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Nachtschatten

Teil 6 - Entwicklungen

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Inhaltsverzeichnis

Inquisition

Constantin

»Constantin Varadin, das Richtertriumvirat hat dich mit zwei zu einer Stimme schuldig des Mordes an Vladimir Breskoff befunden. Das Urteil lautet auf endgültige Entkörperung. Die Strafe wird sofort vollstreckt. Wie lauten deine letzten Worte?«

Das war es, worauf ich gewartet hatte.

»Entsprechend Artikel 17, Absatz 5, Abschnitt 15, Unterabschnitt 3 des Zusatzes zum Paragrafen 1772 des Buchs des Tribunals zu Regel 80 des Kodex, steht mir das Recht zu, eine Inquisition zu verlangen!«

»Was?«, kreischte van Sanden, »Was verlangt er da? Verdammt nochmal, richtet den Scheißkerl endlich hin. Das Urteil ist eindeutig!«

»Schweig!«, die Stimme des os iudicii klang wie ein Peitschenschlag. In dem einen Wort klang eine drohende Macht mit, die mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Wie mächtig waren die Nosferatu wirklich?

»Constantin Varadin, deine Forderung wurde vernommen. Die Vollstreckung deiner Strafe ausgesetzt. Das Gericht ruht!«

Ich hätte nicht erwartet, dass dem Tribunal tatsächlich Artikel 17, Absatz 5, Abschnitt 15, Unterabschnitt 3 des Zusatzes zum Paragrafen 1772 des Buchs des Tribunals zu Regel 80 des Kodex geläufig war. In den Jahrtausenden unserer Existenz hatte sich allerlei Gerümpel in unseren Gesetzestexten angesammelt, dass es mir unmöglich erschien, dass das Tribunal jeden noch so obskuren Satz, Abschnitt oder Kommentar kannte. Es war purer Zufall, dass ich selbst vor etlichen Jahren über jenen Artikel 17 gestolpert war. Genaugenommen war Onkel Vladimir dafür verantwortlich, der meinte, es wäre nicht schlecht, wenn ich mich ein wenig mehr mit unseren Gesetzen beschäftigte. Es könnte sein, dass mir ihre Kenntnisse irgendwann einmal sehr gelegen kämen. Oh mein Gott! Hatte er etwa damals bereits seinen Tod vor Augen und wollte mich auf Situationen wie diese vorbereiten? Zuzutrauen war es ihm.

Auf jeden Fall verfügte das Tribunal über die entsprechende Sachkenntnis. Der Mund des Gerichts trat beiseite. Zur Überraschung aller Anwesenden, mich eingeschlossen, zog ein Richter nach dem anderen die Kapuze vom Kopf und enthüllte sein Gesicht. Mit dieser Handlung gaben sie ihr Recht auf, über mich zu urteilen. Das bereits gefällte Urteil war ausgesetzt. Mein Leben lag von nun an in den Händen eines Inquisitors. Den musste man allerdings erst noch herbeirufen. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass das Gericht auch daran gedacht hatte, einen Nosferatu mit den Qualifikationen eines Inquisitors mitzubringen.

Inquisitoren waren etwas besonders. Sie besaßen die Gabe, sich mit dem Geist eines anderen Vampirs zu verbinden. Dabei blieb ihm nichts verborgen. Vor einem Inquisitor war man nackt. Jedes Geheimnis, jede noch so belanglose Erinnerung wurde ihm unmittelbar offenbart. Einen Inquisitor zu belügen, war unmöglich, weswegen es wenig Sinn machte, einen Inquisitor zu verlangen, sollte man sich nicht für absolut unschuldig halten. Nur wer war das schon? Das eigentliche Verfahren war denkbar einfach. Der Inquisitor verband seinen Geist mit dem Delinquenten, wurde eins mit ihm und erforschte dessen Geist. Je nachdem, was er vorfand und wie er dies beurteilte, traf er seine Entscheidung. Einmal gefällt war sie für alle Vampire bindend. Es gab keine Begründung, es gab keine Erklärung, es gab nur das Urteil. Die Details blieben auf ewig ein Geheimnis zwischen Inquisitor und Delinquenten.

Haken, Ösen, Schlupflöcher - natürlich hatte auch dieser Winkelzug einen Haken. Befand der Inquisitor einen für unschuldig, war man frei und das Urteil des Tribunals wurde aufgehoben. Die Geheimnisse, die man während der Befragung offenbarte, waren durch ein magisches Gelübde, das jeder Inquisitor ablegen musste, geschützt. Jeder Verrat hätte zu seiner unmittelbaren, unwiderruflichen Entkörperung geführt. Soweit, so gut. Fiel das Urteil allerdings gegen den Beklagten aus... Nun, es gab weitaus schlimmere Strafen, als den Tod, zum Beispiel die ewige Verkerkerung des Geistes. Sollte mein Inquisitor mich für schuldig halten, würde er mein Geist in ein mentales Gefängnis eingeschlossen werden und auf ewig dazu verbannt sein, in einem Nichts, ohne Hoffnung auf einen erlösenden Tod, dahinzuvegetieren.

»Nun, Constantin, dann sollten wir uns mal unterhalten.«, meinte Tamir neben mir in einem völlig beiläufigen Tonfall. Erschrocken von der plötzlichen Selbstsicherheit und Autorität in seiner Stimme, blickte ich zu ihm auf. Der bisher so schlaksig und unsicher wirkende Nosferatu verströmte mit einem Mal eine Aura von Würde und Macht. »Hab keine Angst. Noch habe ich mein Urteil nicht gefällt. Noch nicht. Doch nun folge mir. Folge dem Klang meiner Stimme, folge dem Blick meiner Augen...«

Tamir fixierte mich mit seinem Blick. Sein Geist zwang mich, ihn anzusehen, ihm tief in die Augen zu blicken, in seine Pupillen, in diese abgrundtiefen Löcher, die mich verschlangen, zu starren. Ich fühlte, wie sich eine Hand auf meine Schulter legte. Ich hörte eine Stimme befehlen: »Öffne deinen Geist, Constantin, werde ein Teil von mir.«


»Wo sind wir?«

Meine erste Frage galt der seltsamen Umgebung, in der ich mich wiederfand. Wir, Tamir und ich, standen in einem Zimmer, das fast meinem Büro entsprach, hätten nicht zwei Wände gefehlt. Dort ging der Raum in ein Zimmer im Schloss Breskopol über. Ich kannte es. Es war eines, in dem ich einen großen Teil meiner Jugend verbracht hatte.

»Nun, offensichtlich befinden wir uns in deinem Kopf. Interessant, oder?«, antwortete Tamir, der in einem Barocksessel saß und sich umsah. Der Raum änderte sich. Die ganze Szenerie war dabei, sich kontinuierlich zu verwandeln. Ich sah Simon, den Bankettsaal mit der Bestrafungskammer, Florian, wie er mich küsste, Christiano, als er von mir trank, das Tribunal.

»Du bist ein interessanter Mann, Constantin Varadin. Sich dem Tribunal zu stellen war mutig, auf die Idee mit der Inquisition zu kommen, fast schon genial. Obwohl ich bei letzterem ein wenig von Vladimirs Geist verspüre.«

»Wer bist du?«

»Hatte ich meinen Namen nicht genannt?«, fragte der Inquisitor amüsiert und deutete mir, mich vor ihm auf einen der imaginären Stühle in meinem Kopf niederzulassen, »Ich bin Tamir. Gut, ich gebe zu, Tamir ist nur mein Alltagsname, die Kurzform meines wirklichen Namens. Mein eigentlicher Name lautet Tasmanir Musferatu.«

Konnte man blöde drein schauen, wenn man sich in seinem eigenen Geist befand? Ich versuchte es.

»Du... Entschuldigt, Ihr seid Tasmanir Musferatu, Stammvater der Nosferatu des Westens? Ich verneige mich, weiser Meister.«

»Ach Junge, hör auf mit dem Quatsch!«, lachte der Stammvater eines der einflussreichsten Stämme der Nosferatu und einer der spirituellen Führer aller Vampire, »Ich bin Tamir. Ein alter Vampir, den du bittest, über dich zu richten. Nun, wie ich schon sagte, Mut hast du, das muss man dir lassen.«

»Warum die Charade?«, war ich anmaßend?

»Direkt auf den Punkt. Das gefällt mir. Ich glaube, ich würde es sehr bedauern, deinen Geist ins ewige Nichts verbannen zu müssen. Gut, du willst wissen, warum ich meine wahre Identität verhüllte, dir den ängstlichen, schüchternen Akolyten vorspielte, den unerwartet das Los traf, die Rolle des Scharfrichters übernehmen zu müssen? Es war ein Test und Teil des Tribunals. Ich wollte deine unvoreingenommene und unverfälschte Reaktion sehen. Es mag merkwürdig klingen, aber Henker und Angeklagte verbindet eine einzigartige Beziehung. In all den Jahrhunderten habe ich eine ganz Reihe Fürsten, Grafen und Barone, ja sogar Könige auf dem Richtstuhl begleitet und, wenn nötig, ihrer Existenz ein Ende gesetzt. Dein Vater war übrigens einer von ihnen. Er war unschuldig und verließ den Stuhl als freier Mann. Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass ich am Blick, am Auftreten, der Art wie sich ein Angeklagter gibt, bereits sagen kann, ob er schuldig ist oder nicht?«

»Ja, das glaube ich dir gern. Der Schuldige ahnt das Unvermeidliche und akzeptiert es als Konsequenz seiner Tat. Der Unschuldige fürchtet die Unsicherheit seines Schicksals und klammert sich an die Hoffnung.«

»Sehr gut.«, Tamir nickte zufrieden, »In dieser Hinsicht warst du etwas besonderes. Denn in dir konnte ich beides sehen. Du akzeptiertest einen Schuldspruch, du hast dich wie jemand verhalten, der nichts anderes erwartete, aber du klammertest dich auch an die Hoffnung, der Konsequenz zu entgehen. Für einen Moment hast du mich wirklich verwirrt, bis mir klar wurde, dass wir uns hier treffen würden.«

»Und, bin ich schuldig?«, ich konnte mir die Frage einfach nicht verkneifen, obwohl ich vor der Antwort eine heiden Angst hatte.

»Sicher bist du das. Ich weiß nur noch nicht, wessen. Wir alle sind schuldig.«, Tamir lachte fröhlich auf, »Was allerdings Breskoffs Tod betrifft... Sag du es mir. Hast du ihn seiner Macht willen ermordet? Konntest du die paar Wochen, die der gute Vladimir noch hatte, nicht abwarten?«

»Ich weiß es nicht. Die Vernunft sagt mir, dass ich unschuldig bin. Onkel Vladimir drohte, dem Wahnsinn des Vladsyndroms anheimzufallen. Deswegen inszenierte er seinen Tod. Leider weihte er mich dabei nicht ein. Ja, der alte, hinterhältige Sack hat mir die Rolle seines Henkers zugedacht. Als die Tür zuschlug und das Sonnenlicht den Raum erfüllte, war ich rasend vor Wut. Wie konnte mich Vladimir, der wie ein Vater zu mir war, so verraten? Ich glaube, ich wäre nicht so ausgetickt, wäre er ein anderer gewesen. Hast du eine Vorstellung, wie sehr die Enttäuschung schmerzte? Erst als ich seinen Siegelring und einen darin verborgenen Brief fand, wurde mir die Wahrheit enthüllt und ich schämte mich. Wie konnte ich auch nur eine Sekunde am Waffenbruder und Freund meines Vaters zweifeln? Er hatte sich geopfert, damit ich den hohen Häusern meine Stärke zeigen konnte. Sag mir, bin ich schuldig?«

Tamir musterte mich eine Weile, dann lächelte er: »Ich wiederhole mich. Natürlich bist du schuldig. Allerdings musst du mit dieser Schuld selbst ins Reine kommen. Wenn du mich hingegen fragst, ob du Graf Breskoff ermordet hast, dann kann ich dich beruhigen. Nein, du hast keine Schuld auf dich geladen. Der gute alte Vladimir war ein ausgebuffter Kerl. Solche Spielchen, wie dich zum Werkzeug seiner Erlösung zu machen, passen zu ihm. Ich vermisse ihn. Ich hatte gehofft, dass ihm die Krankheit noch lange erspart blieb.«

»Ihr wusstet davon?«

»Sicher. Wer glaubst du, hat ihm das Gift gegeben?«, bevor er weitersprach, schloss Tamir traurig die Augen, »Vladimir war ein guter Freund. Wir kannten uns seit... Ewigkeiten. Wie deinen Vater, von dem du sehr viel geerbt hast. Ich werde dir bei Gelegenheit ein paar Geschichten von ihm erzählen. Von ihm, Vladimir und deiner Mutter...«

»Meiner Mutter?«, ich glaube, ich wurde blass wie ein Nosferatu, »Ihr kanntet meine Mutter?«

»Oh ja, die schöne, nein, göttliche Helena. Was für eine Frau. Manchmal ist es wirklich schwer, ein Nosferatu zu sein.«

Nosferatu lebten zölibatär, was nicht hieß, dass sie frei von Begierden waren. Ganz im Gegenteil. Sie waren auch nicht lustfeindlich eingestellt, wie man leicht vermuten könnte. Sich gegenüber anderen Personen in Enthaltsamkeit zu üben, war für sie eine Frage des praktizierten Glaubens. Allerdings gab es Gerüchte von bizarren Ritualen, die die Nosferatu in ihren Klöstern praktizierten, um ihre zweifelsfrei vorhandene Libido zu befriedigen.

»Doch sind wir ja hier, um über dich zu sprechen.«, kehrte Tamir zum eigentlichen Thema zurück, »Was soll ich mit dir machen?«

Die Scheinwelt um uns herum verdunkelte sich und reflektierte damit meine aufkeimende Angst. Was wollte Tamir mit mir machen? Hatte er mich nicht bereits von der Schuld an Vladimirs Tod freigesprochen?

»Das schon...«, entgegnete die Tamir-Verkörperung in meinem Geist, »Wie es scheint, hast du den Text zur Inquisition nicht zu Ende gelesen. Ich bewerte keinen einzelnen Vorwurf, wie das Tribunal. Ich entscheide über deine gesamte individuelle Schuld, die du während deiner Existenz auf dich geladen hast.«

»Mene mene tekel upharsin - Gewogen und für zu leicht befunden...«, zitierte ich unwillkürlich das alte Testament und begann mental zu zittern. Wer war schon frei von Schuld, insbesondere, wenn er schon ein paar Jahrhunderte auf dem Buckel hatte?

»Nein!«, widersprach Tamir entschieden, »Ich bin nicht Gott! Welch anmaßender Gedanke! Nein, ich bin dein Richter, weil du mich dazu erwählt hast. Also sage mir, warst du ein guter Vampir, Constantin Varadin?«

War ich das? Ich hoffte es. Der Avatar meines Richters blickte mir in die Augen. Es war fast wie eine Wiederholung der Szene aus dem Gerichtssaal. Tamirs Blick verschlang mich, nahm mich in sich auf und startete mit uns eine Reise durch meine Erinnerungen. Ein Leben im Schnelldurchlauf - fast forward. Tamir ersparte mir nichts. Weder die Peinlichkeiten der Kindheit, meinen ungelenken ersten Versuch eines Bisses, noch die schmerzhaften Momente meines Lebens, wie den Tod meines Vaters. Andererseits war es wunderbar, nochmal erleben zu dürfen, mit einem Freund wie Christiano den Bund des Blutes eingehen zu dürfen, ihn in einen Vampir zu verwandeln und von den Qualen seiner Folter zu erlösen.

War ich gut oder war ich böse? Ich versuchte, nach meinen Maßstäben gut zu sein. Aber was, wenn Tamir ganz andere Maßstäbe anlegte? Wenn mein gut nicht sein gut war?

»Oh, mein Freund, du kennst den Unterschied zwischen Gut und Böse sehr genau.«, ließ sich mein Reiseführer durch mein Leben verlauten, »Hier!«

Der Film stoppte und ich wusste sofort, was Tamir meinte. Ich kannte diese Erinnerung. Eigentlich waren es gleich mehrere Erinnerungen, die in diesem seltsamen Schnelldurchlauf zu einer zusammengefasst waren. Es ging um Florian. Es ging darum, wie ich ihn kennen lernte, ihn von da an verfolgte, bewachte, vor seinem Selbstmord rettete und beinahe...

»Du weißt was ich meine, oder?«, fragte Tamir mit schmerzhafter Stimme in meinem Bewusstsein.

»Ja...«, flüsterte ich, zitternd und bebend. Befände ich mich in der realen Welt, wären mir vor Scham und seelischem Schmerz Tränen die Wangen herunter gelaufen.

»Warst du wirklich bereit, für Florian unsere heiligen Gesetze zu brechen?«, Tamirs Worte hatten etwas schneidendes. Obwohl sie nur Gedanken in meinem Geist waren, brannten sie wie Feuer und verursachten physische Schmerzen, als würde mir Tamir seine Krallen in die Eingeweide bohren und darin herumwühlen.

»Ja!«, wimmerte ich leise schluchzend.

»Ist dir eigentlich klar, was du riskiert hast?«, Tamir bohrte weiter, drehte seine Klauen im Fleisch meines Verstands.

»Ich liebe ihn.«

Mein Richter kannte kein Erbarmen. Ein stahlharter Griff legte sich um meinen Hals und begann mich zu würgen. »Das habe ich nicht gefragt. Ist dir klar, was du riskiert hast?«

»Ja!«, brüllte ich verzweifelt, »Ja, verdammt! Ich bin der Stammvater meines Hauses. Meine Aufgabe ist es, ihm zu dienen. Ich darf meine Wünsche nicht über die meines Hauses stellen. Ja, Tamir, ja, ich war egoistisch. Mir war mein Glück wichtiger, als das derer, denen ich verpflichtet bin.«

»Na also, geht doch.«, von einer Sekunde zur anderen war der Schmerz weg. Stattdessen saßen Tamir und ich uns auf zwei Stühlen gegenüber. Ich schaute mich um. Der Raum, in dem wir uns befanden, war grau. Er besaß weder eine Tür noch irgendwelche Einrichtungsgegenstände, von den Stühlen einmal abgesehen. Es gab nichtmal eine Lampe. Trotzdem gab es eine Lichtquelle. Wir saßen also nicht im Dunkeln, sondern nur in einem grauen Raum mit grauen Wänden, grauem Boden und grauer Decke. Dieses ganze sich-im-eigenen-Kopf-befinden war wirklich gewöhnungsbedürftig.

»Danke.«, japste ich, dem immer noch die virtuelle Folter in den Knochen steckte.

»Gern geschehen, auch wenn ich den Dank nicht unbedingt verdiene.«

Wie konnte der Typ schon wieder schmunzeln? Und was meinte er damit, dass er den Dank nicht verdiente.

»Die Schmerzen eben hast du dir in gewisser Weise selbst zugefügt. Ich habe deinem Gewissen nur eine Ausdrucksmöglichkeit verliehen.«

»Und? Ist dies hier...«, ich zeigte mit meinen Fingern auf die grauen Wände, die Decke und den Boden, »der Kerker?«

»Oh, Himmel, nein!«, aus Tamir platzte ein schallendes Lachen heraus, »Hab' ich dir Angst gemacht? Nein, nein, nein. Dies ist nur ein Raum, an dem wir wirklich ungestört sein können. Niemand wird unsere Gedanken lesen können. Cassandra ist nicht nur eine begnadete Seherin. Sie ist auch eine brillante und sehr potente Telepathin. Wenige Vampire sind in der Lage, ihre tastenden Gedankenfinger überhaupt zu bemerken und noch weniger, ihr auch noch zu widerstehen. Es wundert mich, dass sie noch nicht versucht hat, deine Gedanken zu lesen.«

»Sie hat Angst.« Cassandra war eine Telepathin? Interessant - Onkel Vladimir hatte es nie erwähnt. »Sie fürchtet, Dinge zu erfahren, die sie lieber nicht wissen möchte.«

»Du bist ein schlauer Junge, Constantin.«, Tamir nickte, »Ich glaube, dass du mit deiner Vermutung Recht hast. Sie möchte Vladimir so in Erinnerung behalten, wie er war. Zu wissen, dass ihn der Fluch Vlad des Pfählers ereilte...«

Tamir sprach nicht weiter. Ich verstand aber auch so, was er sagen wollte.

»Constantin?«, blickte mich der Inquisitor mit klaren und strahlenden Augen an, die nur in meinem Bild von ihm in meinem Kopf existierten, »Ich habe mein Urteil gefällt. Ich will ehrlich zu dir sein, ich hatte es bereits gefällt, als du dich auf dem Richtstuhl niedergelassen hast und ich dir die Fesseln anlegte. Ich war während der ganzen Verhandlung als stiller Beobachter in deinem Bewusstsein. Ich sage es nicht gern, aber in dir habe ich meinen Meister gefunden.«

Was? So langsam nahm die ganze Situation recht surreale Zustände an.

»Vladimir war mein Freund, mein bester und ältester Freund überhaupt.«, Tamir begann auf seinen virtuellen Lippen zu knabbern, »Es war mir eine innere Genugtuung, den Mörder meines Freundes auf dem Richtstuhl zu wissen. Wie habe ich mich danach gesehnt, zu sehen, wie dir deine Existenz als roter, zäher Saft entrinnt. Aber du... Constantin, bitte verzeih mir.«

»Tamir, weiser Tasmanir Musferatu, es gibt nichts zu verzeihen. Ich verstehe dich nur zu gut.« Das tat ich tatsächlich. »Aber verrate mir, was deine Meinung geändert hat?«

»Du hast meine Meinung geändert. Ein Blick in deine Erinnerung, und ich wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Wenn man bedenkt, was der alte Fuchs dir zugemutet hat. Dich dazu zu bringen, ihm das Herz herauszureißen, war grausam. Ja, mein Freund ist auf seine alten Tage ein wenig eigensüchtig geworden. Zugegeben, sein Abgang war genial inszeniert. Das muss man ihm einfach lassen. Es war genau so, wie er es sich immer gewünscht hat. Aufrecht und mit klarem Blick. Aber dir, mein Junge, dir hat er eine Last aufgebürdet, die niemand tragen müssen sollte. Doch statt zu murren, hast du die Aufgabe mit all ihren Konsequenzen angenommen. Fürst Varadin, Graf des Hauses Breskoff, König der Vampire - All dies wirst du sein.«

Aufgaben und Ziele

Verging die Zeit in der Welt meines und Tamirs Verstandes mit der gleichen Geschwindigkeit wie in der realen Welt? Wenn ja, mussten wir Stunden in meinem Kopf zugebracht haben. Der Freund Vladimirs und meines Vaters hatte mir viel zu erzählen. Der graue Raum, der in Wirklichkeit ein mentaler Schutzschild war, schützte uns dabei vor den neugierigen Blicken fremder Telepathen. Was während der Inquisition besprochen wurde, war vertraulich, für den Inquisitor, aber genauso auch für den Befragten. Etwas überraschend enthüllte mir Tamir, dass das magische Siegel, das ihn zum Schweigen zwang, auch für mich galt, was aber nicht hieß, dass ich die Informationen nicht nutzen konnte.

Eigentlich hielt ich nicht viel von Magie, obwohl ich als Vampir ihr Produkt war. Im Alltag war sie einfach unpraktisch und viel zu kompliziert. Wenn ich ehrlich war... Ich hatte kein Talent für Magie. Ich brach mir bei den einfachsten Übungen schon die Finger ab. Tamir war ein Meister der vampirischen Zauberkünste. Das magische Schweigesiegel war einfach nur genial. Es verstand, wie vertraulich eine Information war. Es kannte die Intention, mit der ein Geheimnis weitergegeben wurde. So konnten wir Belanglosigkeiten enthüllen, während die wirklich vertraulichen Dinge sicher in unseren Köpfen verschlossen blieben. Selbst Folter hätte sie da nicht herauszuholen vermocht.

Was Tamir erzählte, war wenig erbaulich. So teilte er Vladimirs Befürchtung, dass unbekannte Kräfte in den Reihen der großen Häuser einen grundlegenden Wandel planten, und diesen ohne zu zögern auch gewaltsam durchsetzten wollten. Der zwölfhundert Jahre währende Frieden war ernsthaft in Gefahr. Selbst die Nosferatu waren besorgt, was alles andere als ein gutes Zeichen war. Als ich fragte, was dies bedeutete, wich mir Tamir aus und meinte nur, dass es auf keinen Fall dazu kommen dürfe, niemals und unter absolut keinem Umstand, dass die Nosferatu dazu gezwungen wären, Partei zu ergreifen. Diese Warnung war nicht dazu angetan, meinen prallgefüllten Sack voller Sorgen zu verkleinern. Tamir meinte nur, ich würde das Problem bestimmt lösen. Woher er nur diese Zuversicht nahm?

Wo er schon in meinem Kopf rumstöberte, konnte es mein neuer Freund, denn als diesen betrachtete ich Tamir inzwischen, sich nicht verkneifen, auch über die Sache mit dem Verräter in den Reihen meines Hauses zu sprechen. Natürlich wurde ich ermahnt, vorsichtig zu sein. Der Vorfall mit Phillip und Bastian zeigte, dass der Verräter es bitterernst meinte. Auf diesen Hinweis hin legte ich meine Überlegung zur Identität des Verschwörers dar. Tamir nickte zustimmend.

»Ich glaube, dass du mit deiner Vermutung richtig liegst. Klarheit wirst du aber nur erlangen, wenn du ihn zur Rede stellst.« Tamir seufzte, »Er ist blind, wenn er deine Liebe nicht erkennt. Ich habe viele Stammväter kennen gelernt, aber wenige waren so selbstlos dem Wohlergehen ihres Hauses ergeben, wie du. Dabei zahlt es sich aus. So wie du die deinen liebst, lieben sie dich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass auch nur einer im Hause van Sandens, ein derartiges Opfer für seinen Baron erbrächte, wie Christiano es mit seiner Verbannung tut. Du kannst auf dich und dein Haus wirklich stolz sein. Ich glaube, das Haus Breskoff wird durch dich gewinnen und ich werde das meinige tun, um jeden Schatten, den die Anklage des Mordes auf dich geworfen hat, zu entfernen.«

Ich ahnte, dass sich unsere Sitzung, meine Inquisition, dem Ende näherte. Eine Sache hatte Tamir dann aber doch noch auf der Pfanne.

»Florian?«, fragte ich. So langsam kam ich ein wenig dahinter, wie der Alte tickte.

»Natürlich.«, bestätigte Tamir zufrieden grinsend.

»Wir haben jetzt gefühlte fünf Stunden miteinander geredet. Nicht ein einziges Mal hast du das Thema meiner Homosexualität angesprochen.«

»Und das wundert dich?«, Tamir grinste breit.

»Ein wenig. Üblicherweise nimmt meine sexuelle Orientierung den größten Teil des allgemeinen Interesses ein. Die meisten Häuser halten mich für abartig.«

»Hm, als wenn Vampire dazu qualifiziert wären, sich zum Thema Abartigkeit auszulassen.«, schnaubte mein Freund verächtlich, »Wenn du mich fragst, beginnt Abartigkeit dort, wo wir uns einfach nehmen, wonach uns gerade verlangt. Ich rede nicht vom Blutsaugen - das ist etwas anderes - sondern davon, wie manch einer von uns seine Mitbrüder behandelt. Die anderen Häuser mögen dich nicht, weil sie dich und dein Wesen fürchten. Du bist der Gegenbeweis zu ihrer These, dass Macht nur auf Furcht, Einschüchterung und Unterdrückung basieren kann. Jeder deiner Männer ist loyaler, als die Männer und Frauen eines ganzen anderen Hauses zusammen. Ist es eigentlich wirklich wahr, dass Laurentius seine Verbrennungskammer selbst konstruierte?«

»Ich befürchte, dass dem so ist, ja.«

»Faszinierend. Dein Marschall geht für dich in die Sonne. Wirklich faszinierend.«, Tamir schüttelte gedankenverloren den Kopf. »Doch zurück zu Florian. Verwandle ihn!«

»Was?«, schreckte ich anlässlich des plötzlichen Gedankensprungs auf.

»Constantin, das ist wichtig. Ich habe so ein Gefühl, eine Ahnung. Du musst Florian verwandeln. Warte nicht erst bis zu deiner Krönung. Such ihn auf und mach ihn zu einem von uns. Der Junge hat eine Bestimmung zu erfüllen, so wie du, die er aber nicht erfüllen kann, wenn ihm etwas zustößt. Christiano kann nicht permanent über ihn wachen. Deswegen, geh zu ihm. Durch die Verwandlung in einen Vampir ist er am besten geschützt. Christiano kann den Übergang begleiten, während du dich auf die Krönung vorbereitest.«

»Ich soll ihn trotzdem bei Niederreuter lassen?« Ich hatte zwar nie mit Tamir über Florian und sein Leben gesprochen, doch da der Inquisitor sich in meinem Gehirn befand und über alle meine Erinnerungen verfügte, spielte dies keine Rolle.

»Ja. Da ist er sicher. Noch. Vielleicht kann ich im Hintergrund auch etwas zu seiner Sicherheit beisteuern. Ein wachsamer Nosferatu, verborgen in den dunklen Schatten der Nacht, kann sehr hilfreich sein. Ich muss aber selbst vorsichtig sein, um keinen Verdacht zu erwecken. Wir Nosferatu sind neutral. Verfügst du über eine diskrete Möglichkeit, mit Christiano in Kontakt zu treten und ihn über deine Absichten zu informieren?«

»Ja, Michael ist ein Freund von ihm. Als Breskoff ist er noch nicht an mein Blut gebunden.«

»Sehr gut.«, Tamir grinste, »Ich beneide dich um deine Liebe, Constantin Varadin. Halt sie fest. Das Schicksal ist nur selten großzügig gestimmt.«


Was zum Teufel... Verdammt, wo war ich? Es brauchte ein paar Momente, bis ich mich orientiert und meine Sinne wieder beieinanderhatte. Ich befand mich im Schloss Breskopol, in einem seiner Festsäle, der zum Ort meines Tribunals umfunktioniert war. Vor mir thronten die Richter, zu meiner linken befand sich der nun leere Zeugenstand und zu meiner rechten die Bänke des Klägers und der Verteidigung. Ich selbst saß, festgebunden von schweren Stahlketten, im Richtstuhl.

»Hat der ehrenwerte Inquisitor sein Urteil gefällt?«, fragte der os iudicii, der Mund des Gerichts und Zeremonienmeister des Tribunals.

»Das haben wir.«, bestätigte der neben meinem Stuhl stehende Tamir.

»Dann vernehmt nun alle das Urteil!«, rief der Mund.

»Die Seele Constantins, des Fürsten Varadin, ist rein. Er ist frei jeder Schuld. Das sagen wir, Tasmanir Musferatu, Inquisitor, Hüter der Seelen!«

Sein letzter Titel ließ mich schlucken. Ich wusste, was Hüter der Seelen bedeutete. Tamir war nicht nur Inquisitor, sondern auch der Kerkermeister all jener, die er für schuldig befand.

»Ihr habt es alle vernommen!«, entgegnete nun wieder der Mund des Gerichts, »Fürst Varadin, die Inquisition hat Euch von aller Schuld freigesprochen. Ihr seid frei. Löst seine Fesseln. Das Tribunal ist beendet.«

Das war's. Ich war frei. Tamir machte sich sofort daran, meine Fesseln zu lösen, was bei der Vielzahl an Ketten und Gurten eine ganze Weile brauchte. Er hatte erst einen Teil entfernt, als plötzlich Baron van Sanden angesprungen kam, Tamir beiseite stieß und sich am Stuhl zu schaffen machte. Noch bevor die anderen Anwesenden begriffen, was er beabsichtigte, gelang es ihm, einen Hebel umzulegen. Rasiermesserscharfe Klingen schnellten aus der Armlehne und schnitten in meine Handgelenke.

Tamir war ein Profi. Auch beim Handwerk des Henkers überließ er wenig dem Zufall und arbeitete sehr präzise und umsichtig. So hatte er als erstes die Fesseln meiner Handgelenke gelockert und die rechte bereits entfernt. Die gierigen Messer trafen daher nur mein linkes Handgelenk und richteten dabei, da der Gegendruck der Fesseln fehlte, relativ wenig Schaden an. Ich blutete, aber verblutete nicht. Jedenfalls nicht, wenn man mich schnell befreite und die Wunde versorgte.

»Verdammt, warum krepierst du widerliche Missgeburt nicht!«, tobte van Sanden, »Man hätte dich schon vor Jahren...«

Weiter kam er nicht. Van Sanden machte Bekanntschaft mit dem os iudicii, der aber locker auch als pugnus iudicii, der Faust des Gerichts durchgehen konnte. Selbige traf van Sanden an dessen Brustbein und katapultierte den Mann quer durch den Saal. Gemächlich, fast majestätisch, schritt der Mund auf den am Boden liegenden Ankläger zu.

»Es ist ein Verbrechen, dem Urteil des Inquisitors zu widersprechen. Baron van Sanden, Ihr steht unter Arrest!«

Während ich diesem Schauspiel noch faszinierend zuschaute, hatten Tamir und Michael, den ich fast vergessen hätte, auch die Fesseln meiner linken Hand und sogar des ganzen Arms gelöst. Die Schnittwunde blutete erschreckend stark.

»Mein Fürst, erlaubt mir, eure Wunde zu schließen.«, hörte ich Michael sagen und sofort handeln. Er wartete gar nicht mein Einverständnis ab, sondern stülpte seinen Mund über mein Handgelenk, trank etwas von meinem Blut und begann dann die Wunde mit seinem Speichelsekret zu versiegeln.

Vampirisches Speichelsekret - oh ja, wir hatten einige Tricks auf Lager. Wie könnte man wohl die Halsschlagader eines Menschen anbeißen, etwas von ihm trinken und dabei keine Spuren, wie einen ausgebluteten Körper, hinterlassen? Ohne gefäßverschweißende Technik würde das Blut im hohen Bogen munter aus dem Hals sprudeln. Nicht so mit unserem Speichelsekret, das Schnitt- und Bisswunden innerhalb einer Sekunde versiegelte. Ein erfahrener Vampir konnte seine Zähne aus einem Hals ziehen, ohne dass auch nur ein Tropfen Blut floss. Das war aber noch nicht alles. Unser Speichel hatte noch ein paar andere Tricks drauf. Vor dem eigentlichen Biss über die Haut geleckt, wurde die Einstichstelle nicht nur desinfiziert, sondern auch gleichzeitig betäubt. Lidocain war nichts dagegen.

Michael war ein sehr erfahrener Vampir. Eine Minute nachdem er mein Handgelenk in seinen Mund genommen hatte, war meine Wunde vollständig verheilt. Allerdings war noch etwas anderes geschehen. Michael hatte von meinem Blut getrunken und war damit den Bund mit dem Hause Varadin eingegangen. Er war damit das erste Mitglied des Hauses Breskoff, das sich zu mir und zur Zugehörigkeit meines Hauses bekannte.

»Michael Varadin, nehme ich an?«, fragte ich meinen Sekundanten dann auch.

Der blinzelte, zuckte mit den Schultern und zeigte mir ein fröhliches Lächeln.

»Irgendjemand musste den Anfang machen, oder?«, fragte er entschuldigend, wartete aber meine Antwort nicht ab, »Wie geht es dir? Brauchst du frisches Blut?«

Inzwischen hatte Tamir auch die letzten Ketten und Fesseln gelöst, sodass ich endlich den Richtstuhl verlassen konnte, was mir ganz recht war. Allerdings nur, um mir dieses Tötungsgerät ein wenig genauer anzusehen. In der Silberschale unterhalb der Sitzfläche befand sich tatsächlich eine kleine Pfütze meines Bluts. Tamir hatte natürlich sofort die Klingen wieder eingefahren. Ich war neugierig. Ich wollte wissen, was mich da aufgeschlitzt hatte und ging um den Stuhl, entdeckte den Knauf eines Hebels und betätigte ihn, wobei ich mich vorher versicherte, dass niemand auf dem tödlichen Sitzmöbel Platz genommen hatte. Der Stuhl machte Klack und aus der linken und rechten Armlehne schnellten jeweils zwei parallel verlaufende Klingen heraus.

»Sehr effektiv.«, kommentierte ich den Mechanismus.

»In der Tat.«, fügte Tamir hinzu, der nun ganz offen seine linkisch unbeholfene Maske abgelegt hatte und sich als Stammvater der Nosferatu des Westens zu erkennen gab. Stattdessen umspielte ihn ein spöttisches Schmunzeln. »Kostja, mein Junge. Mit dieser Nummer gehst du als erster Vampir in die Geschichte ein, der den Stuhl trotz Aktivierung lebend verließ.«

»Kostja?«, mein Gesicht wurde heiß, »So hat mich das letzte Mal... Meine Mami nannte mich so. Kostja... Den Namen habe ich ewig nicht gehört.«

Tamir lächelte gütig, soweit das bei einem Nosferatu möglich war.

»Du weißt, was Constantin bedeutet? Deine Mutter gab dir diesen Namen. Er steht für >Der Beständige<. Ja, Helena hat sehr viel Weisheit bewiesen. Doch nun entschuldige uns bitte. Wir müssen aufbrechen. Die Nachricht über deine Unschuld wurde allen Häusern mitgeteilt. Alles weitere liegt jetzt in deiner Hand. Kostja, du bist jetzt offiziell der Stammvater des Hauses Breskopol.«

Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Nach den Regeln des Kodex war ich jetzt in doppelter Hinsicht Chef des Hauses. Einmal als Erbe, aber nun auch als Folge meines Freispruchs. Blieb noch eine Frage zu klären.

»Was wird aus van Sanden?«

»Tja, was wird aus ihm?«, gegenfragte Tamir ironisch. Der os iudicii hatte sich van Sandens angenommen. Der Nosferatu hielt den Baron mit erstaunlicher Leichtigkeit fest, obwohl sich dieser heftig wehrte. Das nützte ihm nichts, da der Mund ihn im Nacken gepackt hatte und nun knapp zehn Zentimeter über den Boden hielt. Wie kräftig waren die Nosferatu, und vor allem, wie mächtig? Tamir tat, als wenn er überlegte, und fuhr dann fort: »Da haben wir ein interessantes juristisches Problem. Das Urteil eines Tribunals oder gar der Inquisition anzugreifen, ist eine Straftat. Allerdings hat er versucht, dich zu töten. Was wiegt schwerer? Ach, mein lieber Kostja, ich überlasse es dir, über sein Schicksal zu entscheiden.«

»Hm, das ist doch nicht etwa wieder eine Inquisition?«, fragte ich nur halb scherzhaft, »Ich glaube, wir sollten ihn gehen lassen. Es ist ja nichts passiert.«

»Die Sonne geht in eineinhalb Stunden auf.«, gab Tamir zu bedenken.

»Dann sollte er sich besser beeilen, nach Hause zu kommen.«

Eineinhalb Stunden sollten ausreichen, sich irgendwo einen Unterschlupf für den Tag zu suchen. Ich brauchte van Sanden nicht zu bestrafen. Dafür hatte er selbst gesorgt. Ich konnte mir nichts peinlicheres vorstellen, als im Rat der Häuser als derjenige zu gelten, der am Ende eines Tribunals die Nerven verlor. Außerdem lastete von nun an eine Blutschuld gegenüber dem Haus Varadin auf seinen Schultern. Wer weiß, solche Schulden konnten sich später als sehr nützlich erweisen. Ich ging also zu van Sanden, um ihn von seinem Glück in Kenntnis zu setzten.

»Mein lieber Baron. Sie werden sicherlich verstehen, dass ich Ihren Versuch mich zu entkörpern ein wenig persönlich nehme. Nennen Sie mich ruhig kleinlich. Nun stellt sich die Frage, was ich mit Ihnen machen soll. Die Inquisition ist der Meinung, dass mir das höhere Recht der Verfolgung Ihrer Tat zusteht.«

Van Sanden kochte vor Wut. Diese Art der Demütigung ging ihm sichtlich an die Nieren: »Machen Sie es kurz, Varadin. Was wollen Sie? Meine Entkörperung? Wollen Sie sich noch ein Haus unter den Nagel reißen?«

Er verstand es nicht. Mit allem hatte ich gerechnet, aber nicht damit, dass ein Mitglied des Rats der Häuser die Bedeutung einer Inquisition nicht kannte. Wobei... wenn ich ehrlich war, hatte ich sie auch nicht vollständig durchdrungen. Tamir hatte nicht nur den verhandelten Fall beurteilt, sondern über mich als Vampir entschieden.

»Nichts, ich will nichts von Ihnen.«, erwiderte ich deswegen matt, »Studieren Sie den Kodex und machen sich mit der Bedeutung der Inquisition vertraut, dann werden Sie vielleicht verstehen, dass ich mir das Haus Breskopol nicht unter den Nagel gerissen habe. Gehen Sie! Sie sind frei. Ehrenwerter os iudicii, lasst den Baron frei.«

»Euer Wille ist mir Befehl, ehrenwerter Constantin.«, verkündete der Mund und stellte van Sanden zurück auf seine Füße. Ich winkte zwei Wächter des Hauses heran, kräftigen Vampirsoldaten, die mit einem Typen wie dem Baron locker zurechtkamen.

»Bitte geleitet den Baron hinaus.«

War es das? Fast - das Tribunal war beendet, ich in allen Punkten rehabilitiert. Die Nosferatu waren dabei, den Gerichtssaal abzubauen und alles wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen. Laurentius unterhielt sich mit Michael. Die drei Damen, meine Kläger hatten sich zurückgezogen. Tamir koordinierte den Abbau. Alles war in Bewegung. Einzig der Richtstuhl stand monumentengleich in der Mitte des Saals. Ich ging auf ihn zu. Ich war nicht selbstmörderisch veranlagt. Trotzdem übte dieses seltsam morbide Sitzmöbel eine unheimliche Anziehungskraft auf mich aus. Ich ließ mich sogar auf ihm nieder. Er war, trotz seines Verwendungszwecks, sehr bequem.

»Einen Penny für deine Gedanken.«, Tamir hatte mich entdeckt und war zu mir herangetreten. Sein Humor gefiel mir. Wenn er wollte, konnte er wie in einem offenen Buch in mir lesen.

»Symbole!«, antwortete ich kryptisch, »Es geht um Symbole. Dieser Stuhl ist so ein Symbol. Er scheidet Gut von Böse. Es überlebt nur der, der rechten Herzens ist. Tamir, ich möchte eine etwas ungewöhnlich Bitte äußern.«

»Sprich dich aus.«

»Onkel Vladimir war ein guter König.«, begann ich vorsichtig und nach den richtigen Worten suchend.

»Ja...«

»Es geht um das, was kommt. Breskoff hat es gefühlt und du fühlst es ebenfalls. Dunkle Kräfte dringen in unsere Welt ein. Es ist nicht nur der Frieden zwischen den Häusern, der alt und brüchig geworden ist. Keines der üblichen Ränkespiele zwischen den Häusern. Diese Kraft der Veränderung geht weit tiefer, sie kommt von außen und sie bedroht nicht nur uns.«

»Du bist dir sicher, dass du kein Nosferatu bist?«

»Ziemlich sicher. Ich habe Sex!«

»Touché!«, Tamir lachte.

»Ich muss verhindern, dass ein offener Konflikt zwischen den Häusern ausbricht. Wir müssen die Häuser einen, und das geht nur, wenn ich eine Regentschaft antrete, die diese Einheit symbolisiert. Ich muss erreichen, dass man meinem Wort glauben schenkt.«

»Ich bin ganz Ohr!«, Tamir betrachtete mich mit einem faszinierten Glitzern in den Augen.

»Ich möchte, dass dieser Richtstuhl mein Thron wird. Kein goldener Arschschmeichler, wie das Monster, das bisher die Königswürde tragen durfte, sondern ein Thron der Wahrhaftigkeit - Bekenntnis und Mahnung zugleich.«

»Mein lieber Kostja, du überraschst mich immer wieder. Die Synode wird über deine Bitte beraten. Ich bewundere deinen Mut. Vladimir hat große Weitsicht bewiesen, dich als seinen Nachfolger zu erwählen.« Tamir blickte mir tief in die Augen, in denen ich prompt versank. Seine nächsten Worte waren nur für mich bestimmt. »Denk an das, was ich dir gesagt habe. Verwandle Florian. Ich werde dich nun verlassen, doch solltest du mich brauchen, denk an mich und ich werde dich finden.«

Blut und Zähne

Florian

Christiano erwachte. Dies war an sich kein ungewöhnlicher Vorgang, wäre er nicht in einem Bett erwacht. Und auch dies wäre nicht ungewöhnlich, hätte sein letzter Schlafplatz nicht aus einer Strohmatte eines feuchten, kalten und dunklen Kerkers bestanden. Das Bett war hingegen weder aus Stroh, noch schien der Raum in dem dieses Bett stand kalt oder feucht zu sein - nur dunkel, wenn auch nicht finster. Christiano schlug seine Augen auf und bemerkte den Schein einer Kerze.

»Wie fühlst du dich?«, fragte eine Stimme.

»Gut... oder nein... seltsam.«, antwortete Christiano.

»Wie geht es deinen Fingern?«, stellte die Stimme eine weitere Frage.

»Sie... zum Teufel, sie sind ganz! Meine Finger sind heil! Und meine Gelenke... wie ist das möglich? Ich fühle mich gesund. Die Spuren der Folter... sie sind verschwunden.«

»Nein, sind sie nicht.«, erwiderte Constantin und trat aus dem Schatten in den Lichtkreis der Kerze. Er zog sich einen Stuhl ans Bett und ließ sich darauf nieder, »Dein Körper ist genesen, wenn auch noch geschwächt. Deine Seele hingegen wird die Spuren weiter tragen, aber du wirst lernen, mit ihnen zu leben.«

»Was ist passiert? Wie...«

»Wieso fragst du? Du kennst die Antwort. Sprich es ruhig aus.«

»Ihr seid ein Vampir, oder? Bin ich ein Vampir?«, Christianos Stimme wurde zu einem Flüstern.

Constantin nickte freundlich, griff nach Christianos Fingern und streichelte sie sanft: »Ja, du bist jetzt ein Vampir. Du bist mein Geschöpf. Willkommen im Hause Varadin.«

Christiano seufzte, wandte seinen Blick ab und schaute erst aus ausdruckslosen, dann aus sich mit Tränen füllenden Augen gen Decke. Constantin sagte nichts. Er wusste, wie sich das neue Mitglied seines Hauses fühlte. Er hatte sein Blut getrunken und den Bund geschlossen. Er wusste, was der junge Portugiese durchgemacht hatte, welche Qualen er ertragen musste, wobei die Folter bei Weitem nicht die größte war. Christiano war nicht undankbar, ganz im Gegenteil. Unversehrt und von allen Spuren der Marter geheilt, in einem weichen, warmen Bett zu liegen, war ein Geschenk - und eine Zäsur, denn Nuno lag nicht neben ihm. Nuno war tot.

»Lass es raus.«, Constantin hielt Christianos Hand, »Habe keine Hemmungen, um Nuno zu weinen.«

»Das ist es nicht.«, korrigierte der frisch erweckte Vampir, »Ich schäme mich. Ich liege hier. Gebettet auf weichen Daunen und Nuno...«

Christiano zögerte eine Weile, ob er etwas sagen sollte und entschied sich dafür, es zu tun: »Ich wollte eigentlich noch ein wenig damit warten...«

»Womit warten?«

»Ich habe ein Geschenk für dich. Ein sehr, sehr kostbares Geschenk. Ich bin mir aber nicht sicher, ob du stark genug bist, es zu tragen.«

War es die Art, wie Constantin sprach, wie er seine Worte formulierte? Auf jeden Fall erfüllten sie ihren Zweck, denn sie weckten Christianos Interesse.

»Was ist es, das Ihr mir schenken wollt und warum?«

»Das warum wirst du verstehen, wenn du weißt, was es ist. Es ist kein Ding, nichts, das man anfassen kann. Christiano, ich wollte euch wirklich retten, euch beide. Doch die Inquisition war schneller. Die Nachricht von eurer Verhaftung erreichte mich in Christiania, der Hauptstadt Norwegens. Ich habe keine Sekunde gezögert und brach sofort auf. Nun, du bist ein gebildeter Mann. Geografie ist keine unbekannte Wissenschaft für dich. Von Christiania bis Coimbra sind es gut 2000 Meilen. Ich war drei Nächte unterwegs. Es reichte nicht, ich kam zu spät. Ich konnte deinen Geliebten nicht retten. Nicht seinen Körper, aber einen Teil seines Wesens.«

Constantin wartete nicht ab, wie Christiano auf diese Nachricht reagierte. Ganz behutsam bedeckte er die Augen des jungen Vampirs mit seiner Hand und flüsterte einige unverständliche Worte. Zuerst passierte nichts. Christiano lag ganz ruhig da, atmete, wirkte fast, als ob er schlief.

»Nuno!«

Christiano japste nach Luft. Sein Brustkorb bäumte sich auf, als hätte er unter Wasser gelegen und war nun wieder an die Oberfläche getaucht, um seine Lungen mit Luft zu füllen.

»Oh Nuno, mein liebster Nuno!«, rief der junge Vampir und umarmte einen unsichtbaren Körper.

Constantin zog seine Hand zurück und blickte in zwei strahlende, traurig glückliche Augen.

»Es ist nicht viel, das ich von ihm, seinem Wesen, retten konnte, nur eine Ahnung, ein Echo seines selbst. Sei du sein Hüter, sein Bewahrer.«

»Danke, Constantin, danke...«, flüsterte Christiano, dessen Augen sich erneut mit Tränen füllten, die jetzt aber deutlich glücklicher wirkten.


»Weißt du, was mir Constantin geschenkt hat?«, fragte mich Christiano und unterbrach damit die Schilderung seiner Verwandlung.

»Nein, doch nicht seine Seele, oder?«

»Nein, das wäre grausam. Constantin hatte den Kerker wenige Stunden nach Nunos Tod erreicht. Er konnte ihn nicht mehr retten. Allerdings stellt der Tod keinen scharfen Schnitt dar, jedenfalls nicht in unserer Welt. Es ist ein gleitender Übergang in dem das, was uns ausmacht, den sterbenden Körper langsam verlässt. Nenn es Seele, nenn es Essenz, nenn es den Geist. Constantin gelang es, ein Echo dieser Essenz aufzufangen und zu bewahren. Ich weiß nicht, wie er es machte. Es muss daran liegen, dass er ein gebürtiger Vampir ist. Er verfügt über sehr besondere Kräfte. Was mir Constantin schenkte, waren Nunos Gefühle für mich. Es muss das letzte gewesen sein, woran er dachte und was er empfand. Die Liebe zu mir und nicht die Schmerzen der Folter. Ich bewahre sie immer noch in mir.«

»Krass!« War das taktvoll? Wohl nicht. Mir fiel aber kein treffender Begriff ein.

»Yupp, verdammt krass!«, mein Freund lachte, »Constantins Geschenk gab mir die Kraft, weiterzuleben... oder zu existieren, je nachdem, ob man uns als Lebewesen betrachtet.«

»Konntest du loslassen?« Was war mit mir los? Solche Fragen stellt man doch nicht, oder?

»Du bist ganz schön direkt, Kleiner!«, Christiano nahm mir meine Frage nicht übel und lachte erneut, »Ja, ich konnte. Ich glaube, ohne Nunos Echo wäre mir das nicht gelungen. So verdreht es klingen mag, aber nur so machte meine Existenz wieder Sinn. Diese Liebe in mir wollte nicht, dass ich mich verkroch und ewig trauerte. Sie wollte, dass ich lebte, liebte und dafür sorgte, dass ein paar Rechnungen beglichen wurden.«

»Oh, oh...«


Christiano erholte sich mit rasender Geschwindigkeit. Sein vampirischer Körper hatte die Verletzungen der Folter bereits geheilt, was ihm jetzt noch fehlte, waren Kraft und Erfahrung. Als erstes musste sich Christiano nähren, was hieß, dass er Blut trinken musste.

»Und wie funktioniert das?«, fragte er Constantin. »Muss ich jetzt im Schutz der Nacht durch die Straßen streifen und unschuldigen Jungfrauen nachstellen?«

»Wenn du eine findest - nur zu. Ich wünsch dir viel Glück.«, entgegnete Constantin mit erster Miene.

»Ihr nehmt mich auf den Arm, oder?«

»Nein!«, rief Constantin erbost, »Du liegst doch im Bett.«

»Witzbold!«, lachte der unerfahrene Vampir.

»Endlich lachst du.«, bemerkte Constantin zufrieden und lachte nun ebenfalls, »Nein, du wirst keinen Jungfrauen nachstellen müssen. Außerdem dachte ich, dass du auf Jungs stehst. Wieso sich dann mit Frauen abgeben? In einem Punkt muss ich dir Recht geben. Früher oder später wirst du jagen müssen und von Menschen trinken. Ich werde dich lehren, wie das geht und wie man dafür sorgt, dass deine Nahrungsaufnahme unentdeckt bleibt. Wir müssen nicht töten, wenn wir trinken. Unser Überleben hängt davon ab, dass wir unentdeckt bleiben. Es wäre recht ungeschickt, eine Leichenspur hinter uns herzuziehen. Für den Anfang wirst du von mir trinken. Ich werde jagen und Blut für uns beide beschaffen.«

Blut trinken? Allein der Gedanken daran hätte Christiano vor ein paar Stunden noch den Magen umgekrempelt. Jetzt aber bewirkte die Erwähnung des roten dickflüssigen Safts einen hungrig knurrenden Magen.

»Und waff muff... Ferdammt waff ift daff?«

Constantin bekam einen Lachanfall: »Deine Zähne scheinen ja schon ganz gut zu funktionieren.«

»Fehr witfig! Und wie fieh ich die wieder ein?«

»Tu es einfach!«

»Was? Oh, das funktioniert ja wirklich. Welch Wunder der Anatomie.«

Constantin nickte zufrieden. Sein Schützling war auf dem richtigen Weg. Als nächstes galt es, den hungrigen Vampir zu füttern. Die Verwandlung vom Menschen zum Vampir verlangte dem Körper relativ wenig Kraft ab, solange er sich in einem unversehrten und gesunden Zustand befand. Christianos Körper war das Gegenteil davon. Es begann mit seinen Fingern. Die Daumenschrauben hatten nicht nur sämtliche Fingerknochen zu Brei zerquetscht, sondern auch die Haut zerfetzt und die Mehrheit der Sehnen zerrissen. Anschließend hatte man das, was von den Händen übrig war, in alte, verkeimte Lumpen gewickelt, damit Christiano nicht die ganze Folterkammer mit seinem Blut volltropfte. Allein diese Schäden hätten reichlich Kraft gekostet, um sie zu beheben. Allerdings hatten sich die Folterknechte nicht mit seinen Händen zufriedengegeben, sondern sich zusätzlich auch noch mit ihrem Opfer auf der Streckbank vergnügt und dabei ganze Arbeit geleistet. Da für die Inquisition von vorneherein fest stand, dass ein Angeklagter der ihm vorgeworfenen Verbrechen schuldig war, spielten mögliche Folgeschäden der Folter keine Rolle. Ob sie den Delinquenten in einen Krüppel verwandelten, oder dieser infolge infizierter Wunden sowieso starb, war belanglos und dem Inquisitor im Prinzip egal, Hauptsache er lebte so lange, dass der Beklagte ein Geständnis ablegte, damit man ihn anschließend hinrichten konnte.

Ein dermaßen gemarterter Körper wie Christianos benötigte sehr viel Kraft, um sich von seinen Verletzungen zu heilen. Kraft, die ein Vampir nur durch frisches Blut gewinnen konnte. Christiano war viel zu unerfahren und auch zu schwach, um selbst auf die Jagd gehen zu können, außerdem wäre er nicht in der Lage, seinen Bluthunger zu kontrollieren. Er hätte seine Opfer leergesaugt, was nicht im Sinne Constantins war. Zum Glück gab es ein probates Mittel, Jungvampire aufzupäppeln, ohne dass diese selbst die Hauer in unschuldige Hälse schlagen mussten. Constantin biss sich in sein Handgelenk. Sofort begann der rote, klebrige Saft herauszusprudeln.

»Trink!«, forderte er Christiano auf und drückte ihm sein Handgelenk in den Mund.

Der junge Vampir zögerte nicht lange und begann sofort zu saugen. Wie ein Verhungernder zuzelte er am Handgelenk seines Schöpfers. Der wusste ganz genau, wie viel Blut er entbehren konnte und wie viel Christiano brauchte.

»Aua! Junge, beiß mich nicht.«, knurrte Constantin, »Und zieh verdammt nochmal deine Zähne ein!«

»'tschuldigung!«, gurgelte Christiano und schlürfte weiter.

»Gut, das reicht.«, meinte Constantin und entriss seinem neuen Geschöpf seinen Arm. Kurz mit der eigenen Zunge darüber geleckt, schloss sich die Wunde und verheilte innerhalb weniger Sekunden. Christiano rülpste.

»Wenn die Kleinen ein Bäuerchen machen, sind sie gesund.«

»Verdammt, das war gut.«, rülpste Christiano erneut.

»Gut!«, Constantin fischte eine Taschenuhr aus seiner Jacketttasche und klappte den goldenen Zeitmesser auf. Der Vampir musste ein wohlhabender Mann sein, wenn er sich ein solches Gerät leisten konnte, »Noch drei Stunden bis zum Sonnenaufgang. Ich werde dich jetzt eine Weile allein lassen müssen, um meinen eigenen Hunger zu stillen. Tu dir selbst einen Gefallen und verlasse das Zimmer nicht und warte, bis ich zurück bin.«

Christiano nickte und Constantin verschwand. Das war es also, das Leben eines Vampirs. Satt und gestärkt rappelte sich der frisch erweckte Vampir von seinem Lager auf und inspizierte das Zimmer. Es war unspektakulär. Ein schnörkelloser Schrank, ein Tisch mit zwei Stühlen, ein Bett mit einem Nachttisch, auf dem eine Kerze stand und eine Kommode mit Waschschüssel und Spiegel, in diesen sechs Gegenständen erschöpfte sich die Einrichtung. Nichts davon war außergewöhnlich. Es waren solide Holzarbeiten von guter Qualität. Die Bettwäsche war ein wenig feiner und duftete leicht nach Lavendel, was vermutlich dem Schutz vor Motten diente. Als Apotheker kannte sich Christiano mit den verschiedenen Verwendungszwecken des echten Lavendels aus. Neugierig wie er war, öffnete er den Schrank. Männerkleidung, die ebenfalls nach Lavendel duftete, was an den kleinen Säckchen lag, die man zwischen die Kleider gelegt hatte. Diese waren nicht hochherrschaftlich, aber auch nicht von billiger Machart, sondern entsprachen eher dem Stil des aufstrebenden Bürgertums.

Wem die Kleidung wohl gehört? Testweise nahm Christiano einige Teile heraus und hielt sie sich vor den Körper. Sie entsprachen seiner Größe. Ob wohl...? Christiano schob den Gedanken beiseite und schaute sich weiter um. Die Kommode war ein ebenso zweckdienliches wie schlichtes Exemplar. In einer Kanne stand frisches Wasser bereit, neben der Waschschüssel lagen Seife, Rasierzeug und Handtücher. Christiano griff zur Kanne und goss etwas von dem Wasser in die Schüssel. Es konnte nie schaden, sich gründlich zu waschen, auch wenn dies nicht der allgemeinen Meinung entsprach, die das Wasser mied und Körperausdünstungen mit Parfüm übertünchte. Man befand sich schließlich im Zeitalter des Rokoko.

Der Gedanke, mangelnde Hygiene, wobei dieser Begriff noch nicht erfunden war, könnte Ursache schwerer Krankheiten sein, war zu jener Zeit revolutionär und wurde von niemandem ernsthaft in Erwägung gezogen. Nicht so Nuno und Christiano, die während ihres Studiums oft über dieses Thema diskutiert hatten und zum Schluss gekommen waren, dass peinliche Sauberkeit die Heilungschancen eines Patienten erhöhte. Entsprechende Hinweise fanden sich nicht nur in den Abhandlungen alter arabischer Gelehrter, sondern ließen sich später auch mit praktischen Erfolgen untermauern. Seit dieser Entdeckung legten Christiano und Nuno sehr viel Wert auf körperliche Reinlichkeit, was nebenbei auch einen anderen angenehmen Nebeneffekt hatte. Einen frisch gewaschenen Mann in den Arm oder einen sauberen Schwanz in den Mund zu nehmen, war einfach um Klassen appetitlicher, als die ungewaschen müffelnde Variante.

Aus alter Gewohnheit legte Christiano sein Hemd ab und griff zur Seife, dabei kam er nicht umhin, einen Blick in den Spiegel über der Waschschüssel zu werfen, der zwei Überraschungen für ihn bereithielt. Überraschung Eins: Er war sichtbar. Die Behauptung, Vampire besäßen kein Spiegelbild, war falsch, was direkt zu Überraschung Zwei führte. Christianos Spiegelbild ließ den frischgebackenen Vampir erstarren und die Seife fallen lassen, die mit einem lauten Platsch in die Waschschüssel plumpste. Was ihm da entgegen blickte, war ein ausgesprochen attraktives Exemplar der Gattung Mann. Die Verwandlung vom Menschen zum Blutsauger hatte mehr bewirkt, als nur seine Verletzungen zu heilen. Sein Körper wirkte muskulöser, akzentuierter und auch etwas größer. Sein Gesicht war härter, maskuliner geworden und nun sehr markant. Christiano schaute dreimal hin, wechselte dabei in verschiedene Posen, bis er glaubte, was er sah. Mit diesem Aussehen dürfte ihm jeder, egal ob Männlein oder Weiblein zu Füßen liegen. Die Frage war, wollte er das?

Natürlich. Als studierter Mann, dem logisches und deduktives Denken nicht fremd war, begriff Christiano sehr schnell, warum er aussah, wie er aussah. Es diente dazu, den Jagderfolg zu erhöhen. Menschen zu jagen war ein seltsamer und beunruhigender Gedanke. Mit einem Kopfschütteln, der den Gedanken vertreiben sollte, angelte Christiano nach der Seife und begann sich gründlich zu waschen. Frisch gereinigt griff er zum Rasiermesser und entfernte die Stoppeln aus seinem Gesicht. Um besser sehen zu können rückte Christiano dichter an den Spiegel heran, bis ihn sein Gesicht ausfüllte.

Wie war das mit den Zähnen? Er war neugierig. Den Mund weit geöffnet, inspizierte der frischgebackene und sehr experimentierfreudige Blutsauger seine Eckzähne. Sie waren deutlich spitzer, schärfer und dolchartig geformt als früher. Ohne darüber nachzudenken zu müssen, wie man dies bewerkstelligte, fuhr er die neuen Saugfänge aus.

»Junge, du siehst verwegen aus.« Mangels Publikum sprach Christiano zu sich selbst, schüttelte erneut den Kopf, fuhr die Zähne wieder ein und setzte seine Körperreinigung fort. Frisch gewaschen tat sich aber nun ein Problem auf. Seine alte Kleidung war benutzt, außerdem bestand sie nur aus einem großen Nachthemd. Ob ich...? Christiano zögerte nicht lange und plünderte den Schrank. Die Kleider passten perfekt, so, als ob sie ihm auf den Leib geschneidert waren.

Irgendetwas fehlt, nur was? Während der ganzen Zeit konnte sich Christiano nicht des Gefühls erwehren, dass irgendetwas in seinem Zimmer fehlte, dafür etwas anderes zu viel war. Nur was? Frisch eingekleidet lief er den Raum ab, durchsuchte den Schrank, schaute in die Kommode. Es wollte ihm nicht einfallen. Frustriert setzte er sich an den Tisch und ließ von dort seinen Blick schweifen.

Natürlich! Es gab kein Fenster. Außer einer Tür gab es keine weiteren Öffnungen. Christiano befand sich in einem Raum ohne Fenster. Und noch etwas. Der ganze Raum wurde nur von einer einzigen Kerze erhellt. Plötzlich fiel es Christiano wie Schuppen von den Augen. Er hatte sich im Schein einer Kerze rasiert, die mehrere Schritte von der Waschschale entfernt stand. Seine Augen mussten über außergewöhnlich Sehkraft verfügen, was Christiano sofort praktisch überprüfte. Er stand auf, ging zur Waschschüssel und betrachtete sein Gesicht. Jeder andere hätte die Kerze nehmen müssen, um etwas erkennen zu können. Christiano nicht. Jede Furche seiner Haut, jede einzelne Wimper, das Spiel der Farben seiner Iris, alles ließ sich klar und deutlich erkennen.

»Wir sind Geschöpfe der Nacht. Die Dunkelheit ist unser Freund.«, bemerkte eine Stimme hinter Christiano. Constantin war von seinem Jagdausflug zurückgekehrt.

Blick in den Abgrund

»Was für eine Geschichte.«

Geschichte - ein Wort mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen. Christianos Schilderung seiner Erweckung war gelebte Geschichte. Es war nicht irgendein Märchen, etwas, das man ungezogenen Kindern zur Abschreckung erzählte, sondern die sehr realen Erlebnisse eines jungen Mannes, der gerade damit beschäftigt war, für sich und seinen Geliebten einen Platz in der Welt zu finden. Seine Wünsche waren weder anmaßend noch sonderlich hochtrabend. Alles, was er wollte, war ein Stück vom Glück, sein Leben mit einem lieben Mann teilen und der ehrbaren Tätigkeit des Apothekers nachgehen. Das Schicksal hatte andere Pläne und ging mit dem jungen Mann alles andere als zimperlich um. Es entriss ihm die Basis seiner Existenz, tötete seinen Geliebten und plante seine Exekution.

Doch dann kam Constantin und änderte die Spielregeln - wie bei mir. Christianos und mein Schicksal ähnelten sich. Ich hatte zwar keinen Geliebten, den man mir rauben konnte, und auch die körperlichen Qualen waren nicht annähernd mit seinen vergleichbar, aber die Missgunst der Umwelt war identisch. Was man Christiano vor 270 Jahre nicht zubilligte, gönnte man mir ebenfalls nicht: Das Recht auf individuelles Glück. Und wie mein vampirischer Freund, war auch bei mir Constantin der Retter.

Ich behaupte nicht, dass ich Christianos Schmerz in seinem gesamten Umfang nachvollziehen konnte. Was man ihm angetan hatte, konnte man kaum mit dem vergleichen, was meine Kollegen mir zugefügt hatten. Trotzdem meinte ich, eine Verbindung zu sehen. Beide wurden wir zu bestimmten Punkten unseres Lebens mit einer Situation konfrontiert, die uns den Willen zu leben raubte.

»Was für eine Geschichte. In der Tat.«, stimmte mir Christiano zu, »Du und ich, wir beide haben in den Abgrund geblickt. Ebenso Simon, der Vampir, den ich erschaffen habe. Ich habe dir die Geschichte meiner Erweckung erzählt, damit du verstehst, wer ich bin und woher ich komme. Florian, ich mag dich und ich glaube, dass du mich ebenfalls magst. Du bist ein Freund, ein sehr guter Freund, was viel bedeutet, da ich kaum über Freunde verfüge.«

Natürlich mochte ich Christiano, und nicht nur deswegen, weil er zurzeit mein Lehrer und Beschützer war. Er war, wie er selbst sagte, ein Freund. Der erste und beste Freund, den ich je hatte. Ich brauchte keine Worte, um ihm dies deutlich zu machen. Christiano lag in meinen Armen. Ich musste ihn nur enger zu mir heranziehen und ihn an mich drücken.

»Bevor du mich vollends in dein Herz schließt, solltest du wissen, was nach meiner Erweckung geschah. Vielleicht bist du danach nicht mehr so überzeugt, dass ich ein guter Mensch oder genauer Vampir bin.«


»Ich sehe, du hast dich am Schrank bedient. Sehr gut, die Kleidung scheint zu passen.«, bemerkte ein zufrieden dreinschauender Constantin.

»Die Sachen sind für mich?«

»Selbstverständlich.«, kam die prompte Antwort, »So verlockend der Gedanke auch sein mag, kann ich dich unmöglich nackt herumlaufen lassen. Gewöhn dich daran, dass du jetzt ein Mitglied des Hauses Varadin bist. Das heißt, dass man sich um deine Bedürfnisse kümmern wird.«

»Wer wird sich darum kümmern?«

»Die anderen Mitglieder unseres Hauses. Wir sind eine Gemeinschaft, bei der jeder etwas zum Wohl aller beiträgt. Wenn du dich in dein neues Leben eingewöhnt hast, wirst du ebenfalls deinen Teil beisteuern. Was das sein wird, hängt ganz von deinen Fähigkeiten, aber auch von deinen Interessen ab.«

Der Begriff Teamwork war noch nicht erfunden, traf die Organisation des Hauses Varadin aber sehr genau.

»Wo sind wir?«, wollte Christiano wissen. Das Zimmer ohne Fenster ließ wenig Rückschlüsse auf ihren Aufenthaltsort zu. Sie konnten sich immer noch in jener unfreundlichen Stadt befinden, die ihn fast das Leben gekostete hätte, »Was ist im Kerker und danach passiert?«

Statt sofort zu antworten, nahm Constantin Christiano bei der Hand und führte ihn aus dem Zimmer. Hinter der Tür erstreckte sich ein langer, schmaler und spärlich erleuchteter Gang, von dem zu einer Seite eine ganze Reihe Türen abging, die Christiano an Zellen eines Klosters erinnerten. Wie sich zeigen sollte, lag er mit dieser Vermutung nicht völlig falsch. Nachdem die beiden Männer eine kleine und schmale Steinwendeltreppe hinabgestiegen waren, öffnete sich der Gang in einen großen Raum. Auch dieser verfügte über keinerlei Fenster, dafür gab es einen großen Kamin, in dem ein kräftiges Feuer prasselte. Auf einem bestimmt vier Meter langen dunklen Holztisch standen an jedem Ende je ein großer Kerzenleuchter. Die Wände waren mit wertvollen Wandteppichen behangen, ebenso der Boden. Neben hochlehnigen Holzstühlen entlang des dominierenden Tisches beherbergte der Raum, der eher an einen Speisesaal einer mittelalterlichen Burg erinnerte, über eine kleine Sitzgruppe, die Constantin ansteuerte.

»Wir befinden uns in Coimbra. Genaugenommen im geheimen Dormitorium der theologischen Fakultät. Fra Ventura, der Dekan, ist einer von uns.«

»Pater Ventura ist ein Vampir?«

»Das nicht, aber er ist ein Mitglied unseres Hauses. Er war der eigentliche Grund für meinen Aufenthalt vor ein paar Jahren. Bei seinen Studien war er über alte Dokumente aus der Zeit des Kalifats von Cordoba gestoßen, die unsere Familie betreffen.«

»Aber das war im achten Jahrhundert.«, wandte Christiano verwundert ein, »Wie alt ist Eure Familie?«

»Unsere Familie, du bist jetzt ein Varadin. Um deine Frage zu beantworten: Gesichert können wir unsere Geschichte bis ins alte Reich also der 3. Dynastie der ägyptischen Pharaonen zurückverfolgen, wenn es hier und da auch ein paar Lücken gibt. Eine dieser Lücken gelang es mir vor ein paar Jahren mit den Dokumenten zumindest teilweise zu schließen.«

Christiano wollte kaum glauben, was er hörte. Wenn Constantin nicht log, existierte seine Familie seit mehr als viertausend Jahren. Das war wirklich eine sehr lange Zeit. Wie alt Constantin wohl war?

»Wir sind hier relativ sicher.«, wechselte Constantin das Thema und kehrte zu Christianos ursprünglicher Frage zurück, »Ich hielt es für geschickter, den Ort deines bisherigen Wirkens möglichst schnell zu verlassen. Nachdem du eingewilligt hast, dich von mir verwandeln zu lassen, konnte ich dich hierher bringen. Kerkerzellen stellen kein Hindernis für uns dar. Ein Luftschacht, ein Spalt in einer Tür reicht, um hindurchzuschlüpfen. Nein, wir können nicht durch Wände gehen, allerdings für begrenzte Zeit unsere Form verändern. Wir verließen den Kerker so, wie ich gekommen war, als dunklen Dunst. Ein Trick, den man bei starkem Wind übrigens tunlichst unterlassen sollte. Anschließend brachte ich dich direkt hierher, wo du dich von deinen Verletzungen erholen konntest.«

Diese Erholung währte drei Tage und Nächte, in denen Christiano sich in einem todesähnlichen Zustand befand. Ein ähnliches Verfahren verwendet die moderne Medizin, wenn sie Intensivpatienten in ein künstliches Koma versetzt. Natürlich blieb das plötzliche Verschwinden eines der schwarzen Magie, Hexenkünste und, was wohl als schlimmstes Verbrechen von allen galt, der Sodomie, also dem Praktizieren beischlafähnlicher Handlungen mit dem eigenen Geschlecht, mächtigen nicht unbemerkt und sorgte für Aufregung. Der perversen Logik des Inquisitors folgend, bestätigten sich mit Verschwinden des Häftlings die ihm zur Last gelegten Straftaten. Da die Flucht keine Spuren hinterließ, ließ die Logik nur einen Schluss zu, schwarze Magie musste im Spiel sein. Damit lagen sie nicht einmal falsch, obwohl kaum ein Inquisitor wirklich an Magie glaubte. Das Verbreiten von Furcht und Terror war ein Mittel der Politik. Es erlaubte sehr effektiv, den status quo zu sichern. Aufklärung und Rationalismus hatten eine gefährliche Saat gesät, die dazu geeignet waren, bestehende Machtstrukturen ins wanken zu bringen. Wer weiß, vielleicht verloren am Ende sogar noch Könige ihren Kopf - wortwörtlich.

So weit wollte Christiano nicht denken. Seine Fragen waren primär an Constantin orientiert. Was wollte er von ihm? Warum hatte er ausgerechnet ihn, einen unbedeuteten Apotheker, vor der Inquisition bewahrt? Und wie sollte es jetzt weiter gehen?

»Ich habe dich gerettet, weil ich es für meine Pflicht hielt. Ich habe euch, Nuno und dich, erst in diese Lage gebracht. Hätte ich nicht dafür gesorgt, dass ihr euch während des Studiums anfreundet, wäre das alles vielleicht nicht passiert.«

Das war ein interessantes Geständnis, wenn auch keines, das Christianos Fragen wirklich beantwortete. Constantin holte weiter aus und erklärte, dass ihm Christiano und Nuno während seiner Zeit in Coimbra aufgefallen wären. Ihm war sofort klar, dass die beiden sich ineinander verliebt hatten, ihnen aber der Mut fehlte, den ersten Schritt zu tun.

»Also verdingte ich mich als Amor. Ich hätte wissen müssen, welche Gefahr ich damit herauf beschwor. Die Liebe zwischen Männern ist im europäischen Kulturkreis nicht hoch angesehen. Es tut mir Leid. Ich hätte mich nicht einmischen dürfen. Nuno starb wegen mir.«

»Nein, das tat er nicht. Er starb für seine Überzeugungen. Er starb auch nicht, weil wir miteinander schliefen. Er starb, weil wir schlechten Menschen gefährlich wurden. Nicht wir haben unsere Seele an den Teufel verkauft, sondern so ehrenwerte Männer, wie Fra Silo und seine Günstlinge. Ich wünschte, ich hätte die Gelegenheit, ihm für seine Wertschätzung zu danken.«

Constantin antwortete nicht sofort. Dies tat er oft, wenn er nachdachte. Fürst Varadin war kein Mann eilfertiger Entschlüsse, insbesondere, wenn sie das Wohlergehen seines Hauses betrafen.

»Wie stellst du dir das vor? Möchtest du ihn foltern, so wie sie dich gefoltert haben? Oder möchtest du ihm das Leben nehmen, wie er Nunos Leben nahm?«

»Die Taten Fra Silos müssen gesühnt werden. Er quält Menschen indem er ihre Leiden nicht kuriert, sondern kultiviert, um davon zu leben. Ich bin kein Mediziner. Nuno war es und er hat mich den Eid des Hippokrates gelehrt. Dort heißt es wörtlich, dass ein jeder Arzt seine Verordnungen zum Nutzen der Kranken anzuwenden hat und sich davor hüten soll, sein Können zum Schaden und in unrechter Weise anzuwenden. Fra Silo hat diesen Eid gebrochen. Er hat sich schuldig gemacht, auch nach weltlichem Recht.«

»Willst du sein Kläger sein?«, hakte Constantin nach.

»Ich? Ihr habt selbst erlebt, wohin mich das brachte.«

»Gut, das verstehe ich. Doch wenn du keine Klage gegen ihn erhebst, wer dann?«

Christiano sprang wütend auf, rannte zum Kamin, packte einen Schürhaken mit beiden Händen und war kurz davor, ihn mit aller Wucht gegen die Wand zu knallen.

»Niemand!«, fauchte er und begann, den Schürhaken in seinen Händen zu verbiegen, als wäre er aus weichem Wachs gefertigt. Völlig auf seine Wut fixiert, warf er das vollkommen verbogene Metall beiseite, ging auf Constantin zu und stellte sich direkt vor ihm hin: »Niemand wird ihn aufhalten. Er wird damit durchkommen und weiter ahnungslose Menschen ausnutzen. Er hat gewonnen.«

»Du bist jetzt ein Vampir. Du könntest ihn besuchen.«, gab Constantin zu bedenken.

»Ich hatte Euch eigentlich für einen Ehrenmann gehalten, Constantin Varadin.«, Christianos Blick wurde kalt, »Habt Ihr mich nur verwandelt, um aus mir einen Henker zu machen?«

Constantin lächelte, ging zum Kamin und hob den verbogenen Schürhaken auf, den er fast spielerisch wieder gerade bog und an seinen Platz stellte: »Nein, niemals. Ich werde dich niemals darum bitten, einen Menschen vorsätzlich zu töten. Wir sind weder Richter noch Henker. Wenn du Fra Silo das Handwerk legen willst, dann ist dies deine Entscheidung. Ich rate dir weder ab noch zu. Meine persönliche Erfahrung ist, dass Rache ein schlechter Ratgeber ist. Fra Silo zu töten, bringt dir Nuno nicht zurück.«

Frustriert ließ sich Christiano zurück auf seinen Stuhl fallen: »Du bist wirklich keine Hilfe, Constantin. Was soll ich tun?«

»Was du für richtig hältst. Du bist jetzt mein Geschöpf, was bedeutet, dass ich für alle deine Entscheidungen verantwortlich bin. Wenn du Fra Silo das Handwerk legen willst, hat das Einfluss auf unser Haus. Ich sage nicht, dass du nichts tun sollst, genauso sage ich nicht, dass du etwas tun sollst. Ich sage, dass du dir deine Handlungen genau überlegen sollst und dir ihrer Konsequenzen bewusst sein musst. Wir haben noch etwas Zeit, bevor wir Portugal verlassen müssen. Ich schätze, dass wir in etwa einem Monat aufbrechen werden. Bis dahin werde ich versuchen, aus dir einen passablen Vampir zu machen und, wenn es dein Wunsch ist, dich zu einem Besuch bei Fra Silo begleiten.«

»Danke. Ich weiß zwar noch nicht so recht für was, aber trotzdem - danke!« In Christiano machte sich eine gewisse Orientierungslosigkeit breit. Sein Blick wanderte im Zimmer umher und blieb am Kamin hängen: »Habe ich eben wirklich den Schürhaken verbogen?«

»Natürlich hast du das.«, lachte Constantin, »Du bist ein Vampir. Nett oder?«

»Ziemlich.«, stimmte Christiano zu und war froh, das Thema Fra Silo vorerst verdrängt zu haben. Dafür nagte eine andere Frage an ihm: »Constantin, du hast mir noch nie gesagt, worin dein Interesse bestand, Nuno und mich zusammenzubringen. Beziehungen wie die unsrigen gelten als widernatürlich und werden mit dem Tode bestraft.«

»Was barbarisch ist. Ich verbringe jetzt schon ein paar Jahrhunderte auf unserer schönen Erde. Wenn ich in dieser Zeit eins gelernt habe, dann, dass es nichts kostbareres als die Liebe gibt. Halte sie fest, wenn sie dir begegnet. Ich sah sie in Nunos und deinen Augen. Ihr hättet eine Chance verdient. Und wenn du es noch nicht bemerkt haben solltest, auch ich liebe Männer.«

Merger of Equals

Constantin

»So, meine Damen, ich glaube, es ist an der Zeit, sich ein wenig zu unterhalten.«

Da saßen sie, die Ladies Timon, Lydia und Cassandra und musterten mich mit angemessen, zerknirschten Mienen. Der Zerknirschungsgrad reichte dabei von leicht angefressen, wie bei Cassandra, bis extrem frustriert bei Lydia. Timon kochte. Ich wartete. Nach allem, was ich dank der drei Damen durchmachen durfte, lag der Ball in ihrem Feld.

»Also gut, du hast gewonnen.«, platzte Timon, die schon immer die unbeherrschteste war, der Kragen, »Du hast Vladimir nicht ermordet. Der Inquisitor hat dich am Leben gelassen. Sein Urteil kann ich nicht ignorieren. Gefallen muss es mir aber nicht.«

»Verdammt!«, presste Lydia ihre gesamte Frustration in ein einziges Wort.

»Entschuldigt, aber ich habe euch gewarnt, unseren kleinen Constantin nicht zu unterschätzen.«, mischte sich nun auch Cassandra ein, für die ich immer noch der kleine Junge war, der als Dreikäsehoch das Schloss Breskopol aufgemischt hatte. »Constantin, kannst du dir vorstellen, wie wir uns fühlen? Vladimir hat dir etwas anvertraut, was er uns, seinen geliebten Frauen, nicht sagen wollte.«

Das war Cassandra. Die kleinen Machtspielchen interessierten sie nicht. Die überließ sie Timon und Lydia. Das hieß nicht, dass sie nicht an Macht und Einfluss interessiert war. Was sie von den anderen beiden Damen unterschied, war ihr Handlungshorizont. Cassandra dachte in Zweiträumen von Jahrzehnten bis Jahrhunderten, und nicht in Tagen, Wochen oder Monaten. Dieses auf langfristige Entwicklungen ausgerichtete Denken verschob ihre Bewertungsmaßstäbe. Statt sich für einen kurzfristigen strategischen Vorteil einen Feind zu schaffen, reichte sie einem Gegner auch schon mal die Hand, was sich auf lange Sicht oft als wesentlich klügere Vorgehensweise bewies. Cassandra wirkte von daher immer etwas weicher und galt politisch als Taube, während Lydia und Timon die Rolle der Falken übernahmen. Ich glaube, mit dieser Einschätzung lag man falsch. Auch Cassandra war ein Falke, der seine Ziele sehr klar und konsequent verfolgte. Was sie unterschieden, waren die Ziele und meine Hoffnung war, dass sich ihre und meine nicht wesentlich voneinander unterschieden.

»Ich kann es mir vorstellen, ehrenwerte Cassandra. Ich kann es mir sehr gut vorstellen, denn ich muss mit diesem Wissen leben, das euch Vladimir nicht sagen wollte, nicht sagen konnte. Er hat euch geliebt. Mehr als das. Er hat euch vergöttert und deswegen mir dir Bürde auferlegt, sein Geheimnis zu wahren. «

War es der Klang meiner Stimme? Meine Miene? Oder gar meine unbewusst mental projizierten Emotionen, für die Cassandra schon immer sehr empfänglich war? Ich hatte es schon erwähnt, ich konnte Cassandra nicht belügen, was umgekehrt auch bedeutete, dass sie eine Lüge sofort bemerkte. Sie wusste, dass ich die Wahrheit sprach. Und offensichtlich fühlte sie, dass Vladimirs Vermächtnis alles andere als leicht zu tragen war. Anders konnte ich mir ihre folgende Reaktion nicht erklären.

»Kostja«, sie wählte mit bedacht den Namen, mit dem mich meine Mutter immer rief, und schaute mir offen in die Augen. Alle Schutzwälle und Masken waren verschwunden. »Ich entschuldige mich bei dir. Du bist ein guter Junge. Ich kann sehen, dass du diesen Weg nicht freiwillig gewählt hast und an dieser Bürde schwer trägst. Was immer mir an Unterstützung und Hilfe möglich ist, ich werde sie dir geben. Constantin Varadin, du bist nicht mehr der Junge, der sich an meiner Brust ausgeweint hat. Du bist ein Mann geworden, ein Fürst und mein Meister. Verfüge über mich.«

Das war es. Cassandra akzeptierte meinen Anspruch. Ich hatte zwar damit gerechnet, trotzdem überwältigte mich die Emotionalität dieses Moments. Diese Frau war mein Mutter- und Großmutterersatz und jetzt war ich ihr Fürst, ihr Gebieter. Ich musste schlucken, um den Kloß aus meinem Hals zu bekommen. Schüchtern und fast ängstlich griff ich nach Cassandras Händen, hielt sie und sah ihr ebenso offen, wie sie es tat in die Augen.

»Trink von mir.«, bat ich sie. Es war kein Befehl, sondern ein Angebot. Der Bund war mit ihrer Unterwerfung unter meinen Führungsanspruch bereits geschlossen. Mein Blut zu trinken erfüllte eher den umgekehrten Zweck, ihr meine Aufrichtigkeit und Dankbarkeit zu beweisen.

»Wirklich?« Gab es das? Cassandra war gerührt.

»Aber ja!«, lächelte ich, »Komm, hab' keine Angst. Nur ein kleiner Schluck.«

Die große Seherin des Hauses Breskoff blinzelte verlegen, nickte, griff nach meinem Handgelenk und biss zärtlich zu. So stellte ich mir den Kuss einer Großmutter der Menschen vor. Sie trank wirklich nur ein paar Tropfen, doch die reichten, um einen Bund für die Ewigkeit zu knüpfen.

»Oh bitte!«, schnaubte Timon angewidert, »Eure Gefühlsduselei ist einfach nur peinlich.«

»Jetzt aber mal Butter bei die Fische. Warum wurmt es dich, dass Onkel Vladimir mich zu seinem Nachfolger bestimmt hat? Fühlst du dich zurückgesetzt? Bist du der Meinung, deine Verdienste um das Haus Breskoff würden dadurch geschmälert? Und du Lydia, was bringt dich so gegen mich auf? Haltet ihr mich wirklich für einen autokratischen Herrscher, der euch zukünftig eng an die Leine nehmen wird? Was fürchtet ihr? Eure Freiheiten? Wenn ich mich nicht irre, gehörte Vladimir nicht zu jenen Stammvätern, die alles ihren Höflingen überließen.«

Hohe Häuser, bei denen der Stammvater bestenfalls die Rolle eines Frühstückdirektors belegte, waren gar nicht mal so selten. Die Fäden zogen im Hintergrund andere. Selbst meinem Haus wurde derartiges unterstellt. Constantin Varadin sei nur formal Stammvater des Hauses, hieß es, die eigentliche Macht würde Laurentius, der Vertraute meines Vaters besitzen. Ich gebe es gerne zu, mir kam dieses Gerücht sehr gelegen, sodass ich es zeitweise sogar aktiv kultivierte. Unterschätzt zu werden, hat seine strategischen Vorteile. Graf Vladimir Breskoff war anders. Zeit seines Lebens hatte es nie ein Zweifel daran gegeben, wer der Boss im Haus war.

Umso mehr tappte ich bei Timons und Lydias Motivation im Dunklen. Am Verlust von Macht konnte es nicht liegen, dass sie mich ablehnten. Vladimir ließ ihnen zwar immer ihre Freiheiten, gab die Kontrolle über ihre Aktionen aber nie wirklich aus der Hand. Er wusste ziemlich genau, was seine drei Frauen trieben und hatte mehr als einmal interveniert, wenn sie drohten, mit ihren Spielchen über die Stränge zu schlagen.

»Also?«, hakte ich nach, als nach etlichen Sekunden des Wartens keine Antwort kam. Stattdessen schauten sich Lydia und Timon gegenseitig an. Wussten die zwei etwa selbst nicht, was sie an mir störte?

»Wisst ihr, ich könnte hier wirklich eure Hilfe gebrauchen.«, immer wichtig in der Personalführung - Einbinden, Verantwortungen übertragen und Qualifikationen herausstreichen, »Ohne euch werde ich es nie schaffen, aus den Häusern Varadin und Breskoff ein neues, gemeinsames Haus zu schmieden.«

»Ein gemeinsames Haus?«, sprang Lydia sofort auf den Köder an.

»Natürlich, was habt ihr denn gedacht? Dass ich Vladimirs Vermächtnis einfach meinem Haus einverleibe? Wie sollte das gehen? Unsere Häuser waren zwar immer eng miteinander befreundet, aber trotzdem sehr unterschiedlich in ihrer Art. Es dürfte ein schönes Stück Arbeit werden, diese Unterschiede zusammenzuführen. Oder habt ihr geglaubt, ich plante so etwas wie eine feindliche Übernahme? Constantin hat die Hosen an und alle tanzen jetzt nach seiner Pfeife?«

Volltreffer - Lydias und Timons Gesichter sagten alles. Die beiden schauten dermaßen perplex, dass sich eigentlich jeder weitere Kommentar erübrigte. Cassandra konnte es trotzdem nicht lassen, ein wenig Salz in die Wunde zu reiben.

»Ich wiederhole mich ja ungern, aber ich habe es euch vorher gesagt. Unser kleiner Constantin ist erwachsen geworden. Eure Angst, er wolle sich unser Haus einfach einverleiben, war wirklich unbegründet.«

»Ja doch!«, zischte Timon wütend, die ganz genau wusste, in was für eine unglückliche Position sie sich hineinmanövriert hatte. Wenn man seinen Gegner vor das Tribunal stellen lässt, sollte man sich eben nicht nur sicher sein, den Prozess zu gewinnen. Man muss es auch tun. Stattdessen hatten sie den Prozess verloren, ich war nicht entkörpert und obendrein auch noch unanfechtbarer Erbe Breskoffs. Dass dies keine gute Ausgangsbasis für eine freundschaftliche Zusammenarbeit darstellte, begannen Timon und Lydia langsam zu begreifen. Ich muss zugeben, dass mir die Zerknirschung der beiden intriganten Damen ganz gut gefiel. Ein wenig Schadenfreude sei mir dann doch gegönnt. Trotzdem musste ich sie vom Haken lassen. Meine Bemerkung, dass ich sie brauchte, war alles andere als hohles Gewäsch. Ich baute tatsächlich auf die drei starken Damen des Hauses Breskoff.

»Was haltet ihr davon, wenn wir einen Neuanfang wagen?«, schlug ich vor und erntete vorsichtig optimistische Mienen. »Mein Plan, ein gemeinsamen Haus zu bauen, war vollkommen ernst gemeint. Beide Seiten, die Breskoffs genauso wie die Varadins müssen sich auf eine neue Identität einstellen. Andernfalls wird es immer die und die anderen geben. Was wir die letzten Stunden untereinander ausgefochten haben, steht doch nur stellvertretend für unsere beiden Häuser. Glaubt ihr, die Vampire der Wache des Hauses Breskoff werden sich so mir nichts dir nichts von Laurentius führen lassen? Bestimmt nicht. Sie werden das genauso wenig tun, wie die Vampire der Wache des Hauses Varadin ohne Murren euren Befehlen folgen werden, Lady Timon.«

»Du hast recht.«, gab Timon ganz in der Rolle des Marschalls ihres Hauses zu.

»Ich kann die beiden Häuser nicht zwingen, sich zu mögen. Das müssen unsere und eure Leute untereinander ausmachen und das geht nur, wenn es dieses euer und unser nicht mehr gibt. Das wiederum kann nur funktionieren, wenn keine Seite die andere übervorteilt.«

»Merger of equals«, nuschelte Timon und erntete drei gequälte Gesichtsausdrücke. »Was? In der Wirtschaft heißt das so.«

»Wir machen keine Firmenfusion.«, wandte Lydia ein.

»Ich mag den Begriff auch nicht.«, fügte Cassandra hinzu, »Doch Timon hat recht. Es ist eine Firmenfusion. Wenn wir das Zwischenmenschliche einmal beiseitelassen, Varadin International Holding und die Breskopolis Foundation zusammenzufügen, wird alles andere als leicht werden. Allein beim Gedanken an die Risiken wird mir schlecht. So eine Megafusion geräuschlos über die Bühne zu kriegen, ohne dass die Menschen davon etwas mitbekommen und ihr Interesse auf uns richten, dürfte verdammt kniffelig werden.«

»Finanzen waren schon immer dein Metier, liebste Cassandra.«, stichelte Lydia freundschaftlich spitz, »Wir haben vollstes Vertrauen in deine Fähigkeiten.«

»Kennst du eigentlich Gordon, meinen Finanzmanager?«, hakte ich nach und war glücklich, endlich konstruktiv arbeiten zu können.

»Ich habe von ihm gehört. Er soll ein ziemliches Genie sein.«

»Oh, das ist er.«, grinste ich hintersinnig, »Ich habe ihn direkt vom Galgen gerettet. Während der glorreichen Tage des britischen Empires hat er sehr geschickt ein weltweit vernetztes Finanzimperium aufgebaut. Es reichte von England über Indien, China, Australien bis in die neue Welt. Als die Krone davon erfuhr, war es bereits so komplex und verworren, dass es in Lage gewesen wäre, die Grundfesten des Empires zu erschüttern. Das hätte Queen Victoria fast den Hals gekostet. Gordon wurde zu einem Fall der Staatsräson. Die Geheimpolizei Ihrer Majestät entschied zu handeln. Sein Finanzimperium wurde beschlagnahmt und er in einem Geheimverfahren wegen Hochverrats und Verbrechen gegen die Natur zum Tode verurteilt. Er war genau der Mann, den ich wollte. Zum Glück musste ich nicht sonderlich diskret vorgehen. Man war erstaunlich kooperativ. Es war, wie man heute so schön sagt, eine Win-win-Situation. Die Krone hatte kein Interesse daran, ihre zweifelhaften Handlungen publik werden zu lassen, wollte gleichzeitig aber Gordon loswerden. Ich wiederum wollte Gordon haben, aber gleichzeitig meine Identität gewahrt wissen.«

»Ein Gentleman Agreement also?«, fragte Lydia.

»Sagen wir mal so: Der Lordkämmerer war sehr daran interessiert, von einer ihm äußerst peinlichen Krankheit befreit zu werden.«

»Du hast ihn gebissen, um ihn von der Syphilis zu heilen?«, Timon war baff, »Wie dreist. Und was sagte Gordon dazu?«

»Oh, der...«, erwiderte ich, als könnte ich kein Wässerchen trüben, »Es war komisch, aber vor die Wahl gestellt, sich einen Strick um den Hals legen zu lassen, oder von der Bildfläche zu verschwinden und unserem kleinen, exklusiven Club beizutreten, entschied er sich für uns. Er hat nicht einmal eine Sekunde für seine Entscheidung benötigt.«

»So ein Wunder aber auch.«, Lydia wurde nachdenklich, begann ihre Stirn zu runzeln, »Mit dem Börsencrash von 1929 und der darauf folgenden Weltwirtschaftskrise hat er nicht zufälligerweise zu tun, oder?«

»Das hätte ihm ein paar Sonnenbäder eingebracht.«, meinte ich trocken, »Aber nein. Er hatte nichts damit zu tun. Ganz im Gegenteil sah er die Entwicklung voraus und hat gehandelt. Wir sind damals sehr glimpflich dabei weggekommen.«

Timon holte tief Luft, schaute zu Cassandra, dann zu Lydia und atmete lang und laut aus: »In Ordnung, Constantin, versuchen wir es miteinander. Ich glaube, wir waren ein wenig zu voreilig, dich pauschal abzulehnen. Ja, ich entschuldige mich. Es tut mir Leid.«

»Timon, entschuldige dich nicht!«, widersprach ich und erntete ungläubige Gesichter, »Glaubt ihr, ich habe nicht verstanden, warum ihr mich verhindern wolltet? Ihr habt versucht, euer Haus zu schützen. Dafür kann ich euch kaum verurteilen. Aber bitte, Timon, Lydia, ich bin nicht euer Feind. Ich war es nie. Ihr kennt mich seit meiner Kindheit. Ihr wisst, wer ich bin. Also, seid ihr mit dabei, ein gemeinsames Haus zu bauen, oder nicht?«

Ging mein Vortrag nach hinten los? Timon schaute verbittert: »Du musst nicht nochmal nachtreten und den Gönnerhaften spielen. Das haben wir wirklich nicht verdient.«

Nur nicht aufregen. Einfach durchatmen und ruhig bleiben. Timon war im doppelten Sinne ein harter Brocken. Einerseits musste man ihr das Gefühl geben, wirklich ernst genommen zu werden. Und das funktionierte nur, wenn man sie auch wirklich ernst nahm. Anderseits war Timon der Schlüssel zu Lydias Akzeptanz. Ohne das Placet ihrer Freundin stand man bei Lydia auf verlorenem Posten.

»Ich trete nicht nach.«, murmelte ich frustriert, »Sagt mir, was ich machen soll, um euch zu überzeugen. Timon, du kennst mich seit meiner Kindheit. Glaubst du wirklich, ich meine nicht, was ich sage?«

»Nein.«, kam es kleinlaut. »Es ist nur... Ich vermisse Vladimir. Er war nicht einfach nur der Graf Breskoff. Er war unser Mann!«

»Oh, und was für ein Mann!«, betonte Lydia mit einem sehnsüchtigen Funkeln in den Augen. Bei all den Machtspielchen vergaß man leicht, dass Vladimir nicht nur der Stammvater des Hauses Breskopol war, sondern eben auch der Ehemann Timons, Lydias und Cassandras. Nun gab es Ehemänner und Ehemänner. Vladimir gehörte zur letzteren Sorte, nämlich zu denen, die ihre Frauen liebten und verehrten, wenn nicht sogar vergötterten. Außerdem gab es da noch einen sexuellen Aspekt, den ich aber nicht weiter ergründen wollte. Es gibt Bilder, die will man sich einfach nicht vorstellen. Etwa, dass die eigenen Eltern miteinander Sex haben könnten. Oder sogar die Großeltern? Nein!

Und dann starb dieser Mann durch meine Hand. Wie konnte man da einfach zur Tagesordnung übergehen, selbst wenn die Inquisition meine Unschuld bewies? Es ging nicht um Vernunft, sondern um Gefühle; und die verhalten sich nicht notwendigerweise rational.

»Also gut, ich bin dabei. Constantin, ich akzeptiere dich als meinen Stammvater.«, überwand sich Timon, als sie begriff, dass nicht ich der Gegner war. Alle Blicke ruhten jetzt auf Lydia. Die wandte sich noch ein wenig, schaute von Timon, zu Cassandra und zu mir, nickte und meinte dann, »Ach, was soll's. Ja, ich bin dabei und akzeptiere dich ebenfalls als meinen Stammvater.«

Was für eine schwere Geburt. Ich hatte geahnt, dass es nicht leicht werden würde, die beiden Häuser zusammenzuführen. Mit einem derart hartnäckigen Widerstand wie seitens der drei mächtigen Frauen Breskoffs hatte ich nicht gerechnet. Ich gebe zu, dass ich den persönlichen, emotionalen Faktor unterschätzte. Mein Blick war zu sehr auf die Politik und Machtspielchen des Hauses gerichtet. Doch diese Hürde war nun genommen. Selbstverständlich ließ ich Timon und Lydia ebenfalls einen symbolischen Schluck von mir trinken, um das Bündnis endgültig zu besiegeln.

Der Knoten war geplatzt. Kaum hatten sich die stolzen Frauen des Hauses Breskopols mir unterworfen - nein, nicht unterworfen. Sie waren das Bündnis mit mir eingegangen - lief fast alles wie von selbst. Timon begann sich sofort mit Laurentius kurzzuschließen, um die Vereinigung der Vampire unserer beider Wachen zu koordinieren. Cassandra wiederum war kaum zu bremsen, nicht gleich zu Gordon zu fahren. Sie war wirklich sehr begierig, mit meinem Finanzexperten zusammenzuarbeiten.

»Und was hast du mit mir vor?«, fragte Lydia, die als einzige kein aktuelles Betätigungsfeld hatte.

»Oh, für dich habe ich eine Aufgabe, die dir gefallen wird.«, meinte ich gut gelaunt und erntete prompt einen halb skeptischen, halb säuerlichen Blick. So richtig warm wollte Lydia mit mir noch nicht werden. Aber wer weiß, vielleicht änderte sich dies, sobald sie ihre neue Aufgabe kannte.

»Dir ist sicherlich nicht entgangen, dass ich Christiano aus meinem Haus entfernen musste.«

War da ein Blitzen in ihren Augen? Christianos Name weckte eindeutig Lydias Interesse.

»Wir wissen von seiner Verbannung.«, Lydia musterte mich ganz genau, als sie weiter sprach, »Die Entscheidung, ihn zu verbannen, kann dir nicht leicht gefallen sein. Er ist ein brillanter Agent. Einer der besten, den ich kenne. Du weißt, dass Michael, dein Sekundant mit ihm sehr eng befreundet ist?«

Ich sagte nichts, sondern lächelte nur vielsagend. Wir waren allein in Vladimirs altem Büro. Trotzdem schaute ich mich demonstrativ um. Cassandra bemerkte, dass ich meinen Geist die Umgebung abtasten ließ. Niemand belauschte uns.

»Oh, nein!«, rief Breskoffs Chefagentin und musterte mich erneut, diesmal aber ausgesprochen anerkennend, »Du hast Christiano gar nicht...«, ich sagte nichts, sondern wackelte nur mit meiner linken Augenbraue, »Oh, Constantin, man muss dich um die Loyalität deiner Leute wirklich beneiden.«

»Dass wir uns ins diesem Punkt ganz richtig verstehen. Christiano wurde verbannt. Sich mit ihm abzugeben stellt eine Verletzung unserer Gesetze dar.«

»Selbstverständlich!«

Jetzt hatte ich sie. Lydia liebte solche Spielchen. Sie war wie Christiano die geborene Agentin. Ihr Fähigkeiten standen denen meines Freundes in nichts nach. Ganz im Gegenteil. Ein paar Jahrhunderte älter, war ihr Erfahrungsschatz deutlich umfangreicher als Christianos.

»Ich hätte da eine Aufgabe in meinem alten Haus, oder sollte ich besser sagen, in unserem anderen Haus. Hättest du zufällig Lust, einen Verräter in unseren Reihen dingfest zu machen?«

Maulwurfshügel

Eine Nacht später traf Gordon bei uns im Schloss Breskopol ein. Der Mann kam noch nicht einmal dazu, Pieps zu sagen, da hatte ihn Cassandra bereits am Wickel und begann mit ihm die wirtschaftliche Fusion der beiden Häuser zu planen. Laurentius und Timon hatte nicht so lange gewartet und gleich einen Blitzstart hingelegt. Die beiden verstanden sich erschreckend gut. Sogar so gut, dass ich gewisse erotische Schwingungen zwischen ihnen zu spüren meinte. Laurentius war jedenfalls alles andere als enttäuscht, mich nicht zurück in unser altes Haus begleiten zu müssen. Natürlich war er um meine Sicherheit besorgt, beruhigte sich aber, als er hörte, dass mich Lydia und Michael begleiten würden.

Am Vorabend meiner Abreise hatten wir ein kleines Fest organisiert, das unter anderem dazu dienen sollte, mich den restlichen Mitgliedern des Hauses zu präsentieren und mich ihren Fragen zu stellen. War mir bei meiner Ankunft noch offene Ablehnung entgegen geschlagen, schlug mir diesmal das Gegenteil entgegen. Man war an mir interessiert. Man wollte wissen, wer ich war und was ich vorhatte. Insbesondere meine Ausführung, ein gemeinsames neues Haus erschaffen zu wollen, in denen es weder Breskoffs noch Varadins gab, zerstreuten selbst die letzten Vorbehalte.

Das Fest war in vollem Gange. Ich hatte bestimmt ein paar Dutzend Vampire von mir trinken lassen, was viele von ihnen überraschte. Breskoff tat dies fast nie. Mir war hingegen wichtig, meine neuen Familienmitglieder von meiner Ehrlichkeit zu überzeugen. Blut lügt nicht. Tranken sie von mir, auch wenn es nur ein paar symbolische Tropfen waren, erkannten sie damit nicht nur sehr unmittelbar und körperlich meine Rolle als Stammvater an. Es bewies ihnen auch meine Aufrichtigkeit. Durch das Blut wurde eine Verbindung geschaffen, die sie jede Lüge sofort erkennen ließe.

»Constantin, darf ich dir Stepan vorstellen?«, fragte Michael mit einem netten Kerl im Schlepptau.

Oh, bitte, nicht noch ein Vampir, der von mir zuzeln will. Nach ein paar Dutzend Aderlässen war ich einfach etwas erschöpft. Wenn mich jeder Biss auch nur um ein paar Milliliter erleichterte, summierte sich die Menge am Ende zu einer erkläglichen Menge auf. Noch eine Blutprobe war mir eigentlich eine zu viel. Bei genauerem Hinsehen musste ich zu Glück meinen ersten Gedanken revidieren. Was Michael da anschleppte, war kein Vampir, sondern ein Mensch.

»Stepan ist aus der Gegend und ein sehr guter Freund des Hauses. Wir haben uns gerade über dich unterhalten. Stepan meinte, du siehst etwas erschöpft aus und könntest vielleicht eine kleine Stärkung gebrauchen.«

Ein Blutspender? Wie aufmerksam von den beiden.

»Und das kann mir Stepan nicht selbst sagen?«, fragte ich Michael, ließ meinen Blick aber auf Stepan ruhen. Der lächelte mich zwar provozierend an, unterschwellig schien er mir aber ein wenig verkrampft und unsicher zu sein. Ich konnte mich aber auch täuschen. Die letzten Stunden waren recht anstrengend gewesen.

»Ich bin fürchterlich schüchtern.«, behauptete Stepan alles andere als das. War der Kerl etwa dabei, mit mir zu flirten? Wenn ja, sollte er aufpassen. Er war durchaus attraktiv und ich nicht abgeneigt, mich um den sehr guten Freund des Hauses zu kümmern. Die leichte Unsicherheit törnte mich dabei sogar noch etwas an.

»Ich bin Pächter eurer Ländereien. Wenn ich Michael richtig verstanden habe, seid Ihr jetzt das Oberhaupt des Hauses.«, erläuterte Stepan, »Sehr fruchtbare Böden. Wir haben uns in den letzten Jahren auf Biolandwirtschaft spezialisiert. Wir bauen primär Weizen, Roggen und Kartoffeln an. Bei der Viehzucht haben wir uns auf Milch, Biorindfleisch und Geflügel konzentriert. Alles in artgerechter Haltung und natürlich pestizidfrei. Euer Chefkoch bezieht seine Waren hauptsächlich direkt von meinem Hof.«

Was mir Stepan erzählte, ließ darauf schließen, dass er eine sehr erfolgreiche Landwirtschaft betrieb, von der er mehr als auskömmlich leben konnte. Ich wusste nicht, dass nicht nur der Wald um Schloss Breskopol, sondern auch die umgebenden Ländereien zu unserem Grundbesitz zählten. So gut kannte ich mich in Vladimirs geheimen Unterlagen aus dem Siegelring noch nicht aus, dass mir sämtliche Liegenschaften geläufig waren. Michael war so nett und steuerte ein paar Zusatzinformationen bei. Stepan zahlte eine mehr als faire Pacht. Im Gegenzug versorgte er uns, quasi als vorgelagerter Sicherungsring, mit Informationen darüber, was sich außerhalb des Waldes tat. Schloss Breskopol schätzte keine Aufmerksamkeit.

»Oder gedenkt Ihr etwas daran zu ändern?«, fragte Stepan, »Das Schloss wäre ein echter Touristenmagnet.«

»Lieber nicht. Es würde zu viele Fragen aufwerfen. Wem gehört das Schloss? Warum wurde es bisher geheim gehalten? Wohnt dort vielleicht jemand und wenn ja, wer? Alles Fragen, die äußerst kniffelig zu beantworten wären.«, gab ich zu bedenken.

»Ich kann euch verstehen.«, Stepan musterte mich, »Ihr seht müde aus. Michael, lass uns mit deinem Chef einen diskreteren Ort aufsuchen. Der Junge kippt uns sonst noch aus den Latschen.«

Mir gefiel Stepans saloppe Art. Dies erklärte aber nicht, wieso Michael mit ihm befreundet war. Ich glaubte jedenfalls, dass sie es waren. Erotische Gründe konnten es nicht sein. Michael war stockhetero. Stepan musste hingegen schwul sein, so wie er mit mir flirtete.

Wir zogen uns in Vladimirs ehemaliges Arbeitszimmer zurück. Ich konnte mich noch nicht recht daran gewöhnen, dass es jetzt meines war. Weder Timon, noch Cassandra oder Lydia hatten mein Angebot angenommen, es ihnen zu überlassen. Sie meinten, es wäre ein zu maskuliner Raum und ich dort deutlich besser aufgehoben. Vielleicht hatten sie recht. Der Raum war wirklich maskulin, aber auch typisch für Vladimir. Zwischen seinem und meinem Geschmack lagen Welten. Er war der Typ Old Spice, während ich mehr Thierry Mugler oder Jean Paul Gaultier bevorzugte. Old Spice? Ein guter Vergleich. Das Arbeitszimmer war genau so eingerichtet, wie dieses Parfüm roch - sehr schwer. Bis unter die Decke mit dunklem Holz getäfelt, verströmte der Raum Schwere. Die Einrichtung schloss sich dieser Grundstimmung an. Ein Kamin, über dem ein lebensgroßes Portrait Vladimir Breskoffs hing, verbreitete zwar wohlige Wärme, dominierte aber auch mit seiner Wuchtigkeit. Die schweren, dunkelbraunen Ledersessel waren auch nicht dazu geeignet, einen optischen Kontrapunkt zu setzen, luden aber zum genießen einer guten Cohiba ein, während Mann sich gleichzeitig einen feinen armenischen Weinbrand gönnte.

»Ich glaube, hier war ich noch nie.«, kommentierte Stepan den Raum und begann damit, sich nach einem zustimmenden Nicken meinerseits respektvoll umzusehen. »Fantastisch. Dieser Raum... Er atmet Geschichte.«

Und da soll noch einmal jemand behaupten, Landwirte wären tumbe Bauerntrampel. Auf Stepan traf dies auf keinen Fall zu. Wie ich später erfuhr, hatte der Mann Betriebswirtschaft mit Schwerpunkt auf Agrartechnik studiert. Ökobauer zu sein schloss professionelles Wirtschaften alles andere als aus.

»Ihr seid ein attraktiver Mann, Fürst Varadin.« Junge, das war jetzt etwas sehr direkt! Spätestens nach dieser direkten Anmache war ich mir sicher, dass Stepan nicht ganz aufrichtig war. Irgendetwas verbarg er.

»Constantin, meine Freunde nennen mich Constantin.«, korrigierte ich Stepan und überlegte, wohin sein Süßholzgeraspel führen sollte. Im Prinzip gab es nur einen Weg, dies rauszubekommen, nämlich, indem ich mich auf sein Spiel einließ »Und, wenn du es mir erlaubst, bist du auch ziemlich knackig. Knackig und intelligent sollte ich lieber sagen.«

»Ihr zwei kommt glaube ich ohne mich zurecht.«, verabschiedete sich Michael eilig. Ich hatte den Eindruck, als wenn er krampfhaft versuchte, ein megabreites Grinsen zu unterdrücken, »Stepan, wir sehen uns später. Constantin...«

Die Doppeltür, so eine mit dickem, dunklem Leder abgesteppten, schalldichten Flügeln, war kaum geschlossen, da kippte die Stimmung. Stepan wirkte plötzlich leicht unsicher und schien es überhaupt nicht gut zu finden, dass ihn Michael mit mir allein gelassen hatte. Seine Augen wanderten unruhig im Raum umher, ohne einen Punkt zu finden, an dem sie sich festhalten konnten.

»Einen Cognac? Armenischen, nicht dieses überbewertete französische Zeug.«, bot ich Stepan einen Drink an und hoffte, dass er dadurch ein wenig von seiner Nervosität verlor.

»Ja, gern!«, erwiderte mein Gast, leicht krächzend, was typisch für den berühmten Kloß im Hals war. Stepan musterte mich, grinste ungelenk und nahm kommentarlos das ihm dargebotene Glas entgegen. Immer noch schief grinsend ließ er sich in einem der Sessel nieder, schwenkte vorsichtig seinen Weinbrand und inhalierte das weiche und samtige Aroma, »Nun frag mich schon!«

»Was soll ich dich fragen?«

»Was einen Typen wie mich dazu bringt, Blutspender eines Vampirclans zu werden. Die Antwort ist einfach: Wir, also meine Familie machen das schon seit Jahrhunderten. Es ist sozusagen eine Familientradition. Die Breskoffs haben immer gut für uns gesorgt. Leider...«

»Was?«, Stepans Flirtangriffe waren verschwunden und hatten einer grüblerischen Aura Platz gemacht. Irgendetwas nagte an ihm.

»Also gut. Bringen wir es hinter uns.«, murmelte mein Gast kryptisch. Hatte ich also doch recht. Ihm brannte etwas auf der Seele und die ganze Flirterei diente nur dem Zweck, meine Aufmerksamkeit zu erregen. »Michael und ich sind seit ewigen Zeiten Freunde. Also ewig nach menschlichen Maßstäben, ihr rechnet ja etwas anders. Ich war damals noch ein kleiner Knirps und hatte mich im Wald verlaufen. Damals war das Perimeterschutznetzwerk noch nicht so gut ausgebaut, deswegen gelang es mir tatsächlich, bis zum Schloss vorzudringen. Es war schon dunkel und ich hatte höllische Angst, entdeckt zu werden. Meine Eltern hatten mir bis dahin nichts von unserer Familientradition erzählt, dafür aber ausdrücklich untersagt, in den Wald zu gehen. Aber was sind schon Verbote für einen elf Jahre alten Jungen, nichts anderes, als eine Aufforderung, sie zu ignorieren? Naja, da stand ich dann vor dem großen Schloss und hatte die Hosen voll. Es war dunkel, ich kannte den Weg nicht und vor mir ein Schloss voller unbekannter Leute, die bestimmt mit mir schimpfen würden, sollten sie mich erwischen. Was macht man als kleiner Junge in solchen Fällen? Richtig, ich begann zu heulen. Genau in dem Augenblick kreuzte Michael auf, hockte sich vor mir hin - ich war noch relativ klein für mein Alter - und meinte, ob das nicht der kleine Stepan sei, der da weint. Dieser fremde Mann kannte meinen Namen! Er war richtig cool. Er tröstete mich, nahm mich bei der Hand und führte mich ins Schloss. Wir durchwanderten endlose Gänge, querten fantastische Hallen, bis wir die Küche erreichten und Michael den Küchenchef fragte, ob man nicht für >den ehrenwerten Herrn Stepan< eine heiße Schokolade übrig hätte. Ich war ein ehrenwerter Herr und wurde auch so bedient! Der Küchenchef höchstpersönlich bereitete die Schokolade zu und servierte sie mir auf einem kleinen silbernen Tablett. Von da an war Michael mein bester Freund und blieb es sogar, als ich über die Jahre älter wurde und zu einem jungen Mann heranwuchs. Er ist wirklich ein sehr, sehr guter Freund. Er sorgte sogar dafür, dass ich studieren konnte, und half mir, den Betrieb zu übernehmen. «

Ich erinnerte mich dunkel, über Aufzeichnungen und Dokumente gestolpert zu sein, in denen es um die Reprivatisierung von Ländereien in der ehemaligen CSSR ging. Man durfte nicht vergessen, dass wir uns in der Tschechei befanden, die noch vor wenigen Jahrzehnten ein sozialistischer Staat war. Das erklärte aber immer noch nicht das >Leider< vom Anfang von Stepans Erzählung.

»Michael war der erste, dem ich erzählte, dass mir Männer gefallen; noch vor meinen Eltern. Die waren alles andere als begeistert, aber das war nicht das Problem.«

»Sondern?«, langsam drangen wir zum Kern der Geschichte vor.

»Ach, ich weiß auch nicht...«, Stepan vermied es, mir in die Augen zu sehen, »Außer Michael... Also ok... Ich meine... Ach verdammt, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Meine Eltern waren immer Teil der Familie. Wusstest du, dass mein Vater Lady Cassandras persönlicher Blutspender ist? Mein Gott, selbst meine Mutter ließ sich regelmäßig beißen, genauso wie meine Großeltern und deren Eltern. Die Breskoffs haben immer gut für uns gesorgt und wir gut für die Breskoffs. Doch jetzt habe ich das Gefühl, als wenn diese Tradition mit mir endet und das nur, weil ich... Ja, weil ich auf Männer stehe. Ja, man war sehr höflich zu mir und hat mich immer als Freund der Familie behandelt, aber...«

Was hatten wir nur an uns, dass sich alle möglichen Leute von uns beißen lassen wollten? Wo blieb dann da noch der Spaß, auf die Jagd zu gehen? So verquer es war, ich verstand Stepans Problem. Wir Vampire waren eben kompliziert. Jedes Haus, jeder Clan besaß und pflegte seine eigene Kultur, was insbesondere auch die Art der Nahrungsbeschaffung mit einschloss. Die Dracul zum Beispiel waren ausnahmslos Jäger und lehnten Blutbanken ab. Vladimirs Haus wiederum kultivierte einen herrschaftlichen Ansatz. Das Haus Breskoff verhielt sich wie ein feudales Grafengeschlecht. Es war kein Zufall, dass Stepans Familie seit Jahrhunderten ihr Land vom Haus Breskoff gepachtet hatte. In früheren Jahrhunderten waren sie nicht Pächter, sondern Vladimirs Vasallen. Ein Blick in die Bücher des Hauses hätte genügt. Wahrscheinlich würde es auch reichen, Cassandra zu fragen. Wie ich sie kannte, konnte sie jeden einzelnen Urahn Stepans auswendig aufzählen. Ich muss zugeben, dass das Konzept, sich mit Nachbarn zu umgeben, die in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis zu einem standen, alles andere als unintelligent war. Es war sogar sehr pfiffig, denn es war symbiotisch. Die Mitglieder des Hauses hatten ihre Blutversorgung direkt vor der Haustür, wofür man sich bei den Spendern großzügig revanchierte. Einerseits war die Pacht für das Land sehr moderat angesetzt, zum anderen sorgten die gelegentlichen Bisse für eine ausgezeichnete Gesundheit bei der beteiligten Landbevölkerung. Stepan erwähnte, dass seine Eltern noch nie über eine Erkältung geklagt hätten.

Bram Stokers unsäglicher Roman nahm sich dem Motiv dieser vampirischen Lehnsherrschaft entfernt an. Das Vorbild für Graf Dracula war ein realer Vampirfürst, der vor mehr als siebzehnhundert Jahren, ähnlich wie zu meiner Zeit Breskoff, als Feudalherr über einen weiten Landstrich herrschte und in trauter Gemeinsamkeit mit seinen Untertanen lebte. Er sorgte ebenso gut für sie, wie sie für ihn, bis zu dem Zeitpunkt, als er dem Vladsysdrom erlag und dem Wahnsinn verfiel. Von da an nahm die Geschichte eine unheilvolle Wendung. In seinem Irrwitz metzelte er alle Mitglieder seines eigenen Hauses nieder und lebte von da an allein in seiner Burg. Die verfiel mehr und mehr und diente später als Vorlage für Draculas Schloss in Stokers Roman. Wer sich beim Ansehen von Vampirfilmen immer fragte, ob die Dorfbewohner am Fuß des unheimlichen Schlosses eigentlich wussten, dass darin ein Vampir hauste, wird die Antwort inzwischen erraten haben. Natürlich wussten sie es. Der Graf war ihr Lehnsherr, den sie, bis dieser seinen Verstand verlor, überaus schätzten. Von der Grafenfamilie gebissen zu werden, galt als Zeichen besonderer Wertschätzung. Dies kippte natürlich vollkommen ins Gegenteil, als der vom Vladsyndrom erfasste Vampir wie ein Berserker begann, über die Dorfbewohner herzufallen und sie leerzusaugen. Bis endlich der Hohe Rat der Häuser davon erfuhr und dem Wahnsinn ein Ende setzte, war die lokale Bevölkerung bereits auf ein Viertel dezimiert. Dass diese unsereins gegenüber nicht mehr sonderlich wohl gesonnen war, überraschte nicht wirklich und war mehr als verständlich. Das Wort vom blutrünstigen Vampir machte die Runde und verfestigte sich. Die frühchristliche Kirche griff das Thema auf. Vampire, das waren plötzlich die Schoßhunde des Teufels, Verdammte der Hölle. Man begann uns zu verfolgen und abzuschlachten, was uns dazu brachte, unsere Identität vor den Menschen zu verbergen, von wenigen sehr ausgewählten Ausnahmen abgesehen.

Das breskoffsche Konzept besaß aber auch einen ganz praktischen Nachteil, obwohl sehr im Auge des Betrachtes lag, ob man es wirklich als Nachteil wertete. Es funktionierte nur in einer ländlichen Umgebung, wie der des Schloss Breskopols. Ich managte mein Haus völlig anders. Managte - das traf exakt den Unterschied. Bei aller Güte und Philanthropie war Vladimir ein geradezu klassischer Feudalherr. In seinem Haus gab es klar definierte Hierarchien und Verantwortungsstrukturen, etwas, womit ich wenig anfangen konnte. Mein Führungsstil, wenn ich denn überhaupt einen besaß, bestand darin, Verantwortung abzutreten. Ich konnte mit willenlosen Befehlsempfängern nichts anfangen, sondern brauchte starke Persönlichkeiten, die ihre Freiheiten offensiv einforderten. Deswegen war mein Haus auch eher wie ein Konzern organisiert und ich nur der Vorturner, der im Zweifelsfall den Kopf hinhalten musste, wenn etwas schief ging.

Stepan erwischte mich tatsächlich auf dem falschen Fuß. Die Situation erinnerte ein wenig an >Der Pate<. Ich war Don Corleone und Stepan war ein Freund der Familie, der seinem Paten seine Aufwartung machte. Für Stepan gestaltete sich das Problem wesentlich einfacher, als für mich. Ich ahnte, welche Frage ihn quälte. Er wollte eigentlich nur wissen, ob er vielleicht eine geringere Wertschätzung des Hauses Breskoff genoss, nur weil er schwul war. Für mich stellte sich eine wesentlich komplexere Frage. Wie hielt ich es mit Onkel Vladimirs Herrschaftskultur? Stepan dürfte nicht der Letzte sein, der an die Schlosstür klopfte und fragte, wie es nach Graf Breskoffs Ableben weiterging. Die Fusion der beiden Häuser entpuppte sich kniffeliger, als ich dachte. Vielleicht lag es auch daran, dass es keine Fusion im Sinne eines Verwaltungsakts war. Ich musste unterschiedliche Lebenskulturen zusammenführen. Shit, vielleicht hätte ich mich von Tamir doch lieber hinrichten lassen sollen.

Stepan

»Ich bin nicht Don Corleone.«

Im ersten Moment starrte mich Stepan an, als säße er einem völlig durchgeknallten Typen gegenüber. Dann dachte er über meine Worte nach, verstand und musste lächeln, wenn auch immer noch leicht verkrampft und nervös.

»Du verstehst mich?«, hakte ich nach, »Breskoffs und meine Familie sind seit Ewigkeiten sehr eng miteinander befreundet. Er hat mir sein Haus, seinen Clan vermacht. Er selbst hatte keinen Nachwuchs. Auf jeden Fall fragst du dich, wie es um deinen Status, dein Ansehen in unserem Haus steht. Dich hat nie jemand gebissen und du sorgst dich, in wie weit es das Bündnis zwischen dir und unserem Haus beeinflusst. Stimmt das soweit?«

»Das trifft die Sache ziemlich genau.«

»Vergiss es.«, wischte ich Stepans Sorgen fort, »Es geht mich zwar nichts an, aber hast du einen Partner?«

»Ja, Jiri, ein absolut lieber Kerl. Wir haben uns während des Studiums kennen gelernt. Es hat sofort gefunkt. Das klingt total nach Klischee, war aber tatsächlich von Anfang an die richtig große Liebe. Als ich ihn fragte, ob er mein Lebenspartner werden wollte, hat er sofort ja gesagt. Seit drei Jahren sind wir offiziell verpartnerschaftet. Wir betreiben unseren Hof gemeinsam.«

Stepan strahlte, als er von Jiri sprach. Ich liebte es, dieses Feuer in seinen Augen zu sehen, die Leidenschaft, die sein ganzer Körper verströmte. Dieser Mann hatte sein Glück gefunden, wofür man ihn nur beneiden konnte. Alles wäre absolut traumhaft gewesen, schlich sich nicht ein Hauch Unbehagen bei mir ein.

»Aber?«

»Jiri weiß nichts von euch.«, gestand Stepan ehrlich, »Er weiß natürlich von Schloss Breskopol. Schließlich haben wir das Land des Grafen gepachtet. Aber genau das lässt ihm keine Ruhe. Er meint, die Pacht wäre schon unverschämt gering, dass es einfach einen Haken geben müsse.«

»Schlauer Bursche. Ich verstehe, dein Problem. >Ach die Pacht, ja, da hast du Recht, die zweite Hälfte zahlen wir mit unserem Blut.< Ich gebe zu, das könnte schräg rüber kommen.« Oder gab es da noch etwas anderes?

»Verarschst du mich, Graf Varadin?«, hörte ich da leichten Ärger raus?

»Nein, entschuldige, ich wollte dich nicht verärgern. Übrigens bin ich Fürst und nicht Graf. Aber du nennst mich gefälligst Constantin!«, lachte ich meinen Gast so offen und herzlich an, wie es nur ging, »Ich verstehe die Vertracktheit deiner Situation. Aber vielleicht kann ich helfen. Als erstes, meinte ich wirklich, was ich sagte. Vergiss es! Vergiss deine Sorgen um deinen Status. Soll ich dir ein kleines Geheimnis verraten? Die Vampire im Hause Breskoff sind alles Heten. Ich vermute mal, dass dich deine Eltern in einem Punkt nicht aufgeklärt haben. Ein Vampirbiss ist wie richtig guter Sex. Du bist schwul, die hier sind hetero, also...«

»Oh!«, Stepan begriff, was man an seinen geröteten Wangen sehr gut erkennen konnte, »Oh Mann, jetzt begreif ich erst, warum meine Mutter... Ihh... Widerlich...«

Ja, da war es wieder, die geistige No-go-Area, das Bild der eigenen Eltern beim Sex.

»Oh, Scheiße, Paps und Cassandra?«, vor Entsetzen riss der Mann seine Augen weit auf, »Das Bild werd ich nie wieder aus meinem Kopf bekommen.«

»Komm mal wieder runter. Ich habe nicht gesagt, dass man beim Beißen gleich miteinander schlafen muss, obwohl das sehr viel Spaß machen kann. Ein Vampirbiss kann ziemlich geil sein. Den meisten geht dabei... Also, ähm, sie haben einen Orgasmus, nur durch den Biss. Verstehst du jetzt, warum dich niemand gebissen hat? Ich will es mal so formulieren: Das Gerücht, dass Vampire junge, blonde Mädchen bevorzugen, ist nicht ganz soweit hergeholt, wie man meinen könnte. Hey, ich kenne ein paar Typen, die schon beim Gedanken daran ihre Zähne kaum im Zaum halten können.«

Endlich - Stepan schmunzelte, und zwar völlig unverkrampft. Ich konnte mit meinem Gedankengang fortfahren.

»Du verstehst also, warum man dich nicht gebissen hat? Du warst einfach nicht ihr Typ. Aber deswegen lassen wir keinen Freund der Familie fallen. Ich weiß zwar nicht, wie Onkel Vladimir das genau gehalten hat, aber für mein Haus spenden unsere Freunde freiwillig. Es gibt keine Verpflichtung und auch keine Konsequenzen, wenn man es nicht tut. Wie viele Generationen sagtest du sind unsere beiden Familien miteinander verbunden?«, fragte ich rhetorisch, »Glaubst du wirklich, Graf Breskoff hätte deine Pacht neu verhandelt, nur weil du nicht in sein und seiner Familienmitglieder Beuteraster fielst?«

Da fiel nicht ein Stein, sondern eine ganze Geröllhalde von Stepans Herzen.

»Ich hatte wirklich Angst, Graf Breskoff verärgert zu haben. Michael meinte zwar auch, dass das Quatsch sei, aber... Naja. Mich wollte niemand.«

»Oh, täusch dich nicht.«, ich ließ ein diabolisches Grinsen meine Lippen umspielen, »Ich erwähnte ja schon, dass ich Vladimirs und mein Haus zusammenführen werde. Wie soll ich es am besten ausdrücken? Vielleicht so. So hetero Breskoffs Blutsauger sein mögen, so schwul sind meine. In den nächsten Wochen werde ich die beiden Häuser gut durchmischen. Solltest du also dein Angebot ernst gemeint haben, wirst du reichlich Gelegenheit bekommen, ein paar meiner Familienmitglieder näher kennenzulernen.«

»Ich glaube schon, dass ich das ernst meinte.«, meinte Stepan.

»Du glaubst?«

»Mich hat eben noch nie jemand... gebissen. Es klingt geil, aber...«

»Hast du Angst?« Oh, wie schön, der Junge war reif und ich hungrig.

»Ein wenig.« Oh, er war sogar überreif. Er wollte, dass ich es tat. »Aber...«

»Aber?«, hakte ich sofort provozierend nach, »Du willst es. Dich macht der Gedanke an, dich einem nach Blut lechzenden Vampir hinzugeben?«

»Ja...«, hauchte Stepan und musste schlucken.

»Du hast Glück. Ich habe Hunger. Mein Magen knurrt. Ich wäre nicht sehr zärtlich, wenn ich dir meine Zähne in deinen Hals bohre.«

Ich hatte meine Zähne ausgefahren und präsentierte die spitzen Beißerchen stolz. Stepan schluckte noch mehr, speichelte sich aber gleichzeitig vor Geilheit ein. Der Typ war alles andere als ein Püppchen, sondern ein überaus kerliger Bursche und sehr bodenständig. Er war stämmig gebaut, gleichzeitig aber auch muskulös. Seine Hände zeigten, dass er körperliche Arbeit nicht scheute und ihr regelmäßig nachging. Ein sinnlicher Vampirkuss und elfenhaftes Blutgezuzel hätte genauso wenig zu ihm gepasst, wie Weißwein zu Bratkartoffeln. Dieser Mann wollte körperlich fühlen, dass er begehrt wurde. Ich fragte mich, was wohl Jiri, sein Partner, für ein Typ war, hegte aber den Verdacht, dass die beiden eher handfester zur Sache gingen.

»Beiß mich!« Richtig geraten. Der Mann schätze direkte und schnörkellose Ansagen.

Ich stand auf, stellte meinen Cognac auf einem Beistelltisch ab und ging zu Stepan. Schneller, als er gucken konnte, packte ich ihn, riss ihn machtvoll aus dem Sessel und zog ihn zu mir hoch: »Willst du es wirklich?«

»Ja!«, flehte mich der Ökobauer fast an. Ob sein Blut wohl als bio durchging?

Ich beschränkte mich auf eine minimale Betäubung der Bissstelle. Vampirspeichel enthält sowohl betäubende, als auch desinfizierende Substanzen, deren Konzentration und Verhältnis zueinander wir frei bestimmen können. Wenn wir jemanden beißen, kann dies entweder völlig unbemerkt geschehen, oder sehr schmerzhaft sein, je nachdem, aus welchem Grund zugebissen wurde. Im Kampf mit anderen Vampiren oder gegen Vampirjäger soll ein Biss schmerzen. Wir können sogar gezielt Nervengifte beimischen, die lähmend, desorientierend oder schmerzverstärkend wirken. Für Stepan wählte ich eine Spezialkombination, mit leichter Schmerzkomponente bei gleichzeitiger verzögert einsetzender Betäubungswirkung. Ich zog den kräftigen Mann eng an mich heran, hielt ihn fest umschlungen, dass er sich fühlte, als ob er in einen Schraubstock geraten war. Stepan reagierte, wie ich es erwartet hatte. Es gefiel ihm. Er bebte und vibrierte vor Lust. Also doch, das Bürschchen brauchte es härter. Vorsichtig, aber auch kräftig drückte ich seinen Kopf zur Seite, damit er mir seinen jungfräulichen Hals entblößte. Zeigte er Widerstand?

Der erste Biss eines Vampirs, soweit dieser nicht heimlich während der Jagd erfolgte, sollte so unvergesslich wie das erste Mal sein. Stepan sollte etwas erleben, an das er sich noch lange erinnern konnte. Er war mehr als nur bereit. Im festen Griff meiner Hände seufzte er, wimmerte fast und harrte gebannt dem spitzen Stich meiner Zähne. Ich ließ ihn zappeln. Statt sofort zur Sache zu kommen, ließ ich mir Zeit und blies ihm stattdessen leicht über Haut und Härchen seines Halses. Er reagierte. Seine Härchen richteten sich auf. Stepan bekam eine Gänsehaut.

»Huuu...«, jauchzte er auf und versuchte sich mir zu entwinden, was bei meinem schraubstockhaften Griff allerdings von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Stattdessen packte ich noch etwas kräftiger zu, gerade so, dass es gerade noch nicht schmerzhaft war. Ich hatte ihn doppelt in die Zange genommen, körperlich, aber auch geistig in Form des Vampirrufs.

»Wo willst du denn hin?«, flüsterte ich Stepan ins Ohr und blies erneut über seinen Hals, was ihn vor Verzückung die Augen schließen ließ. Seine Erektion bohrte sich mir in die Seite, ohne es zu realisieren, begann er sich an mir zu reiben. Das war für mich das Signal für den nächsten Schritt. Ich ließ meine Zunge über die angeplante Bissstelle wandern. Sein Körper reagierte sofort. Die Halsschlagader wurde kräftiger durchblutet und trat deutlich hervor. Gleichzeitig stieg Stepans Erregung, was sich dadurch bemerkbar machte, dass sein Wimmern zunahm.

Und dann biss ich zu. Meine Saugzähne durchstießen seine Haut und drangen bis zur Halsschlagader vor. Statt mir sofort den ebenso köstlichen und lebensnotwendigen Saft einzuverleiben, ließ ich meine Zähne eine Weile in Stepans Hals ruhen. Der begann sich an mich zu klammern. Der junge Kerl fühlte sich gut an. Sein Griff war für einen Menschen kräftig, fast dominant. Ich nahm seine Umarmung an und erwiderte sie, indem ich mich noch etwas mehr um ihn schlang.

Stepan pulsierte vor Lust und Energie. Er glühte. Die Hitze seines Körpers war berauschend. Es war an der Zeit, dass ich zu saugen begann. Ich trank von Stepan. Langsam und genüsslich ließ ich den roten, viskosen Saft erst in meinen Mund, dann die Kehle hinunter laufen. Er schmeckte gut, sehr gesund und natürlich.

»Ahhhh!«, stöhnte mein Appetithappen auf, als sich seine sexuelle Spannung in seine Hose entlud. Im gleichen Moment zog ich meine Zähne aus seinem Hals und versiegelte die Wunde. Wie jeder ungeübte Blutspender sackte auch Stepan in sich zusammen. Ich fing ihn auf, bettete ihn auf einen Dreisitzer und schaute, wie er sich langsam berappelte.

»Uff! Das war... anders.«, murmelte Stepan, während ich ihm ein Glas Wasser einschenkte. Leider gab es in Vladimirs Arbeitszimmer keinen Orangensaft. Das Zeug bewirkt einfach Wunder. Ich kenne kein anderes Getränk, das unsere Nahrungslieferanten so schnell wieder auf die Beine brachte, wie der Saft dieser sonnenverwöhnten Zitrusfrucht.

»Und, bedauerst du immer noch, nie gebissen worden zu sein?«

»Was für eine Frage.«, stöhnte Stepan, der noch ein wenig erschöpft, dankbar nach dem Wasser griff. »Jetzt verstehe ich, warum meine Eltern immer so verzückt strahlten, wenn sie vom Schloss kamen. Obwohl... Ich hätte gedacht, dass es weniger schmerzhaft sei.«

»Ist es sonst auch. Aber ich dachte, dass es dir so besser gefällt, dass du es intensiver erleben wolltest.«

Die Lichter der Stadt

Florian

»Constantin hatte ein schlechtes Gewissen?«, wollte ich von Christiano wissen. Statt auf meine Frage zu antworten, drückte mich mein Kollege, gab mir einen freundschaftlichen Kuss auf die Nase, kletterte aus dem Bett und ging in die Küche. Etwas überrascht von dieser unerwarteten Aktion beobachtete ich, wie Christiano begann, einen Wasserkocher zu befüllen und einzuschalten. Eine Glasteekanne und zwei Teetassen ließen erahnen, was der Mann plante.

»Ja, vielleicht ein wenig.« Christiano zögerte, als ob er überlegen müsste. »Constantin ist ein Romantiker. Er sah, dass Nuno und ich wie die Katze um den heißen Brei umeinander herumschlichen, sich aber keiner traute, den ersten Schritt zu tun. Also griff er ein. Doch Constantin war nicht schuld. Letztendlich stürzten wir nicht, weil wir zwei Männer waren, die sich liebten, sondern weil wir die Gründe eines korrupten Pfaffen bedrohten. Mein Gott, wir waren naive und ahnungslose Jungspunde voller Idealismus. Schwul oder hetero, das hätte den Ausgang der Geschichte kaum beeinflusst. Wir hätten Fra Silo so oder so zur Rede gestellt und er uns so oder so kalt. Unsere sexuelle Orientierung war schlicht ein Hebel, wo dieser Teufel in Menschengestalt ansetzen konnte.«

Inzwischen hatte ich mich ebenfalls aus dem Bett gehievt und auf einem der Barhocker vor dem Küchentresen gefläzt. Christiano zelebrierte die Teezubereitung. Zuerst spülte er die Glaskanne mit heißem, klarem Wasser aus. Als nächstes gab er etwas Tee in ein Glassieb und überbrühte ihn mit gerade nicht mehr kochendem Wasser. Nach etwas mehr als zwei Minuten schenkte er uns das Getränk ein. Ein sehr feiner Duft kitzelte meine Nase.

»Darjeeling first flush, SFTGFOP.«, erläuterte Christiano, »Tee ist eine der wenigen Substanzen, auf die mein Körper tatsächlich reagiert. Er belebt meinen Geist und wirkt gleichzeitig entspannend.«

Ich schaute zur Uhrzeitanzeige des in der Küche auf Brusthöhe integrierten Backofens. Es war kurz nach elf Uhr nachts und ich fühlte mich frisch und hellwach. Der Tee schmeckte erwartungsgemäß fantastisch. Dieser kleine portugiesische Vampir besaß Lebensart, das musste man ihm lassen. Sein spezielles Heißgetränk besaß ein sehr feines und mildes Aroma, das sich mit ganz wenig Kandiszucker aufgepäppelt wunderbar entfaltete. Mit der Tasse in der Hand wanderte Christiano zum offenen Fenster und blickte über die Lichter der Stadt.

»Das ist meine Welt - die Nacht und ihre glitzernden Lichter. Der Mond ist mein Freund.«

Ein leichter Windstoß wehte zu uns ins Appartment und strich über unsere, bis auf ein paar Retropants, nackten Körper. Der Wind war kühl, trotzdem fror ich nicht, ganz im Gegenteil. Ich sprang von meinem Hocker und ging zu Christiano, legte einen Arm um ihn und zog ihn zu mir heran.

»Ich habe Fra Silo getötet.«, gestand mein Freund, wobei er weiter starr aus dem Fenster schaute, »Ich habe ihn erst mit einem Biss gelähmt. Anschließend habe ich ihm genau so, wie mir der Inquisitior alle Schritte und Werkzeuge der Folter erklärte, beschrieben, wie er sterben würde. Er sollte wissen, dass sein verkommenes Leben dazu bestimmt war, mir Kraft und Stärke zu verleihen. Ich habe ihn gebissen und ganz langsam bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken.«

Christianos Geständnis kam nicht überraschend. Ich hatte schon vermutet, dass Fra Silo kaum ungeschoren aus der Geschichte herausgekommen sein konnte. Alles andere hätte mein Gerechtigkeitsempfinden arg strapaziert, was aber nicht hieß, dass ich Christianos Handlungen billigte.

»Fra Silo zu töten, war Fluch und Segen zugleich. Constantin hatte Recht, wenn er meinte, ich solle mir genau überlegen, wie ich mit dem Fall umgehen wollte. Dem Fall - in gewisser Weise verdanke ich Fra Silo die Entdeckung meiner wahren Bestimmung.«

»Und die ist?«

»Ich bin Constantins Spion, sein Agent für kniffelige Fälle. Ich mochte Pharmazie studiert haben, aber meine wirklichen Talente zeigten sich, als ich mich daran machte, Fra Silo das Handwerk zu legen. Ich hatte einen Monat Zeit, danach mussten wir Portugal verlassen, da Constantin anderen Verpflichtungen nachkommen musste. Innerhalb dieses einen Monats trug ich ein komplettes Dossier zusammen, das haarklein auflistete, wie sich Fra Silo und seine Verbündeten an den Leiden ihrer Patienten bereicherten. Es enthielt Namen und Diagnosen. Jedem einzelnen stellte ich die dem medizinischen Wissen der Zeit angemessene Behandlung der entgegen, die Fra Silo seinen Patienten angedeihen ließ. Ich setzte meine neuen Fähigkeiten als Vampir ein, um den Schreiber der Stadt dazu zu bringen, mir die Sterbeliste auszuhändigen, um nachzuweisen, wie viele Menschen durch Fra Silos Unfähigkeit und Gier starben. Während die Menschen die Dunkelheit mieden, wurde sie mir zum Freund. In ihrem Schutz gelangte ich an geheime und unzugängliche Orte. Die Dunkelheit enthüllte mir all die Dinge, die Fra Silo verbergen wollte. Unter anderem auch, dass Nuno und ich nicht seine ersten Opfer waren. Über die Jahre hatte er zwei Ärzte und einen Apotheker aus dem Weg geräumt. Einen der ersten hatte er sogar im Keller seines Hauses verscharrt. Am Ende der dritten Woche war ich soweit. Ich hatte genügend Beweise zusammengetragen, die Fra Silo unweigerlich an den Galgen bringen mussten.«

»Aber sie taten es nicht, oder?«

»Nein, sie taten es nicht.«, erwiderte Christiano niedergeschlagen, »Ich spielte je eine Kopie meines Dossiers dem Gericht der Stadt und der Diözese Fra Silos zu. Zuerst schien auch alles gut zu gehen. Er wurde in Gewahrsam genommen und sein Haus durchsucht, wobei man auch die Überreste des verscharrten Mediziners fand. Noch am gleichen Tag wurde eine Anklage verfasst und Fra Silo dem Richter vorgeführt, doch dann kam sein Bischof - Kardinal Carlo Lambertini.«

»Lass mich raten: Die Anklage wurde verworfen?«

»Die Anklage wurde verworfen.«, bestätigte Christiano selbst nach mehr als zweihundertfünfzig Jahren frustriert, »Ich war dabei. Verborgen im Schatten wurde ich selbst zum Schatten, sah und hörte, was gesprochen wurde. Kirchenpolitik und Staatsräson - niemand, auch Lambertini nicht, zweifelte an den Beweisen. Woran er zweifelte, war die Wirkung einer Verurteilung eines Priesters. Die Kirche fühlte sich von den Ideen der Aufklärung und den Lehren des Rationalismus bedroht. Der Kardinal befürchtete, dass eine Verurteilung die Autorität der Kirche und ihrer Würdenträger infrage stellte. Man schloss einen Handel. Fra Silo wurde frei gelassen und offiziell bekannt gegeben, dass die Vorwürfe gegen ihn jeglicher Grundlage entbehrten und es sich sogar um einen feigen Anschlag auf Staat und Kirche handeln täte. Im Gegenzug willigte Fra Silo ein, sich nach einem Jahr, während der Gras über die Sache wachsen sollte, abberufen zu lassen und den Rest seines Lebens in der Abgeschiedenheit eines Klosters zu verbringen. Ich war außer mir. Der Mann war der Teufel. Er hatte direkt vier Menschen auf dem Gewissen, mich nicht mitgerechnet. Und dieser mehrfache Mörder sollte ungeschoren davonkommen? Nein, das konnte ich nicht zulassen. Das war ich Nuno und allen anderen Opfern schuldig, und so tat ich, was ich tun musste.«

Der weitere Verlauf war simpel. Zwei Tage nach Fra Silos Freilassung stattete ihm Christiano einen abendlichen Besuch ab. Er gab sich als Patient aus, den ein äußerst unangenehmes Bauchgrimmen plagte. Es täte ihm sehr Leid, den ehrwürdigen Fra Silo zu später Stunde zu belästigen, aber die Schmerzen wären kaum erträglich. Man gewährte ihm Einlass. Dank seiner neuen vampirischen Fähigkeiten wurde Christiano von niemandem erkannt, auch nicht von Fra Silo selbst. Erst als er mit seinem Gegner allein war, ließ Christiano die Maske fallen und gab sich zu erkennen.

»Er hatte nur Hohn, Spott und Verachtung für mich übrig.«, erzählte mein Freund bitter, »Nannte mich einen Schoßhund des Teufels. Als ich ihn fragte, ob er gar keine Angst hätte, bei seinen Verbrechen in der Hölle zu landen, lachte er mich nur aus. Der Bischof hätte ihm Absolution erteilt, er würde niemals in die Hölle kommen. Wenn ich gekommen sei, um ihn zu töten, würde er als Märtyrer sterben und schon bald in das Antlitz Gottes blicken. Eigentlich wollte ich mich auf keinen theologischen Diskurs einlassen, aber nach meinem ersten, lähmenden Biss, merkte ich süffisant an, dass er genau wisse, dass Absolution allein nicht reiche, um der Hölle zu entgehen. Dazu müsse ein Sünder aufrichtig bereuen, und bereuen wäre doch wohl etwas, das in seinem Sprachschatz nicht vorkäme. Fra Silo widersprach nicht.«

Damit hätte die Episode Fra Silo und seine Untaten eigentlich enden müssen. Constantin half Christiano noch dafür zu sorgen, dass dem sündigen Priester die Sterbesakramente verweigert wurden und er auf ungeweihtem Boden beigesetzt wurde. Dazu reichte es, eine Teufelsanbetung zu inszenieren. Aus etwas übrig gebliebenem Blut wurde flugs ein Pentagramm auf den Boden gemalt und die entleerte Leiche darin hübsch drapiert. Noch ein Schafsschädel und ein paar schwarze Kerzen, wobei sich Christiano fragte, wo Constantin diese Zutaten zur nächtlichen Stunde aufgetrieben hatte, und die Szene war perfekt. Niemand würde daran zweifeln, dass Fra Silo mit dem Teufel im Bunde stand.

»Weißt du«, meinte Christiano zu mir, »Ich glaubte schon damals nicht, dass es eines göttlichen Wesens bedarf, um Himmel oder Hölle zu schaffen. Dafür sorgen wir schon selbst mit unseren Taten. Das Leben selbst kann Himmel oder Hölle sein. Ich weiß nicht, was aus Fra Silos Seele nach seinem Tode wurde. Ich wage sogar daran zu zweifeln, dass er eine besaß. Seine Leiche zu entwürdigen, war demnach auch mehr als Warnung an all diejenigen gedacht, die seine Verbrechen sehenden Auges duldeten.«

Zu Christianos größter Enttäuschung kam es auch diesmal anders als erwartet. Am nächsten Morgen brach kurzfristig Hektik im Haushalt Fra Silos aus. Kurz nachdem sein Gehilfe wie gewöhnlich zur Arbeit erschien, verließ er die Praxis des Doctores eiligen Schrittes auch wieder, um wenig später mit ernst dreinschauenden Männern der Kirche und des Staates aufzutauchen. Und das war es. Kirche und Staatsmacht hielten dicht. Es gab nur eine kurze offizielle Verlautbarung, wonach Fra Silo, geschätzter Arzt und verehrter Geistlicher der Stadt, infolge eines Herzleidens verstorben sei. Er habe die Aufregung um seine Person, die ebenso infamen wie haltlosen Anschuldigungen, einfach nicht verkraftet. Fra Silo wurde feierlich beigesetzt. Bischof Lambertini höchstselbst las die Totenmesse.

»Danach gab es nichts mehr, was mich in meiner Heimat hielt. Am nächsten Abend verließen Constantin und ich Portugal. Es mussten erst einhundertfünfzig Jahre vergehen, bis ich zurückkehrte. Alles, was mir blieb, war Trauer um Nuno, meine große Liebe, wenn nicht sogar die Liebe meines Lebens. Florian«, Christiano wandte sich mir zu und schaute mich durch Augen an, in denen ein Feuer zu lodern schien, »Fra Silo zu richten, brachte mir Nuno nicht zurück. Constantin hatte absolut recht, dass ich mit meinen Entscheidungen leben muss, denn obwohl ich mir immer wieder einrede, dass mein Handeln gerechtfertigt war und ich die Menschen meiner Stadt vor weiterem Unheil bewahrte, habe ich ein Leben genommen. Niemand, weder Mensch noch Vampir, sollte sich zum Richter über Leben und Tod aufspielen. Jetzt weißt du, wer ich bin. Ein Vampir, an dessen Händen das Blut eines Menschen klebt.«


Stand es mir zu, über Christiano zu urteilen? Nein, natürlich nicht; genauso wenig, wie ich ihm Absolution erteilen konnte. Er hatte gehandelt, wo andere wegschauten. Er hatte versucht, auf das schreiende Unrecht hinzuweisen, aber niemand wollte zuhören. Ich wusste nicht, ob er richtig gehandelt hatte oder nicht, aber es spielte für mich auch keine Rolle. Außerdem war es eine andere Zeit. Konnte man die Maßstäbe eines Rechtsstaats des 21. Jahrhunderts mit den Zuständen des 18. Jahrhunderts vergleichen?

»Du bist mein Freund.«, erklärte ich Christiano deswegen, der nervös meiner Antwort harrte, »Wie Constantin so treffend sagte, du musst mit deinen Handlungen leben. Wenn du mich hingegen fragst, ob du ein guter Mensch oder ein guter Vampir bist, dann kann ich dir eine Antwort geben. Ich halte dich für gut. Du bist ein Mann, der sein Tun hinterfragt. Ja, du bist mein Freund und was du getan hast, wird daran nichts ändern.«

»Danke, Flo!«, erwiderte Christiano erleichtert. Ihm schien meine Meinung sehr wichtig zu sein.

»Hast du eigentlich noch mehr Leute auf dem Gewissen?«, wenn wir schon beim Thema waren.

»Ein paar, ja. Die meisten starben im Kampf. Einen habe ich allerdings eiskalt getötet.« und so eiskalt klang auch Christianos Stimme.

»Wen?«

»Den Vampirjäger, der mich langsam zu Asche verbrannte.«, mein Freund blickte wieder über die Stadt, »Ein Biss und der Mann war Geschichte.«

»Das würde ich unter Selbsterhaltungstrieb abbuchen.«, für Vampirjäger konnte ich kein Mitleid empfinden, nicht, nachdem ich den Schmerz in Christianos Augen sah, als er mir vor ein paar Stunden das erste Mal von seiner Verbrennung erzählte, »Niemand hat ihn dazu gezwungen, Vampire zu jagen, oder?«

»Buh, du bist ja hart drauf.«, rief mein Vampir überrascht aus.

»Ist doch wahr! Wenn ich euch ein Motto geben müsste, würde es >Leben und untot lassen!< lauten. Was sind diese Vampirjäger? Sie halten sich für die Verteidiger der Menschheit vor dem Bösem, sind aber nichts anderes, als verblendete Eiferer, denen eine kranke Ideologie Foltern und Morden befiehlt.«

»Täusch dich nicht. Es gibt auch böse Vampire, genauso wie es böse Menschen gibt. Innerhalb unserer Gemeinschaft gibt es eine Gruppe, die der Meinung ist, dass wir die dominierende Spezies auf diesem Planeten darstellen und uns auch so verhalten sollten. Menschen seien Nahrung und sollten auch so behandelt werden. Wir sollten euch allesamt zu unseren Sklaven machen.«

»Was? Fundamentalistische Vampire?«, fragte ich verblüfft, doch eigentlich war es gar nicht so verwunderlich. Warum sollte es unter Blutsaugern nicht die gleichen Idioten geben, wie unter den Menschen, die meisten waren schließlich selbst einmal welche.

»Fanatisch und fundamentalistisch - die gefährlichste Kombination, die man sich vorstellen kann.«, gestand Christiano, »Eine meiner Aufgaben ist es, ihre Aktivitäten zu überwachen und wenn nötig zu unterbinden. Ich schütze meine Art vor allen Bedrohungen, egal ob von außen oder aber auch von innen.«

Dem war nichts hinzuzufügen. Wir, Christiano und ich, standen Seite an Seite am offenen Fenster und schauten über die Stadt. Die Nacht, die Dunkelheit - es war seltsam, aber ich fühlte mich von dieser Dunkelheit angezogen. Sie entwickelte eine Schönheit, die ich so noch nie wahrgenommen hatte. Die Ängste und Furcht, die wir ihr als Mensch entgegenbrachten, waren verschwunden. Stattdessen erschloss sich mir ein Blick auf eine völlig neue Welt.

»Es geschieht. Ich kann fühlen, dass ich mich verändere.«, Christiano hörte mir schweigend zu, »Was ich sagte, dass ich das Gefühl habe, dass sich meine Welt verändert. Es passiert. Ich verändere mich.«

»Und, ängstigt dich der Gedanke noch?«, wollte mein Lehrer und Freund wissen.

»Nein!«, entgegnete ich entschieden, »Christiano, in den letzten Stunden bin ich mir über viele Fragen klar geworden. Ich kann die Zukunft nicht aufhalten. Mein bisheriges Leben endete, als ich mich von der Brücke stürzte und Constantin mich auffing. Mein neues Verhältnis zu meinen Kollegen bei Niederreuter, mein Job, mein Vater, das sind alles nur Zwischenstufen auf meinem Weg zum...«

Vampir - ich brauchte es nicht aussprechen. Wir wussten auch so, was ich ausdrücken wollte. Die Unruhe, die mich den ganzen Tag begleitet hatte, war Klarheit gewichen. Ich war bereit, Christiano und Constantin in ihre Welt zu folgen.

»Ja, du bist bereit.«, bestätigte Christiano, »Ich werde versuchen, Constantin eine Nachricht zukommen zu lassen. Bis dahin werden wir aber weiter die Rollen zweier braver Tischler spielen müssen.«

»Solltest du es vergessen haben, aber ich bin Tischler. Ich habe den Beruf gelernt, ich spiele ihn nicht.«

»Stimmt. Entschuldige, das wollte ich nicht. Ich vergesse auch immer, dass ich mal ein Apotheker war.«, gestand Christiano, zögerte einen Moment und meinte dann, »Verdammt, ich bin müde. Wenn das so weiter geht, gewöhne ich mich noch ans Berufsleben.«


Der nächste Morgen begann wie die anderen zuvor: Kurz nach halb sechs wachten wir auf, krabbelten aus dem Bett und gönnten uns eine ausgiebige Dusche. Es folgte das übliche Ritual, uns gegenseitig mit Sonnenschutzsalbe einzucremen und sich die Kontaktlinsen einzusetzen. Christiano war so nett, mir wieder ein Frühstück zuzubereiten. Er selbst gönnte sich nur einen Beutel Blut.

»Das ist schon der vierte Beutel in dieser Woche«, meinte mein Gastgeber halb besorgt, halb amüsiert, »Sonst komme ich mit einer Portion alle zwei Wochen aus. Das ständige Sonnenlicht macht hungrig.«

Eine Dreiviertelstunde später stellten wir die Harley vor Niederreuter ab. Es war eben sieben Uhr durch und die Umkleide gut gefüllt. Gut vierzig Kollegen befanden sich in verschiedenen Stadien des Wechsels zwischen Privat- und Arbeitskleidung. Bis auf Hans und Ulli war unser Trupp bereits vollständig erschienen, was auch Mario mit einschloss, der sich etwas abseits von uns hielt und bei meiner Ankunft in ein Gespräch mit Andreas vertieft war. Der Weg zu meinem Spind führte mich zwangsläufig an meinen beiden Intimfeinden vorbei, was mir im Gegensatz zu früher nur noch leichtes Unbehagen bereitete.

»Was hab ich dir gesagt?«, zischte Andreas Mario in einer Lautstärke zu, dass wir es nicht überhören konnten und wohl auch nicht sollten, »Während deiner Auszeit meinte unsere Elfe, sich zum Kerl entwickeln zu müssen. Mit seinem Respekt für seine Kollegen ist es auch nicht mehr zum besten gestellt. Er weiß einfach nicht mehr, wo sein Platz ist.«

»Dann wirst es höchste Zeit, dass wir es ihm zeigen.«, antwortete Mario, während er mich bedrohlich anstarrte. Das konnte noch lustig werden.

Nervös? fragte mich Christiano mental, der die Unterhaltung ebenfalls gehört hatte.

Nein, nicht nervös. Ich bin etwas besorgt. Wir sollten vorsichtig sein und auf unsere Deckung achten. Zumindest glaube ich nicht, dass die beiden etwas während der Arbeit planen.

Christiano nickte und gab mir damit zu verstehen, dass er meine Meinung teilte.

Der Rest des Morgens verlief wie gewohnt. Marco und Jan kümmerten sich darum, dass die beiden Werkstattwagen vollständig ausgerüstet bereitstanden, während ich mir letzte Infos von Niederreuter holte. Gegen acht setzte sich unser Trupp Richtung Baustelle in Bewegung. Mario war ebenfalls an Bord. Ein Wort hatte er bisher nicht mit mir gewechselt.

Auf der Baustelle angekommen, stand als erstes eine Lagebesprechung an. Wir befanden uns immer noch in der Phase, befallenes Holz zu entfernen und den Rest der Decke zu sichern. Jeder wusste, wie die Briefings aussahen. Wir arbeiteten in Zweierteams. Jedes Team war einem Bereich zugeteilt, den es zu bearbeiten galt. Bisher sah die Aufteilung folgendermaßen aus: Marco arbeitete mit Jan zusammen, Ulli mit Jochen und Christiano mit mir. Hans war unser Springer, der immer dort mit anpackte, wo zusätzliche Hände benötigt wurden. Rein arbeitstechnisch sprach alles dafür, Mario zu Hans zu packen. Hans war bisher allein, außerdem verfügten beide über ungefähr ähnliche Qualifikationen. Dort, wo sie voneinander abwichen, hätten sie sich ergänzt. Obwohl diese Paarung sinnvoll und logisch erschien, wählte ich eine andere. Meine Kollegen hatten mehr als deutlich gemacht, dass sie mit Mario Probleme hatten. Das musste ich respektieren und in meiner Planung berücksichtigen. Immerhin, es gab eine andere Lösung.

»Gut, kommen wir jetzt zur Einteilung der Teams.«, ergriff ich daher am Ende der Arbeitsbesprechung noch einmal das Wort, »Ab heute wird unser kleiner Trupp ja wieder von Mario verstärkt. Ich glaube, dass dies ein guter Anlass ist, um ein wenig untereinander zu wechseln. Marco, ich glaube, du solltest mit Ulli zusammenarbeiten. Ich habe in den letzten Tagen beobachtet, dass ihr beide über sehr unterschiedliche Techniken verfügt. Ich könnte mir vorstellen, dass ein praktischer Austausch eurer Erfahrungen für euch interessant sein könnte. Gleiches gilt für Jan und Jochen.«

Die vier reagierten wie von mir erwartet, nämlich einerseits verwirrt, was diese neue Zusammenstellung sollte, andererseits aber auch erleichtert, nicht mit Mario zusammenarbeiten zu müssen. Was aber alle Kollegen viel mehr interessierte, war die Fragen, wen denn das bittere Los, Mario zum Partner zu bekommen, traf?

»Hans?«, erhob ich meine Stimme. Meine Kollegen hielten die Luft an. »Wärst du so nett, dich unseres Azubis anzunehmen?«

Marco, Ulli und Jochen vergaßen Luft zu holen, was Jan dafür umso lautstarker tat. Sechs Augenpaare bedachten mich mit entgeisterten Blicken, Mario eingeschlossen, wenn auch aus anderen Gründen, als seine Kollegen. Nur Christiano schüttelte amüsiert den Kopf und schenkte mir ein diabolisches Grinsen.

Junge, du gibst dich wirklich nicht mit halben Sachen zufrieden, oder?

Die würden doch auch nur halb so viel Spaß machen, oder?

Mit offenem Visier

»Bist du jetzt völlig durchgeknallt?«

Mehr fiel Mario zu meiner Einteilung nicht ein. Während sich die restlichen Kollegen an ihre Arbeit machten und weiteren Schimmel aus der Decke puhlten, hatte ich Mario gebeten, mir zum Werkstattwagen zu folgen. Kaum dort angekommen stellte mein Kollege seine Frage.

»Nein, eigentlich nicht.«, begann ich sachlich und spielte den Ahnungslosen, der nicht realisierte, worauf Mario eigentlich anspielte, »Du hast die Baustelle gesehen? Wir sind mit den Ausräumarbeiten fast fertig und können mit der Injektion der Pilzgifte ins umgebende Mauerwerk beginnen. Wenn ich mich nicht täusche, verfügst du als einziger von uns über den Befähigungsnachweis zum Umgang mit Fungiziden. Du weißt, die BG ist da sehr streng.«

Statt sofort zu antworten, schaute sich Mario um, ob uns jemand beobachtete. Ich ließ ihn und kletterte in den Werkstattwagen. Mario folgte mir, griff aber nicht zum Kanister mit dem Pilzgift, sondern nach meiner Kehle. Mit ziemlicher Kraft, wie sie nur Menschen aufbringen, die abgrundtief hassen, drückte er mich gegen eines der im Wagen verbauten Werkzeugregale und kopierte damit eine ähnliche Aktion Andreas' von vor ein paar Tagen. Ich ließ ihn gewähren - vorerst.

»Hör zu, du schwule Sau!«, raunte mir mein Kollege zu und war dabei auf wenige Zentimeter an mich herangekommen, »Ich weiß nicht, was du hier für eine kranke Nummer abziehst. Du magst die anderen Warmduscher ja um den Finger gewickelt haben. Keine Ahnung, wie du es angestellt hast, dass sie dir den Arsch küssen, aber bei mir wird dir das nicht gelingen. Du bist Dreck, Abschaum, den man genau so entsorgen muss, wie den beschissenen Schwamm aus der bekackten Decke. Also glaub ja nicht, du könntest mir Anweisungen erteilen. Ich garantiere dir, du wirst es bereuen.«

»Wie, wirst du mich wieder vergewaltigen?«

Marios Reaktion kam prompt und verräterisch. Noch bevor er meine Frage mental verarbeitet hatte, griff seine Hand an meiner Kehle noch etwas fester zu und spielte Schraubstock. Ich ließ ihn weiter gewähren. Sein Versuch mich zu würgen, zeigte infolge meines vampirisch veränderten Körpers keinerlei Wirkung. Marios Hand fühlte sich bestenfalls etwas beengend an. Mein Peiniger achtete auf derartige Feinheiten nicht. Er war voll und ganz damit beschäftigt, mir dermaßen dicht auf die Pelle zu rücken, dass ich seine Zahnpastamarke erkennen konnte. Ein paar Millimeter mehr, und unsere Nasenspitzen hätten sich berührt. Mario stierte mich mit vor Abscheu und kochender Wut brennenden Augen an.

»Was hast du da eben gesagt?«

Die Frage schien rhetorisch gemeint zu sein, da der Druck auf meiner Kehle einem normalen Menschen keine Antwort erlaubt hätte, sondern dieser zwischenzeitlich durch akuten Sauerstoffmangel besinnungslos geworden wäre.

»Ob du mich wieder vergewaltigen möchtest?«, fragte ich fröhlich, gut gelaunt und breit grinsend. Ob es sich so fühlte, mit brennenden Dynamitstangen zu spielen? »Wenn ich mich richtig erinnere, hatte dir mein Arsch so gut gefallen, dass du ziemlich heftig gekommen bist...«

Ich ließ Mario genau fünf Sekunden, meine Antwort zu verarbeiten. Eine Sekunde später wechselte mein fröhliches Grinsen in einen harten, kalten Gesichtsausdruck. Eine meiner freien Hände - wieso vergaßen die Typen immer, dass meine Hände frei waren? - packte das Handgelenk an meinem Hals und drückte zu. Mario schrie auf. Ich hatte doch wohl nicht zu fest zugedrückt? Ich muss gestehen, dass mir meine neuen Kräfte nicht ganz geheuer waren, insbesondere, weil ich meine Kraft noch nicht so recht einschätzen konnte. Mario wehzutun war okay, ihm das Handgelenk zu brechen natürlich nicht.

»Flo, lass los!«, kreischte Mario, »Du tust mir weh!«

Ich dachte gar nicht daran, loszulassen, geschweige denn ihm nicht wehzutun. Ganz im Gegenteil entdeckte ich gerade den Spaß daran, ein Schwein zu sein... Naja, ein wenig. Statt meinen Kollegen also von seinem Schmerz zu erlösen, wiederholte ich das Manöver, das ich schon mit Andreas ausgeführt hatte. Ich verdrehte Mario dermaßen den Arm, dass er vor mir auf die Knie ging. Dort angekommen lockerte ich ein wenig meinen Griff und zauberte erneut ein Lächeln auf meine Lippen.

»Hör mir gut zu. Ich werde mich nicht wiederholen.«, begann ich, als ich mir Marios voller Aufmerksamkeit gewiss war, »Ich kann mich wieder daran erinnern, was du und deine Freunde mit mir angestellt habt. Ihr habt mich vergewaltigt, mir nicht nur Schmerzen zugefügt und mich meiner Würde beraubt, sondern auch versucht, mich zu brechen. Ich verrate dir etwas: Es hat nicht funktioniert.« Das war zwar gelogen, aber das musste Mario ja nicht wissen. »Mich interessiert es einen Scheißdreck, was du von mir hältst, ob du mich magst, verachtest oder sogar hasst. Mir ist es inzwischen auch vollkommen egal, deinen Schwanz in mir gehabt zu haben. Junge, vom Ficken hast du nicht die geringste Ahnung.« Wo kamen diese Worte her? Was war aus Florian, dem lieben, blonden Engel geworden? Der war kurz ausgetreten und hatte Florian, den blonden Teufel, der ebenfalls in mir wohnte, das Feld überlassen. »Solange wir zusammenarbeiten, wirst du dich zusammenreißen und benehmen. Du wirst genau das machen, was ich dir sage. Du wirst deine Kollegen mit Respekt behandeln und nicht mehr anmachen. Und vor allem wirst du keine halsbrecherischen Alleingänge mehr unternehmen. Niemand hat nämlich Lust darauf, seinen Kopf für deine Egoprobleme zu riskieren. Der Vorfall mit der Decke hätte auch ganz anders ausgehen können. Dass du dir nur eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen hast, war unverschämtes Glück.«

Meine Ansage verschlug unserem sonst um keinen blöden Spruch verlegenen Kollegen die Sprache. Statt etwas zu entgegnen, hockte er vor mir auf dem Boden des Transporters und glotzte mich entgeistert an.

»Hast du verstanden, was ich gesagt habe? Haben wir eine Übereinkunft?« hakte ich nach und verstärkte den Druck auf sein Handgelenk. Irgendwie musste ich schließlich Marios Aufmerksamkeit wecken.

»Ja!«, quiekte der auf, »Hör auf, du brichst mir das Handgelenk.«

Oh, so ein Pech aber auch. Nein, derartige Gedanken wollte ich mir nicht erlauben. Ich war kein Sadist und wollte auch keiner werden, weswegen ich von Mario abließ. Und was tat der Vollidiot? Kaum dass ich seine Hand freigegeben hatte, griff er nach einem Schraubenzieher und versuchte, ihn als Stichwaffe gegen mich einzusetzen. In einer Geschwindigkeit, die mich selbst überraschte, griff meine Hand wieder zu und verbog Marios Finger auf recht unsanfte Weise, woraufhin dieser das Werkzeug fallen ließ.

»Sag mal, hackts?«, der Zeigefinger meiner anderen Hand klopfte gegen Marios Stirn, »Was hast du eigentlich in deinem Kopf? Nichts? Ein Vakuum? Hausschwamm? Ich möchte dich inständig bitten, derartig dumme Aktionen zu unterlassen. Am Ende wird noch jemand verletzt und das werde bestimmt nicht ich sein. Wenn du so was also nochmal versuchst, werde ich mich verteidigen und ich verspreche dir, diese Schwuchtel wird nicht mit Wattebäuschchen nach dir werfen. Ist das klar?«

Oh, dieser Blick - die Mischung aus Hass, kaum unterdrückter Wut, Rage und panikartiger Furcht ließ es mir kalt über den Rücken laufen. Mario hatte Angst vor mir, was aber seine Abscheu mir gegenüber in keiner Weise schmälerte, sie eigentlich nur noch mehr anheizte. Nein, wir zwei würden niemals Freunde werden. Trotzdem wartete ich auf eine Antwort. Eine kleine Drehung seiner Finger reichte: »Ist das klar?«

»Ja!«, fauchte Mario.

»Na, geht doch!«, verkündete ich freudig, »Und jetzt sei bitte so nett und hilf mir diese blöde Injektionsanlage auszuladen.«


Von da an verlief der Tag überaus friedlich. Mario parierte und benahm sich. Ich hatte ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt. Wie konnte es angehen, dass so eine weichliche Tucke, die ich in seinen Augen darstellte, ihn quasi aus dem Handgelenk in die Knie zwang? Doch machte ich mir nichts vor. Sein Angriff mit dem Schraubenzieher mochte aus dem Moment heraus geboren sein. Wäre er erfolgreich verlaufen, hätte ich in einer Blutlache auf der Ladefläche des Werkstattwagens gelegen und wäre entweder schwer verletzt, oder tot. Mario war ein potenzieller Totschläger und ich sein primäres Ziel. Dass er momentan stillhielt und gute Miene zu bösem Spiel mimte, lag weniger daran, dass er mich weniger verabscheute, sondern zusätzlich fürchtete, was aber noch lange nicht bedeutete, dass er es bei nächster Gelegenheit nicht wieder versuchen würde.

War es richtig, ihm zu sagen, dass ich mich an die Vergewaltigung erinnern konnte? Keine Ahnung? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich gebe es zu, ich hatte improvisiert. Nun musste ich damit leben, dass die Katze aus dem Sack war. Immerhin schien es Mario ein wenig auszubremsen. Und nach der irren Wut in seinen Augen schien es ihn mächtig zu wurmen, dass ich seine Stecherqualität kritisierte. Sollte ich lügen? Er fickte wirklich schlecht. Soweit eine Vergewaltigung überhaupt einen guten Fick zuließ, was es naturgemäß niemals tat, fickte Mario sogar abgrundtief schlecht.

Die Demütigung bei einer Vergewaltigung besteht zu einem Teil auch darin, dass der eigene Körper reflexartig auf die sexuelle Stimulation reagiert. Natürlich erfährt man Erregung, aber eben nur rein mechanisch, was Vergewaltiger aber oft als Zeichen für Lust missinterpretieren. »Hey, dir hat es doch auch gefallen.«, hieß es dann. Allerdings war Mario so dermaßen schlecht, dass selbst dieser autonome Reflex nicht funktionierte.

Der Arbeitstag nahm gewisse surreale Züge an. Mein Trupp, also primär Ullrich, Jochen, Hans, Marco und Jan schien nicht recht zu wissen, ob sie sich vor Marios halbwegs zivilisiertem Verhalten fürchten oder sich darüber freuen sollten und belauerten ihren Kollegen daher mit zweifelnden Blicken. So recht mochte niemand dem Frieden trauen. Dass ich obendrein ziemlich gut gelaunt war, schien ihre Nervosität eher noch zu steigern. Nur Christiano zwinkerte mir in einem unbeobachteten Moment verschwörerisch zu. Ich nahm nicht an, dass er meine Gedanken gelesen hatte. Mein und Marios Verhalten war Erklärung genug.

Wir schafften ordentlich was weg. Die drei Zweierteams, die noch mit der Entsorgung des restlichen Pilzmyzels beschäftigt waren, also Hans und Christiano, Ullrich und Marco, sowie Jan und Jochen kamen so gut voran, dass diese Bauphase zum Ende der Woche abgeschlossen sein sollte. Mario und ich amüsierten uns in der Zwischenzeit mit der Injektionsmaschine, die das Fungizid mit Lanzen in das Mauerwerk spritzen sollte. Echter Hausschwamm ist ein wirklich garstiges Zeug. Dieser Pilz gedeiht unter fast allen Umweltbedingungen, aber am besten bei normaler Zimmertemperatur und erhöhter Luftfeuchtigkeit. Er begnügt sich auch nicht etwa mit Holz. Das Zeug wuchert auch locker durch Wände hindurch und frisst dabei einfach den Mörtel auf. Letzteres war der Grund für die Injektionsgeschichte.

Ich wollte es fast selbst nicht glauben. Nachdem ich mit Mario die Fronten geklärt hatte, konnte man mit ihm sogar produktiv arbeiten. Ich konnte sogar noch etwas bei ihm lernen. Der Mann hatte Ahnung und verstand die Schwammbekämpfung. Was für eine Schande, dass der Typ ansonsten so ein Arschloch war. Begriff er denn nicht, dass er sich selbst sein Leben damit unnötig schwer machte? Aber was zerbrach ich mir seinen Kopf? War das mein Job? Ja, jedenfalls verstand ich ihn so. Niederreuter hatte mich zum Chef des Trupps gemacht, was hieß, dass ich für meine Jungs verantwortlich war, unabhängig davon, ob ich sie nun mochte, oder nicht.

Gegen Mittag hatten wir alle Injektionslanzen gesetzt und im Mauerwerk verankert. Die anderen Kollegen hatten ebenfalls ihr Arbeitsziel erreicht. Es war ein idealer Zeitpunkt, um zur gemeinsamen Mittagspause zu blasen, zu läuten oder, wie in unserem Fall, zu rufen. Die Pause fand in unserem Baucontainer statt, da das Wetter meinte, Nieselregen auf den Plan setzen zu müssen. Mir sollte es recht sein. Ein bedeckter Himmel war mir inzwischen tausendmal lieber, als praller Sonnenschein. An Christiano wollte ich gar nicht erst denken.

Die Kollegen packten ihre Brote aus. Christiano hatte sogar zwei Päckchen, die er kunstvoll in echtes Butterbrotpapier eingewickelt hatte. Manchmal blitzte sein tatsächliches Alter durch. Butterbrotpapier. So banal und nebensächlich es auch sein mochte, aber allein mit welcher Akkuratesse er es gefaltet hatte, zeigte eine tiefe Liebe zum Detail. Dass eines der beiden Päckchen für mich bestimmt war, machte mich hingegen ein wenig verlegen. Christiano dachte nicht einfach für mich mit, er kümmerte sich um mich mit einer Selbstverständlichkeit, von der ich weder wusste, wie ich mit ihr umgehen, noch wie ich sie ihm jemals danken sollte. Was blieb, war das Butterbrotpäckchen mit einem schüchternen Lächeln anzunehmen.

»Ho, ho, ho!«, tönte plötzlich Jan und grinste Christiano und mich breit an, »Höre ich da die Hochzeitsglocken läuten? Schaut euch unsere zwei Elfen an. Jetzt schmiert unser Azubi unserem Chef schon die Brötchen.«

»Äh, also... Das ist jetzt nicht so...«, begann ich zu erklären, wurde aber rüde von Jan unterbrochen.

»Nee, nee, nee, Flo! Glaubst du, wir haben nicht mitbekommen, dass du und Christiano ein bisschen mehr, als nur befreundet seid? Du hast mehr als eine Nacht bei ihm verbracht, oder? Erzähl mir nicht, er fährt bei dir zu Hause vorbei, um dich morgens abzuholen. Ich habe gesehen, wie du hinten auf seiner Harley bei ihm mitgefahren bist und ihr direkt auf die Autobahn gefahren seid.«

»Aber... Wir sind doch nur...« Freunde? Die Wahrheit hatte keine Chance. Meine allerliebsten Kollegen grinsten mich und nicht etwa Christiano breit und frech an. Leugnen war zwecklos und hätte nur das Gegenteil bewirkt.

»Ach, denkt doch, was ihr wollt...«, grummelte ich geschlagen und packte mein Butterbrot aus - Käse und Schinken, keine Blutwurst.

»Och, Flori«, tröstete mich Ulli, »Gönn uns doch den Spaß. Ihr passt zusammen.«

»Bevor ihr losrennt, um Geschirr für unsere Hochzeit zu kaufen, hätte ich gerne noch eine Tasse Kaffee.«, nahm Christiano sehr elegant die Kurve. Sein Wunsch wurde von Hans erfüllt, der als Christianos Arbeitspartner eh schon neben ihm saß.

Die Stimmung war, wie die ganzen Wochen zuvor, locker, fast ausgelassen und sehr entspannt, und musste auf Mario wie ein Kulturschock wirken. Niederreuter mochte eine zu recht renommierte Firma sein - unsere Arbeitsqualität lag weit über den Standards des Mitbewerbs - aber eine Firma mit gutem Betriebsklima war sie nie. Mittagspausen sahen im Allgemeinen so aus, dass jeder für sich in irgendeiner Ecke sein mitgebrachtes Brot runterwürgte. Es kam selten vor, dass Kollegen zusammensaßen. Mit dieser Unsitte hatte ich als erstes gebrochen. Wir waren ein Team und ein Team arbeitete nicht nur zusammen, sondern verbrachte auch die Pausen gemeinsam. Die Jungs sollten sich wohlfühlen. Nach anfänglicher Zurückhaltung taten sie es dann auch, und wenn auch nur, weil ich den bisherigen, ungenießbaren Kaffee, der imstande war, selbst Löcher in Teerpappe zu ätzen, gegen einen Gaumenschmeichler austauschte. Im gleichen Atemzug mussten auch die angetrockneten Kondensmilchdosen der Frischmilch weichen. Wasser und Säfte gab es ebenfalls.

Ich weiß nicht, woran es lag, dass in Niederreuters Laden oft eine schlechte Stimmung herrschte. Die Kollegen betrachteten sich meist als Gegner und nicht als Partner. Wenn mal etwas schief ging, dann versuchte jeder zuerst, die Verantwortung dafür von sich zu jemand anderem zu schieben. Ich bin nicht schuld. Das war Peter! Welch ein Unsinn. Jeder Mensch macht Fehler. Aus ihnen kann man lernen. Und für Schäden gab es eine Betriebshaftplicht. Doch gerade Typen wie Momsen lebten bei Fehlern erst richtig auf und suhlten sich regelrecht in ihnen. Immer vorausgesetzt, es waren nicht ihre eigenen. Diese schwarze Peter Schubserei war eines der ersten Dinge, die ich sofort abstellte. Bei mir wurde niemand zusammengeschissen, weil er etwas verbockt hatte. Gab es ein Problem, sollten die Leute zu mir kommen und wir würde die Sache klären - gemeinsam. Natürlich waren meine Kollegen mehr als skeptisch, ob ich mich im Fall der Fälle tatsächlich so verhielt, wie ich behauptete, bis Ullrich in der ersten Woche nach Marios Unfall ein Missgeschick passierte und er beim Rangieren mit dem Werkstattwagen die Nobelkarosse des Investors ankarrte.

»Absicht war es ja wohl nicht. Hast du einfach nicht aufgepasst oder warst du abgelenkt?«, wollte ich von Ulli wissen, als er mir den Vorfall beichtete.

»Ey, was denkst du von mir?«, brauste der auf, »Da tauchte plötzlich dieser andere Bauwagen auf und ich musste ausweichen...«

»Du warst abgelenkt und hast ihn zu spät gesehen.«, unterbrach ich und schüttelte den Kopf, anlässlich der unnötigen Ausflüchte, »Und statt zu bremsen, bist du ausgewichen. War es so?«

»Ja!«, maulte Ulli.

»Okay. Pass nächstes mal bitte besser auf, ja?«

»Wie? Das war's?«

»Ja was denn sonst noch?«, wollte ich wissen, um meine Frage aber gleich selbst zu beantworten, »Du hast Bescheid gesagt und damit ist gut. Ich werde Niederreuter informieren, dass er den Schaden der Versicherung meldet, und dem Investor sagen, dass wir das regeln. Und damit ist die Sache erledigt. Oder bestehst du auf einen Anschiss?«

»Ähm, nein, eigentlich nicht.«, Ulli zögerte, »Du willst Niederreuter nicht sagen, dass ich es war?«

»Es wird im Schadensprotokoll der Versicherung stehen, aber gegenüber dem Chef war es ein Fehler des Teams, den ich vertreten werde. Sieh lieber zu, dass sich so was nicht wiederholt, ja?«

Damit war auch diese Hürde genommen und meine Kollegen begannen mir zu glauben, dass ich sie nicht nur nicht zusammenfaltete, sollten sie mal etwas verbocken, sondern mich sogar vor sie stellte. Zu meiner Überraschung schien mein Verhalten sie anzuspornen, möglichst keinen Mist zu bauen.

Für Mario musste dieser vollkommen andere Arbeitsstil in unserem Team völlig fremd wirken. Er hockte mit uns zwar am Tisch, mampfte sein Brot und trank seinen Kaffee, schien mit der lockeren Stimmung aber nichts anfangen zu können. Ganz im Gegenteil schien er sich arg zusammenreißen zu müssen, nicht zu explodieren. Die Pause war noch nicht einmal halb rum, da sprang er von seinem Platz auf und verließ den Baucontainer mit den Worten: »Ich halt das nicht aus! Ich muss hier raus!«

Mein Versuch, den Mann in unser Team zu integrieren, war wohl doch ein wenig anspruchsvoller, als ich dachte. Oder war er zum Scheitern verurteilt?

Wiedergeburt

Constantin

»Dass ich das richtig verstehe.«, begann Lady Lydia, »Man hat versucht, dich mithilfe manipulierter Blutspender umzubringen? Mit Biolumineszenz im UV-Wellenlängenbereich und Vampirblut als Katalysator?«

Wir befanden uns auf dem Rückweg zum Stammhaus der Varadins. Während Laurentius auf Schloss Breskopol bei Lady Timon verblieb, hatte sich Lydia ziemlich schnell bereit erklärt, mich zu begleiten und die Untersuchung der Verschwörung in unserem Haus zu übernehmen. Während unserer Fahrt hatte ich sie mit den Einzelheiten der diversen Vorfälle versorgt. So konnte sie sich nicht nur in die Materie einarbeiten, sondern erfuhr auch etwas über die Art, wie ich mein Haus führte, was sich von Vladimir doch deutlich unterschied.

»Ja, Basti und Phillip sind zwei wirklich liebe Jungs. Dafür, dass man versucht hat, sie als Waffe gegen mich zu verwenden, wird jemand bezahlen. Niemand missbraucht einen unserer Freunde. Das ist Familie!« Warum sagte ich das? Es entsprach zwar der Wahrheit, aber das war nicht der Punkt. Ich wollte, dass Lydia wusste, wie ich für meine Familie sorgte, egal, ob Vampir oder Mensch.

»Gut...«, Lydia musterte mich, dachte nach und wechselte dann das Thema, »Entschuldige, wenn ich nochmal auf Laurentius Bestrahlungskammer zurückkomme. Ich glaube dir, dass du nichts an der Kammer manipuliert hast. Was bleibt mir nach dem Urteil des Inquisitors auch anderes übrig. Fakt ist aber, dass sie manipuliert wurde. Jemand von deinen Leuten hat uns die Teile anonym zugespielt.«

»Wir können froh sein, dass unser Verräter das getan hat.«

»Du weißt doch nicht etwa, wer es ist?«, Lydia war erstaunt und gleichzeitig auch ein wenig verschnupft, »Und was soll ich dann noch?«

»Ermitteln und anklagen. Ich werde mich nicht einmischen und neutral verhalten. Lydia, die Angelegenheit ist hochpolitisch. Wer es auch immer getan hat, glaubt, dass ich gegen die Interessen des Hauses handle. Du verstehst, was ich meine?«

Lydia nickte und biss sich auf die Lippen. Sie wusste ganz genau, was ich meinte. »Er spricht dir das Recht ab, Stammvater unseres Hauses zu sein.« Lydia schnaubte: »Constantin Varadin, du bist ein hundsgemeiner Mistkerl. Ist das deine Rache dafür, dass ich dich vor das Tribunal gebracht habe? Dass ich einen Verräter dingfest machen soll, der aus ähnlichen Motiven handelt, wie ich?«

»Oh nein, allerliebste Lydia. So etwas würde ich doch nie tun.«, entgegnete ich gut gelaunt und in einem Tonfall, dass Lydia nicht wusste, ob ich sie verarschte. Ich wartete ein paar Sekunden und fügte dann in einem versöhnlichen und deutlich sachlicheren Ton hinzu, dass ich sie darum bat, die Untersuchung zu leiten, weil sie sich am besten in unseren Verräter hineinversetzen konnte. Außerdem sei es wichtig den Varadins zu zeigen, dass die Breskoffs ihnen gleichgestellt waren.

»Ehrlich gesagt weiß ich noch nicht, wie ich mit dem Verräter umgehen soll. Soll ich ihn zur endgültigen Entkörperung verurteilen? Ihn verdammen? Er hat mindestens einmal versucht, mich zu ermorden. Ich kann das nicht ignorieren. Vor allem kann ich nicht ignorieren, dass ich voreingenommen bin. Du bist es nicht. Ganz im Gegenteil solltest du in der Lage sein, seine Motivation nachzuvollziehen. Ich möchte nicht, dass die Geschichte wie eine persönliche Vendetta erscheint, was der Fall wäre, wenn ich die Jungs meines alten Hauses auf ihn losjage. Du weißt, wie deine eigenen Geschöpfe auf Verrat reagieren. Du entstammst Vladimirs Blut, und obwohl du dich mir unterworfen und von meinem Blut getrunken hast, bist du neutral und unvoreingenommen.«

Lydia starrte mich sprachlos an und hörte auch nicht mehr auf damit. Ich begann mir schon Sorgen zu machen, als sie schließlich den Kopf schüttelte.

»Cassandra, die alte Hexe hatte wirklich recht. Constantin, mein Junge, ich habe dich unterschätzt. Aus dem rotzfrechen, kleinen Blutsauger, der du vor ein paar hundert Jahren warst, ist wirklich ein erwachsener Mann geworden. Ich werde den Job übernehmen. Gibst du mir freie Hand?«

»Ja, absolut, aber mit einer Ausnahme.«

»Und die wäre?«

»Die Jungs, Bastian und Phillip, behandelst du mit Samthandschuhen. Sie sind Opfer, genauso wie Simon.«

»Mit der Bedingung kann ich leben. Simon? Moment, das war der kleine Vampir, den das Biogift eingeäschert hat, oder? Armer Junge. Ich durfte diese unerfreuliche Erfahrung auch schon machen... Bäh, nein, ich weiß wie sich der kleine fühlt. Ist er denn schon wiedererweckt worden?«

»Nein, darum werde ich mich gleich nach meiner Rückkehr kümmern. Sie mussten seine Asche erst noch mehrfach aufwendig filtern, um das Gift wieder aus ihm herauszubekommen.«

»Ich verstehe.«


Den Rest der Fahrt dominierten weniger tiefgründige Themen. Lydia und ich versuchten, uns ein wenig besser kennenzulernen. Für sie war ich immer nur dieser kleine Knirps, den Vladimir aus einerseits sentimentalen Gründen, aber auch aus einer Verpflichtung gegenüber meinem Vater unter seine Fittiche genommen hatte. Auch ihr war das Bild vom kleinen Kostja in Erinnerung geblieben, der sich am Busen Cassandras ausweinte, wenn ihm mal wieder ein Missgeschick widerfahren und er auf die Nase geplumpst war. Nachdem ich älter wurde und dem Knirpsalter entwuchs, dominierte das Bild des Salonvampirs. Mein Ruf als Stammvater war mehr das einer verwöhnten Göre, der ein altehrwürdiges Haus einfach so in den Schoß gefallen war. Dass ich diesen Ruf zeitweise absichtlich kultivierte, überraschte Lydia ein wenig. So viel Hinterhältigkeit hatte sie mir einfach nicht zugetraut.

»Und was hast du nach deiner Rückkehr geplant? Warten große Staatsgeschäfte auf dich?«, fragte Lydia mehr aus Höflichkeit, als aus der ernsthaften Erwartung, von mir eine Antwort zu erhalten. Ich überraschte sie erneut.

»Erst werde ich mich um Simon kümmern. Ich verdanke ihm mein Leben. Danach gibt es etwas - ein Rat Tamirs, den ich dringend befolgen sollte - das mich ein paar Tage beschäftigen wird, bevor wenige Tage später der Hohe Rat wieder zusammenkommen wird, um über die Königswürde zu entscheiden. Danach dürfte es schwierig werden, dem Protokoll zu entfliehen.«

»Was hast du mit Christiano vor? Wie lange wirst du ihn noch offiziell verbannt halten? Sobald der Verräter gefasst ist, hat sich seine Aufgabe doch erfüllt, oder?«

»Das wird sich noch zeigen. Ich befürchte, er wird noch ein wenig länger aushalten müssen.« Ich traute Lydia, sie hatte von meinem Blut getrunken, trotzdem wollte ich kein Risiko eingehen, und behielt das Thema Florian für mich.

»Wusstest du, dass er einen Freund hat?«, bemerkte Lydia.

»Wer?«

»Christiano, wer sonst?«, erläuterte Lydia, »Vor ein paar Tagen war ich in der Nachbarschaft deines Hauses. Es gibt da einen als Underground-Fetischclub getarnten Vampirladen in einem verlassenen Umspannwerk. Viel frisches Blut. Die meisten Menschen, die den Laden besuchen, haben natürlich keine Ahnung, dass wir sie anzapfen. Sie erinnern sich nur, eine wirklich geile Partynacht verbracht zu haben. Eine Handvoll Nosferatu wacht darüber, dass keiner über die Stränge schlägt und sich nicht einen Schluck zu viel gönnt. Der Club gilt als offiziell hausneutrale Zone. Ein idealer Ort, um diskret Informationen auszutauschen und dabei noch etwas Spaß zu haben können. An dem Abend war auch Christiano da, wahrscheinlich, um sich mit Michael zu treffen. Ich weiß es, denn ich traf Tommi, einen von Christianos Blutspendern, der um seine wahre Identität weiß. Tommi war mit einem wirklich atemberaubenden Kerlchen unterwegs. Als wenn ein Engel den Himmel verlassen hätte. Lange, glühend blonde Haare, sanfte, aber auch gleichzeitig markante Züge, und ein Körper, für den Menschen und Vampire morden würden. Der Junge verströmte eine Unschuld, die fast schon unheimlich war. Ich habe ihn ein wenig angetestet, ein klein wenig mit ihm geflirtet. Sofort war dieser Tommi zur Stelle und meinte, mich zurechtweisen zu müssen: Florian sei Christianos Gast und daher für mich unantastbar. Als wenn Christianos Meinung noch viel zählte. Er sei aber auch Michaels Gast. Ich beließ es dabei. Ich glaube nämlich, dass dieser Engel ebenso stockschwul ist, wie du es bist, was nahe legte, dass er Christianos Freund ist.«

Was trieb Christiano mit meinem Florian in einem Vampirclub? Ich war mir nicht sicher, wie ich Lydias Information bewerten sollte. Musste ich mir Sorgen machen oder war es eher eine gute Nachricht? Offenbar ging es Florian gut. Mehr noch, Florian musste sich mit Christiano angefreundet haben, obwohl er sich, nachdem wir sein Gedächtnis blockiert hatten, an den wilden Portugiesen nicht mehr erinnern können durfte. Dass die beiden nun befreundet waren, war auf jeden Fall eine gute Nachricht. Hieß es doch, dass Christiano seine wachsamen Augen auf Florian gerichtet hatte. Ob er ihn wohl auch auf das Leben als Vampir vorbereitete?

»Du bist so schweigsam?«, riss mich Lydia aus meinen Überlegungen, »Beunruhigt dich etwas?«

»Nein, eigentlich nicht. Ich bin nur erstaunt, dass er einen Freund hat. Christiano schließt nicht leichtfertig Freundschaften, dafür schleppt er zu viel Geschichte mit sich herum. Es freut mich für ihn, wenn er jemanden gefunden hat.«

Ich gebe zu, dass Letzteres nicht ganz exakt der Wahrheit entsprach, aber auch nicht wirklich gelogen war. Es war... kompliziert.

»Dann sollte Christiano aufpassen, dass man ihm seinen Florian nicht wegnimmt. Der Junge hat Aufsehen erregt. Ich kenne mehr als einen Blutsauger, der das Kerlchen liebend gern vernaschen würde. Christiano ist ein guter Mann und ein noch besserer Krieger. Trotzdem mache ich mir Sorgen, dass jemand auf die Idee kommen könnte, seine Stärke auszutesten. Er hat kein Haus, das hinter ihm steht.«

Lady Lydia hatte recht und Tasmanir Musferatu, oder kurz Tamir, ebenfalls. Ich musste mich um Florian kümmern, und zwar bald.

»Florian ist mein Mann.« Ich setzte alles auf eine Karte. Ich enthüllte Lydia mein momentan größtes Geheimnis. In kurzen Worten schilderte ich Florians Leidensweg und die Umstände, die uns zusammengebracht hatten. Selbst, dass ich ihm meine Existenz verdankte, sparte ich nicht aus.

»Dir ist schon klar, dass du damit dein Schicksal in meine Hände gelegt hast?«, fragte Lydia mit rasiermesserscharfer Stimme, »Du hast aus Florian einen Hybriden gemacht. Himmel Constantin, du bist unglaublich. Die anderen Häuser würden dich vierteilen, wenn sie von diesem Verstoß gegen den Kodex wüssten. Was ist mit Tamir, dem Inquisitor, weiß er davon?«

Das magische Schweigesiegel erlaubte mir nicht, direkt auf Lydias Frage zu antworten, weswegen ich mich auf eine Umschreibung verlegen musste.

»Vor der Inquisition bist du nackt.«

»Ich verstehe.«, Lydia war ja alles andere als dumm, »Ich verstehe auch, was du mit mir anstellst. Du bist und bleibst eine ausgekochte Kanaille, Constantin Varadin. Mir dieses Geheimnis anzuvertrauen, ist dreist. Wie könnte ich jetzt anders, als dir zu beweisen, dass ich dein Vertrauen wert bin?«

»Nein, verehrte Lydia, ich wollte dir beweisen, dass ich dir vertraue und es für mich keine Rolle spielt, welchem Haus eines meiner Familienmitglieder angehört.«

»Es ist wirklich eine Schande, dass du schwul bist, Constantin.«, schloss Lady Lydia und gab mir auf ihre Weise zu verstehen, wie sehr sie mich schätzte. Ich sollte mich wohl geehrt fühlen.


Was für eine merkwürdige Situation: Nichts zu tun zu haben. Ich saß in meinem Büro, blätterte durch ein paar Akten, fand aber nichts, was es dringend zu bearbeiten galt. Alles war geregelt. Auf Schloss Breskopol kümmerten sich Laurentius mit Timon und Gordon mit Cassandra um die eine Seite der Häuserfusion, während auf dieser Seite Lydia und Michael, der uns ebenfalls begleitet hatte, die Verschmelzung vorantrieben. Da ich insbesondere Lady Lydia nicht ins Handwerk pfuschen wollte, blieb wenig, womit ich mich aktiv beschäftigen konnte. Die drei Unterschriftsmappen, die man mir auf den Schreibtisch zum Abzeichnen gelegt hatte, waren schnell abgearbeitet. In gewisser Weise erlebte ich die Früchte meiner Arbeit. Mein Haus kam auch gut ohne mich aus. Statt alles selbst entscheiden zu wollen und im Mikromanagement unterzugehen, forderte ich meine Leute aktiv auf, selbst Verantwortung zu übernehmen und auch mal etwas zu wagen. Die dankten es mir, indem sie wirklich gute Arbeit leisteten. Nein, ich muss mich korrigieren, sie dankten es sich selbst. Das Haus Varadin war keine Firma, kein Unternehmen, das der Profitmaximierung anonymer Investoren diente. Es war die Schutzhülle, der Panzer, der unsere Existenz sicherte. Je besser wir arbeiteten, desto besser ging es uns allen.

»Simon!«

Himmel, den Jungen hatte ich völlig vergessen, dabei hatte mir Ricardo, der Leiter der medizinischen Forschungsabteilung ein Memo hinterlassen, dass die Asche Simons mehrfach gefiltert worden war und jetzt frei vom Biolumineszenzgift sei. Einer Wiedererweckung stand somit nichts im Wege. Wieso also weiter Löcher in langweilige Akten starren, wenn es etwas viel angenehmeres zu tun gab? Gut gelaunt verließ ich mein Büro und suchte Ricardo in seinem Labor auf.

»Ah, mit dir habe ich schon gerechnet.«, begrüßte mich der Wissenschafter und drückte mir eine Urne in die Hand, »Gewaschen, gespült und gefriergetrocknet. Ein 1A-Instantdosenvampir zur direkten Wiedererweckung.«

Ich grinste über Ricardos Bemerkung, die für unwissende Zuhörer ziemlich herzlos klingen musste. Das war es aber nicht. Ricardo wusste sehr genau, wie sich eine Einäscherung anfühlte.

»Danke, Alter.«, klopfte ich dem Leiter der medizinischen Forschung auf die Schulter, »Es war sehr nett von dir, dich um Simon zu kümmern. Wo wir gerade dabei sind. Wie geht es Bastian und Phillip.«

»Gut. Ich habe den beiden eine ordentliche Dosis harntreibende Mittel verpasst, worauf sie zwei Tage wie ausgewachsene Brauereipferde gepisst haben. Sie sind wieder sauber und gieren regelrecht danach, sich bei dir mit einer Blutspende entschuldigen zu dürfen.«

»Wieso wollen die sich bei mir entschuldigen? Ich muss mich bei ihnen entschuldigen, da mit reingezogen worden zu sein. Also gut, ich werde die zwei anrufen, mich aber jetzt erst einmal um diesen Dosenvampir kümmern.«

»Na dann, gute Verrichtung.«, grinste mich Ricardo frech an, »Ach, Chef, was treibt eigentlich diese Frau bei uns?«

Diesmal war es an mir, zu grinsen: »Diese Frau ist Lady Lydia Varadin-Breskoff, für den Fall, dass dir entgangen sein sollte, dass unsere beiden Häuser jetzt ein gemeinsames bilden. Lady Lydia wird sich um unseren Verräter kümmern, wofür sie von mir umfangreiche Befugnisse erhalten hat. Wenn sie will, darf sie jeden Stein in diesem Haus umdrehen.«

Ricardo holte Luft und ließ sie laut und vernehmbar entweichen: »Dann kann ich ihr nur eine gute Jagd wünschen. Ähm, nur fürs Protokoll... Ich werde sie selbstverständlich in all ihren Bemühungen unterstützen.«

»Sag das ihr, nicht mir. Ich halte mich aus der Sache raus.«, wehrte ich ab.

»Du bist aber nicht unter die Heten gegangen, oder?«

»Ricardo Baby, für wen hältst du mich?«, lachte ich und fuhr meine Zähne aus, »Können diese Zähne lügen?«

Ricardo antwortete auf seine Weise. Er strich sich über die Seite seines Halses, wo ich ihn vor Jahrhunderten gebissen und in einen Vampir verwandelt habe.


Nachdem auch dieses Thema geklärt war, schlenderte ich beschwingt in Richtung Gruft. Dabei musste ich eine merkwürdige Aura verströmt haben. Jeder, der mir begegnete, sah mich erst verwundert, dann amüsiert und schließlich freudig strahlend an. Schön, wenn gute Laune ansteckte.

Die Wachen vor der Gruft grüßten mich etwas verunsichert. Zugegeben, die Kerle waren nicht für ihren Humor bekannt, konnten dafür aber im Zweifelsfall ziemlich gut austeilen.

»Einen wunderschönen Abend, Jungs!«, grüßte ich sie, »Könntet ihr so nett sein, mich eine Weile allein lassen, damit ich eurem Kollegen hier wieder ein wenig Leben einhauchen kann?«

Wenn ich die Mienen meiner Wachen richtig interpretierte, wussten sie nicht so recht, ob und wie sie auf meine Frage antworten sollten, bis sich einer ein Herz nahm und mich direkt fragte.

»Ist das Simon in der Urne?«

»Ja, Friedrich, das ist er.«

Im Gegensatz zu den Stammvätern der anderen Häuser war es mir wichtig, die Namen aller Mitglieder meines Hauses zu kennen. Für mich machte es keinen Unterschied, ob jemand ein Finanzgenie wie Gordon war, der mit Milliarden und Abermilliarden jonglierte, oder eine einfache Wache, die aufmerksam und unermüdlich ihren Dienst vor der Gruft absolvierte. Jeder erfüllte eine Aufgabe, die für das Ganze wichtig war, und das sollten sie auch wissen. Direkt mit seinem Namen angesprochen wurde Friedrich mutiger.

»Würdet Ihr Simon sagen...«, begann der Wachvampir, wurde von mir aber sofort unterbrochen: »Es heißt, würdest du Simon etwas sagen. Ich bin Constantin, du bist Friedrich und ihr seid Heinrich, Egmont und Melchior. Ich bin einer von euch. Also, Friedrich, was möchtest du, dass ich Simon sage?«

»Dass es uns leidtut, ihn oft nicht als Wächter für voll genommen zu haben. Der kleine ist tapfer, wenn er das da überstanden hat. Von uns vieren wurde noch niemand eingeäschert.«

»Dann seid froh darüber, dass dieser Kelch bisher an euch vorbeigegangen ist. Sollte euch das Schicksal trotzdem ereilen, werde ich jeden von euch persönlich wiedererwecken. Das verspreche ich euch. Wie auch immer, ich werde Simon eure Nachricht überbringen. Ihr solltet es ihm aber noch persönlich sagen. Ich glaube, der kleine wird sich darüber sehr freuen.«

»Ist bekannt, wer dafür verantwortlich war? Ich möchte dem Schwein, der einen von uns verbrannt hat am liebsten höchstpersönlich... Nein, es steht mir nicht zu, zu richten.«, mischte sich nun Melchior ein.

»Keine Angst. Das Verbrechen wird gesühnt werden, auch darauf habt ihr mein Wort. Ich habe Lady Lydia mit der Untersuchung betraut. Sie wird den Verräter dingfest machen.«

Die Wachen bedankten sich, verließen die Gruft und versprachen mir, dass mich niemand stören würde, solange die Gruft geschlossen sei. Daraufhin bedankte ich mich bei meinen Wachen und schloss die schweren Granittüren, die in ihrem Inneren aus fünfzehn Zentimeter dicken Titanplatten bestanden. Wie ich schon erwähnte, war die Gruft auch ein Panikraum. Hier gewaltsam einzudringen, hätte ein ganzes Arsenal schwerer Waffen erfordert.

»So, dann wollen wir dich mal aus deiner Büchse lassen.«, mit diesen Worten öffnete ich Simons Urne und streute seine Asche in den großen Steintrog, der schon zu Laurentius Wiedererweckung diente. Nachdem ich auch den letzten Rest mit leichtem Klopfen aus der Blechdose geholt hatte, schnappte ich mir ein paar Beutel absolut frisches Blut, das vor weniger als einer Stunde gespendet worden war, und entleerte sie ebenfalls in den Trog. Asche und Blut begannen sich sofort zu vermischen. Es rauchte, blubberte und gurgelte, als sich die Vampirprotomasse ausbildete. Simon warf Blasen.

»Junge, du sahst auch schon mal besser aus.« Ich konnte mir diesen Witz einfach nicht verkneifen. Das ganze Ritual war aber wirklich etwas schräg, um nicht zu sagen, bizarr. Man musste nur an den nächsten Schritt der Wiedererweckungszeremonie denken, die darin bestand, meinen Schwanz aus meiner Hose zu prökeln und mir gepflegt einen von der Palme zu wedeln. Im Gegensatz zu Laurentius benötigte ich diesmal keine Stimulation von fremder Hand. Mir reichte die Vorstellung, den kleinen Schlingel wieder in meine Arme nehmen zu dürfen. Es brauchte auch nicht lange, da hatte ich nicht nur eine respektable Erektion zustande gebracht, sondern auch die notwendige Ladung vampirischen Proteins in der Protomasse versenkt, die daraufhin sofort reagierte.

Das Blubbern und Gurgeln nahm nochmals deutlich zu, während die bisher zähflüssige Masse stockte, fest wurde und nach und nach an Form gewann. Hier bildeten sich zwei Arme, dort ein Kopf, ein Rumpf und Beine, und das alles sogar am richtigen Platz. Der Glibber trocknete mehr und mehr ein und verwandelte sich in Haut, Nägel und Haare. Simon schlug seine noch trüben Augen auf, erkannte mich aber noch nicht. Das Bewusstsein war das letzte, was in den Körper zurückkehrte und dieser erwachte. Doch zuerst...

»Haaahhhh...« Ein erster kraftvoller Atemzug erschallte aus dem Steintrog. Simons Brustkorb begann sich regelmäßig zu heben und zu senken. Gleichzeitig nahmen seine Augen mehr und mehr an Klarheit zu, wurden glasig und strahlend. Die bisher blasse Haut gewann an Farbe, Hände, Arme und Beine bewegten sich, die Finger vollführten Greifbewegungen. Simons Körper nahm seine Tätigkeit auf. Und dann geschah es. Der leere Blick meines jungen Vampirs gewann an Tiefe. Erkennen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Simon begann zu lächeln.

»Oh, Scheiße...«, krächzte der kleine, »Ich muss was Falsches gegessen haben.«

Immerhin hatte er seinen Humor behalten. Ich reichte Simon meine Hand, die sofort dankbar ergriffen wurde, und half ihm aus dem Trog.

»Willkommen zurück, kleiner!«, begrüßte ich den wiedererweckten Simon.

»Danke für die Begrüßung und für... naja, dass du mich zurückgeholt hast. Shit, was ist eigentlich passiert?«

Wie jeder frisch zurückgeholte, war auch Simon anfangs noch recht wackelig auf den Beinen. Es brauchte immer ein paar Minuten, bis die Folgen der Wiedererweckung abgeklungen waren und der neue Körper so routiniert und tadellos wie der alte arbeitete. Die psychischen Folgen benötigten allerdings weitaus länger, bis sie wirklich verarbeitet waren. Manch einer verarbeitete sie auch nie. Simon war als Vampir als auch als Mensch noch recht jung und sollte sein Trauma halbwegs gut verdauen können. Nichtsdestotrotz war es ein Trauma, das Simon gerade mit voller Wucht bewusst wurde, als sein Gedächtnis begann, wieder seinen Betrieb aufzunehmen.

»Constantin!«, schrie er auf, als ihn die Erinnerung an den Schmerzen, von innen heraus zu verbrennen, einholte. Ich war sofort zur Stelle, nahm meinen jungen Vampir in den Arm, hielt ihn fest und eng umschlungen.

»Es ist gut, Simon!«, beruhigte ich den inzwischen weinenden Mann, »Es ist vorbei. Du hast es überstanden. Du lebst.«

Ich nahm das wimmernde Bündel vorsichtig auf, trug es zu meinem geräumigen Sarg und legte ihn hinein. Er brauchte mich. Es hatte auch nichts mit Sex zu tun, dass ich mich schnell entkleidete und zu Simon begab. Ich deckte uns beide zu und schloss den Deckel. Simon war nicht Laurentius. Er war kein alter Haudegen, kein halber Nosferatu, der mit seinen Emotionen wie mit einem Aktenordner umging, den er nach Belieben aus einem Aktenschrank hervorziehen oder auch wieder wegstecken konnte. In Simon tobte ein Orkan, den er erst einmal überstehen musste. Deswegen war ich für ihn da, indem ich ihn hielt und versuchte, durch meine reine körperliche Anwesenheit ihm etwas zu geben, an das er sich klammern konnte.

Simon klammerte. Er wimmerte, schniefte, zitterte und krampfte. So sehr ich ihm auch helfen wollte, durch diese Sache musste er alleine durch. Und er stand sie durch. Langsam, aber durchaus spürbar, wurde Simon ruhiger. Das Zittern und Beben seines Körpers ließ nach und ebbte schließlich ganz ab. Simon schlief ein, was gut war. Seine Psyche brauchte die Ruhe, um das Erlebte zu verarbeiten.

Sarggeflüster

»Constantin?«

Ich muss während meiner Wache über Simon eingeschlafen sein. Anders konnte ich mir nicht erklären, wie mich eine Stimme wecken konnte.

»Hmmmm...«, gab ich Laut, um dem Kerlchen neben mir zu signalisieren, dass ich ihn verstanden hatte und wach war. Simon reagierte sofort, robbte zu mir heran und kuschelte sich eng an meinen Körper, »Na dir scheint es ja wieder ganz gut zu gehen.«

»Geht so.«, murmelte er, begann mich aber verspielt zu streicheln, was ganz andere Signale aussandte, »Nein, mir geht es ganz gut. Dank dir.«

»Hey, für irgendetwas muss ich doch auch gut sein.«, meinte ich und gab dem jungen Vampir einen Kuss, was dieser mit einem wohligen Gurren quittierte, »Hast du Hunger?«

»Ach nein... es geht.« flunkerte mich Simon an. Der Kerl war einfach zu bescheiden. Das war zwar ausgesprochen süß von ihm, in diesem Fall aber nicht angebracht.

»Si-mon!«, manchmal muss man eben den strengen Stammvater raushängen lassen.

»Ja, mir knurrt der Magen. Es ist nur... Ich finde es nicht richtig, dich mit so was zu belästigen.«

Ok, das reichte. Ich rollte mich auf den verstocken, uneinsichtigen Vampir und drückte ihn kräftig und sehr dominant gegen den Samtstoff meines Sarges. Simon erschrak, als er meine finstere Entschlossenheit sah. Im Sarg war es zwar finster wie in einem Walfischbauch, doch wofür benötigte ein Vampir schon Licht? Wir waren Geschöpfe der Dunkelheit und brachten unserer eigenes Licht mit, was sich durch gelb leuchtende Augen manifestierte.

»Ich sag dir das nur einmal. Du belästigst mich nicht. Ist dir eigentlich überhaupt klar, was du getan hast? Du hast mein Leben gerettet. Du hast den Stammvater der Häuser Varadin und Breskoff vor seiner endgültigen Entkörperung bewahrt. Hätte ich von Bastian getrunken, wäre ich wie du zu Asche verbrannt, nur hätte mich nichts und niemand wiedererwecken können. Simon, ich wurde als Vampir geboren und nicht in einen verwandelt. Du hast unser Haus gerettet. Du dummer, kleiner Schnuckel bist ein Held!«

Da war einer aber platt. Simon blinzelte, guckte mich schief und aus immer größer werdenden Augen an, ließ seinen Unterkiefer herunterklappten und fragte total ungläubig: »Echt?«

»Yapp!«, erwiderte ich knapp und gab ihm erneut ein paar neckische Küsse auf Stirn, Nase und Mund: »Wärst du jetzt bitte so nett und beißt endlich zu. Ich würde mich nämlich noch gerne von dir ficken lassen.«

»Zu Befehl, mein Fürst!«

Nichts bringt die Lebensgeister - oder waren es die Untotengeister? - mehr auf Trab, als guter alter Sex. Nachdem Simon seinen Bluthunger gestillt hatte, beschäftigten wir uns damit, gegenseitig den Hunger nach körperlicher Nähe zu befriedigen. Wer glaubt, eine zeitweise Entkörperung würde die sexuelle Lust eines Vampirs dämpfen, kannte Simon nicht. Den schien die unerfreuliche Erfahrung eher noch hungriger gemacht zu haben. Irgendwo zwischen dem fünften oder sechsten Höhepunkt verloren wir den Überblick. Eins war sicher, nach dieser Aktion war mein Sarg für eine intensive Grundreinigung fällig.

Schweißnass, vor Lust und Glück glühend, schlummerten wir schließlich ein. Unser Zeitgefühl hatten wir gleich am Anfang verloren. Etliche Stunden nach Simons Widererweckung, ich hatte unterbewusst den Sarg ein klein wenig geöffnet, um frische Luft und etwas Licht der Gasfackeln hereinzulassen, wurden wir wieder munter. Simon grinste mich an und ich grinste zurück.

»Weißt du was, Chef?«

»Nö!«

»Florian ist zu beneiden, dich als Partner zu haben.«, schwang da ein wenig Wehmut in der Stimme meines Sarggenossen mit?

»Ich glaube, ich werde einem ganz bestimmten Vampir einen gehörigen Tritt in den Arsch versetzen müssen.«, Simon war ein viel zu lieber Kerl, um allein durch die Welt zu stolpern, »Es wird Zeit, dass Christiano Farbe bekennt.«

Kaum fiel der Name meines Topagenten, flammte in Simons Augen ein leidenschaftliches Feuer auf, das ich bei aller Liebe zu dem knuffigen Kerlchen niemals entfachen konnte, »Christiano liebt dich.«

»Ja, er liebt mich.« seufzte Simon frustriert, »Es wäre allerdings nett, wenn er mir das auch mal zeigte.«

»Ohne zu viel zu verraten, kann ich dir sagen, dass er dich wirklich über alles in der Welt liebt. Allerdings hat er Angst, denn Christiano hatte schon einmal, als Mensch, geliebt und diese Liebe auf die schlimmste vorstellbare Weise verloren. Verstehst du, was ich sagen will? Einerseits hat er Angst, dass, wenn er zulässt, wieder zu lieben, er sie wieder verlieren könnte. Aber die eigentliche Angst betrifft dich. Christiano weiß, dass sein Job gefährlich ist und ihn seine Existenz kosten könnte. Er hat Angst, dass es dir das Herz brechen könnte, ihn zu verlieren, so wie es früher sein Herz brach, seine Liebe zu verlieren.«

»So ein Arschloch! Ich fände es nett, wenn er mir diese Entscheidung überlassen könnte.«, Simon knurrte und zog einen Flunsch, bis er plötzlich stutzte und mich mit argwöhnischen Augen musterte, »Chef, was hast du getan? Wieso kommst du ausgerechnet jetzt mit dem Thema? Es ist ja nicht so, dass wir nicht schon ein halbes Jahrhundert umeinander herumscharwenzelten.«

»Sagen wir, dass Christianos Verbannung auch einen therapeutischen Zweck erfüllt.«

»Oh, mein Gott, Florian! Glaubst du, dieser Mensch knackt Christianos Panzer?«

»Er hat es schon. Ich weiß nicht, wie mein blonder Engel es schafft, aber er hat die Begabung, einen innerhalb von Sekunden in seinen Bann zu schlagen. Vom ersten Moment, den ich Florian sah, wusste ich, dass ich diesen Mann haben wollte, dass wir füreinander bestimmt waren.«

In kurzen, knappen Worten schilderte ich Florians Geschichte und wie er zu uns gefunden hatte. Als ich von Florians erstem und bisher einzigem Tag in unserem Haus berichtete, kam selbstverständlich auch Christianos Reaktion auf unseren Neuzugang zur Sprache. Der sonst durch eine Mauer aus scheinbarer Oberflächlichkeit so unnahbare und unzugängliche Christiano schloss innerhalb weniger Stunden mit Florian Freundschaft - eigentlich unglaublich.

»In all den Jahren seit Christianos Verwandlung habe ich eine ähnliche Reaktion nur ein einziges Mal an ihm beobachtet, nämlich, als er mich bat, dich erwecken zu dürfen, mit dem Unterschied, dass bei dir statt Freundschaft Liebe in seinen Augen zu sehen war.«, ob das Zufall war? Ich wusste es nicht, begann aber, je mehr ich darüber nachdachte, zu zweifeln. An Florian war weit mehr dran. Doch was es war, konnte nur die Zeit sagen.

»Und du glaubst, dass Florian seinen Panzer knackt?«

»Ich hoffe es. Und wenn nicht, könntest du ihm natürlich immer noch so lange den Verstand aus dem Schädel ficken, bis ihm keine andere Wahl bleibt, als zuzugeben, dass er dich liebt.«

»Was für ein verlockender Gedanke.«, Simon grinste verträumt, aber vor allem erstmals, seit ich ihn kannte, hoffnungsvoll, »Und wie geht es jetzt weiter?«

»Jetzt? Nun, wir werden wohl gleich duschen, uns anziehen und unseren jeweiligen Verpflichtungen nachkommen. Zumindest was den offiziellen Teil betrifft.«, ich zog Simon ganz dicht zu mir heran und raunte ihm kaum hörbar zu: »Ich benötige deine Hilfe. Ich muss Christiano treffen. Was niemand außer uns wissen darf. Du bist sein Geschöpf, sein Freund und der Mann, den er liebt. Ich bin mir sicher, dass du weißt, wie man ihn erreichen kann.«

»Vielleicht...«, Simon dachte kurz nach, »Welchen Wochentag haben wir heute und welchen Tag?«

»Donnerstag, der 9.«

»Das ist perfekt. Wenn es eine Chance gibt, dann morgen. Christiano hat mir für den Fall, dass er undercover arbeiten sollte und ich ihn erreichen muss, eine Kontaktadresse gegeben. Es ist ein Vampirclub in einem stillgelegten Umspannwerk, den er auf jeden Fall am zweiten Freitag eines jeden Monats aufsuchen wollte, wenn nicht sogar öfter. Morgen ist der zweite Freitag des Monats.«

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