jan und Marco hin und her: »Moment mal, ihr zwei seid doch nicht etwa solche kleinen Arschlöcher, die unserem lieben Florian hier das Leben schwer machen, oder?«

»Ähm...«, meinte Jan.

»Öhm...«, kam es von Marco.

Stille kam von den anderen Kollegen am Tisch, die sichtlich froh waren, sich gerade nicht im Fokus Christianos zu befinden. Doch da hatten sie sich zu früh gefreut. Der neue Kollege ließ seinen Blick wandern.

»Sag mal, Florian, machen dich die Typen hier etwa blöd an?«

Ich sagte nichts, sondern schaute nur ängstlich, schüchtern vor mir auf den Tisch. Dabei hätte ich liebend gerne losgebrüllt und meiner Seele Luft gemacht, diesen Arschlöchern endlich mal gesagt, was ich von ihren permanenten Übergriffen hielt.

»Ah, ich verstehe.«, meinte Christiano, »Hat man dich eigentlich mal gefragt, ob du überhaupt schwul bist?«

»Natürlich ist der Typ schwul!«, platzte es aus Mark, einem der Kollegen heraus, »Das sieht man doch!«

»Hat man dich jemals direkt gefragt?«, bohrte Florian nach.

Ich schüttelte den Kopf, schaute ihn aber nicht an.

»Ah ja, so ist das also...«

Köpfe waschen

Man kann nicht sagen, dass Christiano direkt pampig war, auch nicht gepestet, allerdings ließ er meine Kollegen deutlich spüren, dass er ihr Verhalten nicht wirklich prickelnd fand. Er sagte zwar nichts, aber jeder fühlte sich unbehaglich.

Wie schaffte dieser Typ das? Ich meine, der Typ war neu. Ich wusste zwar nicht, wie lange er schon für Niederreuter tätig war, aber länger als drei Wochen konnte es nicht sein. Wie stellte dieser Typ es als Azubi an, dass sich selbst gestandene Kollegen mies fühlten, wenn er sauer auf sie war? Hey, der Typ war sogar offen schwul und genoss, wenn man einmal von Mario absah, so was wie Respekt, während ich, der es nie zugegeben hatte, regelmäßig gemobbt wurde. Was das fair?

Am liebsten wäre ich auf Christiano eifersüchtig gewesen. Es gelang mir nicht. Ich wünschte mir, so stark und souverän zu sein. Neiden tat ich es ihm aber nicht. Viel mehr bewunderte ich Christiano. Er schien genau zu wissen, wie mit sturen und engstirnigen Typen umzugehen war. Mehr oder weniger, fraß man ihm aus der Hand.

»Ich glaube, wir sollten so langsam mal los.«

Es war Zeit, unseren Auftrag in Angriff zu nehmen. Ich schätzte, dass wenn wir langsam damit begannen, Werkzeug und Material einzuladen und uns dann auf den Weg machten, rechtzeitig zum vereinbarten Termin beim Kunden aufschlugen.

»Du bist der Boss!«, verkündete Christiano sofort und kam damit den zu erwartenden mauligen Bemerkungen meiner beiden anderen Kollegen zuvor. Jan nickte dann auch zustimmend.

»Gib mir mal die Materialliste. Ich hol das Zeug aus dem Lager.«, meinte er knapp. Meinen Vornamen brachte er nicht über die Lippen.

Marco seufzte: »Ok, dann kümmere ich mich ums Werkzeug.«

Nachdem ich den beiden je eine Liste mit Material- und Werkzeugauszug ausgehändigt hatte, standen sie auf und schwirrten ab. Dies wurde als allgemeines Aufbruchssignal gewertet. Keine zwei Minuten später saßen Christiano und ich allein am Tisch.

»Danke!«, meinte ich ebenso knapp wie unsicher, während ich den Arbeitsplan studierte. Die Deckenrekonstruktion war alles andere als trivial.

»Weswegen?«, erwiderte Christiano, »Dass ich dein Mobbing vorerst gestoppt habe? Gern geschehen. Aber statt sich bei mir zu bedanken, sollten sich die Arschlöcher bei dir entschuldigen. Darf ich dir eine persönliche Frage stellen?«

»Schieß los!«

»Bist du schwul?«

»Weißt du, dass du der erste bist, der mich das fragt?«, ich seufzte, »Jeder in diesem Laden, von Niederreuter mal abgesehen, geht davon aus, dass ich schwul bin. Florian, das zerbrechliche Püppchen. Typen wie ich, mit blondgelockter Engelsmiene, müssen ja schwul sein.«

Christiano musterte mich einen Moment und schmunzelte dabei: »Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

»Stimmt.«, erwiderte ich breit grinsend.

Christiano hatte sich geoutet. Hieß das, ich sollte mich ebenfalls outen, wenn auch nur ihm gegenüber. Ich war mir alles andere als sicher, ob dies eine gute oder eine schlechte Idee war. Nicht, dass ich eine Liste mit Punkten zum für und wider einer solchen Aktion pflegte. Den das hieße, die ganze Angelegenheit aus einer rein rationalen Perspektive zu betrachten.

Hallo? Rationalität? Worüber diskutiere ich? Seitdem ich wusste, dass ich auf Männer stand, kämpfte ich dagegen an, mir vor Angst in die Hosen zu scheißen, jemand könnte mein Geheimnis entdecken. Nicht gerade die beste Voraussetzung, um das Thema sachlich zu erörtern, oder? Eine über Jahre sorgsam gehegte und gepflegte Paranoia legt man eben nicht innerhalb einer Stunde ab. Da konnte Christiano noch so schwul, noch so attraktiv und mir noch so wohlwollend gesonnen sein, ich hielt mich lieber zurück.

Dabei war objektiv betrachtet meine Panik vollkommen irreal und mehr als nur absurd. Wenn mich eh schon jeder für schwul hielt, warum dann noch verstecken?

»Du heißt also Florian?«, riss mich Christiano aus meinen Gedanken. Offenbar hatte er das Thema ebenfalls fallen gelassen.

»Yupp!«, ließ ich mich hinreißen, meinen Namen zu verraten und Christiano die Hand zur nun offiziellen Begrüßung zu reichen. Sie wurde freudig ergriffen.

»Florian.«, strahlte mich unser neuer Azubi an, »Freut mich, dich kennen zu lernen. Ich bin Christiano.«

»Spanier?« Die Frage rutschte ohne nachdenken einfach so raus. Christiano zuckte zusammen und verzog das Gesicht, als hätte er sich auf die Zunge gebissen.

»Portugiese.«, seufzte der junge Mann.

»Entschuldige, ich wollte deinen Nationalstolz nicht kränken.« Der fauxpas war zwar peinlich, trotzdem konnte ich mir ein leises Schmunzeln nicht verkneifen.

»Ach, schon gut. Den Fehler macht jeder. Außerdem ist es eine Ewigkeit her, seit ich das letzte Mal meine Heimat besucht habe.« spielte Christiano das Thema herunter. Sein wehmütiger Blick sagte etwas anderes. Er vermisste Portugal, das war mehr als offensichtlich, doch die Stärke, mit der er es tat, überraschte mich. Ich kannte diese Art sehnsüchtigen Blick von meinem Großvater, wenn er von seiner alten Heimat sprach. Nur war mein Opa 87 Jahre alt und hatte seinen Geburtsort mehr als 70 Jahre nicht mehr gesehen. Christiano war bestenfalls 25 Jahre alt.

»Und du?«

Verlegenes Schulterzucken: »Ich bin in diesem Kaff geboren, ging hier zur Schule, zur Lehre und bin jetzt Geselle. Ziemlich unspektakulär, oder? Als meine Mutter noch lebte, sind wir mal nach Spanien geflogen. Ich war damals allerdings noch sehr klein und kann mich kaum noch erinnern. Sonst bin ich über den nächsten Landkreis nie hinausgekommen.« Wie mir die Worte so aus dem Mund sprudelten, begriff ich, wie jämmerlich mein Leben war. Was ich da erzählte, musste nach einem totalen Langweiler klingen.

»Ziemlich bodenständig, wie?«, lachte Christiano und klopfte mir kumpelhaft auf die Schulter, »Ich glaub', wir können aufbrechen.«

»Aufbrechen?«

»Unser Arbeitsauftrag.«, Christiano zeigte auf meinen Unterlagenstapel, »Unsere beiden Knalltüten von Kollegen sollten mit Materialeinladen eigentlich fertig sein.«

Genau so war es. Jan hatte nicht nur das Material aus dem Lager geholt, sondern es im Werkstattwagen verstaut und dabei sogar seinen Verstand eingesetzt. Marco wiederum hatte sich tatsächlich um das Werkzeug gekümmert. Wir waren abfahrbereit.

»Wer fährt?«, fragte ich in die Runde.

»Frag doch nicht so blöd. Du natürlich. Du spielst doch den Chef.«, maulte Marco.

»Hallo?«, mir riss der Geduldsfaden, »Was hab ich jetzt wieder falsch gemacht, dass ihr mich wieder anmacht?«

»Oh, Flo, hör auf mit dem Scheiß!«, kam es gepestet von Jan, »Was willst du uns erzählen? Dass du die Karre nicht fahren willst? Also bitte, der Witz ist so alt, dass ihn schon mein Großvater kannte.«

Ich verstand nur Bahnhof. Wenn ich mich nicht täuschte, hatte ich eigentlich nur die eher unverfängliche Frage gestellt, wer den Transporter durch den Verkehr steuern sollte. Einen Anlass für eine Staatsaffäre konnte ich dabei beim besten Willen nicht entdecken.

»Ok, macht das unter euch aus.«, knurrte ich resigniert. Bei den Typen ein Bein auf den Boden zu bekommen, war unmöglich. Entnervt und frustriert kletterte ich auf die Beifahrerbank.

»Wie?«, Jan runzelte die Stirn, »Du meinst das ernst? Du willst echt nicht selber fahren?«

Ich verstand immer noch nicht, was die Typen eigentlich von mir wollten. Es war hoffnungslos.

»Natürlich mein ich es ernst.«, da konnte man nur mit dem Kopf schütteln, »Wenn die Herren dann bitte einsteigen würden. Für den Fall, dass ihr es vergessen habt, aber da wartet noch ein Kunde auf seine neue Decke.«

Warum auch immer, aber diese Bemerkung bremste die beiden Kollegen aus. Schweigend kletterten sie ebenfalls in die Kabine. Marco klemmte sich hinters Lenkrad, Jan, Christiano und ich hockten auf der Bank. Wir starteten - endlich!

»Kennst du die Regel wirklich nicht?«, fragte Marco fast vorsichtig.

»Leute, ihr sprecht in Rätseln. Welche Regel?«

»Der Chef fährt!«, rezitierte Jan knapp, »Momsens Regel Nummer 1«

»Was ist das denn für eine schwachsinnige Regel. Ist es nicht egal, wer diese Kiste kutschiert?«, mischte sich Christiano ein.

Im Prinzip musste ich unserem Azubi Recht geben. Objektiv betrachtet war es völlig egal, wer den Transporter fuhr. In einem Laden wie Niederreuters, mit seiner brutalen Hackordnung, kam das Recht, den Werkstattwagen zu fahren einem Ritterschlag frei. Langsam dämmerte mir, was meine Kollegen so aufbrachte. Sie mussten meine Frage für eine Provokation gehalten haben. Sie gingen wahrscheinlich davon aus, dass ich nichts besseres zu tun hatte, als ihnen meinen neuen Status unter die Nase zu reiben.

»Ich hab ja nichtmal 'nen Führerschein.«

Manchmal kommt es auf Timing und Intonation an. Jan und Marco stutzten, während Jan sich am Kopf kratzte, stieg Marco auf die Bremse.

»Echt nich?«

»Nöh!«, gestand ich freimütig, »Bin nie dazu gekommen, einen zu machen, außerdem hat mir bisher mein Roller immer gereicht.«

Meine beiden Kollegen verfielen in Schweigen, wobei sie damit eigentlich zum Normalzustand zurück kehrten. Ich glaube, so viele Worte wie in der letzten Stunde, hatten die beiden mit mir noch nie am Stück gewechselt. Wenn mit mir jemand sprach, dann nur, um mich verbal zu treten. Sicherlich waren wir immer noch meilenweit von einem normalen Miteinander entfernt, aber es darf sicherlich erlaubt sein, sich auch über kleine Fortschritte zu freuen.

Unser Ziel lag in der Nachbarstadt, was einer ungefähren Fahrtzeit von einer Dreiviertelstunde entsprach. Genug Zeit, sich kultiviert anzuschweigen... oder um meine Kollegen einmal genauer zu mustern. Seit Jahren arbeitete ich mit ihnen zusammen, aber dass ich sie kannte, konnte ich nicht behaupten. Mehr oder weniger mieden wir, meine Kollegen und ich, jeglichen Kontakt.

Allerdings saß Christiano neben mir und blockierte den Blick auf die beiden Gesellen. Christiano hatte es sich auf der Beifahrerbank gemütlich gemacht, eine dunkle Sonnenbrille aufgesetzt und sich ein Basecap tief ins Gesicht gezogen. Es schien, als wenn er döste. Eine Sonnenbrille trug ich ebenfalls, allerdings zierte eine dunkle Wollmütze mein Haupt. Die neue, seltsame Lichtallergie machte derartige Schutzmaßnahmen nötig.

»Sagt mal«, richtete sich Jan an Christiano und mich, »Ist das irgendwie schwuler Partnerlook? Oder was soll der Scheiß mit den Brillen?«

»Eeehhhhmmmm...«, stöhnte unser portugiesischer Azubi, »Kein Scheiß, Lichtallergie.«

»Wie? Du auch?«, platzte es aus mir heraus.

»Ach, ein Leidensgenosse?«, freute sich Christiano, »Nee, wirklich, ist kein Modegag. Ohne die Sonnenbrille könnte ich glatt erblinden.«

»Krass!«, meinte Jan, »Das muss ja echt Scheiße sein.«

»Man gewöhnt sich dran. Außerdem bin ich eh eine Nachteule.«

Ich konnte nicht mehr an mir halten. Bisher hatte ich den Eindruck, meine Lichtunverträglichkeit wäre etwas exotisches und nun litt mein Kollege ebenfalls darunter: »Ich weiß nicht, was man dir über mich erzählt hat...«

»Dir soll eine Woche Erinnerung fehlen.«

»Stimmt, doch als wenn das nicht merkwürdig genug wäre, leide ich seitdem ebenfalls unter einer Lichtallergie. Genaugenommen vertrage ich kein direktes Sonnenlicht. Es brennt wie Feuer.«

Christiano zuckte gleichgültig mit den Schultern: »Nimm’s nicht zu schwer. Glaub mir, man kann damit leben. Es gibt neutrale Schutzsalbe und zur Not sogar Spezialkontaktlinsen, die man kaum spürt.«

»Vielleicht ja doch so ein Schwulending?«, kam es vom fahrenden Marco.

»Junge, du solltest dringend deine Vorurteile einem Realitätscheck unterziehen.«

Das sagte nicht Christiano, sondern kam von mir und überraschte nicht nur die drei anderen, sondern auch mich. Sprachlosigkeit senkte sich über unsere kleine Mannschaft. Marco klammerte sich an sein Lenkrad, Jan hockte ängstlich neben Christiano, während der sich breit grinsend in die Bank sinken ließ und den Schirm seiner Mütze tiefer ins Gesicht zog.

»Sagt Bescheid, wenn wir da sind.«


Christiano schien zu dösen, worum ich ihn beneidete. Der bisherige Verlauf des Tages hatte mich aufgeputscht. An dösen oder irgendeine andere Form von Entspannung war auf keinen Fall zu denken. Es kribbelte. Niederreuter vertraute mir und ich wollte ihn auf keinen Fall enttäuschen, was hieß, dass ich Jan und Marco dazu bringen musste, nicht gegen mich zu arbeiten. Normalerweise wäre ich jetzt bereits gescheitert, wäre da nicht ein Joker namens Christiano wie aus dem Nichts aufgetaucht, der die eingeschliffenen Verhaltensmuster meiner Kollegen durcheinanderbrachte. Wie machte er das?

Ich musterte ihn. Schüchtern und vorsichtig, wie es nun mal meine Art war, schaute ich mir unseren Azubi erstmals etwas genauer an. Er war ein seltsamer, wenn nicht sogar ein unheimlicher Typ. War er attraktiv? Ja sicherlich, aber nicht so sehr, dass es seine Wirkung erklärte. Es war diese Coolness, die er verströmte, eine Überlegenheit, die überhaupt nicht überheblich daher kam. Was, es stört dich, dass ich schwul bin? Dein Pech! So trat er auf. Eigentlich schien ihm das Thema, das mich seit Jahren tagtäglich bewegte, herzhaft egal zu sein.

Beobachtete er mich? Er döste doch, oder?

Ich schaute genauer hin. Christiano schlief oder dämmerte vor sich hin. Seine Atmung war langsam und ruhig. Er war tief in die Bank gerutscht und hatte seine Füße auf dem Armaturenbrett des Transporters gesetzt. Die dunkle Sonnenbrille war fast vollständig von der tief ins Gesicht gezogenen Mütze verdeckt. Doch wenn er irgendwo hinblickte, dann geradeaus. Und trotzdem hatte ich das Gefühl, dass mich Christiano beobachtete. Als wenn er meine Blicke fühlte. Wie konnte das sein?

Während ich mir unseren Azubi ansah, fiel mir auf, dass uns Geselle Jan mit gelegentlichen verstohlenen Blicken bedachte. Erst aus dem Augenwinkel heraus und dann, wenn er sich selbst unbeobachtet fühlte, etwas direkter. Was wollte er von uns? Sein Gesichtsausdruck, soweit es mir gelang, davon einen Blick zu erhaschen, war mehrdeutig. Neugierde, Unsicherheit, etwas Angst, aber auch Respekt und Anerkennung - in dieser Kombination verwirrte mich Jans Gemütslage. Zu gern hätte ich ihn angesprochen und zur Rede gestellt. Wann, wenn nicht jetzt bot sich schon mal die Gelegenheit, zwei Kollegen direkt auf ihr Mobbing anzusprechen oder sogar zur Rede zu stellen? Aber leider reichte mein Mut nicht aus. Ich wollte etwas sagen, aber sobald ich zum Sprechen ansetzte, schnürte sich mir der Hals zu. Komisch, Jan schien es ähnlich zu gehen.


Ob nun Jan wirklich etwas sagen wollte, oder ich es mir nur einbildete, es blieb dabei, dass niemand etwas sagte. Nach etwas mehr als einer Dreiviertelstunde erreichten wir unser Ziel und hatten vom anfänglichem kurzen Wortwechsel einmal abgesehen, die gesamte Fahrt geschwiegen, wenn auch in einer mit angespannter Nervosität geladenen Luft.

Ziel unserer Fahrt war ein etwa zweihundertfünfzig Jahre altes Landhaus. Genaugenommen handelte es sich um ein Herrenhaus, einem kleinem Jagdschlösschen der Zeit Friedrich des Großen. Obwohl von Gerüsten und Baucontainern verstellt, musste es zu seiner Zeit sogar ein sehr repräsentatives Jagdschlösschen gewesen sein. Doch zurzeit war es eine reine Baustelle. Wenn ich die Unterlagen Niederreuters richtig verstand, hatte ein Urirgendwasenkel das Objekt für einen Euro vom Land unter Auflage gekauft, es denkmalgerecht wieder herzurichten. Dieser Enkel schien so etwas wie ein Aussteiger zu sein, der vom erfolgreichen Investmentbanker zum ebenso erfolgreichen Ökobauern umgesattelt hatte. Nun war er dabei, dem Anwesen seiner Ahnherren seinen alten Glanz zurückzugeben, um es später auch touristisch nutzen zu können.

Mit anderen Worten: Wir waren alles andere als allein auf der Baustelle. Es wimmelte vor Handwerkern und Bauarbeitern. An einem Seitenflügel waren Zimmerleute damit beschäftigt, einen Dachstuhl zu ersetzen, während die Front des Hauptgebäudes komplett eingerüstet von anderen Spezialisten ausgebessert und neu verputzt wurde. Gleichzeitig strömten massenweise Arbeiter durch die offene Haustür heraus, um kurze Zeit später mit Material bepackt ins Gebäude zurückzukehren. Auf der Baustelle brummte es.

»Da scheint es jemand ja richtig ernst zu meinen.«, kommentierte Marco das Gewimmel.

»Wir sollten uns wohl mal bei der Bauleitung anmelden.«, schlug ich neutral vor.

»Du bist der Boss!«, pflichtete mir Christiano bei.

Eine halbe Stunde später waren wir eingewiesen und standen in etwas, das ehemals ein prunkvoller Festsaal gewesen sein musste. Wenn dies für die nächsten Tage unser Arbeitsplatz sein sollte, war wohl als erstes eine Bestandsaufnahme angesagt, denn Niederreuters Unterlagen beschrieben zwar was zu tun war, aber nicht wie.

Ein erster kurzer prüfender Blick zur Decke, oder dem, was einmal eine Decke war, ließ mich dann auch gleich stutzen. Ich griff zu den besagten Unterlagen und verglich die darin enthaltenen Bilder mit dem realen Schadensbild der Decke. Auf den Bildern war zwar nicht vermerkt, wer die Fotos aufgenommen hatte, aber eins konnte ich sofort sagen. Der oder diejenige war entweder kein Bauprofi oder... ein böser Verdacht keimte auf, denn die Bilder zeigten auf keinen Fall den aktuellen Zustand der Decke. Auf ihnen waren weder die verdächtigen Flecken zu sehen, noch die Stellen mit Würfelbruch. Wenn sich mein Verdacht bestätigte, standen wir vor einem völlig anderen Problem, als Niederreuter in seinem Angebot kalkuliert hatte.

Aus Ahnung wurde Gewissheit. Nachdem ich eine der bereitstehenden Arbeitsbühnen erklommen und mir die Situation aus der Nähe betrachtet hatte, gab es keinen Zweifel mehr. Bei aller Sympathie zu meinem Chef, aber bei diesem Auftrag hatte er sich massiv verkalkuliert, oder war übers Ohr gehauen worden. Mit einfachen Ausbesserungsmaßnahmen war es nicht getan. Spätestens, als mir vertrocknetes Myzel entgegen rieselte, war klar, dass wir es mit einem Totalschaden zu tun hatten. Hinter der Decke wucherte Hausschwamm.

Entsprechend entsetzt reagierte mein Chef. Bei diesem Befund blieb mir nichts anderes übrig, als ihn sofort zu informieren. Es war, wie zu vermuten war. Niederreuter hatte sein Angebot auf der Basis der Fotos abgegeben. Er hatte die Baustelle niemals selbst betreten, da der Vertreter des Bauherren meinte, dies sei überhaupt nicht nötig.

»Chef«, sprach ich ins Handy, »Ich werde mal mit dem GU reden. Vielleicht ist da noch was zu kitten. Ansonsten empfehle ich, den Auftrag zurückzugeben und die Konventionalstrafe zu zahlen. Das wird tausendmal günstiger.«

»Florian, mein Junge, ich hoffe, du weißt, was du tust«, jammerte Niederreuter, einem Nervenzusammenbruch nahe, »Wenn der Auftrag platzt, kann ich meinen Laden dicht machen. Dann sind wir alle arbeitslos!«

War er nicht nett, mir die Zukunft seines Ladens auf meine schmalen Schultern zu laden? Hallo? War ich der Chef? Oder vielleicht ein Meister? Nö, nur ein von allen gehasster Tischlergeselle.

So mussten sich Verurteilte auf dem Weg zum Schafott fühlen. Der Weg zum Container der Bauleitung kam mir plötzlich viel länger vor. Mit dem Herz in der Hose und kaltem Angstschweiß auf der Stirn betrat ich das Planungsbüro.

»Wir haben ein Problem!«

Hausschwamm

Was als Gespräch zwischen dem GU und mir begann, wuchs sich innerhalb einer halben Stunde zur handfesten Krisensitzung aus. Mit zwei Handys und einem Festnetztelefon gleichzeitig wurden nicht nur die Verantwortlichen der ebenfalls betroffenen Gewerke ins Büro zitiert, sondern auch eine Vertreterin des Landesdenkmalschutzamtes sowie ein Vertreter des Investors und des Landes als Verkäufer. In der Zwischenzeit war ich zum Problemkind zurückgekehrt und hatte ein paar Holzproben entnommen, die ich bei der anstehenden Besprechung präsentierte.

»Warum erfahren wir erst jetzt davon?«, brachte es der Interessensvertreter des Investors auf den Punkt, »Der Schwammbefund stellt das ganze Sanierungsprojekt in Frage. Ich glaube nicht, dass es unter solchen Umständen zum Erwerb des Objektes gekommen wäre.«

Das konnte der Landesbeamte natürlich nicht auf sich sitzen lassen und verbat sich die Unterstellung, man hätte einen erheblichen Baumangel verschwiegen. Währenddessen war die Denkmalschützerin damit beschäftigt, meine Proben zu untersuchen.

»Junger Mann«, sprach sie mich an, »Sie haben einen guten Blick. Ich schäme mich und muss gestehen, dass ich den Befall nicht gesehen habe. Allerdings stand der Bankettsaal bisher auch nicht auf meinem Plan, da wir uns primär um die Sicherung des Seitenflügels kümmern mussten. Sie haben recht. Das ist echter Hausschwamm. Er muss in der Zwischendecke stecken, denn auf dem Dachboden war bei meiner Begehung nichts zu sehen.«

»Ok, ok, ok. Was wird die Sache kosten?«, fragte der Investor. Das war mein Stichwort, die Sichtweise der Firma Niederreuter darzulegen. Ich pokerte und stellte mich auf den Standpunkt, dass sich die vertraglichen Rahmenbedingungen geändert hätten und wir unter diesen Voraussetzungen unser Angebot zurückziehen müssten. Der Investorvertreter begann zu toben, zweifelte an meiner Kompetenz und faselte von Konventionalstrafe und Prozessen.

»Einen Moment.«, erhob ich Einspruch, »Ich will ihnen ja nichts unterstellen, aber kann es sein, dass Sie von dem Schwammbefall vielleicht ein klein wenig ahnten? Oder warum wurden meinem Chef nur Fotos mit den Teilen der Decke geschickt, die keine verräterischen Spuren zeigten.«

»Das ist ein unverschämte Unterstellung!«, pumpte sich der Typ auf und lief rot an.

»Müller, seien Sie still!«, platzte eine neue Person in unsere Besprechung. Ein Typ Anfang fünfzig, hager, in abgewetzten Jeans und mit modischer Brille reichte mir seine Hand: »Bayer, mir gehört der marode Schuppen.«

»Ähm...«, stammelte ich, »Ich wollte nicht...«

»Nein, natürlich nicht. Aber Müller wollte...«, Herr Bayer lächelte mich freundlich an und bedachte Herrn Müller, seinen Intressensvertreter, mit einem bösen Blick, »Müller, meinen Sie nicht auch, dass wir Niederreuter lieber vom Haken lassen sollten? Ich weiß, sie wollten die Kosten drücken, aber das macht man nicht, indem man unsere Auftragnehmer austrickst. Wir brauchen Niederreuter. Er hat den einzigen Laden, der die Decke sanieren kann.« Und wieder an mich gewandt: »Sind Sie in der Lage, eine fachgerechte Schwammsanierung durchzuführen, die sich auch an die Vorgaben des Denkmalschutzes hält?«

»Ich glaube schon. Wir sind ein Fachbetrieb und sowohl auf Schwammsanierung als auch behutsame und denkmalverträgliche Restaurationsarbeiten spezialisiert.«

»Dann brauche ich ein Angebot, und das möglichst schnell.«

Ich war bereits damit beschäftigt, den neuen Aufwand abzuschätzen, wobei ich durch die Denkmalschützerin unterstützt wurde, die natürlich sehr darauf achtete, dass möglichst viel von der Originalbausubstanz erhalten blieb. Als ich meine Zahlen zusammen hatte, setzte ich mich an mein Firmennotebook, kalkulierte die Sache durch und mailte Niederreuter die neuen Zahlen zu. Fünf Minuten später klingelte mein Handy.

»Für Sie!« Mit diesen Worten reichte ich Herrn Bayer mein Mobiltelefon, der die nächsten Minuten angeregt mit meinem Chef diskutierte.

»Ok, sind wir uns einig?«, fragte Bayer und lauschte, »Abgemacht! Den Vertrag schicken Sie mir heute noch zu? Sehr gut. Ja, ich geb sie weiter.«, und an mich gewandt, »Für Sie!«

»Florian, mein Junge, das hast du toll gemacht! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie dankbar ich dir bin. Wir haben den Auftrag für die komplette Schwammsanierung! Bereitet heute schon mal die Baustelle vor. Du kennst die Baurichtlinien für Schwamm?«

»Ja, Sie haben mich doch letztes Jahr auf die beiden Lehrgänge geschickt und mich anschließend dem Trupp zugeteilt, der die zwei Einfamilienhäuser sanierte.«

»Richtig!«, rief Niederreuter, »Also, du bekommst so viele Leute wie du brauchst. Der Auftrag hat ab sofort höchste Priorität!«

Damit war alles gesagt. Ich klärte noch ein paar Details mit Bauleitung, Denkmalschutz und Auftraggeber, um abschließend zu meinen schon ungeduldig wartenden Kollegen zurück zu kehren. Die hatten gut zwei Stunden Däumchen gedreht und sahen mich jetzt unsicher und ängstlich an.

»Ist die Kacke am dampfen?«, fragte Marco.

»Das war sie. Jetzt allerdings nicht mehr.«, beruhigte ich meine Kollegen und erklärte die Situation, sowie den Grund für die ganze Aufregung.

»Heißt das, Niederreuter wäre Pleite gegangen, hättet ihr euch nicht geeinigt?«, brachte Jan seine Panik auf den Punkt.

»Unser Chef wusste nichts vom Schwammbefall. Die haben ihm nur Bilder mit den unauffälligen Deckenteilen geschickt. Der Vertreter des Bauherrn ist eine ganz ausgebuffte Kanaille. Der versuchte Niederreuter zu linken, indem er ihn ins offene Messer rennen ließ. Ich habe die Bauunterlagen gelesen. Das hätten wir nicht überlebt. Dieser Bayer, der Bauherr, scheint aber ein vernünftiger Typ zu sein und hat seinen Kettenhund an die Leine genommen. Er will sein Schloss, und er will, dass wir es für ihn sanieren. Mit anderen Worten, unsere Jobs sind die nächsten Monate sicher.«

»Dank dir!«, bemerkte Marco säuerlich, »Scheiße, jetzt muss ich dieser Schwester auch noch dankbar sein.«


Der Schwammbefund stellte unseren gesamten Arbeitsplan auf den Kopf. Was bisher ein zwar großer, aber von seiner Komplexität eher einfacher Auftrag war, verwandelte sich in ein kniffeliges Großprojekt. Das begann bereits bei der Baustelleneinrichtung. Bevor wir uns an der Decke zu schaffen machen konnten, musste der gesamten Saal gesichert, das heißt mit Folie abgedichtet werden. Andernfalls bestand die Gefahr, dass sich die Sporen des Schwamms auf andere Bereiche des Gebäudes ausbreiteten. Hausschwamm ist hartnäckig und tückisch. Er ernährt sich quasi von jeder Art Baumaterial, vom Holz, seiner Lieblingsspeise, bis hin zu Mörtel. Er kann im wahrsten Sinne des Wortes durch Wände gehen, nämlich durch sie hindurch wachsen. Am besten gedeiht er in einem feuchten, warmen Klima. Das einzige, was er nicht mag, ist Zug.

Wir begannen also damit, die Baustelle vorzubereiten. Zufällig befanden sich ausreichend viele Planen und Folien im Werkstattwagen, mit dem sich der Saal fachgerecht abdichten ließ. Da wir von nun an zu einem der großen Gewerke zählten, wurden uns zwei Baucontainer zugewiesen. Einer als Büro und Aufenthaltsraum, der zweite als Material- und Werkzeuglagerlager. Das CAD-Büro der Bauleitung versorgte uns mit allen von mir für die Planung der anstehenden Arbeiten benötigten Unterlagen, insbesondere mit DIN A0 Bauplänen, die ich als Arbeitsskizzen nutzen wollte. Während meine Kollegen unseren Transporter ausluden, war ich dabei, das Projekt auf solide planerische Beine zu stellen. Dabei hatte ich derartiges nie gelernt. Direkt ins kalte Wasser einer Projektplanung geworfen, tat ich einfach das, was mir sinnvoll erschien.

Erstaunlicherweise maulten weder Jan noch Marco, dass ich mich nicht an der Schlepperei beteiligte. Ganz im Gegenteil befolgten sie sogar alle Anweisungen, als er darum ging, den Saal mit Folien abzudichten. Selbstverständlich stand ich dabei, nicht daneben, sondern packte mit an. Hand in Hand arbeiteten wir konzentriert, überlegt und sehr effektiv.

»Hört mal auf!«

Die Zeit verging wie im Flug. Niemandem fiel auf, dass wir drei Stunden ohne Unterbrechung geschuftet hatten. Mein Blick ging eher zufällig zur Uhr.

»Leute, wir sind jetzt seit fünf Stunden am Arbeiten, was haltet ihr von einer Pause?«

Die Frage hätte rhetorischer nicht sein können. Zwei Minuten später hockten wir in unserem neuen Aufenthaltsraum, tranken Kaffee und aßen unsere Butterbrote.

»Flo?«, ließ sich Jan kleinlaut vernehmen, wobei er unsicher zu Marco schaute, der ihn mit einem Nicken ermunterte, weiterzusprechen, »Wir wollten uns bei dir entschuldigen. Marco und ich haben dich wohl nie sonderlich gut behandelt. Ich... wir... ich weiß nicht, was ich sagen soll...«

War das eine Art Friedensangebot? Ich kam nicht umhin, zufrieden zu lächeln: »Danke!«

»Wie? Danke? Das ist alles?«

Jan klang enttäuscht. Ich musste lachen.

»Leute, was erwartet ihr von mir? Dass ich nach all den Jahren des Mobbings sage, alles sei vergeben und vergessen? Für wie blöd haltet ihr mich? Natürlich freut mich die Entschuldigung. Dass muss euch verdammt schwer gefallen sein. Aber spätestens zurück im Betrieb, werdet ihr wieder mit den Wölfen heulen und mich wie Dreck behandeln. Ich versteh das. Ich kann mir gut vorstellen, was die Typen sonst sagen werden. Seid ihr etwa auch schwul, oder was?«

»Wir sind nicht schwul!«, brauste Marco auf. Ich seufzte.

»Das hab ich weder gesagt noch behauptet oder angedeutet. Ich sage nur, dass ihr dem Gruppendruck nicht widerstehen könnt. Marco, meinst du ernsthaft, dass du Mario widersprechen wirst, sollte er wieder beginnen, mich zu mobben. Wirst du eingreifen, sollte Andreas wieder einmal handgreiflich werden?«

Marcos Antwort war ebenso klar wie eindeutig. Er wich meinem fragenden Blick aus und schaute vor sich auf den Tisch: »Wohl nicht.«

»Ich meine das nicht böse.«, schließlich wollte ich meinen Kollegen nicht völlig vor den Kopf stoßen, »Ich sehe das einfach nur realistisch. Ich weiß, dass man mich hasst, oder zumindest verachtet. Dass ihr das ändern wollt, ehrt euch und stimmt mich glücklich. Nur gebe ich mich keiner Illusion hin, dass sowas von jetzt auf gleich geht.«

»Du irrst dich.«, murmelte Jan leise, »Die Kollegen hassen dich nicht, die meisten jedenfalls nicht. Sie haben Angst vor dir.«

»Angst?«, auf die Idee, dass man vor mir Angst haben könnte, wäre ich nie im Leben gekommen, geschweige denn, dass man deswegen jemanden mobben könnte.

»Tu doch nicht so, als wenn du das nicht weißt!«, knurrte Marco.

Ich öffnete meinen Mund, aber kein Wort kam raus. Ich schüttelte nur meinen Kopf.

»Du weißt es echt nicht?«, Marco nahm mein Kopfschütteln auf, »Scheiße...«

»Was?«

»Ich glaube, deine beiden Kollegen meinen, dass du sie verunsicherst.«, mischte sich Christiano ein, »Schon mal in einen Spiegel gesehen? Du bist ein Typ, der Männern wie Frauen den Kopf verdreht. Deine Kollegen haben Angst vor dir, weil sie sich von dir angemacht fühlen. Du sendest Signale aus, die selbst den härtesten Kerl schwach machen könnten.«

»Signale? Was für Signale?«

Ich verstand gar nichts mehr. Für mich sprach Christiano in Rätseln, für meine beiden Kollegen offenbar nicht, denn die nickten zustimmend.

»Es ist dein ganzes Auftreten, angefangen bei deiner engelhaften Erscheinung bis hin zur Art, wie du arbeitest. Selbst deine eleganten, geschmeidigen, flüssigen Bewegungen... ich könnte mir vorstellen, dass all das deine Kollegen verunsichert.«

Ich verstand immer weniger: »Was ist an meiner Arbeit falsch?«

»Nichts! Sie ist perfekt!«, platzte es aus Marco raus, »Du lässt einen wie einen Deppen dastehen! Nimmst einem die Luft zum atmen. Momsen hasst dich, weil er nichtmal ansatzweise an deine Klasse ranreicht. Der Typ hat eine Scheißangst davor, wegen dir seinen Job zu verlieren. Man, Florian, bist du wirklich so naiv, oder verarscht du uns einfach alle nur? Momsen ist eine faule Socke, der andere die Arbeit für sich machen lässt, weil er von seinem Handwerk soviel versteht, wie der Papst vom Ficken, was im Allgemeinen aber nicht auffällt. Neben dir aber fällt es auf. Du lässt Momsen richtig alt aussehen und vor allem völlig inkompetent wirken.«

»Aber...«, war es an mir zu stammeln, »Ich wollte doch nur gute Arbeit machen.«

»Ja, verdammt!«, seufzte Jan, »Das ist ja gerade das Problem. Denn du machst sie nicht nur gut, du machst sie perfekt. Hast du dir mal angesehen, was wir heute geschafft haben?« Jan deutete mit seinem Arm in die ungefähre Richtung des Herrenhauses, »Ich habe einen Blick auf deine Pläne und Arbeitsskizzen geworfen. Glaub mir, niemand in Niederreuters Laden hätte das vollbracht, was du heute geschafft hast. Du hast einfach mir nichts dir nichts einen extrem anspruchsvollen Projektplan für die nächsten Wochen aus dem Ärmel geschüttelt. Ich habe schon auf etlichen Baustellen gearbeitet, aber noch nie so genaue, präzise, eindeutige und durchdachte Arbeitsanweisungen erhalten, wie von dir. Mit jedem anderen Bauleiter hätten wir mindestens drei Tagen gebraucht. Momsen hätte es nichtmal in einer Woche hinbekommen, weil er nicht weiß, wo bei einem Plan oben und unten ist.«

»Ist das wahr?«, konnte man wirklich zu gut sein?

»Ich befürchte, ja.«, beantwortete Christiano meine Frage und drückte mir tröstend die Schulter, wobei er frech und hinterhältig grinste, »Du wirst wohl damit leben müssen, ein Genie zu sein.«

Dass mich meine Kollegen fürchteten, war das Letzte, womit ich gerechnet hätte. Ich hatte noch nicht einmal den Eindruck, handwerklich besonders begabt zu sein. Das war keine Tiefstapelei. Wen ich arbeitete, musste ich nicht großartig überlegen, was zu tun war, etwa, wie ein bestimmtes Werkstück zu bearbeiten war, oder Schnitte anzusetzen sind. Ich tat immer nur das, was mir logisch und sinnvoll erschien.

»Aber...«, ich japste nach Worten wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft.

Meine Kollegen zeigten sich ebenfalls hilflos. Marco starrte vor sich ins Leere. Jan schüttelte den Kopf.

»Aber warum mobbt ihr mich? Warum beschimpft ihr mich ständig als Schwuchtel?«

»Weil du wie eine Schwuchtel aussiehst!« Eines musste man Marco lassen, er war ehrlich. »Oder auch nicht. Verdammt, du siehst einfach zuckersüß aus. Du bist so ein richtiger Rauschgoldengel. Menno, wie soll ich das erklären? Ich versteh es ja selbst nicht. Dich zu mobben, lässt einen ein klein wenig weniger blass neben dir erscheinen. Du bist so perfekt, dass es... es ist penetrant und kotzt die Leute an. Aber auch du hast einen Schwachpunkt. Du bist ein Weichei. Du bist nie aufgestanden und hast Stopp! gerufen. Ganz im Gegenteil, wenn man dich anmacht, klappst du zusammen. Was erwartest du denn? Glaubst du ernsthaft, dass Typen wie Mario oder Andreas sowas nicht ausnutzen? Wundert dich wirklich, dass die dir unterstellen, ein Schwanzlutscher zu sein?«

Toll! Ich schaute hilfesuchend zu Christiano, doch der zuckte auch nur mit den Schultern: »Ich kann dir nicht helfen. Ich weiß, dass ich ein Schwanzlutscher bin und dass ich es gerne bin. Mir vorzuwerfen, ich wäre schwul, ist wohl ziemlich witzlos, oder?«

»Shit!«, maulte ich rum.

»Du hast dich verändert.«, Jan klang nachdenklich, »So wie heute hab ich dich noch nie erlebt. Ich meine nicht erst, seit wir auf dieser Baustelle sind. Schon heute morgen. Du wirkst anders... diese Prügelknabenaura ist verschwunden. Bisher schrie dein ganzes Auftreten fast danach, dich aufzuziehen oder anzumachen. Aber das ist weg. Mir ist es erstmals während der Fahrt aufgefallen. Ich weiß nicht, was es ist. Deine Haltung, dein Auftreten. Du wirkst dominant, oder, nein, du verströmst Autorität. Ich habe gesehen, wie du heute mit den anderen Handwerkern der Baustelle gesprochen hast, die sind gesprungen, als hätten sie Angst, dich zu enttäuschen. Selbst die Bauleitung und den Bauherrn hast du um den Finger gewickelt. Shit! Wieso habe ich nichtmal ansatzweise gemurrt, als du die Aufgaben verteilt hast? Komm, raus mit der Sprache, was ist in den zwei Wochen deiner Abwesenheit passiert? Was hat dich so total verändert?«

Umkleide

Natürlich konnte ich Jans Frage nicht beantworten. Ich hätte es gerne, aber ich konnte es nicht. Er hatte Recht mit seiner Beobachtung. Ich hatte mich verändert. Ich konnte es fühlen und mein Vater hatte es sogar deutlich zu spüren bekommen. Mit jeder Stunde, jeder Minute, ja sogar mit jeder Sekunde, die verstrich, fühlte ich mich stärker und selbstsicherer, selbstbewusster, als ich jemals zuvor war.

»Gut, lasst uns für heute Schluss machen.«

Mein Vorschlag wurde erfreut, aber auch überrascht zur Kenntnis genommen.

»Feierabend ist doch erst in anderthalb Stunden.«, wandte Marco ein.

»Ihr habt es selbst gesagt.«, erklärte ich, »Wir haben mehr geschafft, als zu erwarten war. Außerdem fehlt uns zum weiterarbeiten das nötige Material. Zurückfahren müssen wir auch noch.«

»Kneif mich mal jemand!«, forderte Jan uns auf, »Aber ich glaube, ich könnte mich an unsere Schwuchtel als Chef gewöhnen.«

»Du kannst es nicht lassen, oder?«, grinste ich Jan an. Oh ja, ich hatte mich verändert. Vor zwei Wochen hätte ich mich eine solche Replik niemals getraut, sondern wäre wie ein geprügelter Hund davon geschlichen.

Im Gegensatz zum Morgen, verlief die Rückfahrt in ausgesprochen entspannter Atmosphäre. Wir hatten sogar das Autoradio eingeschaltet und laut gedreht. Jan, der sonst einen Zopf trug, hatte sein Haarband geöffnet und war wie wild am Headbangen. Was für ein alberner Kerl. Wenn das Radio mal nicht ohrenbetäubend laut gedreht war, unterhielten wir uns miteinander. Genaugenommen kappelten sich Jan und Marco darum, wer denn von ihnen beiden der unfähigste Handwerker wäre. In unserer kleinen Gruppe war der Knoten geplatzt. Spannend wurde es erst, als wir die Firma erreichten.

»Was is'n mit euch los? Habt ihr gesoffen?«, wurde als erstes Marco von Konrad, einem Altgesellen angemacht, dem unsere gute Laune wohl nicht gefiel, »Oder habt ihr unserem Schwanzlutscher gezeigt, wo der Hammer hängt?«

Die letzte Frage erübrigte sich, als Konrad meine ebenfalls gut gelaunte Miene bemerkte. Während ich aber weiter lächelte, zuckte Marco zusammen. Sein fröhlicher Gesichtsausdruck erstarrte zur Maske. Ich hatte gewusst, dass dies passieren würde. Ich hatte es sogar vorhergesagt.

»Hör zu!«, oder irrte ich mich? Marco packte Konrad am Kragen, drückte ihn gegen die nächstgelegene Wand und raunte ihm zu, »Der Mann heißt Florian. Er ist ein Kollege, den du in meiner Gegenwart niemals wieder mit Schwanzlutscher beschimpfen wirst. Hab' ich mich klar genug ausgedrückt?«

»Ja doch! Iss ja gut!«, kam es erschrocken und beschwichtigend von Konrad, »Dann 'isser eben kein Schwanzlutscher.«

Wie man sich denken kann, erregte die Szene einiges Aufsehen. Die Umkleide, in der wir uns gerade befanden, war alles andere als leer. Allerdings wusste niemand so recht, wie er sich verhalten sollte. Bevor man nun was falsches tat, tat man lieber nichts, zog sich schweigend an und verließ eiligen Schrittes den Raum.

»Hey, Flo, kommst du mit duschen?«

Vor Schreck hätte ich mich fast an meiner eigenen Spucke verschluckt. Christiano stand nur mit einem Handtuch locker um die Hüfte bekleidet vor mir und deutete mit seinem Daumen in Richtung der Duschräume. Meine Erfahrungen mit dem Nassbereich unserer Firma waren bisher eher unangenehmer Natur. Bereits kurz nachdem ich als Azubi bei Niederreuter angefangen hatte, begannen sich meine Kollegen auf mich einzuschießen. Was damals in der Dusche geschah, gehörte dann zu den Erlebnissen, die ich lieber vergessen wollte. Sagen wir es einmal so, die Blutergüsse hielten sich mehrere Wochen. Von da an verlagerte ich meine Dusche auf die Zeit, nach der alle gegangen waren, was sich aber ebenfalls als Fehler entpuppte.

Der Letzte macht die Dusche sauber, so lautet die Regel. Als meine Kollegen spitz bekamen, dass ich der Letzte war, sorgten sie dafür, dass ich wirklich etwas zum Sauber machen hatte, angefangen bei ölverschmierten Fließen bis zu vollgepissten Handtüchern auf dem Boden. Und was tat ich? Florian, der demütige, ängstliche Prügelknabe schluckte seinen Stolz runter und machte sauber. Immer!

Aber ich war nicht mehr dieser Prügelknabe. Es juckte mich, mein neu erworbenes Selbstbewusstsein anzutesten. Ich war bereit, etwas zu riskieren.

»Ok!«, erwiderte ich knapp, schnappte mir Handtuch und Duschgel und folgte unserem Azubi.

Die Dusche war gut gefüllt, aber nicht gerappelt voll. Drei von acht Brausen, Niederreuter war ein wirklich großer Betrieb, waren frei, wovon zwei direkt nebeneinander lagen. Eine belegte Christiano, die daneben ich. Ich drehte das Wasser auf, trat einen Schritt zurück, stellte die Temperatur ein und hüpfte unter den Strahl.

Es passierte etwas sehr erstaunliches: nichts.

Ich konnte aus den Augenwinkeln zwar erkennen, dass man mich aufmerksam, teilweise sogar bösartig musterte, aber ansprechen oder gar anrühren tat mich niemand. Die gleichen Kollegen, die sonst keine Sekunde gezögert hätten, mir ganz plastisch die Gefährlichkeit nasser und damit rutschiger Fliesen zu demonstrieren, präsentierten sich als totale Unschuldslämmer. Als sehr nervöse Unschuldslämmer, sollte man wohl sagen. Die Unsicherheit, die sie verströmten, war mit den Händen greifbar.

»Oh, was für eine Verschwendung!«

Um meiner Chronistenpflicht gerecht zu werden, muss ich erwähnen, dass ein Kollege aus der Reihe tanzte und mich durchaus ansprach. Christiano war einen Schritt zurück getreten, um mich in meiner Gesamtheit, also von oben bis unten besser betrachten zu können.

»Junge, bitte sag, dass du für meine Liga spielst!«, flehte mich unser neuer Azubi theatralisch an, »So ein ästhetisches Kunstwerk wie dich darf man einfach nicht der anderen Hälfte der Bevölkerung überlassen!«

In den tiefen von Christianos Augen konnte man erkennen, dass es unser neuer Freund mit seiner Bemerkung absolut ernst meinte. Auf der anderen Seite war er Schalk genug, um nicht die Wirkung seiner Worte auf mich, aber insbesondere auf die anderen Kollegen, zu genießen.

»Du kannst es einfach nicht lassen, oder?«, grinste ich zurück und wackelte dabei lasziv mit meinen Augenbrauen, bis der Hafer meinte, mich mal ordentlich stechen zu müssen. Ohne nachzudenken, wo und vor allem in welchem Bekleidungszustand ich mich befand, ging ich auf Christiano zu, streckte meine Hand aus und strich ihm mit meinem Zeigefinger sinnlich über die Brust, dass Brustbein hinab zum Bauch, umkringelte seinen Bauchnabel und ließ erst von ihm ab, als eine Region erreicht war, in der ein Fortschreiten arbeitsrechtliche Konsequenzen nach sich gezogen hätte.

»Aber keine Angst, mein portugiesischer Freund, du wärst der Erste, der erfahren würde, für welche Liga ich spiele.«

Ich hatte nicht gedacht, dass man diesen selbstbewussten Typen mit irgendetwas aus der Ruhe bringen konnte. Meine letzte Aktion tat es. Christiano lief rot an, holte tief Luft und meinte: »Junge, erinnere mich daran, nie mit dir zu pokern.«

Wer von meinen Kollegen bis dahin noch nicht nervös war, war es spätestens jetzt. Jeder fühlte, dass ich mich verändert hatte und dass die bisherigen Umgangsformen, schneiden, mobben, anmachen oder treten, nicht mehr so richtig griffen. Als vernunftbegabte Wesen, obwohl diese Attribuierungen durchaus angezweifelt werden können, verlagerte man sich vorsichtshalber aufs Abwarten und Beobachten. Zu den Blicken unverhohlener Abneigung gesellten sich von nun an auch Neugierde und abstrakte Furcht. Letzteres versuchte man vor mir zu verbergen. Es blieb beim Versuch.

Und so endete mein erster Arbeitstag besser, als man es erwarten konnte. Zufrieden mit mir und der Welt verließ ich die Dusche, zog mich an, cremte mich mit meiner Sonnenschutzsalbe ein und ging zu meinem Roller. Mit einem fröhlichen Schmunzeln auf den Lippen fuhr ich nach Hause. Was auch immer mit mir geschehen war, es begann mir zu gefallen.

Bauarbeiten

Niederreuter hielt Wort. Am nächsten Tag standen mir statt drei, gleich sechs Kollegen für die Schwammsanierung zur Verfügung. Das Beste daran war, dass ich mir die Leute aussuchen konnte. Natürlich zählten Jan, Marco und Christiano zu meinem Team. Die anderen drei wählte ich nicht, wie man es vielleicht erwartet hätte, nach Sympathie und Antipathie aus, sondern nach fachlicher Qualifikation. Obwohl es meine Kollegen wahrscheinlich nie bemerkt oder längst verdrängt hatten, hatte ich fast mit jedem mindestens einmal zusammengearbeitet und kannte ihre individuellen Stärken und Fähigkeiten. Auf Basis dieses Wissens war es relativ einfach, zu entscheiden, wer unser Team ergänzen sollte und für den Job geeignet war, was bedeutete, einen meiner Erzfeinde mit aufnehmen zu müssen.

Wie nicht anders zu erwarten, hielt sich Marios Begeisterung in sehr engen Grenzen. Die finstere, feindliche Miene, mit der er mich bedachte, als er von seinem Glück erfuhr, mit von der Partie zu sein, sprach Bände und erhellte sich erst dann ein wenig, als man ihm sagte, dass er den zweiten Transporter fahren sollte, um vorbestelltes Material vom Großhandel abzuholen. Die Aussicht, ein wenig meine Anwesenheit meiden zu können, schien ihn wirklich zu erfreuen. Oder hegte er andere Gedanken? Meine Nackenhaare wollten mir etwas sagen, sprachen aber zu leise, als das man ihr Flüstern verstehen konnte.

Während also unsere Verstärkung sich noch auf dem Weg zum Großhandel befand, hatte Marco, der wieder den Chauffeur gab, die direkte Route zur Baustelle eingeschlagen. Die Stimmung in unserem Transporter war gelöst, fröhlich und entspannt.

»Danke!«, nutzte ich eine Pause in der Unterhaltung, »Danke für gestern.«

»Du meinst die Sache mit Konrad?«, hakte Marco nach.

»Auch.«, gab ich zu, »Aber noch mehr, dass ihr Wort gehalten habt. Ich geb´ zu, ich habe mich geirrt. Ich ging fest davon aus, dass ihr...«

»Du hast dich nicht geirrt.«, unterbrach mich Marco, »Ich war kurz davor, genau das zu tun, was du prophezeit hattest, nämlich in die alten Verhaltensmuster zurück zu fallen. Doch als dann Konrad... keine Ahnung, warum ich ausgetickt bin. Was er sagte... Schwanzlutscher... es fühlte sich wie ein Messerstich an. Es tat weh. Es mag alles andere als fair klingen, aber dich zu mobben, als du noch ein Niemand warst, den man nur vom Sehen kannte, war einfach. Doch gestern, nach dem ganzen Tag zusammen... nee, ging nicht. Selbst wenn du Schwänze lutschen solltest, so darf man nicht über dich reden.«, Marco schüttelte ungläubig den Kopf, »Ich kann kaum glauben, dass ich das eben gesagt habe, aber es ist meine Meinung.«

Jedes weitere Wort wäre nicht nur überflüssig, sondern auch schädlich gewesen. Marcos Geständnis sprach für sich und sorgte für eine entspannte, lockere Stimmung, die sich bis zur Baustelle hielt, um dort von purer Professionalität ersetzt zu werden. Hatten wir uns am Vortag nur mit einer ersten oberflächlichen Bestandsaufnahme begnügt, um uns anschließend um die Sicherung des Arbeitsbereichs gekümmert, stand heute die detaillierte Erfassung des Pilzbefalls im Vordergrund. Mit weißen Einwegpapieroveralls und Atemschutzmasken bekleidet, kletterten wir auf eine Arbeitsbühne und begannen ganz vorsichtig die ersten Holzkassetten der Decke entfernen.

»Du weißt, was du tust?«, fragte Jan ängstlich, als uns vertrocknete Pilzfäden entgegen rieselten.

»Ich glaube schon.«, entgegnete ich beruhigend, »Ein Schwamm wie im Lehrbuch. Er... moment... scheiße...«

»Was?«, kreischte Marco panisch.

Die Panik meines Kollegen war alles andere als übertrieben. Nachdem wir die erste Kassette gelöst hatten, gelang es mir, einen Blick in die Zwischendecke zu werfen. Was es dort zu sehen gab, war alles andere als beruhigend. Im Schein meiner Taschenlampe enthüllte sich vor mir ein Bild der Zerstörung. Der Schwamm hatte massiv gewütet, weitaus stärker, als die äußerlichen Spuren vermuten ließen. Der Schaden war noch wesentlich schwerer, als ich bisher vermutet hatte. Er erreichte sogar ein gänsehauterzeugendes Niveau.

»Leute...«, meinte ich sehr eindringlich, »Wir sollten jetzt ganz langsam und sehr vorsichtig die Arbeitsbühne hinabklettern und den Raum schleunigst verlassen.«

»Ähm, warum?«, fragte Christiano nervös.

»Weil ich nicht die geringste Ahnung habe, was die Decke eigentlich daran hindert, nicht sofort abzustürzen. Bevor wir hier irgendetwas anfassen können, muss alles abgestützt werden. Ich will ja keine Panik verbreiten, aber ich würde es vermeiden, laut zu husten.«

»Ein guter Hinweis.«, bemerkte Jan.

Vorsichtig kletterten wir von der Bühne und verließen den Raum, den wir anschließend mit »Betreten verboten, Einsturzgefahr«-Schildern zupflasterten. Nichts lag mir ferner, als die Gefahr übermäßig zu dramatisieren, aber nachdem, was ich in der Zwischendecke zu sehen bekam, stand fest, dass ein Aufenthalt im Saal lebensgefährlich war. Eine falsche Bewegung und uns wäre die Decke auf den Kopf gefallen. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Wie zu erwarten war, löste unsere neueste Entdeckung alles andere als Freudensschreie bei der zentralen Bauleitung aus. Immerhin war man uns dankbar, die Gefahr erkannt zu haben. Nicht auszudenken, was hätte geschehen können. Die meisten Gewerke durchquerten den Fest- und Bankettsaal, um zu ihren Baustellen zu gelangen. Was auch hieß, dass die Sperrung vieles verkomplizierte.

»Und nu?«, fragte Marco.

»Sichern wir die Decke.«, antwortete ich und schaute mich nach weiteren Arbeitsbühnen um, »Wo bleibt eigentlich unsere Verstärkung?«

Wie aufs Stichwort trudelte im selben Moment der Transporter mit unseren Kollegen ein, parkte und eben jene puhlten sich aus dem Wagen. Man eilte auf uns zu. Als wenn ich es geahnt hätte, ging man auf Marco und Jan zu und ließ mich links liegen.

»Na, hat unser Arschficker bereits aufgegeben?«, kam es wenig kollegial von Mario.

»Nicht wirklich...«, erwiderte Jan neutral bis unterkühlt, »Wir mussten die Baustelle sperren. Die Decke ist einsturzgefährdet.«

»Sagt wer?«

»Sagt Florian.«

Anlässlich dieser Antwort wurde ich von Mario mit einem lagen, abschätzigen Blick bedacht: »Hey, Penner, wenn du unfähig bist, deinen Job zu machen, solltest du dich schleunigst verpissen! Fahr nach Hause und geh dich ausheulen.«

Damit war ich entlassen und Mario wandte sich dem Rest der Truppe zu.

»Kommt! Eierschaukeln könnt ihr auch später noch oder wollt ihr euch von einem schwanzlutschenden Handbremseanzieher euren Job erklären lassen? Baustelle sperren? Lächerlich! Typisch schwuler Schisser. Keinen Arsch in der Hose.«

Sprach's und stampfte mit seinen Kollegen aus dem zweiten Transporter in Richtung unserer Baustelle. Marco und Jan holten tief Luft und rollten mit den Augen. Ich seufzte.

»Da wird der schwanzlutschende, handbremseanziehende, schwule Schisser unserem Obermacho mal den Arsch retten.«

Dies war einer der Nachteile, Chef eines Bautrupps zu sein. Man musste sich auch um die geistig Minderbemittelten kümmern und sie manchmal auch vor sich selbst schützen. Bei aller Abneigung, die Mario gegen mich hegte, war sein Verhalten einfach unprofessionell. Er musste mich nicht mögen, ich mochte ihn schließlich auch nicht, aber er sollte aus eigenem Interesse meinem Urteil vertrauen. Aber genau das tat er nicht, was hieß, dass wir ihm hinterher eilen mussten.

Wir erreichten unseren Dickkopf genau in dem Moment, als er damit beschäftigt war, die mit Klebeband verschlossene Folie des Festsaals aufzureißen, mit der wir die Baustelle abgesichert hatten.

»Mario, verdammt, bleib stehen!«

Ich war selbst von der Schärfe meiner Stimme erstaunt. Die Kollegen neben Mario stoppten tatsächlich, drehten sich um und zuckten erschrocken zusammen, als sie erkannten, dass ich es bitter ernst meinte. Mario drehte sich auch um, zuckte aber nicht zusammen, sondern zischte mich an: »Typ, treib es nicht zu weit!«

Mit diesen Worten schlüpfte er durch einen Folienspalt in den Saal.

»Wusste ich es doch, dass der Penner übertreibt. Die Decke sieht doch ganz solide aus, wenn man von den paar Flecken einmal absieht.«

Während Christiano, Jan, Marco und ich ebenfalls in den Saal krochen, hatte sich Mario bereits die Arbeitsbühne geschnappt und begann das auf Rollen gestützte Gerät durch den Saal zu schieben.

»Scheiße!«, schrie ich den selbstmörderischen Idioten an, »Hör' sofort damit auf! Die Decke ist instabil!«

Es war zwecklos. Außer einer kurzen Unterbrechung, um mir den Stinkefinger zeigen zu können, erreichte ich nichts. Stattdessen kurvte Mario weiter mit der Bühne herum, um sie unter einem der am stärksten verfleckten Bereiche der Decke zum Stehen zu bekommen, wobei er die nahe Wand als Bremsklotz nutzte. Die Arbeitsbühne war ein recht schweres Gerät, dessen Plattform sich hydraulisch heben und senken ließ. Man brauchte schon etwas Kraft, um das Teil in Bewegung zu setzen. Einmal in Fahrt, verhielt es sich wie ein voll gepackter Einkaufswagen. Mit anderen Worten ausgedrückt, besaß die Arbeitsbühne einen nicht unerheblichen Impuls als sie mit lautem Bumms gegen die Wandtäfelung knallte, die diesen Angriff mit einem fiesen Knirschen von splitterndem Holz quittierte.

»Sag mal, hast du sie noch alle? Wie...«

Weiter kam ich mit meiner Standpauke nicht. Ein hölzernes Knacken, das ich über meinem Kopf zu orten meinte, ließ ahnen, dass Marios Schwachsinnsstunt mehr beschädigt hatte, als die denkmalgeschützte Wand.

»Raus hier!«, brüllte ich, aber es war bereits zu spät. Mit einem lauten Krachen brach ein Teil der Decke auf. Einzelne Kassetten stürzten herab und trafen Mario am Kopf. Natürlich handelte ich instinktiv und dachte nicht darüber nach, dass ich mich damit selbst in Gefahr brachte. Statt also die Flucht zu ergreifen, eilte ich zu Mario, direkt gefolgt von Jan, Marco und Christiano.

Zum Glück, und entgegen meiner Befürchtung, war nicht die ganze Decke herab gestürzt. Ein anhaltendes Knacken und Knirschen im Gebälk ließ allerdings ahnen, dass der augenblickliche Zustand nicht lange anhalten würde. Ich musste handeln.

»Marco, Christiano. Ihr bringt diesen Idioten in Sicherheit. Jan, du hilfst mir, die Arbeitsbühne in Position zu bringen. Wir werden sie als provisorische Stütze unter die Dachbalken klemmen.«

Kein Murren, keine Wiederworte. Jeder wusste, was zu tun war. Während Marco und Christiano den bewusstlosen Mario aus dem Festsaal trugen, half mir Jan, die schwere Arbeitsbühne so unter der Decke zu positionieren, dass sie direkt unter den vermutlich am bruchgefährdetsten Balken zu stehen kam. Dies war aber nur die halbe Miete. Die Arbeitsbühne war natürlich für einen ganz anderen Zweck konstruiert worden und verfügte über ein umlaufendes Sicherungsgitter, welches wir erst mühsam entfernen mussten.

Eine nervenaufreibende Arbeit. Während wir einen Gitterträger nach dem anderen demontierten, knackte und knirschte es unheilvoll über unseren Köpfen. Wir waren fast fertig, als es krachte und ein maroder Deckenbalken brach, aber Wunder über Wunder nicht abstürzte. Jan und ich sahen uns an, nickten uns zu und beschleunigten unsere Arbeit.

Unter Stress macht man Fehler. Wir standen unter Stress. Ein Moment der Unachtsamkeit reichte aus. Jan war gerade dabei, die letzte Schraubenmutter mit einem Schlüssel zu attackieren. Aber wie das mit letzten Muttern so ist, saß diese besonders fest. Jan griff nach, packte den Sechskantschlüssel mit beiden Händen und legte seine ganze Kraft hinein. Die Schraube gab nach.

»Scheiße!«, brüllte mein Kollege.

»Ist was passiert?«

Von der plötzlichen Nachgiebigkeit des Schraubobjektes überrascht, war er abgerutscht und mit der Hand voll gegen eine scharfe Blechkante geknallt. Der Schnitt ging tief. Jan blutete, was ich von meiner Position aber nicht sehen konnte. Trotz der Verletzung arbeitete er weiter. Mit vereinten Kräften deckten wir die Bühne noch mit ein paar Balken und einer Holzplatte ab, über die sich die Kraft der Decke verteilen sollte.

»Fertig!«, verkündete ich, »Jetzt hoch damit!«

Ich drückte den Aufwärtsknopf und die Bühne fuhr hoch. Unsere Konstruktion war abenteuerlich und ich hatte auch keine Ahnung, ob sie überhaupt funktionieren würde. Der hydraulische Antrieb ließ zwar vermuten, dass das Gerät einiges an Belastung aushielt, nur wer konnte schon sagen, wie viel die abzustützende Decke wog?

Es knackte und krachte, als die Holzplatte die Saaldecke erreichte und begann, den gebrochenen Balken hochzustemmen. Unwillkürlich duckten wir uns, doch die Decke hielt. Ganz im Gegenteil ließ dass Knacken und Knarren nach. Für einen Moment sah es tatsächlich so aus, als wäre das Schlimmste verhindert worden.

»Komm!«, meinte ich zu Jan, »Mehr können wir im Moment nicht tun. Lass uns erstmal um deine Verletzung kümmern.«

Kleine Verletzungen

»Du blutest!«, fasste Christiano Jans Zustand ebenso zutreffend wie banal zusammen, sodass man sich fragte, was daran so bemerkenswert war. Offenbar eine Menge, wenn man den Gesichtsausdruck unseres neuen Azubis richtig interpretierte. Christiano starrte völlig gebannt Jans Verletzung an, als wenn die Wunde einen fast schon magischen Bann auf ihn ausüben würde.

»Wenn du kein Blut sehen kannst, solltest du besser wegsehen.«, bemerkte ich knapp.

Bisher war ich noch nicht dazu gekommen, mir selbst einen Überblick über Jans Verwundung zu verschaffen. Eigentlich wollte ich zum Container der Bauleitung eilen, um den Erste-Hilfe Koffer zu holen, woran mich aber Christianos Reaktion hinderte.

»Geht es dir gut? Du siehst... bleich aus.«

Langsam begann ich mir auch Sorgen um unseren Portugiesen zu machen. Seine stierenden Augen waren immer noch starr auf Jan gerichtet. Christiano hatte seine Lippen zusammengepresst und nach innen gerollt. Er schien mehrfach schlucken zu müssen, wie jemand, dem der Speichel in den Mund läuft, weil ihm schlecht wird. Sollte unser Kollege etwa unter Hämophobie, der Angst vor Blut leiden? Seine erhöhte Atemfrequenz und die blasse Gesichtsfarbe ließen darauf schießen.

»Schau mich an!«, forderte ich Christiano auf und trat zwischen Jan und ihn. Die Unterbrechung des Blickkontakts zeigte sofort Wirkung. Christiano schreckte auf, als wenn er aus einer Trance erwacht wäre.

»Oh... ähm... ich...«, stammelte unser Kollege verlegen.

»Währst du so nett und holst uns den Erste-Hilfe Koffer? Er befindet sich ihm Container der Bauleitung.«

Diese Aufgabe sollte ihn beschäftigen und von seiner Panikattacke ablenken, was sie auch tat. Christiano ging und ich konnte mich endlich um Jan kümmern.

Blut - ich sah das Blut und erstarrte. Jans Wunde war nicht sonderlich groß oder gar lebensbedrohend, aber groß genug, dass man sie versorgen musste. Allerdings war dies nicht der Grund, warum ich erstarrte. Es war der Anblick des Blutes selbst, der mich fesselte. Es löste seltsame, beängstigende und völlig fremde Begierden in mir aus. Ich musste allen Ernstes dem Impuls widerstehen, mich auf Jan zu stürzen und ihm das Blut von der Hand zu lecken. Speichel schoss mir in den Mund. Eine Art Bluthunger - ein besserer Begriff fiel mir nicht ein - flammte in mir auf, dem zu widerstehen einiges an Willensstärke erforderte.

»Flo?«, hörte ich Marco wie aus weiter Ferne, »Geht es dir gut? Oh, bitte, lass ihn nicht auch noch unter Hämophobie leiden.«

Marco tat das, was ich kurz vorher getan hatte. Er trat zwischen Jan und mich, blockierte die freie Sicht auf das Blut und riss mich aus meiner Trance.

»Ähm...«, stammelte ich verlegen und rang mit Worten, »Ich glaube... ich glaube, ich kann auch kein Blut sehen.«

Das entsprach zwar nicht unbedingt der Wahrheit, schien mir aber immer noch plausibler, als das, was mir gerade durch den Kopf ging. Außerdem ersparte es peinliche Fragen, dessen Antworten mir selbst noch alles andere als klar waren. Ich hegte zwar einen Verdacht, der... nun ja... in jener Woche, für die mir jegliche Erinnerungen fehlten, muss ein wenig mehr geschehen sein, als ich bisher dachte. Und mich beschlich die vage Ahnung, dass unser junger, plötzlich aufgetauchter portugiesischer Azubi namens Christiano, nicht der war, der er zu sein vorgab.

War ich paranoid?

Vielleicht. Vielleicht hörte ich auch nur das Gras wachsen. Für sich genommen, war ein neuer Auszubildender nichts besonderes. Auch nicht, dass er schwul war. Dass dieser aber offensichtlich unter der gleichen Lichtallergie litt, wie ich, war seltsam. Nahm man auch noch die merkwürdige Reaktion auf Jans Blut hinzu, ließ das Christianos plötzliches Auftauchen bei Niederreuter in einem ganz anderen Licht erscheinen. Was wollte der Typ? Was wollte er von mir?


Zwei verletzte Kollegen an einem Tag gehören nicht wirklich zu den Leistungen, mit denen man glänzen konnte. Ganz im Gegenteil. Dass Mario für seinen Unfall selbst verantwortlich war, dürfte bei der Beurteilung meiner Fähigkeiten wohl kaum eine Rolle spielen. Bei seiner schwachsinnigen Aktion hatte er sich eine Gehirnerschütterung zugezogen, was hieß, dass er erst einmal für ein paar Tage ausfiel und ich Niederreuter erklären durfte, wie es dazu gekommen war. So sehr mir Marios Auftreten und Verhalten missfiel, war ich keine Petzte und präsentierte Niederreuter eine leicht geschönte Version des Vorfalls. Meine daneben stehenden Kollegen, schauten nur betroffen zu Boden.

»Ach, Florian«, meinte unser Boss, »Es ehrt dich, dass du Mario schützen willst, aber ich kenne Mario. Es war wieder einer seiner dummen Alleingänge, oder? Er wollte dir nicht glauben, dass die Decke instabil war.«

Ich sagte lieber nichts. Keine Antwort ist auch eine Antwort.

Jans Verletzung entpuppte sich zum Glück als wesentlich harmloser, als es auf den ersten Blick vermuten ließ. Niederreuter brachte ihn zwar zu einem Unfallarzt, dem aber nur die Aufgabe zukam, die provisorisch verbundene Wunde zu reinigen und mit einem Pflaster zu versorgen. Es musste noch nicht einmal etwas genäht werden. Jan blieb einsatzfähig und konnte uns weiter unterstützen.

Unsere vordringliche Tätigkeit bestand darin, die Decke zu sichern. Ich hatte mir einen Plan überlegt, ausgehend von unserer provisorischen Stütze eine Holzkonstruktion zu errichten, die sowohl die Decke abfangen, als auch genug Platz zum sicheren und ungehinderten Arbeiten lassen sollte. Die Kollegen aus Marios Transporter zeigten sich nach der Eskapade ihres Vordenkers angenehm kleinlaut und wagten kaum zu maulen, als ich anschließend die einzelnen Aufgaben verteilte. Wir arbeiteten im Pipelinebetrieb. Zwei Kollegen, der gepflasterte Jan und einer von Marios Leuten, schnitten außerhalb des Landhauses passende Holzbalken zu, während der Rest damit beschäftigt war, daraus ein stützendes Gitterwerk zusammenzupuzzlen.

Die Arbeit ging wirklich gut voran, obwohl wir überaus vorsichtig vorgehen mussten, da die Decke immer noch instabil war. Trotzdem hatten wir zum Feierabend gut ein viertel des Saals gesichert. Soweit man es beurteilen konnte, war damit die unmittelbare Gefahr, dass die Decke doch noch abstürzte, vorerst gebannt. Zufrieden mit unserem Werk, Marios Leute eingeschlossen, kehrten wir spät abends in die Firma zurück. Überstunden wurden gut bezahlt.

Spät Feierabend zu machen, barg für mich noch einen anderen Vorteil. Wir waren allein. Die anderen Kollegen hockten vermutlich schon mit einer Pulle Bier vor der Glotze und erholten sich von der Arbeit. Somit war niemand da, der mir das Leben schwer machen konnte. Marios Stress reichte für den Tag. Er reichte sogar für den Rest der Woche. Auf weitere halsbrecherische Alleingänge und Mobbingattacken meiner Teammitglieder konnte ich gut und gerne verzichten. Aber offenbar hatte mich das Schicksal erhört und meinte es gut mit mir, indem es darauf verzichtete, mir weitere Steine in den Weg zu legen. Der Rest der Woche verlief ruhig. Selbst Christiano verhielt sich so vollkommen unauffällig, als könnte er kein Wässerchen trüben. Man konnte fast auf die Idee kommen, dass er etwas von meinem Verdacht ahnte. Oder warum präsentierte er sich sonst als lernwilliger, aufmerksamer, aber ansonsten sehr, sehr unauffälliger Auszubildender? Abgesehen davon empfand ich so etwas wie Normalität in meinem Leben. Ein völlig neues Gefühl, und nicht das Schlechteste.


Es war Freitagabend. Die Saaldecke war inzwischen vollständig abgestützt und gesichert worden. Wir hatten sogar damit begonnen, die ersten Deckenkassetten zu entfernen und die Unterkonstruktion freizulegen. Bauleitung, Denkmalschützer, Niederreuter, der Bauherr und sogar sein widerlicher Vertreter waren sehr zufrieden, wenn nicht sogar erleichtert. Wir hatten einen guten Job getan.

»Wir sollten feiern!«

Das erste Mal seit drei Tagen sprach mich Christiano direkt an, wenn man von arbeitsbedingten Unterhaltungen einmal absah.

»Wie ist? Hast du Lust, mal mit mir auf eine Party zu gehen? Ich kenne da einen netten Club, der dir gefallen könnte.«

Party? Club? Ich war noch nie in einem Club.

»Was für ein Club?«

»Einfach nur ein netter, sehr relaxter Club.«, erwiderte Christiano in auffällig lockerem Plauderton.

»Ok!«, meinte ich und war von meiner eigenen Spontanität überrascht. Ja, ich wollte den Club besuchen. Vielleicht bot sich dort eine Möglichkeit, mehr über diesen Christiano in Erfahrung zu bekommen. Ich hatte ihn beobachtet. Genaugenommen hatte ich es versucht. Aber der Mann war so unauffällig, wie eine Tanne im Tannenwald. Vom extrovertierten, spontanen Christiano des ersten Tages war nichts mehr zu sehen. Es war, als hätte er eine Duftmarke gesetzt, damit jeder gleich wusste, mit wem er es zu tun hatte, um sich anschließend dezent zurückzuziehen und das zu machen, wofür er von Niederreuter bezahlt wurde.

»Ok?«, mein neuer Kollege war ebenfalls überrascht. Ich musste lachen: »Ja, wirklich. Ich komme gerne mit.«

Ein 1000 Watt Scheinwerfer flammte auf. So hell strahlte Christianos Freude über meine Antwort: »Gut, aber wir sollten noch ein wenig an deinem Outfit feilen. Besitzt du irgendwelche clubfähigen Klamotten?«

Natürlich nicht. Ich war ein Mauerblümchen, das bisher peinlichst darauf bedacht war, bloß nicht aufzufallen. Jede etwas modischere, vielleicht auch körperbetontere Bekleidung hätte nur für Stress gesorgt. Ich konnte mir die Häme und den Spott meiner Kollegen lebhaft vorstellen: »Wie siehst du denn aus? Willst du uns anschwulen, oder was?« Also war Unauffälligkeit Trumpf. Clubgeeignete Kleidung, das wusste ich immerhin, zielte eher in die entgegengesetzte Richtung und gehörten somit nicht zum Inhalt meines Kleiderschranks. Dementsprechend schüttelte ich verneinend den Kopf.

»Macht nix!«, Christiano grinste, wirkte aber ein klein wenig unsicher, ob er sich zu weit aus dem Fenster lehnte, »Du kommst einfach mit zu mir, wir essen einen Happen und plündern anschließend meinen Kleiderschrank. Da sollte genug zu finden sein, das dir passen dürfte.«

Ich musste grinsen: »Ok, ich komme mit.«

Auch damit hatte mein Kollege nicht gerechnet. Ich übrigens auch nicht. Aber warum nicht? Wollte Christiano etwas von mir? Vielleicht. Und wenn ja, dann fühlte ich mich geschmeichelt.

»Na dann... ähm... komm mit!«


Was folgte, war eine Reihe von Überraschungen. Die Erste: Christiano verfügte über ein Auto. Genaugenommen besaß er einen tiefschwarzen, zweisitzigen Sportwagen, der das mehrfache meines Jahresgehalts gekostet haben dürfte. Ich staunte nicht schlecht, als er völlig nonchalant auf das Fahrzeug deutete und »Steig ein!« meinte.

Schwarz schien die dominierende Farbe des Wagens zu sein. Ich öffnete die Beifahrertür und blickte in ein dunkles Inneres. Die Fenster waren schwarz, das Leder der Sitze war schwarz und auch die Seiten- und Armaturenbrettverkleidungen bestanden aus schwarzem Leder. Einzig ein paar aluminiumfarbene Zierleisten, sowie feine rote Nähte an den Lederteilen sorgten für Akzente. Alles wirkte sehr edel und trotz der dunklen Farbe angenehm warm.

Ich ließ mich in den Sportsitz gleiten, der sich wie ein weicher Handschuh an meinen Körper schmiegte. Ich begann zu ahnen, warum manche Leute Autofahren mit Sex verglichen. Der Wagen hatte etwas sinnliches. Ein Effekt, der noch gesteigert wurde, als Christiano das Triebwerk des Boliden zündete, das tieffrequente Vibrationen verströmte.

»Bereit?«, mein Chauffeur blickte verstohlen zu mir herüber.

»Immer!«

»Gut!«

Wir brausten davon. Christiano steuerte den Wagen wie ein Profi. Wenn ich insgeheim jungendlichen Übermut und Selbstüberschätzung befürchtet hatte, wurde ich eines besseren belehrt. Mein Kollege fuhr beherrscht, entspannt und sehr überlegt, ohne dabei sonderlich lahmarschig zu sein. Seinen Fahrstil konnte man nur umweltbewusst und trotzdem dynamisch nennen.

»Wo wohnst du eigentlich?«, fragte ich eigentlich nur, um die Stille zu brechen.

»Lass dich überraschen.«, meinte Christiano und bog auf den Zubringer der nahen Autobahn ein.

Es war Freitagabend. Die meisten Leute waren bereits daheim. Die Straßen waren nur spärlich belebt. Die Siebengangautomatik wechselte in den höchsten Gang, Christiano drückte langsam aber kontinuierlich das Gaspedal hinab. Der Wagen beschleunigte. Der Seitenstreifen begann zu verschwimmen. Wir sausten dahin.

Nach einer guten halben Stunde wurde mir klar, wohin uns Christiano brachte. Vor uns erstrahlten die Lichter der Großstadt. Wie oft war ich hier gewesen? Einmal? Zweimal? Auf jeden Fall war es lange her.

Plötzlich fiel es mir wieder ein. Es war Weihnachten gewesen. Meine Eltern hatten einen Familienausflug unternommen, um mit mir auf den Weihnachtsmarkt zu gehen. Anschließend sind wir in die Spielzeugabteilung eines großen Warenhauses gegangen, wo ich mich in einen großen Teddybären verliebte, der dann ganz überraschend am Heiligen Abend unterm Weihnachtsbaum auf mich wartete.

Während ich meinen Erinnerungen nachging, hatte ich überhaupt nicht bemerkt, dass Christiano die Autobahn verlassen hatte. Als ich dann aus dem Fenster schaute, fuhren wir durch eine merkwürdige, fast unheimliche Umgebung der Innenstadt, die zu dieser Tageszeit vollkommen verlassen wirkte. Um uns türmten sich Hochhäuser. Es musste geregnet haben, denn die Straßenlaternen spiegelten sich im nassen Asphalt. Das Licht einer roten Ampel reflektierte sich in der Glasfassade eines der Wolkenkratzer. Christiano bog in eine Seitenstraße, dem Verkehrsschild nach zu urteilen eine Sackgasse. Aber nicht für uns. Mein Kollege drückte einen unscheinbaren Knopf auf der Mittelkonsole seines Wagens und vor uns öffnete sich ein Rolltor an einem der Häuser. Wir fuhren in die Einfahrt, worauf sich das Tor sofort wieder schloss. Wer zum Teufel war dieser Christiano?

Vor uns lag eine Rampe, die wir hinab fuhren. Wir befanden uns in der Tiefgarage eines der Hochhäuser. Die meisten Parkplätze waren leer, was nicht sonderlich verwunderte. Nach Feierabend waren Bürogebäude im Allgemeinen wie ausgestorben. Christiano hatte freie Auswahl, wenn es darum ging, seinen Wagen abzustellen, doch dieser machte keine Anstalten dies zu tun. Stattdessen steuerte er die nächste Rampe an, die uns ein weiteres Stockwerk nach unten brachte. Dort angekommen hielt er auf den hintersten Bereich des Parkdecks zu. Erst wenige Meter vor dem Ende erkannte ich, dass das, was ich für eine Wand hielt, ein weiteres Rolltor war, das sich nun öffnete und den Weg in eine Einzelgarage freigab.

»Als Diebstahlschutz. Der war nicht ganz billig.«, erläuterte Christiano und klang dabei genauso glaubwürdig, wie ein Gebrauchtwagenhändler. Insbesondere, als sich das Rolltor hinter uns schloss, wir ausstiegen und uns Christiano zu einer codekartengesicherten Tür führte. Eine Privatgarage mit eigenem Zugang nur aus Diebstahlschutzgründen? Unbedingt, und den Weihnachtsmann gibt es auch, oder?

Hinter der Tür befand sich ein kleiner Raum, der außer der Tür nur noch aus zwei weitere Türen bestand. Eine war mit Notausgang beschriftet, die andere nicht. Die besaß nur eine Gegensprechanlage mit Kamera, Tastenfeld und einen Kartenschlitz. Die letzten beiden Komponenten nutzte Christiano, um die Tür vor uns zu öffnen. Wir betraten eine Fahrstuhlkabine. Christiano tippte erneut einen Code in ein Tastenfeld ein und die Kabine setzte sich in Bewegung.

»Dritter Stock: Miederwaren, Unterhosen, Socken, Bettbezüge!«, rief mein Kollege und schreckte mich aus meiner Trance. Ich muss gestehen, ich war ein wenig weggetreten. Zu viele Fragen gingen mir durch den Kopf. Wer war Christiano? Warum arbeitete er bei Niederreuter? Warum arbeitete er mit mir zusammen? Warum hatte er mich zu sich eingeladen? Was wollte er von mir?

»Willkommen in meinem kleinem Reich!«

Das Apartment

Christianos kleines Reich war alles andere als klein. Mit meinem Vater teilte ich mir eine 72m² Wohnung. Diese Wohnung hier war... keine Ahnung. Riesig? Als sich die Fahrstuhltür öffnete, blickte ich direkt in einen Wohnraum von der Größe eines Ballsaals. Vielleicht übertreibe ich auch. Auf jeden Fall erschien mir der Raum riesig. Immerhin war er groß genug, dass man abgegrenzte Bereiche erschließen konnte. So war der Eingangsbereich gefliest, verfügte über eine kleine Garderobe und war mit einem etwa hüfthohen Raumteiler vom restlichen Raum abgeteilt.

Auf den zweiten Blick erkannte ich, dass es sich bei Christianos Wohnung um ein Einzimmerapartment handeln musste. Abgesehen vom Badezimmer fand sich alles, was man von einer Wohnung erwarten würde, in diesem einem Raum, angefangen bei einer Wohnlandschaft, über einen Arbeits- und Schlafbereich, bis hin zu einer Wohnküche mit Tresen. Alles war einheitlich designet. Auch hier herrschten warme, dunkle Farbtöne vor. Schränke, Tische, Wände waren aus Holz in braunschwarzer Wenge, welches von polierten Aluminiumleisten eingefasst war. Natürlich waren alle Sitzgelegenheiten mit schwarzem Leder bezogen. Mit anderen Worten, Christianos Wohnung war gleichzeitig hypermodern und wohnlich. Trotz der stilistischen Strenge, wirkte sie nicht kalt. Ganz im Gegenteil. Vielleicht lag es auch daran, dass es sich bei Christiano offenbar um keinen pedantischen Ordnungsfanatiker handelte, was bedeutete, dass man sehen konnte, dass das Apartment bewohnt war, ohne dass es unordentlich wirkte.

»Wo sind wir?«, fragte ich neugierig.

»In meinem Dachapartment.«, erwiderte Christiano wenig erhellend.

Für ein Dachapartment fehlte ein sehr entscheidendes Detail: Es gab nicht ein Fenster. Eine Wand bestand aus grauem Sichtbeton, der das vorgelagerte Sideboard aus Wenge und Aluminium richtig gut zur Geltung brachte. Eine andere Wand bestand ausschließlich aus eingefassten, hinterleuchteten Milchglasscheiben und diente als Hauptlichtquelle des Raums. Als wir eintraten regelte Christiano die Beleuchtung langsam hoch. Wenn ich es richtig erkannte, konnte man jedes einzelne Paneel getrennt regeln. Sie schienen sogar aus drei Lichtbändern, oben, mitte und unten, aufgebaut zu sein, sodass sich sehr effektvolle Lichtstimmungen einstellen ließen. Doch änderte es nichts daran, dass der Raum über kein Fenster verfügte, durch das natürliches Licht eindringen konnte.

»Ich weiß, was dir durch den Kopf geht.«, grinste mich Christiano an und trat neben ein kleines, unauffälliges Bedienfeld, »Du vermisst die Fenster.«

Mein Kollege griff in seine Hosentasche und holte einen Schlüssel hervor, den er in ein Schloss auf dem Bedienfeld steckte und drehte. Eine Taste leuchtete grün auf, die gedrückt wurde. Völlig lautlos senkte sich die dritte Wand des Apartments ab. Sie verschwand einfach im Boden und gab den Blick auf das atemberaubende Panorama der nächtlichen Großstadt frei.

»Ich kann mit Sonnenlicht nicht viel anfangen.«, bemerkte Christiano mit einem sentimentalen Klang in der Stimme, »Du weißt, ich leide ebenfalls unter einer Lichtallergie. Nicht auszudenken, morgens von der Sonne gegrillt zu werden. Die Wand ist mit einer Jahresschaltuhr und einem Lichtsensor gekoppelt. Sobald es dämmert, schließt sich die Wand.«

Das klang sehr dramatisch und in meinen Augen auch etwas übertrieben. Auf der anderen Seite konnte ich mich noch ziemlich gut an meine eigene Reaktion auf das Sonnenlicht erinnern. Es brannte wirklich wie Feuer.

»Ich liebe die Nacht.«, Christiano stand vor der großen Panoramascheibe. Dunkel zeichnete sich sein Körper vor der Silhouette der Stadt ab. Plötzlich drehte er sich zu mir um, »Komm, lass uns etwas essen.«

Christiano kochte. Eine halbe Stunde später war ein leichtes, asiatisches Reisgeflügelgericht zubereitet und stand sternekochmäßig angerichtet auf dem Esstisch. Der Mann konnte erstaunlich gut kochen.

»Nimm doch bitte Platz.«

Mein Kollege deutete auf einen der freien Stühle und ließ sich selbst auf dem anderen nieder. Er wirkte nervös und auch ein wenig unsicher. Entsprechend seltsam gestaltete sich das Essen. Wir aßen schweigend, doch ab und zu kreuzten sich unsere Blicke, was jedesmal zu einem peinlich, unsicherem Moment führte.

»Ok.«, ich legte mein Besteck beiseite, »Was ist los? Wenn das hier ein Date sein soll, stellen wir uns etwas ungelenk an, oder?«

»Ein Date?«, Christiano schaute mich mit einer Mischung aus Verunsicherung und Amüsiertheit an, »Ich dachte, du bist nicht schwul?«

Ich lief rot an und schaute auf meinen fast leeren Teller: »Du weißt sehr gut, dass ich schwul bin. Du hast es gleich am ersten Tag gesehen, oder?«

»Ja, ich habe es gewusst. Aber...«

»Was?«

»Ich hätte dich niemals bedrängt, es zuzugeben. Deine Kollegen machen dir das Leben auch so schon schwer genug. Aber ehrlich gesagt, war ich wirklich beeindruckt, wie du dann die Woche mit den Typen klar gekommen bist.«

»Du hast mir gezeigt, wie es funktioniert.«, gestand ich, »Im ersten Moment war ich völlig geschockt, wie du den Typen entgegengetreten bist. Aber dann... man darf nicht zurückweichen, oder?«

»Niemals!«, bestätigte Christiano, »In meiner ersten Woche bei Niederreuter, haben die Typen über dich getratscht und sind über dich hergezogen. Weißt du warum? Weil du dich nie gewehrt hast. Wenn dich jemand mobbt, darfst du nicht zurückweichen, weil dein Gegenüber merkt, dass er einen Effekt erzielt. Stößt er hingegen auf Widerstand, sucht er sich meistens ein anderes Opfer. Mobber sind feige Typen, die von den Schwächen ihrer Opfer leben.«

»Danke!«

»Danke?«, Christiano lachte ein fröhliches, offenes Lachen, »Wofür? Du bist selbst drauf gekommen. Jan und Marco bekehrt zu haben, ist einzig und allein dein Verdienst. Du besitzt eine starke Persönlichkeit. Du brauchtest nur einen kleinen Schubser in die richtige Richtung, damit du begannst, an dich zu glauben.«

»Und jetzt?«

»Suchen wir ein paar geile Klamotten für dich raus. Oder hast du keine Lust auf Party?«

Wir hatten unser Essen beendet und waren aufgestanden. Ich stand an der großen Panoramascheibe und betrachtete die Lichter der Stadt.

»Du meintest das wirklich ernst?«

Ich glaube, mit dieser Frage hatte ich Christiano ein klein wenig gekränkt. Jedenfalls sah er mich ein wenig gekränkt an, lächelte dann aber: »Hast du gedacht, ich wollte dich verführen?«

»Nein, nicht wirklich.«, gab ich zu und drehte mich zu ihm um, »Ich glaube zwar, dass du irgendein Interesse an mir hegst, aber mich in die Kiste zu bekommen, scheint es nicht zu sein.«

Nach dieser Bemerkung passierte etwas seltsames. Christiano bedachte mich mit einem langen, intensiven und sehr forschenden Blick. Nach einer Weile nickte er, als wenn er entdeckt hatte, was er suchte, kam auf mich zu und legte mir seine Hände auf die Schultern.

»Du findest dies alles verwirrend, oder? Meine Wohnung, mein Auto, mein plötzliches Auftauchen bei Niederreuter. Du fragst dich, wer dieser Typ eigentlich wirklich ist. So wie er wohnt, scheint er es kaum nötig zu haben, als Tischlerlehrling bei Niederreuter zu arbeiten. Ich kann es in deinen Augen sehen. Du vermutest ein Geheimnis. Du fragst dich, was mit dir geschehen ist. Was in dieser einen Woche passiert ist, zu der dir jegliche Erinnerungen fehlen. Du fragst dich auch, ob es Zufall sein kann, dass ein seltsamer Typ wie ich, unter der gleichen Lichtallergie leidet.«

»Diese Fragen sind mir durch den Kopf gegangen...«

»Natürlich sind sie das!«, Christiano strahlte zufrieden, »Du bist ein schlaues Kerlchen. Ich wäre enttäuscht, wenn es nicht so wäre. Ich habe eine Frage an dich: Vertraust du mir?«

Die Sache wurde immer seltsamer und ich immer neugieriger. Ich entschied mitzuspielen und ehrlich zu sein.

»Zu einem gewissen Grad vertraue ich dir. Ich wäre nicht hier, wenn ich es nicht täte, oder?«

»Eine gute Antwort.«, Christiano überlegte einen Moment, »Wenn ich dir verspreche, dass ich dich nie hintergehen, betrügen, verraten und immer ehrlich zu dir sein werde, würdest du mir glauben?«

»Zu einem gewissen Grad würde ich dir glauben. Allerdings bin ich zu oft auf die Fresse geflogen, als dass ich blind vertraue. Vertrauen muss verdient werden.«

»Und wieder eine gute Antwort.«, Christiano überlegte wieder einen Moment. Ich hatte den Eindruck, dass er sehr genau abwägte, was er sagen konnte und was nicht. »Florian... ich werde versuchen, mir dein Vertrauen zu verdienen.«

»Aber?«, so wie mein Kollege seinen letzten Satz formuliert hatte, drängte sich ein Aber einfach auf.

»Ich werde dich nie belügen, allerdings werde ich nicht alle deine Fragen, die dir auf der Seele brennen, beantworten. Glaub mir, es ist besser so, wenn du im Moment noch nicht alles verstehst und mir einfach vertraust.«

»Was bist du?«

Christianos Worte klangen beunruhigend. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken.

»Sagen wir, dass ich zurzeit so etwas wie dein Lehrer und Beschützer bin. Und wenn du es zulässt, wäre ich auch gerne dein Freund.«

»Lehrer? Beschützer?«

Christiano bedachte mich mit einem freundschaftlich, spöttischen Blick: »Du weißt, dass du dich verändert hast. Du kannst es in dir spüren. Du fühlst dich kräftiger, selbstsicherer, selbstbewusster. Typen wie Mario oder Andreas jagen dir keine Angst mehr ein. Du weichst nicht mehr zurück, wenn man dich angreift.«

»Ja...«, meine Stimme war fast nur ein Flüstern. Woher wusste Christiano, was in mir vorging.

»Ich bin da, um dich auf deinem Weg zu unterstützen. Ich weiß, was mit dir geschieht und kann dich dabei unterstützen.«

»Was geschieht mit mir?«

In einer Situation wie dieser, sieht das Protokoll eigentlich Angst, Panik, Verunsicherung oder wenigstens ein klein wenig Nervosität vor. Nichts davon war der Fall. Ich blieb ruhig und war eher neugierig. Wenn Christiano mein Beschützer und Lehrer war, wovor beschützte er mich dann und was wollte er mir lehren? Wer schickte ihn? Wieso mich? Was war an mir besonders, dass jemand so eine Art persönlichen Coach für mich abstellte?

»Nichts vor dem man sich fürchten müsste.«, wurde meine Frage beantwortet. Christiano stellte sich neben mich und schaute ebenfalls auf die nächtliche Stadt, »Vor drei Wochen hast du eine Entscheidung getroffen, die dein Leben grundlegend verändern wird. Du hast neue Freunde gefunden, die dich schätzen und lieben.«

»Hab ich?«, ich konnte mich an nichts davon erinnern, allerdings fühlte ich, dass Christiano die Wahrheit sprach. »Wir kennen uns länger, als die fünf Tage der letzten Woche?«

»Ein wenig.«, antwortete mein dunkler Ritter neben mir. Wie kam ich auf diese Bezeichnung?

»Waren wir... Freunde?«

»Was denkst du? Was sagt dir dein Gefühl?«

Erinnern konnte ich mich natürlich nicht, aber wissen tat ich es trotzdem: »Ich glaube schon. Kumpel?«

»Stimmt, wir waren Freunde, gute Kumpel, wenn du so willst.«, mein Kumpel klang erfreut.

»Nur das ich alles richtig verstehe. Du weißt, was in jener bewussten Woche mit mir passiert ist. Ich habe eine wichtige Entscheidung für mein Leben getroffen und neue Freunde gefunden. Irgendetwas hat mich verändert, oder ist dabei, mich zu verändern. Es macht mich sowohl körperlich als auch psychisch stärker. Du bist ein Kumpel von mir, ein echter Freund, bittest mich aber, dich nicht zu fragen, was mit mir geschehen ist oder noch geschehen wird. Stimmt das soweit?«

»Du hast die Situation perfekt auf den Punkt gebracht!«

»Dir ist schon klar, wie absurd dein Wunsch ist, oder?«

»Absolut!«, lachte Christiano und stupste mir in die Seite, »Und jetzt entspann dich und lass uns auf eine Party gehen!«


Dieser Kleiderschrank war einfach erstaunlich, jedenfalls für meine bescheidenen Verhältnisse. Er war begehbar, also eigentlich eine kleine Kammer, beleuchtet und mit massenweise geilen Klamotten vollgestopft, von denen ich 99 Prozent niemals gewagt hätte zu tragen. Nicht dass sie sonderlich extravagant oder gar obszön waren, gut, solche Kleidungsstücke gab es auch, soweit man sie überhaupt Kleidung nennen konnte. Das meiste war ziemlich normal, wenn man davon absah, dass es aber auch ziemlich körperbetont geschnitten war. Himmel, bei Christianos lowcut Jeans hätte man mich wegen sexueller Belästigung angemacht. Mit Klamotten wie seinen in Niederreuters Firma aufzukreuzen hätte bedeutet, Öl ins Feuer zu gießen, und zwar ganze Tankladungen.

Umso mehr hatte ich Lust, es wirklich mal drauf ankommen zu lassen. Wir wollten schließlich clubben gehen, da sollte man sich doch ein wenig aufbrezeln, oder?

»Und, wonach steht dir der Sinn?«, fragte mein neuer Kumpel, »Zurückhaltend, klassisch, stylisch oder ein wenig provokant?«

»Kommt wohl darauf an, wo du mit mir hin willst.«

»Stimmt!«, Christiano ließ seine Hände über verschiedene Outfits wandern, »Ok, ich habe da eine Idee. Vertrau mir einfach.«

Die Sache mit dem Vertrauen wurde langsam zur Gewohnheit. Ich ließ mich einkleiden, durfte aber nicht gucken. Christiano probierte ein paar Sachen aus, kam aber eigentlich sehr schnell zu einem für ihn zufriedenstellenden Ergebnis. Dann durfte ich schauen.

»Wow!«, ich musste schlucken, »Meinst du, ich kann so rumlaufen?«

»Absolut!«, mein neuer, alter Freund grinste mich lüstern an, »Du hast einen geilen Körper, warum versteckst du ihn? Ich habe umdisponiert. Wir fahren zu einem etwas wilderen Laden. Aber keine Angst, die Leute mögen etwas wilder aussehen, sind aber eigentlich ganz friedlich.«

Mein neues Outfit war eigentlich nicht sonderlich außergewöhnlich und beschränkte sich auf ein paar Stilzitate. Die Hose spielte ein wenig mit der Gothszene, das war es aber auch schon. Ähnliches galt fürs T-Shirt, das über einen zwar netten Druck auf Brust und Rücken verfügte, es aber bei der Farbgestaltung nicht übertrieb. Was die Sache zum Hingucker machte, waren die Schnitte, die die Linien meines Körpers sehr effektvoll zur Geltung brachten. Die Sachen saßen wie angegossen. Ich wollte kaum glauben, dass ich derjenige war, der mich im körpergroßen Spiegel anschaute. Christiano wusste, wie man sich attraktiv verpackte.

Das galt auch für ihn, der ein etwas gewagteres Outfit gewählt hatte. Oder wie soll man Kleidungsstücke anders bezeichnen, die Leder, Lycra und dünnes, weiches Neopren verwendeten? Von den breiten Lederarmbändern, die er sich anlegte und ihm einen kräftigen Männlichkeitsschub verpassten, will ich erst gar nicht anfangen.

Passend zu seiner etwas herberen Erscheinung, wählte meine Gastgeber auch das Fahrzeug, das uns zur Partylocation befördern sollte, einer Harley Davidson Night Rod Special. Bei unserer Ankunft war mir das Motorrad gar nicht aufgefallen, dabei parkte es direkt neben dem Sportwagen. Wir mussten unheimlich aussehen. Unser Motorrad war schwarz, unsere Mäntel waren schwarz, sogar unsere Handschuhe und Helme waren schwarz. War Christianos Beschränkung auf diese eine Unfarbe einfallslos oder gar langweilig? Nein, sie entsprach ihm. Er erinnerte mich an eine Märchenfigur. Christiano war der schwarze Ritter, nicht böse, aber für böse gehalten und natürlich von einem dunklen Geheimnis umgeben.

Der Club

Und wieder waren wir auf der Straße. Rollerfahren ist ja ganz nett, aber mit der Harley dahinzugleiten war geil. Der Asphalt war fast abgetrocknet. Hier und da glänzte noch eine feuchte Stelle, in der sich das Licht der Straßenlaternen spiegelte. Die Stadt war wie ausgestorben, jedenfalls die Gegend, durch die unser Weg führte. Da ich die Gegend nicht kannte, wusste ich nicht wohin wir fuhren. Ich hockte hinter Christiano, hielt mich an ihm fest und ließ mich überraschen.

Unser Weg führte uns durch Wirtschaftszentren mit seinen Hochhäusern in ein Gebiet früherer Industrieunternehmen. Mehr und mehr waren die Straßen von alten, verrammelten Fabrikgebäuden gesäumt. Verrostete Firmenschilder erzählten von früheren Zeiten, als es noch aus Schloten rauchten und der Geruch von Öl und Teer in der Luft hing. Wo wollte Christiano mit mir hin?

Die Antwort lautete: In ein altes Umspannwerk. Mein neuer Freund steuerte das wohl schäbigste Industriegelände an, das ich jemals gesehen hatte. Wir erreichten eine verwitterte, rote Ziegelwand. Ein Emailleschild, das schon bessere Tage erlebt hatte, klärte darüber auf, dass man sich vor dem Umspannwerk Nordost IV befand. Christiano bremste leicht ab und ließ das Motorrad langsam bis zu einem rostigen, halb geöffneten Werkstor aus Schmiedeeisen rollen. Langsam fuhren wir auf das Gelände.

Vor meinen Augen zeigte sich ein gespenstischer Ort. Früher wurde hier der Strom für die umliegenden Fabriken verteilt, doch inzwischen war die Natur damit beschäftigt, das Gelände zurückzuerobern. Trotzdem konnte man immer noch gut die Metall- und Porzellankonstruktionen eines Hochspannungsverteilerfeldes erkennen. Vor mir schauten turmhohe Hochspannungsschalter aus einer verwilderten Wiese hervor. Die Stahlskelette einer Verteilerschiene erschien im Scheinwerferlicht der Harley und warf bizarre Schatten. Alte Hochspannungsleitungen hingen von verrosteten Traversen herab. Porzellanisolatoren lagen im Gras oder hingen an Hochspannungsmasten, deren Leitungen längst gekappt waren.

Langsam und vorsichtig rollten wir einen rissigen Asphaltweg entlang, der an einem hohen, kastenförmigen Gebäude endete. Die Front zierte lange, schmale Fensterreihe hinter der ich schwaches Flackern von Lichtern ausmachen konnte. Wir hatten unser Ziel erreicht. Vor dem alten Umspannwerk, das aus den gleichen roten Ziegeln erbaut war, wie die Grundstücksmauer, parkten mehrere Motorräder und ein paar wenige Autos.

»Bereit?«, war alles, was Christiano mich fragte, was ich mit einem Nicken bejahte.

Ich muss zugeben, dass mir mulmig zumute war. Für meinen allerersten Besuch eines Clubs war das Ambiente ein klein wenig angsteinflößend.

»Komm!«

Mein neuer Freund führte uns zu einer gemauerten Kellertreppe, an dessen Fuß eine graue Stahltür den Weg versperrte. Eine kleine, funzelige Glühlampe von bestenfalls 15 Watt glimmte über dem Eingang. Christiano klopfte und die Tür öffnete sich. Wir traten ein. Ein Türsteher musterte uns ausgiebig. Ich wäre am liebsten wieder gegangen. Der Typ war locker 2 Meter groß, besaß das Kreuz eines Kleiderschranks, und war außer mit einer Lederhose und schweren Stiefeln unbekleidet, wenn auch nicht nackt. Die großflächigen Tätowierungen auf Brust, Rücken, Schultern und Armen ließen den Kerl irgendwie bekleidet aussehen. Auf jeden Fall war er niemand, dem ich gerne im Dunkeln begegnen wollte. Im Vorraum des Clubs war es erschreckend dunkel.

»Christiano.«, begrüßte der Typ meinen Freund mit einem respektvollen Nicken, deutete dann aber auf mich, »Kennt er die Regeln?«

»Nein, er ist... noch nicht so weit.«, erwiderte mein Kollege geheimnisvoll.

»Gut, dann befindet er sich in deiner Verantwortung, klar?«

»Natürlich!«

Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, Objekt eines Gespräches zu sein, aber selbst kein Wort davon zu verstehen. Der Kleiderschrank nickte erneut und öffnete uns eine weitere Stahltür. Dumpfe Bässe schlugen uns entgegen.

»Was sollte das eben?«, fragte ich Christiano, nachdem sich die Tür hinter uns wieder geschlossen hatte.

»Nichts was dich beunruhigen sollte. Wir sind hier, um Spaß zu haben. Also lass uns Spaß haben.«

Spaß? Dafür war ich viel zu aufgeregt. Sobald ich mich an die schummerige Beleuchtung gewöhnt hatte, was erstaunlich schnell ging, und meine Umgebung ausmachen konnte, kam ich aus dem faszinierten Staunen nicht mehr heraus. Der Club war nicht nur krass, sondern auch bizarr, wild, verwegen und... er war all das, was ich mir in meinen extremsten Vorstellungen nicht vorzustellen gewagt hatte. Männlein wie Weiblein tummelten sich in den erstaunlichsten Outfits, wobei auch hier eher dunkle Farbtöne, wie schwarz, schwarz und schwarz dominierten. Wir traten durch eine Art Becken in den Raum, dessen Mitte als Tanzfläche fungierte. Als einzige Lichtquelle dienten weiße Scheinwerfer, die im Takt der Musik vor sich hin pulsierten und eine wogende und wabernde Masse Tanzender beleuchtete. Farben schienen hier verpönt zu sein.

Aus dem Tanzbecken führten vier Stahltreppen auf eine höhere Ebene, von der man auf die Tanzfläche hinab sehen konnte. Auf den dem Becken abgewandten Seiten war der Raum in mehrere Buchten gegliedert, in denen früher die Transformatoren des Umspannwerks gestanden haben mussten. Dies konnte man daran erkennen, dass in einer Bucht noch so ein Monster stand und in den anderen immer noch die riesigen Porzellanisolatoren hingen, an denen die Stromleiter zu den Umformern geführt wurden. Inzwischen dienten sie einem anderen Zweck. Zwei Buchten waren als Bar ausgebaut worden, während die anderen coole Chilloutzonen beherbergten. An der Stirnseite der Halle, deren Wand mit den alten Originalschalttafeln aus Marmor besetzt war, hatte man den DJ mit seiner Anlage platziert.

»Lass uns etwas zu trinken holen.«, meinte mein Gastgeber und manövrierte uns durch die Massen.

Diese Massen, sie beobachteten uns. Ich bildete mir das nicht ein. Wir wurden betrachtet, gemustert und eben auch beobachtet. Genaugenommen verfolgten die Augen der Partygäste meinen Begleiter, wobei ich die Blicke nicht recht deuten konnte. Erstaunte Neugier traf es noch am besten. Hier und da reckten sich sogar Köpfe, um Christianos Aufmerksamkeit zu erhaschen. Soweit er dies bemerkte, ließ sich mein Freund zu einem bestätigenden Kopfnicken hinreißen. Der Mann schien hier bekannt wie ein bunter Hund zu sein.

»Du hast ja Mut, hier aufzukreuzen!«

Ein Typ in klassischem Gothicoutfit, schwarze Bondagehose und Rüschenhemd, stand uns gegenüber. Der Mann hätte ganz nett aussehen können, hätte er es nicht mit dem Kajalstift ein klein wenig übertrieben.

»Aber Malcom«, erwiderte Christiano superfreundlich, »Wir befinden uns auf neutralem Boden. Es gibt keinen Grund, nicht hier sein zu dürfen, oder?«

»Dann stimmt es also? Du bist wirklich...«

»Ja!«, unterbrach Christiano.

»Interessant.«

Ich wurde aus dem Blick des Typs namens Malcom nicht ganz schlau. Er taxierte meinen neuen Freund auf eine Weise, die mir nicht gefiel. Noch weniger gefiel mir, als sich sein Interesse dann mir zuwandte. Es fühlte sich an, als wenn mich seine Augen begrabbelten. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als er sich über die Lippen leckte.

»Versuch es gar nicht erst.«, meinte Christiano freundlich, wobei ein deutlich ermahnender Unterton mitschwang.

»Ich?«, kam es ziemlich tuckig von Malcom, obwohl der Mann eigentlich überhaupt nicht tuckig war, wenn man von diesem dummen Kajalstift... aber lassen wir das.

»Sag mal, hast du Michael gesehen?«, wechselte Christiano das Thema.

»Ich versteh nicht, was du an dem Typen findest. Ja, er ist hier. Er liegt dort hinten!«, Malcom deutete gelangweilt in Richtung einer der Buchten, gähnte demonstrativ und meinte, »Man sieht sich!«

Und schon war er in der Masse verschwunden. Er war seltsamer Typ. Noch seltsamer empfand ich allerdings, dass mein neuer Freund ihn offensichtlich ganz gut kannte. Christiano schien meine Gedanken zu erraten.

»Ein entfernter Bekannter. Ein sehr entfernter Bekannter.«, kam es entschuldigend, »Komm, lass uns ein paar Getränke holen. Ich will dich einem Freund vorstellen.«

»Ok!«

Wir holten keine Getränke, Christiano holte sie. Ich wartete und beobachtete. Ich kann nicht behaupten, dass ich große Erfahrungen mit irgendwelchen Clubs vorweisen konnte. Ganz im Gegenteil. Dies war mein allererster Clubbesuch überhaupt. Trotzdem, der Laden war seltsam. Seine Stimmung war seltsam. Die Musik war absolut geil, ging sofort in Blut und Beine über. Die Leute tanzten, tranken, flirteten und amüsierten sich. Und doch... ich glaube nicht, dass man es auf meinen begrenzten Erfahrungsschatz zurückführen kann, dass mich das Gefühl beschlich, dass irgendetwas an diesem Club anders war, als in anderen Clubs.

Ich schaute genauer hin, beobachtete, ließ die Atmosphäre, das Licht, die Musik auf mich wirken. Ich tauchte ein. Ehe ich mich versah, rutschte ich in einen tranceartigen Zustand. Entfernungen veränderten sich. Nahes wirkte fern und Fernes wirkte nah. Die Musik reduzierte sich auf einen entfernten Subtext, während die Stimmen der Leute deutlich hervortraten, ohne dabei verständlich zu werden. Heimliche Worte wurden gewispert. Berührungen ausgetauscht. Ein Mund öffnete sich, lange, spitze Eckzähne näherten sich...

»Ah, da bist du!«

Das Bild war weg. Christiano hatte unsere Getränke und drückte mir eines davon in die Hand. Ein Cocktail mit Partyschirmchen. Mit Partyschirmchen? Hier? In diesem Laden?

Wir meanderten durch die wie Eisberge umhertreibenden Massen zu jener ehemaligen Trafobucht, auf die Zu-viel-Kajal-Malcolm gedeutet hatte. Ein Gazevorhang trennte den Raum vom Rest der Halle ab und verlieh dem ganzen einen Anflug von Abgeschiedenheit. Wir schlüpften zwischen den Stoffbahnen hindurch und fanden uns in einer netten Chilloutzone wieder. Als Tischler wusste ich gute Handwerksarbeit zu schätzen und was sich unserem Blick präsentierte, war gute Arbeit. Wo früher ein raumhoher Transformator Hoch- in Mittelspannung transformierte, lud nun eine nette Liege- und Kuschellandschaft zum Entspannen ein. Gedämpftes Licht, weich gepolsterte Liege- und Sitzflächen, die sich über mehrere Höhenstufen erstreckten, Berge an Kissen, verliehen dem Ganzen einen loungigen Charakter. Getränkehalter und ein kleiner Glastisch bewiesen, dass der Schöpfer dieser Entspannungszelle auch an praktische Aspekte gedacht hatte.

»Hab ich doch gewusst, dass du hier früher oder später aufkreuzt.«

Wer uns so begrüßte, war ein junger Mann, der sich in eine Ecke der Chilloutlandschaft gelümmelt hatte. Allerdings war er nicht allein, zwei ebenfalls junge Frauen von Mitte Zwanzig, rekelten sich auf den Kissen und bedachten uns Neuankömmlinge mit sehr laszivem Interesse.

»Mädels, lasst's gut sein. Ich glaube nicht, dass es euch gelingt, Christianos und seines Begleiters Interesse zu wecken, oder?«, letzteres Wort war an Christiano gerichtet, der aber nur hintersinnig schmunzelte. »Wärt ihr so lieb, und lasst uns einen Moment allein?«

Die beiden Mädels waren so nett, erhoben sich und verließen uns, was mir die Gelegenheit bot, unser Gegenüber ein wenig genauer zu betrachten. Der Typ war nett, nicht überirdisch schön, sondern knuffig, Marke Kumpeltyp. Bei seinem Outfit folgte er dem Leitsatz Weniger ist mehr.. Ein ärmelloses, dunkelrotes T-Shirt, schwarze Jeans und Sneakers waren alles, was ihn kleidete und bei seinem Körperbau auch zierte.

»Es ist also wahr?«, fragte der Typ, während wir uns auf der wirklich bequemen Wohnlandschaft niederließen.

»Ich fürchte, die Gerüchte über meine Verbannung sind nicht untertrieben.«, antwortete Christiano. Moment mal - Verbannung? Was für eine Verbannung.

»Ist er der Grund?«, mit er war ich gemeint.

»Du weißt es nicht?«

»Nein! Mir erzählt ja nie jemand was...«

»Bei Gelegenheit werde ich dich mal bedauern.«

»Christiano, sei nicht so hart zu mir!«, der Typ lachte fröhlich auf. Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er klatschte sich mit der flachen Hand auf dir Stirn und wandte sich an mich: »Wo bleiben meine Manieren? Ich habe mich dir noch gar nicht vorgestellt. Michael, Michael Breskoff.«

Michael erhob sich. Mir wurde eine Hand gereicht, die ich selbstverständlich ergriff und schüttelte.

»Florian, Florian Waldstein.«

»Und Florian, was hat dich in die Fänge dieser alten Schwuchtel verschlagen?«

Die alte Schwuchtel (alt?) grunzte knapp. Ich grinste und meinte: »Oh, er ist mir zugelaufen. Christiano ist unser neuer Azubi. Obwohl er momentan eher die Rolle eines Coming Out Beraters übernommen hat. «

»Azubi?«, Michael grinste wie jemand, der wusste, dass ihm gerade ein Werkzeug für langwährende Freude in den Schoß gefallen war. Mit Azubi würde er Christiano noch jahrelang aufziehen können. Der wusste, dass er verloren hatte und rollte mit den Augen.

»Naja, irgendwie muss man ja seine Brötchen verdienen.«

»Brötchen verdienen? Du?«

Michael und Christiano schaute sich an. Ein leichtes Schmunzeln umspielte ihre Lippen. Kein Zweifel, die beiden mussten sich schon lange, sehr lange kennen. Es war mehr als offensichtlich, dass beide Männer enge Freunde waren. Michael musterte Christiano, er hielt seinen Kopf ein klein wenig schief und kniff ein Auge zusammen.

»Du bist doch nicht zufällig hier, oder? Was willst du wissen?«

»Eigentlich hatte ich gehofft, einen unserer anderen Freunde zu treffen.«, erwiderte Christiano vage, »Du kannst dir vorstellen, dass meine üblichen Quellen eher unter die Kategorie ausgetrocknet fallen. Ansonsten hast du natürlich Recht, ein wenig Plaudern kann nie schaden.«

Muss ich erwähnen, dass ich nichts, rein gar nichts verstand. Ich hatte nicht den geringsten Schimmer, worüber sich mein Kollege mit diesem Michael unterhielt. Ausgetrocknete Quellen? Broterwerb? Ich kam mir ein wenig ausgeschlossen vor.

»Flo, du hast ja noch gar nichts von deinem Cocktail getrunken.«, Christiano hatte mein aufkeimendes Unbehagen bemerkt.

»Wenn ihr lieber alleine miteinander reden wollt, kann ich mich auch anderweitig amüsieren.«, versuchte ich möglichst neutral zu sein, was aber nur bedingt gelang. Dabei war ich gar nicht sauer. Eher im Gegenteil, weckte die Unterhaltung der beiden Männer meine Neugier.

»Nein!«, beeilte sich Michael, »Bleib bei uns. Christianos Freunde sind auch meine Freunde. Entschuldige, wenn wir dich eben etwas ausgeschlossen haben sollten. Es war unhöflich und soll nicht wieder vorkommen. Übrigens, Christiano hat recht, du solltest deinen Cocktail probieren. Er ist wirklich gut.«

Ich hielt mir das Glas vor die Nase und betrachtete das Getränk. Limettenscheiben und Eiswürfel schwammen in einer klaren, sehr frisch duftenden Flüssigkeit, die ähnlich einem Kirsche-Bananen-Saft, von einer roten Flüssigkeit durchzogen war. Ich probierte einen kleinen Schluck. Christiano und Michael hatten recht. Der Cocktail war wirklich gut, verdammt gut.

»Wow! Was ist das?«

»Er nennt sich „Blutige Nacht“. Schmeckt er dir?«, erklärte und fragte Michael, wobei er mich mit einem forschenden Blick bedachte, »Er ist ein wenig speziell und nicht jedermanns Ding. Manchen schmeckt er zu metallisch.«

Metallisch? Diese Ansicht konnte ich überhaupt nicht teilen. Ganz im Gegenteil, das Getränk war nicht köstlich, sondern wirkte richtiggehend belebend, wie eine frische Blutinfusion. Gleichzeitig versetzte es mich erneut in diesen tranceartigen Zustand, wie ich ihn vorhin schon erlebt hatte. Ich lehnte mich zurück, nahm noch einen Schluck und ließ es mir gut gehen.

»Christiano!«

Eine neue Stimme erfühlte unser Séparée. Leicht weggetreten schaute ich auf, um einen weiteren Typen zu entdecken, oder besser gesagt, ein süßes Jüngelchen, das fröhlich auf meinen Kumpel zueilte, um ihn zu umarmen. Der Umarmte freute sich ebenfalls und umarmte zurück. Christiano ging sogar so weit, unseren Neuankömmling liebevoll zu küssen. Ich lauschte schnell in mich hinein, konnte aber keine Eifersucht in mir entdecken. Rational betrachtet bestand sowieso kein Grund dafür. Anzunehmen, ein Mann wie Christiano besäße keine Freunde, wäre vollkommen weltfremd. Eigentlich fand ich es sogar ganz spannend, die beiden zu beobachten. Ich trank also noch einen Schluck von meinem Cocktail und rückte näher an Michael heran.

»Tommi!«, freute sich mein Kollege, »Ich hatte gehofft, dass du hier bist.«

War es der Drink? War es die Atmosphäre des Clubs? Oder lag es an der Situation. Christiano strahlte plötzlich eine intensive erotische Aura aus, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Er schien regelrecht vor Sex zu glühen. Allerdings konnte ich ebenso deutlich spüren, nicht das Ziel seiner Libido zu sein. Ich schaute zu Michael, der meinen Blick sofort bemerkte, mir zunickte und ins Ohr flüsterte.

»Schau gut zu. Ich glaube, das könnte für dich interessant werden.«

Keine Ahnung, was er damit meinte, aber wenn Michael meinte, dass es für mich interessant werden könnte, zwei Jungs beim Schmusen zu beobachten, konnte es nur bedeuten, dass er mich für einen fürchterlichen Spanner hielt. Oder gab es noch andere Motive? Ich nippte an meinem Drink, der mich mehr und mehr in eine selige, entspannte Stimmung versetzte. Woraus bestand er? Bildete ich es mir nur ein, oder waren meine Sinne geschärft. Mir war, als wenn ich den Herzschlag Tommis hören konnte. Obwohl wir etwa anderthalb Meter voneinander entfernt waren, konnte ich jede einzelne Pore in seinem Gesicht sehen. Ich konnte genau beobachten, wie eine Schweißperle hervorquoll und ihm die Wange herunter lief.

In der Zwischenzeit hatte Christiano Tommi fest in seine Arme genommen. Das quirlige Jüngelchen, ich schätzte ihn auf neunzehn oder zwanzig Jahre, was hieß, dass ich eigentlich auch ein Jüngelchen war, lag mit seinem Rücken auf Christianos Brust, den Kopf an dessen Schulter gelegt.

»Bist du hungrig?«, fragte Tommi in Flüsterlautstärke. Ich konnte jedes Wort klar und deutlich verstehen, als wenn er mir direkt ins Ohr gesprochen hätte.

»Sehr hungrig. Ich lebe seit Tagen von Konserven.«, säuselte Christiano, während er mit einer Hand unter Tommis Hemd wanderte und ihn streichelte. Das sexuelle Glühen wurde immer stärker. Ich konnte es fast wirklich leuchten sehen.

»Konserven!«, Tommi spie das Wort verächtlich aus, »Wofür hast du mich?«

Statt auf die Frage direkt zu antworten, rieb Christiano seine Wange versonnen an Tommis Kopf.

»Wann war das letzte Mal?«

»Vor drei Wochen mit Michael. Du weißt, dass ich nur euch beiden zur Verfügung stehe.«

Wovon sprachen die beiden? Was ging hier vor? Ging es um Sex? Sollte ich zusehen, wie zwei Männer es miteinander taten. Danach sah es nicht aus. Weder Christiano noch Tommi waren unbekleidet. Außer Streicheleinheiten und zärtlichen Liebkosungen blieb alles ausgesprochen züchtig.

»Oh Mann, ich bin wirklich hungrig.«

»Und ich dein Abendessen.«

Was ging da ab? Christiano und Tommi wechselten ein wenig ihre Positionen. Ich wollte mich aufrichten, was mir aber nicht wirklich gelang. Der Cocktail, woraus er auch immer bestanden haben mochte, war mir arg zu Kopf gestiegen. Außerdem hielt mich Michael sanft, aber nachdrücklich zurück.

»Lass die beiden. Du wirst es bald verstehen.«, raunte er mir freundschaftlich zu.

Also beschränkte ich mich aufs Beobachten. Was blieb mir anderes übrig. Tommi schien sich ganz meinem neuen Kollegen hingegeben zu haben. Er hielt seine Augen geschlossen, atmete tief. Sein Puls war leicht erhöht. Ganz entspannt lag er in Christianos Armen. Der streichelte den Jungen und küsste ihn. Alles wirkte sehr sinnlich, doch dann veränderte sich die Szene. Christiano rollte mit seinem Kopf, wie ein Sportler bei Lockerungsübungen. Anschließend griff er nach Tommis Handgelenk und zog es zu sich hoch.

Während der ganzen Zeit befanden sich Tommi und Christiano in ihrer eigenen Welt, die dann aber von Christiano durchbrochen wurde, indem er zu mir hinüber schaute, um sich zu versichern, dass ich alles haargenau mitbekam.

Was war mit Christianos Augen geschehen? Statt einer grau-grün strahlenden Iris blickten mich zwei gelbe Schlitzaugen an. Christiano lächelte, nickte mir zu und öffnete seinen Mund. Vor Schreck hätte ich fast aufgeschrien, wäre mir der Schrei nicht im Hals stecken geblieben. Christianos Oberkiefereckzähne wuchsen. Ich konnte sehen, wie sie immer länger und spitzer wurden. Und dann geschah es! In einer einzigen flüssigen Bewegung biss er seine Zähne in Tommis Handgelenk und begann, dessen Blut zu trinken.

Wer war Christiano? Was war Christiano?

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