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Nachtschatten

Teil 10 - Die Ruhe vor dem Sturm

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Tagebuch

Constantin

Das Schöne an meiner Situation war: Ich hatte viel Zeit. Das Schlimme an meiner Situation war: Ich hatte viel Zeit.

Was treibt man schon in einem Labor der höchsten Sicherheitsstufe, wenn man das Pech hat, das Versuchsobjekt zu sein? Nichts, rein gar nichts. Die Mitglieder meines Hauses hatten wichtigeres zu tun, als sich mit mir zu beschäftigen und sich dabei vielleicht noch in Gefahr zu bringen. Wer mich besuchen wollte, musste sich in einen unförmigen Schutzanzug zwängen, der ihn oder sie zu einhundert Prozent vor dem Kontakt mit mir, dem Labor und selbst der Raumluft isolierte. Diese Anzüge wurden über Schläuche mit Druckluft versorgt und befanden sich unter konstantem Überdruck, sodass bei einem Riss der Hülle nichts in den Anzug eindringen konnte. Zumindest theoretisch. Praktisch hieß es, dass ein Träger eines solchen Anzugs wie ein Ballon aussah und nur sehr unbeholfen umherwatscheln konnte, ein zweifelhaftes Vergnügen, welchem sie sich nur dann unterzogen, wenn es wirklich nötig war. Es gehört keine große Weisheit dazu, zu ahnen, was dies für mich bedeutete: Ich war die meiste Zeit allein und hatte viel, sehr viel Zeit, die Ausweglosigkeit meiner Lage zu genießen.

Ausweglosigkeit? Was denn sonst? Dank Frantz perverser Erfindung einer hämophagischen Weltuntergangsmaschine und meiner Tollpatschigkeit war ich zum Todesengel aller Vampire geworden. Mein Körper war angefüllt mit winzigen sich reproduzierenden Giftkügelchen, Nanopartikeln, die auf dem Konzept der Fullerene basierten. Die genauen Details überstiegen mein chemisches Wissen. Es reichte mir, zu wissen, dass ich mit niemandem Kontakt haben durfte, wollte ich ihn nicht töten. Bruno, ein Vampir aus Ricardos Wissenschafterteam, hatte die Leitung der Forschung nach einem Gegenmittel übernommen. Ricardo selbst, der Chefwissenschafter unseres Hauses, fiel leider aus, da er als Aschehaufen in einem Plastikbeutel als indisponiert betrachtet werden musste.

Zwei Tage waren seit dem Vorfall vergangen. Bruno arbeitete auf Hochtouren und war auch ein gutes Stück vorangekommen, den von Frantz entwickelten Nanokampfstoff zu entschlüsseln, was seine Zuversicht aber eher dämpfte, als beflügelte. Die Vampirpest, wie Bruno ihn nannte, war ein diabolisches Meisterwerk. In gewisser Weise hatte Frantz einen künstlichen Virus erschaffen. So besaß auch die Vampirpest eine Virushülle, die aber nicht, wie bei seinem biologischen Vorbild, aus Protein, sondern aus Kohlenstoff bestand, der Kugelhülle des Fullerens. Das Technikgebrabbel reichte, um mir gehörige Angst einzujagen, insbesondere, als Bruno meinte, dass ich den Virus ausatmen würde. Um mit ihm infiziert zu werden, reichte es aus, die gleiche Luft mit mir zu atmen. Bruno verstand es wirklich, einen aufzumuntern.

Was mein Forscher nicht wusste, nicht wissen sollte und ich für mich behielt, waren die möglichen Konsequenzen, die meine Verseuchung nach sich ziehen konnten. Eigentlich galt es nur, eine ganz einfache Frage zu beantworten: Wie sollte mit etwas verfahren werden, dass das Potenzial besaß, alle Vampire auszulöschen? Wog das Leben einer einzigen Person genauso viel wie das von tausenden?

Simon bejahte diese Frage. Er war einer der wenigen Personen, die ich mit ins Vertrauen zog. Mein junger Freund wurde richtig leidenschaftlich und hielt ein flammendes Plädoyer für die Menschenwürde. Niemand habe das Recht, eine Existenz, von Leben bei einem Untoten wollte er nicht sprechen, über die eines anderen zu stellen. Der Wert jeder einzelnen Existenz sei unendlich. Es gäbe keine Vergleichbarkeit in der Unendlichkeit. Einer Existenz einen bezifferbaren Wert zuzumessen, wäre der beste Weg, um seine eigene Menschlichkeit zu verlieren.

Ich konnte nicht anders, als scherzhaft anzumerken, dass ich kein Mensch sei. Simon fand das gar nicht witzig und schnauzte mich an, dass es darauf nicht ankomme. Ich solle nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Mensch, Vampir oder Nosferatu, alles seien vernunftbegabte, empfindende Wesen. Das sei entscheidend. Er hatte recht. Ich sah es wie er, musste aber darauf hinweisen, dass es die Stammväter der anderen Häuser vermutlich nicht so sahen. Männer, wie van Sanden, waren nicht unbedingt für ihre ausgeprägte Humanität und ethischen Einsichten bekannt.

»Dann ist er ein Idiot!«, knurrte Simon.

»Sicherlich nicht.«, korrigierte ich meinen Freund sanft, »Die meisten Fürsten der anderen Häuser entstammen anderen Traditionen, anderen Kulturen und moralischen Grundwerten. Simon, du bist ein Wesen des zwanzigsten Jahrhunderts. Du bist mit den Schrecken des Nationalsozialismus und des zweiten Weltkriegs aufgewachsen. Sie haben dich geprägt. Van Sanden oder selbst so opportunistische Langweiler wie Fürst Kasimir zu Bronkovic haben jahrhundertelang die Menschheit beobachtet, ihr Straucheln und Streben betrachtet und mit der Zeit das Interesse an ihr verloren, soweit es über ihre Eigenschaft Nahrungsquelle zu sein, hinaus geht. Für sie sind Begriffe wie Grundrechte oder Menschenwürde bedeutungslos.«

Dabei konnte ich noch nicht einmal sagen, dass ich ihre Haltung nicht verstand. Ich teilte sie nicht, aber ich verstand, warum meine Stammvaterkollegen dachten und handelten, wie sie dachten und handelten, auch wenn dies für mich sehr wahrscheinlich unerfreulich endete.

»Ich habe Teile von Frantz Notebookfestplatte wiederherstellen können.«

Während der Krise im Stammhaus der Varadins kannte Simon weder Schlaf noch Entspannung. Tag und Nacht beschäftigte er sich damit, die Haustechnik wieder unter unsere Kontrolle zu bringen. Leider kannte er das System nicht so gut, wie derjenige, der es gegen uns eingesetzt hatte – der verstorbene Frantz Freiherr zu Varadin.

Einen kleinen Erfolg hatte Simon immerhin erzielt. Die Türen innerhalb des Hauses arbeiteten wieder, sodass die in ihren Quartieren eingesperrten Vampire der Wache ihre Posten wieder einnehmen konnten. Die Schleusen wurden hingegen von einem anderen Softwaremodul gesteuert, das sich weiterhin allen Zugriffen hartnäckig widersetzte. Frustriert darüber, nicht richtig weiter zu kommen, wandte sich Simon Frantz Notebook zu. Das Gerät hatte die Explosion nicht überlebt und war Schrott, aber vielleicht, so hoffte mein Profihacker, ließen sich noch ein paar Daten von der Festplatte kratzen. Nach ausgiebiger Dekontaminierung der Rechenkiste landete der Datenträger auf Simons Schreibtisch, der sich sofort an die Arbeit machte. Vielleicht, so hoffte er, fand sich ein Hinweis auf ein Gegenmittel gegen die Vampirpest.

»Du solltest dir das ansehen.«, meinte Simon ernst, soweit dies auf meinem Bildschirm erkennbar war. Seine Webcam lieferte nicht unbedingt die schärfsten Bilder. Um jedes unnötige Risiko zu vermeiden, kommunizierte ich mit Simon nur per Computer, statt ihn der Gefahr einer Infektion auszusetzen. Nur wenn es wirklich nötig war, erlaubte ich Besuche bei mir im S4-Labor.

»Wir haben Glück, dass Frantz zwar eine Menge von Blut, aber wenig von Computern verstand. Er hatte seine Dateien gelöscht. Was die meisten Anwender nicht wissen ist, dass der Löschbefehl nicht wirklich löscht, sondern nur den Dateieintrag aus dem Verzeichnis entfernt. Mit einem Hilfsprogramm lässt sich, sofern keine neuen Daten dazu gekommen sind, das Gelöschte wieder herstellen. Hauptproblem von Frantz Festplatte, war dann auch mehr ihr angeknusperter Zustand. Es wird noch eine Weile dauern, alles von der Platte zu kratzen, aber was ich bisher gefunden habe, dürfte dich interessieren.«

Ich bedankte mich bei Simon und lud mir die geretteten Dateien auf mein Notebook herunter. Was Simon gefunden hatte, war eine ganze Ordnerstruktur. Bei den Namen der obersten Ebene handelte es sich um Jahrgänge, 1987, 1988, 1989 und so weiter. Darunter folgten Ordner mit Monaten in denen sich einzelne Textdokumente befanden, die offensichtlich den Tagen gefolgt von einer fortlaufenden Nummer entsprachen, etwa 10-1, 10-2, 10-3 und so weiter. Ich wollte es kaum glauben. Die Dateien enthielten nicht weniger als Frantz Tagebuch.

Zögernd öffnete ich die erste Datei. Mir schien es am geschicktesten zu sein, sich in umgekehrter chronologischer Reihenfolge durch die Aufzeichnungen zu arbeiten. Wo hätte ich auch sonst anfangen sollen. Um eine bestimmte Datei herauszusuchen, fehlten mir die Anhaltspunkte.

Problem der strukturellen Instabilität gelöst. Versuchslinien 7 bis 12 zeigen sich vielversprechend. Im nächsten Schritt... Nun ja, es war absurd anzunehmen, mit der ersten Datei gleich einen Treffer zu landen. Vielleicht lag mein Heil im Zufall. Ich öffnete auf gut Glück eine beliebige Datei, 8. August 2003.

Er hat mich wieder kontaktiert, dabei hatte er versprochen, dass er es nie wieder tun würde, dass ich endlich frei sei. Es war eine Lüge. Wie immer.

Treffer. Mir kam ein Gedanke. Eigentlich war er völlig absurd, aber war nicht auch der Gedanke, dass ein Mann, dem man Jahrzehnte blind vertraute, sich als Erfinder einer Weltuntergangsmaschine herausstellt, absurd? Wann war nochmal gleich der Rohrbruch in unserer anderen Residenz, durch den ich Florian kennenlernte? Ich wechselte das Verzeichnis und versuchte es mit der Datei, dessen Name dem des Datums des Vorfalls entsprach. Schon der Inhalt der ersten Datei verschlug mir die Sprache.

Habe, wie gewünscht, das Zusammentreffen mit den Mitarbeitern der Firma Niederreuter eingefädelt, auch wenn mir nicht klar ist, worauf das hinauslaufen soll. Der Eintrag war mit einer Uhrzeit vor dem Eintreffen von Momsen und Florian datiert. Es gab aber noch einen zweiten. Oh, mein Gott. Constantin sind fast die Augen rausgeflogen, als er den jungen Burschen von einem Handwerker sah. Als er dann auch noch erleben musste, wie dessen Meister ihn behandelte, war es endgültig um den Boss geschehen. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er diesen Momsen auf der Stelle erlegt hätte.

Komisch, auf die Idee, Momsen zu beißen und bis auf den letzten Tropfen auszulutschen, war ich nie gekommen. Der Typ war mir zuwider und ihn zu beißen ein einfach nur ekelhafter Gedanke. Aber Frantz hatte schon recht. Ein Biss hätte das Problem final lösen können.

Der Tagebucheintrag bestätigte eine Vermutung, die ich seit einiger Zeit hegte: Frantz war für den Wasserschaden verantwortlich, in dessen Folge die Wandtäfelung beschädigt wurde, auf dass wir die Dienste eines Tischlerei- und Restaurationsbetriebs in Anspruch nehmen mussten. Richtig, ich erinnerte mich. Es war niemand anderes als Frantz, der sich um die Beseitigung des Schadens kümmern wollte. Faszinierend, mein unbekannter Gegner war wirklich ein brillanter Stratege. Kein normal denkendes Wesen hätte jemals einen Zusammenhang zwischen einem profanen Rohrbruch einer Heißwasserleitung und der ersten Begegnung mit Florian vermutet. Wie auch? Der Trick lag schließlich darin, auf zwei voneinander unabhängige Stellen gleichzeitig Einfluss zu nehmen. Auf der einen Seite bei Frantz, der für den Schaden und die Auswahl des Reparaturbetriebs sorgte und auf der anderen Seite Momsen, der seinerseits sicherstellte, dass ihm Florian als Gehilfe zugeteilt wurde. Letzteres war natürlich nur eine Vermutung, aber eine sehr naheliegende.

Constantin scheint vollkommen diesem blonden Bengel verfallen zu sein. Er vernachlässigt seine Aufgaben als Stammvater, was Ihn zu freuen scheint. Auf jeden Fall will Er über Constantins Pläne bezüglich dieses Florians informiert werden.

»Er« und »Ihn«, das musste Frantz Erpresser sein. Offenbar wollte er über die Fortschritte seines Plans informiert werden. Könnte das bedeuten, dass... Schnell überflog ich die nächsten Tagebucheinträge. Bingo! Frantz Beobachtungen meines Gemütszustands deckten sich genau mit der Intensität, mit der Flo gemobbt wurde.

Was hat Er vor? Ich wage nicht, das Thema anzuschneiden. Er mag es nicht, wenn man Fragen stellt. Trotzdem interessiert es mich, warum Er will, dass Constantin diesem jungen Mann verfällt. Immerhin scheint sich unser Boss wieder eingefangen zu haben. Er folgt Florian zwar immer noch, vernachlässigt aber nicht mehr seine Pflichten als Stammvater. Wahrscheinlich hat ihm Laurentius den Kopf gewaschen.

Und ob er das hatte, wofür ich dem alten Haudegen unendlich dankbar war.

Florians Mobbing scheint exzessiv auszuarten. Constantin spricht natürlich nicht darüber, aber seine Körpersprache sagt alles. Ich weiß nicht wieso, schließlich ist er nur ein Mensch, aber dieser Florian tut mir leid.

Wie gnädig von Frantz. Nur ein Mensch? Der Mann war ja ein kleiner Rassist. Dabei hatte ich gehofft, meinen Leuten ein anderes Bild vorgelebt zu haben.

Es ist passiert! Florian hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Natürlich war Constantin sofort zur Stelle und hat ihn gerettet. Der Junge ist jetzt ein Mitglied unseres Hauses. War dies der eigentliche Zweck der ganzen Aktion? Er zeigte sich jedenfalls ausgesprochen zufrieden, als ich Ihm die Nachricht überbrachte. Er zeigte sich sogar großzügig und meinte, ich könne mich eine Weile entspannen. Die nächste Zeit müsste ich nicht mit Sonderaufträgen rechnen.

Was waren Sonderaufträge?

Katastrophe! Jemand hat versucht, Constantin zu töten. Nach allem, was ich in Erfahrung bringen konnte, haben sie versucht, seinen Wagen in die Luft zu jagen. Er hat überlebt. Wie werde ich noch versuchen in Erfahrung zu bringen, aber Laurentius und Christiano halten dicht. Der eine zeigt sich noch zugeknöpfter als sonst. Der andere tut so, als wenn er überhaupt nicht beteiligt gewesen wäre. Dabei war er im Haus. Was mich aber am meisten beunruhigt: Florian ist verschwunden! Ich wagte kaum, es Ihm zu berichten. Er rastete aus und gab die Anweisung, unter allen Umständen in Erfahrung zu bringen, wo sich Florian befand. Ich glaube, ich kenne Ihn besser als er glaubt oder vermutet. Natürlich regte Er sich über das Verschwinden des Bengels auf. Was Ihm aber einen gehörigen Schrecken einjagte, war die Nachricht vom Attentat auf Constantin. Er versuchte es zu verbergen, aber es verunsicherte Ihn. Seine Pläne, was dies für welche auch immer sein mochten, laufen offenbar doch nicht so glatt, wie Er mich immer glauben machen will.

Die Ersten

Florian

Dunkelheit

Absolute Dunkelheit

Stille

Totale Stille

»Was ist hinter der Tür?«

»Nur das, was du mitbringst.«

Absolute Dunkelheit und totale Stille? Mehr nicht?

Oder doch? Oder doch?

Ich hatte die Tür geöffnet und war eingetreten. Nicolas blieb zurück. Der Schein der Karbidlampen erhellte die ersten Meter eines schmucklosen Steinbodens. Mit jedem Schritt verließ mich das Licht und ich trat in die Dunkelheit. Ich sah mich um, die Tür war ein helles Portal, in dessen Zentrum Nicolas stand, mir zuwinkte und langsam den Eingang schloss, auf dass mich die Dunkelheit vollends einhüllte und verschlang.

Hatte ich Angst?

Ich wusste es nicht. Das Fehlen jeglicher Sinneseindrücke war im ersten Moment unheimlich, aber verspürte ich deswegen Angst? Eigentlich nicht. Viel mehr bewegte mich eine andere Frage: War dieser Ort gefährlich? Nicolas hatte sich darüber nicht ausgelassen und wenn, hätte er wahrscheinlich einen dieser alles und nichtssagenden Nosferatumantras von sich gegeben. Oder hatte er das vielleicht sogar schon, als er meine Frage beantwortete, was ich in diesem Raum vorfände?

»Nur das, was du mitbringst.«

War es das? War es so einfach? Was ist gefährlicher, als die eigene Psyche? Etwa Schlangengruben? Abgründe mit langen Metallspitzen am Ende? Rasiermesserscharfe Pendel? Feuerbälle, die bei einem falschen Tritt ausgelöst werden? Falltüren mit wassergefüllten Verliesen? Kein Klischee einer noch so raffinierten Falle, wie sie gemeinhin in den von Abenteurern heimgesuchten unterirdischen Höllen auftraten, konnte es mit den Abgründen des eigenen Verstandes aufnehmen. Es benötigt keinen gehärteten, kalten Stahl, keiner diabolische Falle, um einen tapferen Mann in Panik und Verzweiflung zu stürzen. Es reicht, ihn mit sich und seinen Ängsten zu konfrontieren. Genau dies tat dieser Raum. In ihm wurden unsere Ängste real, er zeigte jedem seine persönliche Hölle. Die, die wir uns selbst wählen.

Aber was zeigt dieser Raum mir? Dunkelheit, Stille, Einsamkeit - Einsamkeit!

Einsamkeit war meine Hölle.

Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Mit Schmerz, Verletzung, Misshandlung konnte mich niemand mehr beeindrucken. Nicht nach Jahren voller Demütigungen, des Mobbings, verbaler und physischer Angriffe und Verletzungen. Aber die Drohung der Einsamkeit traf einen Nerv. Ich sehnte mich nach Nähe, körperlicher wie seelischer Berührung. Allein zu sein, war...

Nein! Nein! »Nein!«

Unterbewusstsein, Bewusstsein und Verstand brüllten Nein. Tränen schossen mir in die Augen, Verzweiflung griff mit eiskalter Hand nach meinem Herz. Weinend, wimmernd, schluchzend sackte ich an Ort und Stelle zusammen, fiel auf den kalten, harten, konturlosen Steinboden. Die Stille, die Dunkelheit, die geruchsfreie Luft fiel auf mich nieder, wollte mich erdrücken. Mich, das einsamste Wesen des ganzen Universums.

Nein! Nein?

»Nur das, was du mitbringst.«

Die Hölle der Einsamkeit? Wie lange hockte ich zusammengekauert, ein Häufchen zitterndes Elend, auf dem Boden des finsteren Nichts? Einem Nichts, in dem Zeit seine Bedeutung verlor und jeder Moment zur Unendlichkeit wurde.

»Nur das, was du mitbringst.«

Nur das, was ich mitbringe?

War ich wirklich allein? Vor ein paar Wochen hätte ich diese Frage ohne zu zögern mit Ja beantwortet. Aber jetzt? Die nächste Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Wobei mir diese deutlich besser gefiel. Constantin, Christiano, Tommi, Simon und sogar Nicolas mochten mich. Jeder war mir mit offener Zuneigung und Freundschaft, manche sogar mit Liebe begegnet, die weder eine Gegenleistung erwartete, geschweige denn einforderte. Christiano hätte alles für mich getan. Nicht, weil es von ihm erwartet wurde, nicht, weil er sich dafür Pluspunkte bei Constantin versprach, sondern einfach weil ich sein Freund war. Und Constantin? Er liebte mich mit einer Tiefe und Bedingungslosigkeit, die ich körperlich spüren konnte. Wie konnte ich da noch einsam sein? Himmel, was war ich für ein Idiot, dass es dieser Hölle der Finsternis bedurfte, um die einfachste Sache der Welt zu begreifen? Ich wusste jetzt, woran ich glaubte.

Kaum hatte sich die Erkenntnis in meinem Bewusstsein ausgebreitet, veränderte sich das Wesen des dunklen Raums. Die Dunkelheit gewann an Wärme und verströmte Geborgenheit. Obwohl ich nach wie vor absolut nichts sah und keinerlei Geräusche an meine Ohren drangen, was bei jedem normal empfindenden Wesen Panik und Fluchtreflexe ausgelöst hätte, fühlte ich mich sicher und geborgen. Ohne zu wissen wohin, setzte ich einen Fuß vor den anderen und ging los.

Nicht einmal der Boden knirschte. Es gab nichts, keinen Anhaltspunkt, woran ich mich hätte orientieren können, soweit es die normalen Sinne betraf. Aber gerade durch die Abwesenheit aller Sinnesreize schien sich meine Empfindlichkeit für außersinnliche Wahrnehmungen zu entfalten. Das heißt, dass ich nicht instinktiv wusste, wohin ich gehen musste, sondern den Weg auf eine Weise wahrnehmen konnte, die jenseits von sehen, riechen, hören oder fühlen lag.

Die Länge des Weges war bedeutungslos. Auch hätte ich nicht sagen können, wie viele Schritte ich zurückgelegt hatte und in welche Richtung. Trotzdem wusste ich, wann ich mein Ziel erreicht hatte. Ich stoppte, hielt inne und schaute mich um.

Es begann am Rande meines Sichtfeldes: Ein Schimmern in der Ferne, auf das ich einem Impuls folgend zurennen wollte. Doch dann entdeckte ich, dass es mich umgab, den gesamten Horizont einnahm. Es war ein fahles, geisterhaftes Licht, das keine Quelle zu haben schien. Am besten ließ es sich noch mit einem Dunst oder Nebel vergleichen, der aus sich heraus phosphoreszierte, nur dass kein Dunst oder Nebel vorhanden war.

Während ich mir noch Gedanken über die Natur der Leuchterscheinung machte, nutzte diese die Zeit, um intensiver zu werden und die Dunkelheit um mich herum ein wenig zu lichten. Mein Aufenthaltsort gewann tatsächlich an Konturen. Im ersten Moment glaubte ich, eine weitere Leuchterscheinung zu beobachten, bis es meinen Augen gelang, sich auf einen Punkt zu fokussieren. Was da neues schimmerte, waren in Wirklichkeit Reflexionen eines sehr glatten, dunklen Gesteins. Was war das?

Der Stein, bei dem ich zwischenzeitlich vermutete, dass es sich um bearbeiteten schwarzen Marmor handelte, schien eigentümlichen Wellenlinien zu folgen, die einerseits kurz über dem Boden endeten, sich andererseits aber in der Höhe verschlankten und ineinander übergingen. Wellenlinien? Warum bannt jemand die Form von Wellen in Marmor, den Stoff der Säulen, Friesen, Kapitellen und... Skulpturen.

Den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen war dumm, aber in Anbetracht der trüben Lichtverhältnisse wahrscheinlich verzeihlich. Was ich für Wellen hielt, waren Wellen, nämlich die eines Gewands. Dass sie kurz über dem Boden abbrachen, war völlig plausibel. Die Marmorkante bildete den Saum einer steinernen Kleidung. Meine Annahme bestätigte sich vollends, als ich der Kante mit meinen Augen folgend das Abbild eines Fußes entdeckte. Langsam wanderte mein Blick die Statue empor.

Oh, Scheiße!

Was ich für eine Statue hielt, war weitaus mehr. Das Schimmern hatte sich zu einem zwar immer noch fahlen, aber ausreichend hellen Leuchten verstärkt, sodass ich das gesamte Ausmaß des Ortes erkennen konnte. Ich stand im Zentrum einer Höhlenkathedrale. Die von mir zuerst entdeckten Gewand- und Fußplastiken waren Teil einer gigantischen Säule im Form eines Mannes. Bei den herrschenden Lichtverhältnissen war es schwer, Entfernungen und Größenverhältnisse richtig abzuschätzen, aber nach der Größe des Fußes zu schließen schätzte ich die Höhe des Mannes auf etwa fünfzehn Meter. Er hatte seine Arme ausgebreitet. Seine Hände griffen oder besser hielten etwas - Hände! Ich wirbelte herum. Es waren vier Säulen, vier Männer, die sich an den Händen hielten. Wer immer diese Skulpturen erschaffen hatte, war ein Genie, ein Meister der Perspektive. Obwohl der Marmor der Säulen einen Bogen zur Deckenmitte beschreiben musste, da er der gewölbten Decke folgte, sah es aus, als wenn die vier Männer aufrecht und gerade standen. Sie sahen sich gegenseitig an und hielten ihre Hände.

Wer waren sie? Die Säulenmänner waren nicht gleich. Jeder trug ein eigenes, individuelles Gewand, die Füße und Arme zeigten unterschiedliche Features. Aber was mich am meisten beeindruckte, waren ihre Gesichter. Sie besaßen keine, das heißt, dort, wo ihre Gesichter sein sollten, bestanden die Säulen nur aus schwarzem Marmor, der sich darauf beschränkte, die elementaren Züge eines Gesichts anzudeuten. Trotzdem konnte ich richtige Gesichter sehen. Der fahle Schimmer hatte sich über alle vier Säulen ausgebreitet und war bis zu ihren Köpfen emporgewandert. Dort angekommen geriet er in Wallung. Ein glimmender, schimmernder Dunst hüllte die Kopfprototypen der Säulen ein und überlagerte sie. Das Gewabere nahm Form an, verlor seine Transparenz und plötzlich verfügte jeder Säulenmann über unverwechselbare Gesichtszüge. Eine individuelle Haarpracht umspielte ihr Antlitz.

»Shit!«

Der zweite Fluch schaffte es tatsächlich, von mir ausgesprochen zu werden. In Anbetracht der Situation war dies eine für den Ort vielleicht unangemessene, aber verständliche Reaktion, glaubte ich doch, in einen Spiegel zu schauen. Einer der Säulenmänner war mir auf den ersten Blick wie aus dem Gesicht geschnitten. Auf den zweiten Blick reduzierte es sich auf eine frappierende Ähnlichkeit. Er trug die gleichen langen, gelockten Haare, wie ich. Seine Gesichtszüge ähnelten mir so sehr, dass es für mich außerhalb jedes Zweifels stand, dem Abbild eines Verwandten gegenüberzustehen. Das allein hätte meinen Ausruf bereits gerechtfertigt, doch da war noch mehr. Der Säulenmann links neben meinem Ahnen glich Constantin sogar noch deutlicher, wie ich meinem. Sogar der Dritte kam mir bekannt vor, wobei ich mich aber nicht erinnern konnte, wo ich sein oder das Gesicht seines Nachfahren schon einmal gesehen hatte. Ich wusste nur, dass ich ihn gesehen hatte, und zwar vor Kurzem. Nur der vierte Säulenmann war mir gänzlich unbekannt.

Oh, nein!

Sie sprachen zu mir. Nicht mit Worten, aber ich konnte die Gedanken der vier Männer in mir hören, fühlen, verstehen. Sie waren Freunde, Verbündete, Brüder im Geiste. Sie waren die Ersten, Stammväter unserer Art. Bilder, Gefühle, Gerüche, Geräusche, sogar Geschmäcker erfüllten meinen Geist. Ich sah Orte, ferne Länder, untergegangene Kulturen. Ich hörte Stimmen, fremde Sprachen, Gelächter, aber auch Wehklagen. Dieser Ort, die Halle der Ersten, beschenkte mich mit einem kostbaren Schatz, mit Erinnerungen. Denn das war er. Ein Ort der Erinnerungen. Hier hausten keine Geister, die mir etwas zuflüstern wollten. Es waren nur Gedanken, Gefühle, Eindrücke, die eingeprägt in den Stein Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende überdauerten, auf dass jemand käme, der willig und bereit war, zuzuhören. Vielleicht war es aber auch ein klein wenig mehr.

Ich war beides und so hockte ich mich in die Mitte der Steinkathedrale, schloss meine Augen und lauschte.


Nicolas wirkte besorgt. Auf jeden Fall sah er ausgesprochen erleichtert aus, mich gesund und munter wiederzusehen.

»Was?«, fragte ich.

»Ach nichts. Ich habe mir Sorgen gemacht. Du warst recht lange fort.«, entgegnete mein Führer durch die Welt der Nosferatu hör- und sichtbar nervös.

»Lange? Wieso? Ähm, wie lange war ich denn drin?«, ich gebe zu, ein wenig das Zeitgefühl verloren zu haben, während ich den Erinnerungen der vier Säulenmännern lauschte.

»Vier, fast fünf Stunden.«

»Oh, es war nur, dass...«

Weiter kam ich nicht, denn Nicolas legte mir seinen Finger vor den Mund.

»Was du in der Halle der Ersten erlebt hast, ist nur für dich bestimmt.« flüsterte er mir ins Ohr.

»Das haben sie auch gesagt.«, entgegnete ich vorsichtig und erlangte damit Nicolas ungeteilte Aufmerksamkeit.

»Sie?«, rief Nicolas und blieb wie angewurzelt stehen.

»Die vier Säulenmänner, wer sonst?«

»Du hast sie wirklich gesehen? Sie haben sich dir tatsächlich gezeigt?«, stammelte mein Gesprächspartner entgeistert.

»Ähm, du meinst die vier Säulenmänner? Ja, wieso, war das nicht deine Absicht, als du mich zu ihnen schicktest?«

War es nicht. Geplant hatte Nicolas nur den ersten Teil. Die Halle der Ersten, wie die Steinkathedrale tatsächlich hieß, erfüllte seit Jahrhunderten einzig den Zweck, zweifelnden Brüdern ihre Ängste bewusst zu machen. Im Normalfall begab sich ein Suchender in die Halle und setzte sich dort mit dem auseinander, was ihn und gelegentlich auch sie blockierte, daran hinderte, loszulassen. Es war der gleiche Grund, warum mich Nicolas hineingeschickt hatte. Dass sich dabei die Säulenmänner zeigten, kam extrem selten, eigentlich nie vor. Das letzte Mal, dass dies passierte, lag mehr als fünfhundert Jahre zurück. Allerdings war Nicolas nicht bekannt, wem damals die Säulenmänner erschienen.

Natürlich waren sie rein physisch immer vorhanden. Wer wollte, konnte eine Fackel oder eine Laterne nehmen und die Marmorstatuen der Ersten betrachten. Doch dass jemand so wie ich gerufen wurde, kam eigentlich nicht vor. Umso überraschter zeigte sich Nicolas davon, dass die Säulenkerle sich ausgerechnet mir zeigten. Ich konnte es ihm nicht verdenken, war ich doch mindestens genauso überrascht wie er. Allerdings gab es da noch etwas, was Nicolas möglicherweise vollends die Fassung verlieren ließ.

»Die Ersten baten mich, dir eine Nachricht zu überbringen: Was sucht der Suchende?«

Besprechung

»Dann haben wir es also bei unseren Gegnern mit zwei verschiedenen Häusern zu tun?«

»Wer sagt, dass es sich bei den Attentätern auf Constantin um Mitglieder eines Hauses handelt? Es könnten genauso gut Vampirjäger sein.«

Seit zwei Stunden waren wir dabei, über die sich aus Frantz Tagebuch ergebenen Implikationen zu diskutieren. Laurentius, der in Anbetracht der Lage aus Prag zurückgekehrt war und dabei gleich Timon, die Marschallin des Hauses Breskoff mitgebracht hatte, Michael, meinen Sekundanten beim Tribunal, Lady Lydia und Simon bildeten zusammen mit mir den Kriegsrat. Frantz elektronisches Tagebuch enthielt genug Munition, um eine Krisensitzung zu rechtfertigen. Während ich in meinem Hochsicherheitslabor festsaß, hatten sich die anderen Mitglieder in einen der abhörsicheren Besprechungsräume zurückgezogen, den Simon mit einem verschlüsselten Videokonferenzsystem mit meinem Labor verbunden hatte.

»Es ist nur eine Vermutung, aber ich glaube, dass das Attentat auf van Sandens Konto geht. Es passt zu ihm. Der Baron ist sehr gradlinig. Es war ein Präventivschlag. Jeder wusste, dass Onkel Vladimir vergiftet wurde und sein Tod unmittelbar bevorstand. Die Thronfolgeregelung ist allgemein bekannt. Der Baron sah eine Gelegenheit und nutzte sie.«

Ich hatte lange über das Attentat nachgedacht. Es zählte genau zu den Aktionen, mit denen ein potenzieller Thronanwärter rechnen musste. Van Sanden und ich pflegten eine ebenso klassische wie konventionelle Gegnerschaft. Sie wurde von uns erwartet. Als inoffizieller Sprecher der Dracul hätte der Baron sogar sein Gesicht verloren, hätte er nicht wenigstens versucht, mich zu erlegen. Er musste eine Duftmarke setzen.

»Ich stimme dir zu, Constantin.«, pflichtete mir Lydia dankenswerterweise bei, um dann aber prompt den Finger in die Wunde zu legen: »Aber wenn nicht van Sanden hinter Frantz und diesem Florian steckt, wer dann?«

Über die drei Monitore, die Simon für mich aufgestellt hatte, konnte ich alle Anwesenden gut erkennen, was ihre Ratlosigkeit mit einschloss. Es war dann Laurentius, der das allgemeine Schweigen brach.

»Haltet mich bitte nicht für verrückt. Eigentlich ist der Gedanke vollkommen absurd, aber die ganze Aktion erinnert in seiner Präzision und seiner kühlen, überlegten Vorgehensweise an die Nosferatu.«

Die Reaktion auf Laurentius laut geäußerte Überlegung war vorhersagbar ablehnend. Ein Nosferatu? Unmöglich! Die Nosferatu waren über jeden Zweifel erhaben. Sie waren die Verkörperung von Güte und Friedfertigkeit. Ihre Neutralität war durch nichts zu erschüttern. Sie waren überparteilich und absolut unbestechlich. Genau diese Argumente musste sich Laurentius anhören, bis er schließlich mit seinen Händen abwiegelte, was bei seiner steifen, ungelenken Art eigentümlich komisch wirkte.

»Ich sagte ja, dass die Idee verrückt ist.«

»Vielleicht nicht.«, hörte ich Simon sagen, der sich bisher in der Diskussion zurückgehalten hatte, »Nehmen wir für einen Moment an, Laurentius hat recht. Welchen Grund könnte es für einen Nosferatu geben, seine Friedfertigkeit oder seine Neutralität aufzugeben? Lady Lydia, Ihr kennt den Club in der alten Transformatorenhalle?«

Simons Frage klang wie eine Feststellung, weswegen die Angesprochene stirnrunzelnd nickte. Ihr schien nicht zu gefallen, dass ein Jungspund wie mein kleiner Wachsoldat sich in die Gespräche der Großen und Weisen des Stammes einmischte. Ich musste grinsen. Genau das, was Lydia störte, war das, was ich mir von Simon erhoffte: Unkonventionelles Denken jenseits der üblichen ausgelatschten Trampelpfade.

»Ja?«, bestätigte Lydia zögerlich und mit forschender Miene, die sagen wollte: Worauf willst du eigentlich hinaus, Kleiner?

»Der Laden ist hausfreies, neutrales Territorium, was von den Nosferatu sichergestellt wird. Ich kenn den Laden durch Christiano. Nun, ähm, also, äh, also im Untergeschoss...«, niedlich, Simon begann nicht nur zu stammeln, er wurde auch rot, als ihm klar wurde, über was er eigentlich berichten wollte. Natürlich hätte ich intervenieren und ihm zur Seite springen können, aber das hätte seine Position geschwächt. Simon musste durch die Peinlichkeit allein durch. »Also, ähm... Nun ja, das Untergeschoss ist ein gigantischer Darkroom, in der Männlein, Weiblein, Mensch und Vampir Sex miteinander haben.«

»Ich kenne den Laden ebenfalls.«, fügte Michael hinzu, »Worauf willst du hinaus?«

»Ich habe da eine Szene beobachtet, die mir zu denken gibt.«, fuhr Simon schnell fort, als er merkte, dass er die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden genoss, »Eine Vampirin, eine Domina, war gerade dabei, ihren menschlichen Spielpartner zu bearbeiten. Für einen Moment drohte sie die Kontrolle über sich zu verlieren und sich gehen zu lassen, bis ein Nosferatu aus dem Schatten auftauchte. Er musste nur erscheinen und streng schauen und die Dominavampirin hatte sich sofort wieder unter Kontrolle. Warum? Könnte es sein, dass die Nosferatu durchaus in der Lage sind, unfriedlich zu werden, sollte die Situation es erfordern?«

»Du weißt, dass es so ist. Sie sorgen für die Einhaltung unserer Gesetze. Notfalls auch unter Anwendung von Gewalt.«, bestätigte ich. Worauf wollte dieser Kerl nur hinaus?

»Was wäre, wenn ein Nosferatu zur Überzeugung gelangt ist, dass Frantz Erpressung, die Dinge, die er ihn machen ließ, notwendig wären, um etwa eine Verletzung unserer Gesetze zu ahnden?«

»Und das konspirative Vorgehen dient der scheinbaren Wahrung der Neutralität.«, sprang Lady Lydia auf Simons Überlegung an. Der Junge hatte sie beeindruckt, das konnte ich deutlich an der Art, wie sie ihn betrachtete, erkennen.

»Nein!«

Ein einziges Wort ließ alle innehalten. Bis auf Laurentius, von dem die Äußerung ausging.

»Ihr irrt euch. Ich gebe zu, dass die Ausführung der Verschwörung, also Frantz Erpressung, aber auch alles, was Florian widerfahren ist, auf einen strategisch denkenden Geist von unendlicher Geduld hinweist. Eine Eigenschaft, die ihr zurecht in den Nosferatu wiedererkennt. Andere Aspekte passen aber überhaupt nicht. Der Mord an Yves, der Aufhänger der Erpressung widerspricht allem, wofür die Nosferatu stehen. Außerdem würden sie sich nie in das Leben eines Menschen einmischen. Florian war bis vor kurzen ein Mensch.«

»Woher willst du das so genau wissen?«, wollte Lady Lydia wissen, »Wer weiß schon, was wirklich in den Köpfen der Nosferatu vorgeht.«

Ich wusste sofort, was Laurentius fragender Blick in meine Richtung, das heißt in Richtung der Webcam, die seinen Blick zu mir übertrug, bedeutete.

»Sag es ihnen.«, gab ich meinem Marschall grünes Licht.

»Ich bin ein Nosferatu.«, erklärte Laurentius sanft, »Eigentlich bin ich ein Hybride, abschätzig auch Bastard. Ich wurde als Nosferatu erschaffen. Als mich Alexej, Constantins Vater, erweckte, war ich tot, wenn auch nicht lange. Aber mein Schöpfer war kein Nosferatu sondern ein Vampir, was bedeutete, dass ich sowohl vampirische als auch nosferaturische Eigenschaften besitze, wie eben ein Hybrid. Weder Alexej noch die Nosferatu erhoben Anspruch auf mich, sondern erlaubten mir, meinen eigenen Weg zu wählen. Ich bat Constantins Vater, mich in sein Haus aufzunehmen. Er gewährte mir den Wunsch, allerdings nur unter der Bedingung, dass ich zuvor lernte, was es bedeutete, sowohl ein Nosferatu als auch ein Vampir zu sein. Noch vor mir erkannte er die Tragweite der Dualität meiner Natur. Ich verbrachte fünfzig Jahre im Kloster der trauernden Seelen. Ich lernte, ich studierte und begriff den Kern meines Wesens. Ich kenne beide Welten und weiß, wie sie denken. Nein, wir suchen keinen Nosferatu. Als ich sagte, das Vorgehen unseres Gegners erinnert mich an einen Nosferatu, meinte ich, dass wir einen Vampir mit nosferaturischer Abstammung suchen, so wie mich.«

»Respekt!«, Lydia lachte, »Ich habe mich immer gefragt, was dein Geheimnis ist. Vampir und gleichzeitig Nosferatu, wer hätte das gedacht. Oh, was für ein böser Witz. Du weißt, was jeder über dich sagt?«

»Dass ich eine Totenfratze wie ein Nosferatu habe? Ja, natürlich.«, Laurentius zeigte ein hinterhältiges Grinsen, was ihn wirklich wie einen grinsenden Totenschädel aussehen ließ.

»Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass du tatsächlich ein Nosferatu bist.«

»Natürlich nicht. Vampire werden von Vampiren erweckt und Nosferatu von Nosferatu. Jeder hält dies für ein fundamentales Gesetz unseres Kodex. Erstaunlicherweise existiert nichts derartiges. Es ist viel mehr ein Tabu, über das niemand spricht.«

»Also stehen wir wieder am Anfang?«, fasste Timon unsere bisherigen Erkenntnisse zusammen. So ungern wir es uns eingestehen wollten, so recht hatte sie. Frantz Tagebuch, zumindest die Teile, die Simon wiederherstellen konnte, enthielten allerlei interessante, beunruhigende und auch schockierende Informationen. Der Mann war ein Mörder. Ich hätte es nie für möglich gehalten, aber sein Erpresser hatte es geschafft, Frantz dazu zu bewegen, mehrere Mitglieder anderer Häuser zu beseitigen, ohne dass auch nur ansatzweise ein Verdacht auf ihn fiel. Ich erinnerte mich noch sehr gut an drei der Todesfälle, bei denen es sich nach offizieller Lesart um bedauerliche Unfälle gehandelt haben sollte.

Das Tagebuch zu lesen, fiel alles andere als leicht. Es ging mir an die Nieren, erleben zu müssen, wie eine Seele, die eigentlich immer nur Gutes bewirken wollte, schrittweise zerstört wurde, bis sie am Schluss nur noch ein Ziel kannte: Dem Ganzen ein Ende zu bereiten. In gewisser Weise handelte es sich bei Frantz Tagebuch um sein Vermächtnis. Es lieferte sogar eine Erklärung für die Bombe. Frantz schuf sie aus zwei Gründen: Aus Verzweiflung und aus Rache an denjenigen, die ihn dazu zwangen, all die Abscheulichkeiten zu begehen. Zu wissen, dass auch sie von der Bombe vernichtet würden, war sein Trost. Ihre böse Saat sollte nicht aufgehen, auch wenn es bedeutete, jeden einzelnen Vampir töten zu müssen.

Die Bombe sollte ein Zeichen setzen. Wenn es am Ende auch niemanden gegeben hätte, der davon berichten konnte.

Damit hatte es sich aber auch schon. Für weiterführende Informationen mussten wir die Rekonstruktion der Festplatte abwarten, was sich als komplizierter herausstellte, als erwartet. Bis dahin konnten wir nur spekulieren und uns im Kreis drehen. Es war zum Mäusemelken.

»Vielleicht packen wir die ganze Sache von der falschen Seite an.«, schlug Simon vor, »Statt uns zu fragen, wer hinter der Verschwörung gegen unser Haus steckt, könnten wir überlegen, wer nicht.«

»Im Ausschlussprinzip. Sehr gut!«, lobte Lydia. Es war offensichtlich, dass Simons Ansehen bei ihr von Sekunde zu Sekunde stieg.

»Außerdem sollten wir es mit ein wenig Fuzzy Logik versuchen. Statt pauschalem Ja und Nein, sollten wir uns Ausschlusskriterien überlegen und diese gegen die potenziellen Häuser prüfen. Das Haus mit den wenigsten Negativpunkten sollten wir uns dann näher ansehen.«

»Gut, machen wir es so.«, leitete ich das Ende der Besprechung ein, »Ich schlage vor, dass erst einmal jeder für sich einen Katalog aufstellt und wir die später zusammentragen. Ansonsten sollten wir uns vorerst vertagen. Simon, könntest du bitte noch da bleiben? Ich würde gerne etwas mit dir privat besprechen.«

Ich hasste es, die anderen auszuschließen, auch wenn sie meinen Wunsch, bestimmte Dinge nur unter vier Augen zu besprechen, akzeptierten. Sie betrachteten es als Privileg des Stammvaters und hinterfragten es nicht. Unhöflich war es trotzdem.


»Was gibt's?«

Wir waren allein und ungestört, wenn auch nicht im gleichen Raum. Simon hatte alle Kameras des Besprechungsraums bis auf eine ausgeschaltet. Er war allein, ich war allein und die Datenverbindung zwischen unseren Computern verschlüsselt.

»Ich brauche eine ehrliche Antwort von dir. Meinst du, dass du es schaffst, die restlichen Daten wiederherzustellen?«

»Ich weiß es nicht.«, gestand Simon, »Die Festplatte wurde durch die Explosion arg in Mitleidenschaft gezogen. Ich tu wirklich mein Bestes, aber ich kann dir nichts versprechen.«

»Ich verstehe.«, entgegnete ich matt, obwohl ich versuchte, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Fakt war, dass ich Angst hatte. Ohne Frantz Aufzeichnungen sanken meine Chancen, mittelfristig von seinem künstlichem Virus befreit zu werden. Umgekehrt stieg das Risiko mitsamt des S4-Labors eingeäschert zu werden. Ich wollte noch nicht abtreten. Ich wollte leben.

»Constantin?«

Der Mann war einfach hochgradig aufmerksam. Natürlich war ihm meine Niedergeschlagenheit nicht entgangen. Es machte keinen Sinn zu leugnen, also erklärte ich Simon die Situation, einschließlich dem, worum ich Lydia gebeten hatte.

»Soweit wird es nicht kommen.«, meinte Simon entschlossen. »Das werde weder ich, noch irgendjemand anderes zulassen. Ich verstehe, warum du bereit bist, dich notfalls zu opfern. Du bist der Meinung, dass das Wohl aller vor das Wohl eines einzigen geht. Deine Selbstlosigkeit ehrt dich, aber sie ist falsch. Glaubst du wirklich, die anderen Stammväter verlangen nach deinem Kopf, weil du eine Gefahr für uns darstellst, immer vorausgesetzt, sie erfahren überhaupt etwas von deinem Zustand?«

Ich holte bereits Luft, um zu antworten, doch Simon war so schön in Fahrt, dass er mich nicht zu Wort kommen ließ.

»Natürlich nicht!«, rief mein Ritter, »Für die anderen Clanchefs wäre dein Zustand doch nur ein perfekter Vorwand, um einen ihnen lästigen Konkurrenten aus dem Weg zu schaffen. Ich bin sogar davon überzeugt, dass sie alles versuchen werden, um an eine Probe des Virus zu gelangen.«

»Wie meinst du das?«, hakte ich nach. Simon folgte einem Gedankengang, der mir auch schon durch den Kopf gegangen war und dabei für erhebliches Unwohlsein gesorgt hatte.

»Ich glaube, du weißt, woran ich denke. Sollte es Bruno und, wenn wir ihn wiederweckt bekommen, Ricardo gelingen, ein Gegenmittel für den Virus zu entwickeln, dann hältst du die ultimative Waffe in den Händen. Du könntest jeden Vampir, der leben will zwingen, sich dir zu unterwerfen. Ohne das Gegenmittel, das du kontrollierst, wäre jeder Vampir zum Tode verurteilt.«

Stellte mich Simon auf die Probe? Wollte er wirklich wissen, wie ich über sein Gedankenspiel dachte?

»Ich werde weder einen Genozid an unserem Volk verüben noch tolerieren. Sollten Bruno und Ricardo wirklich ein Gegenmittel finden, werden wir den Virus vernichten, soweit dies möglich ist. Anschließend werden wir die anderen Häuser und die Nosferatu über den Vorfall informieren und ihnen für alle Fälle das Gegenmittel zur Verfügung stellen. Die Forschungsergebnisse werden wir verschlüsseln. Dafür wirst du uns ein Programm entwickeln. Ich stelle es mir so vor, dass jedes Haus und die Nosferatu jeweils einen Schlüssel erhalten. Nur wenn alle Schlüssel zusammen kommen, soll die Datei wieder decodierbar sein.«

»Dein Wunsch ist mir Befehl, mein Fürst.«, Simon strahlte so überaus zufrieden, dass es selbst bei der dürftigen Bildqualität der Webcam nicht zu übersehen war.

»Simon?«, leitete ich einen Themenwechsel ein, »Wie geht es meinem Ritter vom fehlenden Fuß? Konntest du...«

»Ja!«, unterbrach mich der junge Vampir, »Basti und Phillip waren so nett mir ihre Halsschlagadern zur Verfügung zu stellen. Die beiden waren völlig von der Rolle, als sie den verkohlten Stumpen sahen. Natürlich wollten sie wissen, was geschehen ist. Ich habe ihnen gesagt, dass wir eine Krise haben und ich im Moment nichts sagen könnte, ihnen aber versprochen, ihnen alles zu erklären, sobald es die Lage erlaubt. Ich meinte, „Ihr seid Familie und in einer Familie sollte es keine Geheimnisse geben.“ Die Beiden meinten daraufhin, ich müsse ihnen nichts erzählen, wenn ich es nicht könnte. Die beiden sind wirklich sehr, sehr gute Freunde.«

»Du kannst also wieder rumlaufen? Bist voll einsatzfähig?«, wollte ich wissen.

»Ja?«, fragte Simon argwöhnisch, »Wieso?«

»Ich muss wissen, wie es um Christiano und Florian steht. Du bist der einzige, der unauffällig unserem verbannten Freund einen Besuch abstatten kann. Außerdem könnte ich mir vorstellen, dass der wilde Portugiese sich über deinen Besuch bestimmt freuen wird.«

Die Nosferatu

Florian

»Was sucht der Suchende?«, wiederholte Nicolas nachdenklich. Das Problem mit Nachrichten dieser Art war immer, dass sie alles und jedes bedeuten konnten. Auf der anderen Seite war diese Nachricht, obwohl rätselhaft, recht spezifisch. Vielleicht konnte sich Nicolas doch noch einen Reim darauf machen, nachdem er eine Weile darüber nachdachte. Im Moment stand ein anderes Thema im Vordergrund. Der Besuch der Halle der Ersten war deutlich anders verlaufen, als mein Ritualbegleiter erwartet hatte.

»Wir sollten mit Bruder Markus sprechen.«, meinte Nicolas.

Der Weg zum Abt war weit. Während die Halle der Ersten tief unter der Erde an der Sohle des Klosters lag, befand sich das Arbeitszimmer des Abts weit oben im weltlich orientierten Teil der Anlage. Ich nutzte die Zeit, um mich wieder ein wenig mit den Farben und Symbolen der Stoffbanner zu beschäftigen, die Art und Lage eines jeden Bereichs beschrieben. Ich schien langsam ein Gefühl für das Codesystem zu entwickeln. So identifizierte ich völlig korrekt Unterkünfte, Gemeinschaftsduschen und Speisesäle. Der Verwaltungstrakt, wenn sich davon bei einem Kloster überhaupt sprechen ließ, präsentierte eine Fülle neuer Symbole, die ich natürlich sofort begann, zu entschlüsseln. Es war deutlich zu erkennen, dass dieser Teil des Klosters jüngeren Datums und wesentlich moderner war. Die Wände waren weiß verputzt. Die Stoffbahnen an Türen und Durchgängen waren auf etwa dreißig mal dreißig Zentimeter große Stofftafeln reduziert worden, die sehr den Türschildern moderner Bürogebäuden glichen. Trotz des modernen Designs erhielt sich die meditative Atmosphäre des Klosters. Nur weil etwas neu und stilistisch auf das wesentliche reduziert war, musste es noch lange nicht weniger spirituell oder gar kalt und abweisend wirken. Das krasse Gegenteil war der Fall. Ich hatte eher den Eindruck, dass die klare Linienführung in Verbindung mit den verwendeten Materialien eine gelungene Neuinterpretation des Themas Kloster war. Wahrscheinlich schlug die künstlerische Ader meiner Tischlerseele durch.

»Wir sind da.«, erklärte Nicolas. Wir standen vor einer Tür, dessen Stoffschild auf violettem Grund drei stilisierte Schlüssel zeigte, ein Symbol, das zum Amtszimmer eines Abts gut passte.

»Herein!«, ertönte es durch die schlichte Holztür, fünf Sekunden nachdem Nicolas respektvoll an das Türblatt geklopft hatte.

Wir traten ein. Kaum hatte uns Bruder Markus erkannt, winkte er uns zu sich heran und deutete auf die vor seinen Schreibtisch stehenden Stühle, auf denen wir Platz nahmen. Den Weg von der Tür zu dem dargebotenem Sitzplatz nutze ich für ein kurzes Studium des Arbeitszimmers.

Es gefiel mir: Modern aber gleichzeitig würdig. Ein Beispiel: Die Karbidlampen der bisher besuchten Bereiche des Klosters waren typisch viktorianisch. Viel blank poliertes Messing, bei dem ich immer den Eindruck hatte, in die Kulisse eines Jules-Verne-Films geraten zu sein. Die Lampen im Arbeitszimmer des Abts waren völlig anders. Lange, dünne Röhren aus einem dunklen, matten Metall trugen ebenso lange Glaszylinder, in denen die Acetylenflamme brannte. Trotz des strengen, reduzierten post postmodernen Stils verströmten die Lampen, genau o wie der Rest der Einrichtung, eine sehr sakrale und eines Klosters mehr als würdige Atmosphäre. Ich begriff etwas. Dieses Kloster lebte. Es war kein Ort, der Vergangenheit konservierte, wie ein Museum dies tut, sondern einer, der die Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit einte. Es entwickelte sich, so wie sich die Nosferatu entwickelten, die hier lebten.

»Es ist etwas passiert, oder?«

Ein Charakterzug, der mir bei Abt Markus schon bei unserem kurzen ersten Zusammentreffen gefiel, war seine Direktheit. Er war immer auf den Punkt, ohne dabei unhöflich zu sein oder gar in Jovialität abzudriften. Seine etwas kumpelhafte Art war keine aufgesetzte Maske sondern, soweit ich dies bisher beurteilen konnte, echt.

»Und was ist passiert?«, wollte der Abt wissen.

Während ich unsicher zu Nicolas schaute, rutschte dieser unruhig auf seinem Stuhl herum. Hatte er etwa das Gefühl, etwas falsches getan zu haben, als er mich zur Halle der Ersten führte?

»Ich sollte mich doch darum kümmern, Florian auf den Servius-Novatin vorzubereiten.«, Nicolas versuchte sehr sachlich zu sein, »Wir unterhielten uns, lernten uns kennen und sprachen auch über seine Ängste. Florian fühlt sich innerlich hin und her gerissen. Einerseits ist da sein bisheriges Leben als Tischler, das er nach wie vor liebt. Auf der anderen Seite sieht er sich aber auch mit unserer Welt konfrontiert und begreift langsam, dass es auch die seine ist, mit all den sich daraus ergebenen Konsequenzen. Ich spürte seine Verlorenheit und meinte, dass es eine gute Idee sei... Also, ich führte ihn zur Halle der Ersten.«

Es ist eine merkwürdige Erfahrung, jemanden anderen über einen selbst reden zu hören. Nicolas Beobachtung war zutreffend. In der Tat fühlte ich mich innerlich zerrissen. Der Besuch der bewussten Halle hatte diese Zerrissenheit zwar nicht beseitigt, mir aber ermöglicht, sie einzuordnen und mit ihr umzugehen.

»Ein mutiger, aber nicht notwendig falscher Gedanke.«, meinte Abt Markus, »Noch einmal: Was ist dann passiert. Florian, du siehst nicht aus, als wenn dir die Ängste, deren man sich in der Halle der Ersten bewusst wird, sonderlich zugesetzt hätten? Manch einer verkraftet es nicht, mit seiner persönlichen Hölle konfrontiert zu werden, aber das scheint nicht dein Problem zu sein.«

Der Ball lag bei mir.

»Nein, Bruder Markus. Ganz im Gegenteil, die Erfahrung war hilfreich. Es geht darum, was anschließend passierte. Die Ersten zeigten sich und sprachen zu mir. Ich habe die Säulenmänner gesehen und ihren Erinnerungen gelauscht.«

Die Reaktion des Abts war interessant. Er zog seine Augenbrauen hoch, gab ein Geräusch von sich, das wie »Pfft« klang und ließ sich gegen die Rückenlehne seines Stuhls fallen. Ich wurde von zwei Augenpaaren ausgiebig gemustert.

»Seit Jahrhunderten fragen wir uns, wer der nächste Auserwählte sein könnte, dem die Erinnerungen der Ersten offenbart werden. Ein Krieger? Ein begnadeter Stratege? Der Frommste der Frommen? Unzählige Brüder und Schwestern fühlten sich berufen den Erinnerungen der Ersten zu lauschen. Stunden, manche sogar Tage, verbrachten sie in der Halle, doch die Ersten blieben stumm. Nicht wenige zerbrachen, als die Magie der Halle ihnen ihre größte Angst bewusst machte und sie erkannten, dass nicht Berufung sie an den Ort der Säulenmänner führte, sondern ein Verlangen nach Ruhm, Ehre oder Anerkennung. Und dann kommst du. Ein unsicherer, von Selbstzweifeln und Zukunftsängsten gepeinigter, junger Vampir, dem nur eins wichtig ist: Die Antwort auf zwei fundamentale Fragen. Wer bin ich und was ist meine Aufgabe? Und plötzlich sprechen die Ersten. Oh Florian, ich beneide dich um diese Ehre und ich bedaure dich für die Last und Verantwortung, die sie wahrscheinlich für dein zukünftiges Leben bedeuten wird. Ähm... was haben sie erzählt?«

»Alles mögliche.«, ich musste über Bruder Marcus Wissbegier schmunzeln, »Bruder Abt, Ihr vergesst, dass die vier Jungs lange tot sind. Was sie mir erzählten? Nun, erzählen ist nicht der richtige Begriff. Sie ließen mich ihre Geschichte erleben. Ich wurde Teil ihrer Erinnerungen. Ich erlebte die letzte Eiszeit in der Haut des Schamanen einer Gruppe von Höhlenbewohnern, ich wanderte mit einem Priester am Hofe Cheops im alten Reich, ich war ein Berater am Hofe Marc Aurels. Unser aller Geschlecht, Vampir oder Nosferatu ist alt, sogar sehr alt. Uns gibt es eben so lange, wie es Menschen gibt. Vier Erste, als Vampir geborene, schufen unsere Art: die Kodiac, die Baku, die Nosferat und die Dracul.«

Mein Bericht hatte eine erstaunliche Wirkung. Bruder Markus Augen wurden immer größer, dass ich schon fast Angst bekam, sie würden ihm aus den Augenhöhlen fallen.

»Ja! Ja! Ja!«, flüsterte er, während ich sprach, »Kodiac, Baku, Nosferat und Dracul. Du hast tatsächlich die Erinnerungen mit ihnen geteilt. Es ist fantastisch. Du musst uns unbedingt alles erzählen. Oh, Florian, du glaubst gar nicht, was für ein historisches Ereignis dein Erlebnis darstellt.«

»Ähm, wahrscheinlich nicht, aber da gibt es noch etwas anderes...«, druckste ich herum, »Es ist keine Erinnerung. Ich habe etwas gesehen. Den Bildnissen der Marmorsäulen fehlen die Gesichter, doch als die Ersten ihre Erinnerungen mit mir teilten, hüllte die stilisierten Köpfe ein Dunst ein, der ihnen Gesichter verlieh. Ein Säulenmann, der Kodiac, besaß sehr starke Ähnlichkeit mit Constantin. Ich würde zwar nicht sagen, dass er ihm aus dem Gesicht geschnitten war, könnte aber als sein Bruder oder Vater durchgehen.«

»Das ist korrekt. Fürst Constantin Varadin ist der letzte gebürtige Kodiac und stammt in direkter Linie von jenem Ersten ab, dessen Erinnerung du erlebt hast.«

»Soweit wir wissen, war sein Name Esarra und wurde im Mesopotamien, dem Zweistromland, etwa um 8400 vor Christi geboren. Constantin ist sein Urururenkel.«, steuerte Nicolas bei und fügte, nachdem er meinen überraschten Blick sah, erklärend hinzu, »Die Geschichte der Ersten sind mein Hobby.«

»Ach, dann kannst du mir sicher auch etwas von dem Typen erzählen, der mir zum verwechseln ähnlich sieht. Bin ich ein Nosferat?«

Dieses Mal klappten zwei Unterkiefer gleichzeitig herunter. Nicolas und Bruder Markus schauten erst sich, dann mich an.

»Sag das nochmal!«, forderte mich der Abt auf.

»Ich habe drei Säulenmänner erkannt. Der eine sah Constantin ähnlich, beim zweiten weiß ich nicht mehr, woher ich ihn kenne, bin mir aber sicher, dass ich das Gesicht kürzlich gesehen habe. Den dritten kenne ich nicht. Der vierte Säulenmann sieht aus wie ich, weitaus mehr, als dieser Esarra Constantin ähnelt. In seinen Erinnerungen bezeichnet er sich als Nosferat. Hat das etwas mit euch, den Nosferatu, zu tun?«

»Ja, wenn es stimmt, was du sagst, bist du ein Enkel unseres Urstammvaters.«, erklärte Bruder Markus kopfschüttelnd, »Ich war zu voreilig. Der heutige Tag ist nicht historisch. Er ist epochal historisch. Wir, die Nosferatu, stammen von Nosferat ab, deinem Ururururgroßvater. Bis Skadi, die Tochter Vidars, waren die Nosferat Vampire. Der Legende nach soll Skadi sich in einen Menschen, Aurvandill, verliebt haben und wollte diesen ehelichen und in einen Vampir verwandeln. Doch bevor es dazu kam, wurde er vom Krieger eines verfeindeten Clans erschlagen. Er soll in den Armen Skadis gestorben sein. Skadi wollte nicht wahrhaben, dass ihr Geliebter tot sei, und biss den immer noch warmen Körper, der zur Verwunderung aller Anwesenden daraufhin erwachte. Aurvandill wurde der erste Nosferatu und Skadi unsere Stammesmutter. Allerdings war Vidar über Aurvandill alles andere als erfreut. Ganz im Gegenteil beschuldigte er seine Tochter, eine Abscheulichkeit erweckt zu haben und verbannte sie als Strafe für ihr tun. Unsere Stammesmutter muss eine sehr starke Frau gewesen sein, denn statt den Urteilsspruch ihres Vaters einfach zu akzeptieren, entschied sie, dass von nun an ein neuer Stamm existiere, die Nosferatu, die Bruderschaft der Toten. Kein Nosferatu solle jemals einen Lebenden erwecken. Durch diesen Vorfall kam es zur Teilung der Blutlinie der Nosferat. Während Aurvandill und Skadi die Nosferatu begründeten, änderte Vidar den Stammesnamen in Hati, nach dem Hund der nordischen Mythologie, der den Mond verfolgt. Zwischen den Hati und den Nosferatu herrschte kühle Distanziertheit bis gegenseitig Ablehnung, die erst nach Vidars Tod durch Gylfi, seinen Sohn, endete. Gylfi reichte seiner Schwester die Hand zur Versöhnung. Skadi willigte ein und der Streit wurde beigelegt, nicht aber der neue Stamm der Nosferatu. Die Wahrheit war, dass sich Aurvandill und Skadi zwar schätzen, mochten und vielleicht sogar noch liebten, diese Liebe aber nicht die gleiche war, als Aurvandill noch lebte. Skadi musste einsehen, dass sich der Charakter eines Nosferatu deutlich von dem eines Vampirs unterschied. Ein Unterschied, der sich bis heute nicht geändert hat und unsere beiden Stämme prägt.«

»Dann bin ich ein Nosferat aus der Linie der Hati? Die Namen klingen alle ein wenig unheimlich, wie aus einem Fantasyroman.«

»Du findest sie in der nordischen Mythologie, wie der Edda. Die Nosferat erblickten weit im Norden, im heutigen Norwegen die Welt und offenbar bist du eine ihrer Reinkarnationen.«

Ein epochaler historischer Moment? Bruder Markus gab mir einiges zu verdauen. Vor allem warf er Fragen auf: »Ich versteh das nicht ganz. Ich dachte, meine Mutter entstammte dem Haus der Margaux. Du sagst aber, dass ich ein Hati und Nosferat sei. Ja was stimmt denn jetzt?«

Der Abt nickte: »Das ist genau der Punkt, der auch für uns neu ist. Es stimmt beides und das ändert eine Menge. Bisher gingen die Historiker, die der Vampire wie die unsrigen davon aus, dass das Haus Margaux von den Baku abstammt und die Hati ausgestorben seien. Offensichtlich war dies ein Irrtum. Das heißt aber auch, dass es statt einer doch noch zwei Blutslinien gebürtiger Vampire gibt.«

»Und wer sind die Baku und die Dracul?«, wollte ich nun wissen. Die Geschichte der Vampire begann mich zu interessieren, zumal es sich dabei um meine eigene Geschichte handelte.

»Der letzte Baku war Baron Vladimir Breskoff. Die Wurzeln seiner Familie liegen im heutigen Aserbaidschan in der Nähe der Stadt Baku. Daher ihr Name. Mit den Dracul verhält es sich ein wenig komplizierter. Dracula, womit nicht der aus den Büchern gemeint ist, war ein Vampir, der im 4. Jahrhundert lebte und so etwas wie ein Landgraf war. Das Schicksal meinte es nicht gut mit ihm. Er erkrankte an einer unheilbaren Degeneration des Nervensystems, die zu einem sich immer mehr steigernden Wahnsinn führte. Ihm ist es zu verdanken, dass wir unter den Menschen einen schlechten Ruf genießen. Bis er dem Wahnsinn verfiel, war Dracula ein fürsorglicher Fürst, der sich um die Menschen seines Herrschaftsbereichs kümmerte. Danach wurde es unappetitlich. Dracula tötete nicht nur die Mitglieder seines Hauses, einschließlich seiner beiden Söhne und seiner Tochter, sondern begann auch Menschen zu jagen und leer zu trinken, die ihm eigentlich treu ergeben waren. Der Hohe Rat musste etwas unternehmen und entsandte einen Trupp, der Dracula töten sollte, was dieser unter schweren eigenen Verlusten auch tat. Von da an galten die Namen Dracul und Dracula als Sinnbild für Wahnsinn und Tod. Erst siebenhundert Jahre später keimte eine Restaurationsbewegung auf, die das Wirken des historischen Dracula anders bewertete. Nach ihrer Überzeugung handelt es sich bei Draculas Erkrankung um eine Lüge. In Wirklichkeit hätte er den Hohen Rat mit der These herausgefordert, dass die Vampire die dominante Spezies auf diesem Planeten und die Menschen nur Nahrung seien und beherrscht werden müssten. Solange sie sich fügten, mit sanfter, aber bei Widerstand halt auch mit harter Hand. Vor etwa tausend Jahren kam es zu einem Bürgerkrieg zwischen den Dracul und den anderen Häusern, der fast zur Auslöschung aller Vampire geführt hätte. Es war König Vladimir Breskoff zu verdanken, dass in letzter Minute eine Friedenslösung gefunden werden konnte, die bis zum heutigen Tag fortdauert.«

Mein Hirn arbeitete auf Hochtouren, um die Fülle der Informationen zu verdauen, mit denen mich Bruder Markus versorgte. Dracul, Baku, Nosferat, Hati und Kodiac - in meinem Kopf wirbelten hunderte Bilder, Erinnerungs- und Informationsfetzen herum. Ich wollte schon den Kopf schütteln, um etwas klarer denken zu können, als ein Bild für den Bruchteil einer Sekunde aufblitzte.

»Bruder Markus, kann ich noch einmal zur Halle zurück, in der Ihr Tamir, Petrus und mich empfangen habt?«

»Ja, sicher, wieso?«

»Ich möchte nur etwas überprüfen.«, meinte ich ausweichend.

»Nur zu.«

Wir erhoben uns. Der Abt persönlich geleitete uns durch die Flure und Gänge bis hin zur großen Empfangshalle. Dort angekommen wandte ich mich direkt dem großen Wandteppich mit dem Konterfei Constantins Vaters, Tamirs und Baron Vladimir Breskoffs zu.

»Das ist der dritte Säulenmann, Baron Vladimir Breskoff. Ich wusste doch, dass ich sein Gesicht schon vor der Halle der Ersten gesehen hatte. Er war in der Tat ein Baku.«, wenigstens dieses Mosaikstückchen passte, »Und wie geht es jetzt weiter?«

»So sehr ich dir gerne etwas anderes sagen möchte, aber ich befürchte, dass wir heute zwar mit überwältigenden Erkenntnissen gesegnet wurden, die sicherlich die Art und Weise verändern werden, mit denen wir unsere Geschichte betrachten, sich dein persönliches Problem aber keineswegs verändert hat. Wenn du Constantin retten willst, musst du am bisherigen Plan festhalten.«, Bruder Markus klang aufrichtig betrübt.

»Bruder Markus«, mischte sich Nicolas ein, »Wir haben etwas übersehen, das mir selbst erst gestern aufgefallen ist. Schaut euch Florian bitte genau an und achtet nicht auf seine Abstammung, sondern auf sein Wesen und seine Aura.«

Der Abt runzelte seine Stirn, zog seine Augenbrauen hoch, beachte Nicolas mit einem skeptischen Blick und nahm mich anschließend ins Visier. Erst schien ihm nichts besonderes aufzufallen. Entnervt, nicht zu wissen, worauf mein Ritualbegleiter anspielte, fiel seine Musterung recht lustlos aus, bis sich plötzlich seine Augen weiteten.

»Das kann nicht möglich sein, oder?«, rief Markus.

»Oh doch, es ist möglich. Florian ist einer von uns.«

Logan

Seine Hochwürden Abt Markus der grauen Nebel starrte mich mit einer Mischung aus Unglaube und Fassungslosigkeit an. Dabei war er ein gestandener Mann und hatte in seinem Leben mehr als eine Krise gemeistert, sei sie weltlicher oder geistlicher Natur.

Und ich? Wie ging es mir dabei? Für einen Moment wäre ich fast wieder in mein altes Rollenverhalten zurückgefallen und hätte mich für das Chaos tausendfach entschuldigt. Ich hätte beteuert, dass es mir fürchterlich Leid täte, für so viel Aufregung verantwortlich zu sein, wobei ich doch nur ein einfacher Tischler wäre und auch nur sein wollte. Für einen Moment, der schnell verging.

Gab es Vorsehung oder gar Vorbestimmung, Prädestination? Im Islam war die göttliche Vorsehung einer der sechs Glaubensartikel. Oder war Vorsehung ein Zeichen von Größenwahn? Adolf Hitler hielt sich für ein Werkzeug der Vorsehung. Ich glaube, einen besseren Gegenbeweis für die Existenz einer Vorsehung ließ sich kaum anführen.

Ich glaubte an Zufälle, den sich daraus ergebenden Gelegenheiten und den Entscheidungen, die ein jeder für sich fällt. Meine Entscheidung war es, mein Erbe zu akzeptieren. Genau das war es, ein Erbe. Wenn ich ein, der letzte Hati war, dann bedeutete dies etwas, nämlich Verantwortung zu übernehmen. Wenn mir Constantin in der kurzen Zeit, die wir bisher miteinander verbringen durften, etwas gezeigt hatte, dann was es hieß, Verantwortung zu übernehmen. Es ließ sich auch anders ausdrücken: Die Zukunft erlaubte sich, mir in den Arsch zu treten und mich vor die Wahl zu stellen, zurückzutreten oder den Schwanz einzukneifen. Letzteres war meine bisher bevorzugte Option, doch ich wollte nicht mehr kneifen.

»Ich bin nicht nur ein Hati, sondern auch ein Nosferatu, oder?«

Es war als Frage formuliert, war aber eine Feststellung, die eine Bestätigung einforderte.

»Ja, du bist beides. Du bist sogar der Hati aber gleichzeitig auch ein Nosferatu.«, verkündete Markus, nicht ohne einen gewissen feierlichem Timbre in der Stimme, »Florian, du bist Vetter und Bruder zugleich, du bist Familie.«

Und dann passierte etwas, das mich wirklich rührte. Bruder Markus streckte seine Hand nach meiner Wange aus, zögerte, hielt einen kleinen Moment inne, während dem er sichtlich mit seiner Haltung kämpfte, bis dann doch sein Fingerrücken, sanft, fast ehrfürchtig über meine Wange strich. An dieser Geste war nichts sexuelles, keine päderastische Altersgeilheit eines Mönchs, der ewig gezwungen war, seine Triebe zu unterdrücken. Diese Berührung war die pure, unschuldige Liebe eines empfindenden Wesens für einen schmerzlich vermissten und dann wiedergefundenen Verwandten.

»Nicolas«, wandte sich Markus abrupt an den jungen Nosferatu neben mir, »Wir müssen das Verfahren beschleunigen. Während ich Tamir, den alten Trickser einbestelle, wirst du Florian auf das Ritual vorbereiten. Ich muss dich nochmals fragen, ob du bereit bist, ihn zu begleiten? Bist du wirklich bereit, den Preis zu bezahlen?«

Den Preis zu bezahlen? Wovon sprach der Abt. Nicolas wusste offenbar, wovon sein Chef sprach und meinte: »Mehr denn je. Die Ersten ließen Flo eine Nachricht an mich überbringen: Was sucht der Suchende.«

»Dann ist es beschlossen. Beginnt! Diese Sache duldet keinen Aufschub. Weihe Florian in alles ein. Wie es aussieht, hat uns das Schicksal einen Engel gesandt, einen dunklen Engel der Hoffnung!«

Und wieder hatte ich das ungute Gefühl, dass mir das Heft des Handelns entrissen wurde. Bruder Markus erkannte meine aufkeimende Verärgerung und griff entschuldigend nach meinen Händen.

»Bitte Florian, verzeiht mir, aber dies ist wichtig. Wenn du dich entscheidest, dein Erbe zu akzeptieren, dann musst du uns vertrauen. Ich kann dir eins versprechen: Niemals wird dir ein Nosferatu etwas Böses antun. Du bist mein Cousin, du bist Nicolas Cousin, du bist Tamirs Cousin, denn du bist unser aller Cousin, ein Sohn des Gylfi dem Bruder Skadis.« Ich wollte es nicht glauben, aber der Abt verbeugte sich vor mir, »Ich werde dich jetzt eine Weile allein lassen müssen und dich in die vertauensvollen Hände Nicolas geben. Höre auf ihn, es ist seine Aufgabe, seine Berufung, dir zu helfen und dich auf deinem Weg zu begleiten. Er wird, soweit es ihm möglich ist, alle deine Bitten erfüllen.«

Mit diesen Worten eilte Bruder Markus von dannen und ließ einen sprachlosen Tischlergesellen zurück.

»Kneif mich mal!«, bat ich Nicolas, »Aua, das tat weh!«

»Hast du nicht gehört, was Bruder Markus sagte? Ich werde dir alle Bitten erfüllen.«, bemerkte mein Bittenerfüller keck.

»Gut, gut. Dann verrate mir, wie es jetzt weiter geht! Und noch eins, was meinte Markus mit dem Preis, den du bezahlen musst?«

»Ach das... Tja, ähm... Komm, ich habe Hunger. Lass uns beim Essen darüber reden.«

Den Weg zum Speisesaal hätte ich tatsächlich ohne Nicolas Hilfe gefunden. So langsam bekam ich ein Gefühl für die Ortsmarkierungen. In der Speisehalle war weniger los, als zum Frühstück. Ich schätzte, dass die Bänke zu knapp einem Fünftel besetzt waren, eher weniger. Während Nicolas uns zwei Schalen mit frischem Blut besorgte, ließ ich mich am Ende einer freien Bank in der Nähe einer der großen Leuchter nieder und betrachtete die anwesenden. Die meisten hatten ihre Kapuzen zurückgeschlagen, sodass ich ihre Gesichter studieren konnte. Sie saßen in Gruppen zu drei und vier zusammen, nur zwei Nosferatu saßen für sich allein, der eine sogar nur zwei Plätze von mir entfernt auf der gleichen Bank. Von allen anwesenden war ich der einzige Vampir, was aber niemanden zu stören schien. Ab und an schaute jemand zu mir herüber und nickte mir freundlich zu. Obwohl anders, fühlte ich mich nicht fremd, sondern zugehörig.

»Hallo, mein Name ist Florian.«

Ich wusste nicht, was mich ritt, den allein sitzenden Nosferatu neben mir anzusprechen. Wahrscheinlich hatte er gute Gründe, nicht bei einer der Grüppchen zu sitzen. Der von mir angesprochene, blickte mich irritiert an, setzte seine Schale mit Blut ab und nickte mir freundlich zu.

»Ich bin Logan, Logan McKintoch.«, wurde mein Gruß mit deutlich schottischem Akzent erwidert, »Ich komme aus Kirkwall auf den Orkneys. Ihr seid kein Nosferatu, oder?«

»Oh, darüber streiten sich die Gelehrten noch.«, entwich mir ein etwas hilfloser Seufzer. Im gleichen Moment kehrte Nicolas mit unserem Trunk zurück: »Ah, sehr gut. Ich bin richtig hungrig. Nicolas, darf ich dir Logan McKintoch aus Kirkwall vorstellen. Logan, dies ist Bruder Nicolas.«

»Oh, Flo«, grinste Nicolas fröhlich und ließ sich neben uns nieder, »Ich kenne Bruder Logan. Nicht wahr, du alte Schnapsdrossel?«

»Warum überrascht es mich nicht, ausgerechnet dich bei einem Mann wie Florian zu finden.«, stichelte nun Logan kumpelhaft, »Aber wenn wir schon dabei sind, könntest du, oh weiser Bruder des grauen Nebels, einem unwissenden Inselbewohner wie mir erklären, was unser junger Freund hier meinte, wenn er sagt, dass sich die Gelehrten darüber streiten, ob er ein Nosferatu ist, oder nicht?«

»Schau ihn dir an!«, forderte Nicolas, »Schau ihn dir genau an, sofern dein Sehsinn nicht von euren hochprozentigen Getränken getrübt ist.«

Logan schaute und ich lächelte. Logan schaute genauer und ich lächelte immer noch, wenn auch ein wenig verkrampft.

»Oh Shit, he is! He is indeed!«, fiel unser schottischer Freund in seine Muttersprache. Und an mich gewandt: »Wieso sagst du, die Gelehrten würden sich noch streiten. Du bist einer von uns.«

»Nein, mein Freund«, korrigierte Nicolas, »Er ist mehr als das. Er ist ein Hati, ein direkter Nachkomme Nosferats.«

»Fuck!«, rief Logan, was in seinem schottischen Akzent wie »Fock« klang, »Fucking, holy bloody shit! Oh, shit, Flo, that's gorgeous!«

Unser schottischer Freund war völlig aus dem Häuschen, mir war es außerordentlich unangenehm, im Mittelpunkt zu stehen und Nicolas feixte sich einen. So ganz waren mir der Umfang und die Tiefe der Bedeutung der Entdeckungen meiner Abstammung bis dahin noch nicht klar geworden. Erst mit Logans Reaktion begann mir zu dämmern, was für eine Lawine losgetreten wurde. Ich sah mich um, schaute mir die Nosferatu an, wie sie aus ihren Kelchen tranken und sich miteinander unterhielten. Jeder von ihnen war ein Cousin, ein Verwandter. Um es ganz genau zu nehmen, war ich ein Ururursonstwasvetter. Mit menschlichen Maßstäben gemessen, konnte von einer Verwandtschaft kaum noch die Rede sein. Allerdings durfte ich nicht mehr wie ein Mensch denken. Einem Hämophagen stand ein zwanzigfacher Urenkel genauso nahe, wie ein Sohn. Unsere familiären Bindungen waren tausendfach enger. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich in Logans und Nicolas Augen auf dem Niveau eines Onkels rangierte. Als gebürtiger und nicht erweckter Hati verkörperte ich die Wurzel, den Ursprung, die Quelle ihrer Existenz. Diese Erkenntnis sorgte für eine ebenso plötzliche wie heftige Hitzeaufwallung in meinem Körper. Ich spürte, wie meine Wangen zu glühen begannen und da Nosferati wie Vampire über drastisch erweiterte Sinneswahrnehmungen verfügten, blieb meine körperliche Reaktion nicht unbemerkt.

»Hat's Klick gemacht?«, grinste mich Nicolas ebenso provozierend wie charmant an, dass ich mich erneut fragte, was diese mehrdeutigen Signale, die er mir zusandte, zu bedeuten hatten.

»Klick ist gar kein Ausdruck.«, knurrte ich erschöpft, »Dieses Hatiding... Bin ich jetzt...«

»...eine lebende Legende, ja.«, vervollständigte Logan meinen Satz, »Wenn mich Nicolas nicht verarscht, was er bei solchen Dingen eigentlich nie tut, dann bist du... Wie drücke ich es am besten aus. Wir Schotten sind ja gute Katholiken. Stell dir vor, der Sohn eines der Apostel säße dir plötzlich gegenüber. Tja, finde dich damit ab, dass du jetzt Saint Florian bist.«

»Oh bitte nicht Sankt Florian. Heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus! Zünd andre an! Schon mal was vom Sankt Florian Prinzip gehört?«

Da Logan mit einem Kopfschütteln meine Frage verneinte, übernahm Nicolas die Erklärung des Sprichworts.

»Vom Sankt Florian Prinzip wird gesprochen, wenn Probleme nicht gelöst, sondern anderen aufgehalst werden.«

»Ähm, so meinte ich das natürlich nicht.«, Logan ruckelte unruhig auf seinem Sitzplatz herum.

»Hey, kein Problem.«, lachte ich den Schotten an, »Aber bitte, erklär mich nicht zum Heiligen. Ich bin alles andere als heilig. Allein der Gedanke ist erschreckend und macht mir Angst.«

»Und das wollen wir ja nicht.«, frotzelte Nicolas fröhlich. Die Stimmung zwischen uns war wirklich gut. Für eine Weile waren die staatstragenden, schweren Themen vergessen. Logan erzählte von sich und seiner Tätigkeit im Kloster von Kirkwall. Er destillierte Hochprozentiges, nämlich echten schottischen Single-Malt-Whiskey. Ich war erstaunt, wie lebenslustig Nosferatu sein konnten. Aber wahrscheinlich war ich da auch nur einem Vorurteil aufgesessen. Wer einen Nosferatu sah, konnte sich einfach nicht vorstellen, wie fröhlich, energiegeladen und teilweise sogar regelrecht albern sie sein konnten. Logan war ein typischer Nosferatu, was hieß, dass er unter ästhetischem Aspekt gewöhnungsbedürftig war. Gewöhnungsbedürftig traf es ganz gut. Je länger ich mich unter den Nosferati, wie sie sich selbst in der Mehrzahl bezeichneten, aufhielt, je mehr verlor ihr abschreckendes Äußeres an Wirkung. Ihre harten Gesichtszüge, die tief in den Höhlen liegenden Augen, der kahle Kopf, all dies erweckte im ersten Moment den Eindruck, einem Skelettschädel gegenüberzustehen, aber mit Tamir, Petrus, Markus, Nicolas und jetzt Logan war ich Individuen begegnet, die sich nicht an ihrem Erscheinungsbild messen ließen. Außerdem war Nicolas gar nicht so hässlich. Eigentlich war er sogar recht knuffig, mit einem leichten Totenschädelgesicht.

»Und, wenn man fragen darf, was treibt dich jetzt genau in die Höhle des Löwen?«, fragte Logan nach einer Weile, in der wir nette kleine Belanglosigkeiten ausgetauscht hatten.

»Ich werde mich dem... Wie hieß das noch gleich? Servius-Novatin unterziehen.«

Hätte Logan gerade den Mund voller Blut gehabt, wäre dieses fein versprüht auf meinem Gesicht gelandet. Ohne den roten Saft blieb dem whiskeyaffinen Schotten nichts anderes übrig, als sich vor Schreck an seiner Spucke zu verschlucken.

»Wie bitte?«, rief er laut, dass sich die anderen Gäste des Speisesaals zu uns umdrehten, was Logan dazu veranlasste, die nächsten Worte gepresst, aber nicht weniger erregt von sich zu geben. »Ist dir eigentlich klar, wovon du sprichst? Ist das auf deinen Mist gewachsen?«

Der letzte Satz war an Nicolas gerichtet, der heftig mit dem Kopf schüttelte.

»Nein, ist es nicht. Den Plan haben Tamir, Petrus und Markus ausgeheckt. Ich wäre froh, wenn es eine Alternative gebe, aber Florian muss sich einer Wiedererweckung unterziehen. Als gebürtigen Hämophagen bleiben ihm wenig Möglichkeiten, oder?«

»Nun ja. Das ist sicher richtig. Aber der Servius-Novatin? Mir fallen mindestens zwei andere Riten ein, die weniger...«

»Die aber keine Reinigung der Essenz zulassen. Es ist kompliziert, aber Florian muss sich von einer Blutsbindung lösen, was nur...«

»Der Servius-Novatin erlaubt. Shit! You're right! Und welche arme Sau darf das Vergnügen mit Florian teilen?«, wollte Logan wissen und blickte in ein verkrampft lächelndes Gesichts Nicolas. »Oh, Shit! Shit! Shit! Florian, Nicolas muss dich wirklich mögen.«

Gut! Oder auch nicht. Alle redeten über diesen verdammten Ritus, jeder schien ihn zu kennen, aber niemand machte sich die Mühe, ihn mir zu erklären. Das klang alles andere als erfreulich.

»Wärt ihr bitte so nett, mir endlich zu erklären worum es bei dem Ritual geht? Tamir und Petrus wichen aus. Bruder Theodor, der Kerzenwechsler im Bad, schaute mich an, als wenn ich auf dem Weg zu meiner Beerdigung wäre. Und ihr? Ihr redet miteinander und schließt mich aus.«

Meine Verärgerung war wohl kaum zu überhören. Logan und Nicolas wechselten nur kurz einen Blick miteinander, dann wandten sie sich mir zu. Nicolas seufzte.

»Es macht wohl keinen Sinn, dir das Verfahren weiter vorzuenthalten.«, begann Nicolas zu erzählen.

Der Servius-Novatin-Ritus war nach den ersten beiden Brüdern benannt, die sich ihm unterzogen hatten, Bruder Servius und Bruder Novatin von den grauen Nebeln. Dieser Ritus hatte es in sich. Ich hatte bereits geahnt, dass die Wiedererweckungsriten dieses Klosters nicht wirklich nett waren. Das Ertragen von Schmerz, viel Schmerz, war immer ein elementarer Bestandteil. Eine Wiedererweckung gab es nicht geschenkt, sie wollte verdient werden. Der betreffende Bruder musste zeigen, dass er würdig war, einen neuen Körper geschenkt zu bekommen. Er musste seine Willensstärke und Tapferkeit beweisen. Er musste zeigen, dass sein Verstand über den zugefügten Schmerz siegen konnte.

Es gab eine Vielzahl von Riten, die sich zum Teil deutlich voneinander unterschieden. Jeder legte den Schwerpunkt auf einen anderen Aspekt. So gab es zum Beispiel den Ritus des »Sprung ins Licht«, der genau das war, ein Sprung ins Sonnenlicht. Ein Bruder, der diesen Weg wählte, stellte sich an den Rand einer Grube, die von strahlendem, gleißenden Sonnenlicht erfüllt war, und sprang hinein. Dieser Ritus erforderte relativ wenig Willensstärke, da es, nachdem der Kandidat gesprungen war, kein Zurück gab. Dafür erkaufte er es sich durch ein sehr schmerzhaftes Sonnenbad. Ein anderes Ritual verlief umgekehrt. Der Schmerz war hoch, aber nicht extrem, dafür währte er länger. Während das Sonnenbad nach ein paar Sekunden überstanden war, hatte der Bruder mehrere Minuten das Vergnügen, sich quälen zu lassen. Ohne konkret zu werden, meinte Nicolas, dass der Servius-Novatin beides miteinander kombinieren sollte: Extremen Schmerz, den ich auch noch lange genießen sollte. Super! Das war genau das, wovon ich immer geträumt hatte.

Es gab aber auch keine Alternative. Es gab zwar mehrere Rituale, mit der sich eine Blutsbindung, wie zwischen Constantin und mir, lösen ließ, aber nur der Servius-Novatin erlaubte es, ihn auf einen gebürtigen Vampir anzuwenden. Da ein gebürtiger Vampir eigentlich nicht wiedererweckt werden konnte, musste ein Trick angewendet werden, um diese Einschränkung zu umgehen. Das Geheimnis bestand darin, das Ritual als Paar zu ertragen. Dabei würde Nicolas zum Gefäß meines Wesens, meiner Essenz, also dessen werden, was mich ausmachte. Aber wie immer hatte auch diese Sache einen Haken. Nicolas würde dadurch zu meinem Geschöpf werden.

Whiskey

»Was soll das heißen?«

Wurden diese kleineren Details absichtlich vergessen? In einem Nebensatz erwähnte Nicolas, dass das nette kleine Ritual, das Tamir und Co für mich geplant hatten, den Jungnosferatu an mein Blute band, ihn zu meinem Geschöpf machte. Zählte dergleichen nicht zu den Themen, die von den Betroffenen vorher erörtert werden sollten? Oder war ich einfach nur kleinlich? Aber was wusste ich schon? Als Vampirbaby, das noch keinen Monat aufwies, konnte ich natürlich nicht mit Jahrhunderten voller Erfahrung mithalten.

Dass meine Irritation und der sich daraus entwickelnde Sarkasmus auf ein schlechtes Gewissen fielen, zeigte sich an Nicolas verzweifeltem Gesichtsausdruck. Entscheidungen über den Wechsel der eigenen Abstammung wurden allem Anschein nach doch nicht beiläufig in einem Nebensatz getroffen. Während ich schmollte und Nicolas flehendem Blick auswich, schüttelte Logan seinen Kopf und schmunzelte breit. Mit einem Seufzer, der als legitimer Kommentar zur Dummheit der Welt gewertet werden konnte, griff er ins Innere seiner Kutte und holte eine Flasche hellgoldener Flüssigkeit hervor. Im Handumdrehen waren drei respektable Portionen in unsere leeren Blutsaftschalen verteilt.

»Manche Entscheidungen sollten nur nach einem guten Schluck Whiskey getroffen werden. Das ist exzellenter Stoff. 26 Jahre gereift, single barrel und von mir handgehätschelt. Das Fass stammt aus dem Jahr meiner Erweckung, muss also gut sein.«

An Selbstbewusstsein mangelte es Logan eindeutig nicht. Was soll's? Ich nahm einen Schluck. Der destillierte Stoff war wirklich gut. Er versetzte mich in einen Betriebsmodus, in dem ich immerhin willig war, mir Nicolas Erklärung anzuhören. Doch während der noch seinen Whiskey trank, um ein wenig Mut zu sammeln, begann Logan seinen Senf dazuzugeben.

»Ich will mich ja nicht einmischen und eigentlich geht mich die Sache auch gar nichts an, aber vielleicht solltest du«, damit war ich gemeint, »darüber nachdenken, warum sich unser Freund hier den ganzen Shit antut. Fucking Servius-Whatever-Shit! I've read about it. Die Sache ist ekelhaft, selbst für die gray mist fucking hardcore nofis.«

»Nofis?«

»Nosferatu. Really, warum tut er sich das an? Flori, buddy, you're a bright guy. Du weißt, warum er das macht, oder?«

Shit! Ich war so mit mir selbst beschäftigt, dass ich die Signale nicht sah. Dabei war es offensichtlich. Nicolas war in mich verliebt. Aber wieso? Er kannte mich doch gar nicht, oder?

»Doch, ich kenne dich schon eine ganz Weile.«, gestand Nicolas und packte aus.

Es war noch vor meiner Erweckung, unmittelbar nach Constantins Tribunal und Inquisition, als Tamir im Kloster aufkreuzte und eine Sitzung des Konzils, dem auch Markus, der Abt und Nicolas angehörten, einberief und darum bat, diskret und unbemerkt einen jungen Menschen namens Florian zu beschützen. Dieser sei der Geliebte Fürst Varadins und würde wohl auch bald erweckt werden. Allerdings, so Tasmanir Musferatu, quäle ihn eine Vorahnung, dass sich dieser Florian möglicherweise in Gefahr befinden könne. Es gebe noch ein paar Ungereimtheiten, denen nachgegangen werden müsse, bevor mehr gesagt oder gar ein Verdacht geäußert werden könne, der sich nachher als falsch herausstellte. Die Bitte, Florian zu beschützen, ging neben anderen auch an Nicolas, der aber anfangs wenig begeistert war, Babysitter für einen Menschen zu spielen. Dies änderte sich erst, als er begann, mich zu beschützen.

»Zuerst fand ich dich eigentlich nur total süß. Hey, ich mag ein Nosferatu sein und zölibatär leben, das heißt aber noch lange nicht, dass wir keine Gefühle haben.«

»Wem sagst du das!«, seufzte Logan frustriert und gönnte sich noch einen Schluck Whiskey.

»Doch mit der Zeit lernte ich dich kennen. Auf Tamirs Wunsch habe ich über dich gewacht und mich ein wenig in dich verliebt.«, gestand Nicolas, »Ich weiß natürlich, dass du zu Constantin gehörst, und will mich auf keinen Fall zwischen euch drängen...«

»Moment mal!«, mir fiel ein Vorfall kurz vor meiner Erweckung ein. Christiano hatte bei mir übernachtet. Bevor wir ins Bett schlüpften, war mein Freund noch kurz in sein Penthouse geflogen, um sich mit frischem Blut und Sonnenschutz zu versorgen. Während ich ihm hinterher schaute, wie er in die Dunkelheit der Nacht entschwand, war mir, als wenn in den Schatten jenseits der Straßenlaternen jemand oder etwas lauerte, obwohl ich nur einen dunklen Fleck in der Dunkelheit erkennen konnte. »Warst du das, der sich im Schatten vor unserem Wohnhaus verborgen hielt?«

»Ja, das war ich. Tamir meinte, dass wir dich keine Sekunde aus den Augen lassen sollten.«, gestand Nicolas, »Was meinst du, wie ich mich sonst in dich verguckt habe? Ich hatte alle Zeit der Welt, dich zu studieren. Wie du mit deinen Leuten umgehst zeigt, dass du deine Mitmenschen achtest, respektierst und sogar für sie einstehst. Und dann ist da noch eine Sache. Mir wurde etwas prophezeit.«, mein spezieller Nosferatu holte tief Luft, »Erinnerst du dich an die Nachricht, die du mir von den Ersten überbringen solltest?«

»Was sucht der Suchende?«

»Er sucht seine Aufgabe, sein Ziel. Diese Nachricht besagt nicht weniger, als dass ich mein Ziel gefunden habe. Kurz nach meiner Erweckung durch Markus wurde mir vorhergesagt, dass meine erste Wiedergeburt etwas besonderes sein wird. Sie würde meinen Weg verändern, mir ein Ziel geben, mich aber auch an einen Freund binden. Ich sei der Suchende auf der Suche nach diesem Freund.«

»Du tust das alles nur wegen einer Prophezeiung?«, ich kratzte mich am Kinn. Nicolas Argumente klangen in meinen Ohren nicht sehr überzeugend.

»Nein, eben nicht. Ich habe überhaupt nicht mehr an die Weissagung gedacht. Die Idee mit dem Ritual haben Tamir, Markus und ich zusammen entwickelt. Es ist wirklich das einzige Verfahren, das in deiner Situation funktioniert. Dass ich dadurch dein Geschöpf werde, stört mich nicht. Ich mag dich und hoffte, dass du mich auch ein wenig magst. Außerdem, so überlegten wir, musst du dein Haus aufbauen. Es kann kaum angehen, dass das Haus Margaux nur aus seinem Stammvater besteht. Ich würde mich geehrt fühlen, das erste Mitglied sein zu dürfen. Ja, ich habe mich in dich verguckt. Ich weiß, dass du diese Liebe nicht erwidern kannst, aber das ist wirklich kein Problem. Als Nosferatu bin ich schließlich Keuschheit gewöhnt.« Der letzte Satz wurde von einem Augenzwinkern begleitet. »An die Prophezeiung musste ich erst wieder denken, als du mir dann die Nachricht überbrachtest. Sie traf mich wie ein Schlag. Dein Geschöpf zu werden ist meine Bestimmung, und ich würde mich freuen, wenn du mir erlaubst, sie zu erfüllen.«

Super, jetzt musste ich mich auch noch Prophezeiungen unterwerfen. Egal was ich tat, in welche Richtung ich auch versuchte, mein Leben selbst zu lenken, irgendjemand oder irgendetwas, fand einen Weg, direkt oder indirekt Einfluss zu nehmen. Ich hatte es sowas von satt, fremdbestimmt zu werden. Es kotzte mich regelrecht an. Aber vielleicht war das der Fehler? Vielleicht musste ich einfach mein Schicksal akzeptieren und das annehmen, was mir das Leben auftischte?

In meinem Becher befand sich noch ein guter Schluck Whiskey. Logans Stoff war wirklich gut. Nachdenklich betrachtete ich die klare, hellgoldene Flüssigkeit. Sollte ich Nicolas Angebot annehmen? Er sagte, dass er mich liebte. Tat er das wirklich?

»Ich glaube du irrst dich.«, während ich den letzten Schluck Whiskey trank, luscherte ich über den Becherrand und betrachtete Nicolas Reaktion, »Du glaubst, du würdest mich lieben, aber ich glaube, du verwechselst Liebe mit Verliebtheit. Du hast es selbst gesagt: Du hast dich in mich verguckt. Das ist etwas anderes als Liebe. Aber es ist okay, mehr als das. Es schmeichelt mir, dass du mich magst. Ich mag dich auch.«

Mir kam eine Unterhaltung mit Christiano in den Sinn. Wir hatten darüber diskutiert, ob er ein Sklave, ein Leibeigener Constantins wäre, da er als Constantins Geschöpf diesem, oder genauer dem Hause Varadin faktisch gehöre und er selbst über kein persönliches Eigentum verfügte. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf fixierte ich Nicolas, schaute ihm direkt, forschend und fordernd in die Augen.

»Dir muss klar sein, worauf du dich einlässt. Wenn wir gemeinsam das Ritual absolvieren, bist du anschließend mein Geschöpf, ein Untertan und Gefolgsmann des Hauses Margaux. Bist du sicher, dass es das ist, was du willst? Ich werde der Chef sein, was nicht heißt, dass mir deine Meinung egal ist. Aber am Ende treffe ich die Entscheidungen. Auf der anderen Seite werde ich alles unternehmen, damit wir ein starkes, angesehenes und geachtetes Haus werden. Denn auch für mich gilt, dass das Haus zuerst kommt und ich mich den Bedürfnissen aller meiner Geschöpfe unterordnen werde. Es könnte gut sein, dass die Entscheidung, sich mir anzuschließen, deine letzte freie Entscheidung ist. Also überlege gut, bevor du dich entscheidest. «

Logan lachte: »Gesprochen wie ein wahrer Chief! Florian, du gefällst mir.«

Jetzt zögerte Nicolas. Wir konnten fast sehen, wie er angestrengt nachdachte. Ich hatte ihm aber auch einiges zum verdauen gegeben.

»Vielleicht hast du recht und ich verwechsle Verliebtheit wirklich mit Liebe. Aber es ändert nichts daran, dass ich dich mag und einfach fühle, dass ich das richtige tue. Du hast recht, ich werde dein Untertan sein. Aber ich bin bereit, meinen Beitrag für ein gemeinsames Haus Margaux zu leisten, wenn ich auch noch nicht weiß, worin dieser Beitrag bestehen könnte.«

»Oh, das ist einfach. Ich erinnere mich daran, dass du erwähntest, ein Schwertkämpfer zu sein. Nun, der Posten des Marschall des Hauses steht noch offen.«

»Laurentius Position?«, Nicolas lachte verkrampft, »Ich glaube, du überschätzt meine Fähigkeiten. Ich bin alles andere als ein ausgebildeter Schwertkämpfer, geschweige denn in Taktik oder Strategie ausreichend bewandert.«

»Super!«, lachte nun ich, aber im Gegensatz völlig unverkrampft, »Dann sind wir schon zwei. Ich habe vom Führen eines Hauses auch keine Ahnung.«

Nicolas schüttelte seinen Kopf, ich zuckte nur mit den Schultern und Logan schien sich hervorragend auf unsere Kosten zu amüsieren. Für ihn, der nicht direkt betroffen war, musste unser Eiertanz ziemlich surreal wirken, und er hatte damit sogar recht. Was bildete ich mir eigentlich ein? Ein halbes Kind wie ich wollte Stammvater eines Vampirclans werden? Absurder ging es wirklich nicht.

»Nicolas, ich kann das nicht. Ich kann dein Angebot nicht annehmen.« Von meinem plötzlichen Sinneswandel überrascht, rissen beide Gesprächspartner die Augen auf und starrten mich an, als ob ich gerade den bevorstehenden Weltuntergang verkündet hätte. Nachdem sie den ersten Schock überwunden hatten, schüttelte nun Logan seinen Kopf, während Nicolas am Boden zerstört darum kämpfte, seine Fassung zu wahren. Zu mehr als einem gehauchten »Warum?« war er nicht in der Lage.

»Weil ich nicht für dich sorgen kann. Ich kann es ja nicht einmal für mich selbst.«, es schmerzte mich, Nicolas völlig verzweifelt zu sehen, weswegen ich mich beeilte, fortzufahren, »Es geht nicht um dich. Ich wäre wirklich stolz und sehr glücklich, einen Mann wie dich an meiner Seite zu wissen. Aber als dein Stammvater bin ich für dein Wohlergehen verantwortlich. Ich mag Großherzog Florian Margaux sur Rhone sein. Aber außer einem großkotzigen Namen besitze ich nicht mehr, als die Kleidung auf meiner Haut, und selbst das stimmt nicht. Die Kutte, die du mir gegeben hast, gehört deinem Ordern. Ich bin Stammvater eines Hauses ohne ein Dach über dem Kopf. Ich bin ein Tischlergeselle bei der Firma Niederreuter und lebe noch bei meinem Vater. Bis mir Tamir die Problematik meiner Herkunft erklärte, ging ich davon aus, ein Mitglied des Hauses Varadin zu sein und Constantin, den Mann den ich liebe, zum Partner zu nehmen. Aber ich bin kein Mitglied seines Hauses und werde, sollte ich mich dem Ritual unterziehen, auch nicht mehr sein Geschöpf sein. Ich habe keine Ahnung, wie es mit ihm und mir danach weitergeht. Liebt er mich noch? Liebe ich ihn noch? Was bedeutet es, dass wir die Anführer zweier Häuser sind? Entzweit uns die Politik? Momentan fühle ich mich, als stände ich am Rande eines bodenlosen, schwarzen Abgrunds. Wie könnte ich in solch einer Situation die Zukunft und das Leben eines Mannes gefährden, den ich wirklich, trotz der kurzen Zeit, die ich ihn kenne, sehr gerne mag?«

Wahrscheinlich war es seinem emotional angeschlagenen Zustand geschuldet, dass Nicolas nicht gleich begriff, was ich ihm eigentlich gesagt hatte. Logan war da schneller und auch wesentlich pragmatischer. Er stupste seinen befreundeten Bruder an und wartete, bis dieser aus seiner katatonischen Starre erwachte.

»Hey, Shithead, did you hear that?«, dieser verrückte Schotte schien immer dann in seine Muttersprache zu verfallen, wenn die Notwendigkeit bestand, auf prägnante Schimpfworte zurückzugreifen, von denen er eine Menge zu kennen schien. »Der Typ mag dich. Vielleicht solltest du ihm erzählen, dass er sich viel zu viele Sorgen um völlig unwichtige Dinge macht.«

Nicolas hörte nicht, sondern glotzte nur abwesend von mir zu Logan und zurück.

»Okay, buddy«, übernahm Logan das Reden und wandte sich an mich, »Forget about that crappy stuff. Actually, you're still a nofi. Ich habe nur eine Frage: Bist du bereit, den Job, ein Haus zu führen, anzunehmen?«

»Ja!«, trotz oder gerade wegen allem was passiert war, wollte ich Herr meines Hauses werden.

»Good guy!«, Logan strahlte, »Dann lass dir von Nikki helfen!«

Mit der Erwähnung seines Spitznamens schien Nicolas wacher zu werden. Auf jeden Fall spitzte er seine Ohren.

»Du brauchst weder ein Schloss, noch einen Palast oder eine Konzernzentrale, um ein Haus aufzubauen. Bei uns auf der Insel gibt es das Haus Dorset. Duke Whilliam Sommerset Dorset ist ein wirklich netter Kerl, obwohl er Engländer ist. Was soll ich dir sagen, sein Haus umfasst nicht mehr als 17 Mitglieder. Klein, aber fein. Wer sagt denn, dass du kein Haus mit zwei Mitgliedern gründen kannst?«

»Aber wovon sollen wir leben?«, wollte ich wissen, »Gut, wir können jagen gehen. Eine gut gefüllte Halsschlagader wird sich immer finden. Das ist nicht das Problem. Aber wir brauchen ein Dach über dem Kopf. Eine Höhle, in der wir uns tagsüber verkriechen können. Ich will aber auch nicht in einem Loch hausen. Wenn ich Nikki erlaube, sich mir anzuschließen, dann muss ich ihm auch etwas bieten können.«

»Deswegen hast du Nein gesagt?«, stammelte das Objekt der Unterhaltung, »Du hast Angst, du müsstest das perfekte Heim bereitstellen? Vergiss es!«

»Aber...«

»Nichts aber!«, unterbrach Logan, »Wir werden dir helfen. Du bist der letzte Hati. Ich glaube nicht, dass ich mich zu weit aus dem Fenster hänge, wenn ich dir sage, dass sich alle Nosferatu darum reißen werden, einem direkten Nachkommen Vidars zu helfen.«

»Also gut.«, warum sollte ich mich weiter wehren? Ich mochte Nicolas und konnte mir gut vorstellen, mit ihm ein Haus aufzubauen. »Um ehrlich zu sein, ich würde mich wirklich freuen, einen Mann wie dich an meiner Seite zu wissen. Verdammt, Nicolas, ja, ich will dich!«

Das Timing des Abts konnte nicht besser sein. Während Nicolas sein strahlendstes Totenschädelgrinsen zeigte, war Bruder Markus an uns herangetreten.

»Hallo Bruder Logan.«, grüßte er den schottischen Pilger, »Erlaubt mir, Euch nochmals für Eure letzte Lieferung zu danken. Euer Brennmeister hat erneut ein Meisterwerk geschaffen.«

»Es freut mich, dass Euch unsere bescheidenen Produkte erfreuen, Bruder Abt.«, erwiderte Logan und fügte mit einem Zwinkern hinzu, »Wenn es Eure Zeit erlaubt, würde ich Euch gerne zwei ausgewählte Sonderbrände unserer Distillery vorstellen.«

»Sehr, sehr gerne. Doch nun...«, der Abt wandte sich Nicolas und mir zu, »zu euch. Es ist soweit. In Anbetracht der neuen Lage mit Florians Abstammung haben wir die Vorbereitung für den Servius-Novatin beschleunigt. Wenn es Euer Wunsch ist, diesen Weg zu beschreiten, dann folgt mir. Die Zeit Eurer Wiedererweckung ist gekommen.«

Waschen und Legen

Wir standen am Anfang eines Gangs. Rote und schwarze Stoffbanner wechselten sich ab. Bruder Markus hatte uns, soweit mich mein Orientierungssinn nicht täuschte, zum äußersten Ende des unterirdischen Klosters geführt. Dort wurden wir von diesem langen Tunnel empfangen, der von den erwähnten roten und schwarzen Stoffbahnen gesäumt wurde.

»Ab hier müsst ihr den Weg allein gehen.«, erklärte Markus und deutete in den Tunnel, »Beschreitet ihr diesen Weg, gibt es kein Zurück.«

Das war er also, der Moment der Entscheidung. Was erwartete mich am Ende des Ganges? Damit meinte ich nicht den Schmerz, der zweifelsfrei drohte, sondern die Konsequenzen, die dieser Weg nach sich zog. Ich hatte wirklich Angst. Ich wollte Constantin nicht verlieren, genauso wenig Christiano oder selbst Simon.

In meinem Schädel lief eine Dauerschleife: Ohne Ritual würde ich Constantin mit ziemlicher Sicherheit verlieren und mit Ritual... würde alles anders, die Karten neu gemischt. Auf der einen Seite stand Verlust, auf der anderen Unsicherheit. Aber hatte ich überhaupt eine Wahl? Hatte ich meine Entscheidung nicht längst getroffen?

Meine Augen wanderte zu Nicolas. Unsere Blicke begegneten sich. Und? stand in seinen Augen geschrieben. Und? sprachen meine Augen. Nicolas zuckte mit den Schultern. Ich zuckte auch, deutete aber mit einer meiner Schultern in Richtung Gang. Sollen wir wirklich? Nicolas Herz raste. Der selbstsichere Mönch hatte die Hose mindestens so gestrichen voll wie ich.

Der Abt, Bruder Markus, wartete geduldig. Er übte keinerlei Druck auf uns aus. Er wusste nur zu gut, was uns erwartete. Kein Bruder der grauen Nebel wurde gezwungen, eine Wiedergeburtszeremonie über sich ergehen zu lassen, noch wurde es erwartet, selbst dann nicht, wenn alles für ein Ritual vorbereitet war. Es gab Brüder, so Markus, die zwanzig und mehr Anläufe benötigten. Das wichtigste war, dass man die Wiedergeburt wirklich aus seinem Innersten heraus für sich selbst wollte und nicht, weil jemand anderes es von einem erwartete.

»Beschreiten wir den Weg?«

Die Frage war zwar verbal an Nicolas gerichtet, aber eigentlich stellte ich sie primär mir selbst. Ja oder Nein?

Den Boden des Tunnels bedeckte ein dunkelroter Läufer mit schwarzer Einfassung. Er nahm die Farben der Wandbanner auf. Rot und Schwarz - Blut und Dunkelheit.


Okay! Okay?

Stopp! Halt! Wie jetzt? Ich hatte einen, den ersten Schritt, gemacht. Ich stand auf dem Läufer des schwarzroten Ganges und Nicolas folgte mir. Wir blickten uns an. Kein Wort wurde gewechselt, nur dieser Blick, den wir miteinander austauschten, der sagte alles. Nicolas zeigte einen amüsierenden Ausdruck, den ich mit einem fragenden erwiderte: Was? Als Antwort erntete ich ein Blinzeln in Kombination mit einem Wackeln der Augenbrauen. Übersetzung: Wir sind am Arsch!

Wir waren es nicht, jedenfalls nicht zu Anfang. Der Gang zog sich ein ganzes Ende hin. Ich schätzte seine Länge auf locker einhundert Meter, obwohl die abwechselnd schwarzen und roten Banner einen ganz schön verwirren konnten. Am Ende standen wir vor einer Tür. Ich blickte zu Nicolas, der schielte zur Tür und nickte in ihre Richtung: Mach auf!

Ich öffnete die Tür und wurde von einem schneeweißen, hell erleuchteten Raum empfangen, was merkwürdig war, da ich keine Lichter entdecken konnte. Wir traten zögernd und ängstlich ein. Mit einem deutlichem Klack fiel die Tür hinter uns ins Schloss. Total erschrocken wirbelten wir herum und stellten mit Entsetzen fest, dass es ab jetzt wirklich kein Zurück mehr gab. Die Tür verfügte über keinerlei Griff oder Knauf.

Nicolas rollte mit seinen Augäpfeln und schüttelte den Kopf. Ich wusste, was er meinte. Wir wagten immer noch nicht zu sprechen. Auch nicht, als plötzlich Leben in die weißen Wände kam, die sich in Wirklichkeit als schneeweiße Stoffbahnen entpuppten. Sekunden später waren wir von sechs Mönchen in schneeweißen Kutten umringt. Je drei wandten sich uns zu und begannen, uns zu entkleiden. Gut erzogen wie ich war, wollte ich sofort mithelfen, wurde aber ebenso freundlich wie nachdrücklich davon abgehalten. Das Ritual hatte begonnen. Alles was jetzt geschah, würden wir als passive Objekte erleben, beziehungsweise ertragen.

Die Mönche gingen unendlich respektvoll mit uns um. Langsam und sorgsam wurden unsere Kutten geöffnet und uns abgenommen. Je ein Mönch faltete sie zusammen und legte sie beiseite. Während der ganzen Prozedur wurde kein einziges Wort gewechselt, obwohl es durchaus einen Grund dafür gab. Nicolas Schwanz zeigte eine leichte Versteifung, an der ich nicht ganz unschuldig zu sein schien. Seine Augen ruhten auf meinem Körper. Ihm schien zu gefallen, was er sah. Umgekehrt blieb ich auch nicht unbeeindruckt. Zwar hatte ich meinen Ritualgenossen am Vorabend schon nackt gesehen, allerdings waren die Lichtverhältnisse im Bad deutlich schlechter als hier im schneeweißen Entkleidungsraum. Mein Schwanz regte sich ebenfalls, was den sechs Mönchen nicht entging, ihnen aber nur ein nachsichtiges Lächeln entlockte, bevor sie uns durch die weißen Vorhänge hindurch in einen weiteren Raum führten.

Bereits die uns entgegenschlagende Luft ließ ahnen, was uns erwartete. Der weiße Marmor, der warme, kräutergeschwängerte Dampf, das Plätschern von Wasser deuteten auf ein Bad hin. Es war mehr als das, es konnte einem Hamam locker das Wasser reichen. Beheizte Marmortische luden zur Massage ein und diverse Wasserbecken zum Baden und Waschen.

Genau damit ging es weiter. Die immer noch schweigenden, weiß gekleideten Mönche deuteten uns, zu einem der Becken zu kommen. Dort angekommen begannen sie uns zu waschen. Wir wurden mit warmem Wasser übergossen, anschließend brachten die Mönche Kübel voller Seifenschaum. Je zwei zogen sich eine Art Schwammhandschuh an und begannen uns richtig kräftig einzuseifen. Wir wurden geschrubbt, gerubbelt, gespült und erneut eingeseift. Die ganze Prozedur wiederholte sich mindestens dreimal. Ich glaube, ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so sauber gefühlt, wie nach dieser Waschung. Das ganze nahm kein Ende. Als ich glaubte, wir wären endlich fertig, geleiteten uns die Mönche zu einem großen Becken und deuteten uns, darin zu baden, was wir wort- und widerspruchslos taten.

Das Wasser war sehr warm, fast heiß, und wenn ich den Geruch richtig interpretierte, ausgesprochen mineralhaltig. Wir badeten, ließen uns in der salzhaltigen Flüssigkeit treiben. Müdigkeit kroch mir und Nicolas, wenn ich seinen krampfhaften Versuch, die Augen offen zu halten richtig interpretierte, in die Knochen. Gerade als ich fast im Wasser eingenickt wäre, holten uns die Mönche heraus und geleiteten uns zu zwei Liegen. Wir wurden in weiche Badetücher gewickelt und es uns so bequem wie möglich gemacht.

Ein Mönch in grauer Kutte erschien, den ich erst beim zweiten Blick als Petrus erkannte. Er lächelte uns zu, nahm dann Haltung an, um das Folgende zu verkünden.

»Euer Körper wurde gereinigt. Ihr tragt nur noch euch selbst, das Gefäß eures Wesen. Den Staub und Schmutz der Welt habt ihr abgelegt. Ruht nun, bis zur vorbestimmten Stunde der Bund des Blutes geschlossen wird.«

Petrus? Der Sekretär Tamirs? Während ich noch darüber nachgrübelte, wieso ausgerechnet er uns besuchte und erklärte, was als nächstes geschehen sollte, übermannte mich die Müdigkeit und ich sank in einen friedlichen Schlaf. Wenn ich etwas träumte, dann von angenehmen Dingen. Weder Albträume noch dunkle Gedanken störten meine Ruhe, sodass ich irgendwann, ich könnte nicht sagen, ob es nach fünf Minuten oder fünf Stunden war, wieder erwachte.

»Gut geschlafen?«, fragte Nicolas neben mir, der, seinem verpennten aber gleichzeitig erfrischten Ausdruck nach, ebenfalls gerade erwacht war.

»Ja, sogar sehr gut. Ich habe mich wirklich erholt. Was kommt als nächstes?«

»Ich weiß es nicht.«, meinte der Nosferatu im Badetuch.

»Wie, du weißt es nicht? Ich dachte, du kennst das Servius-Novatin Ritual...«

»Vom Namen nach, ja.«, gestand Nicolas, »Ich kenne alle Rituale, ihre Funktion, ihre Bedeutung. Ich weiß, dass das eine Ritual anstrengender oder schmerzhafter als das andere ist. Doch kenne ich keine Details. Die muss ein Nosferatu am eigenen Körper erleben. Was unseren Servius-Novatin betrifft. Er ist eine Legende. Etwas, um junge, unerfahrene Nosferatu zu erschrecken und ältere verstummen zu lassen. Es gibt wenige, die ihn absolviert haben. Petrus ist einer von ihnen. Es war das letzte Ritual, welchem er sich unterzog, bevor er unseren Orden verließ. Tamir war sein Partner.«

Was hieß, dass auch Tamir wusste, wovon er sprach.


Noch während Nicolas sprach, tauchten acht Mönche in blutroten Kutten auf. Sie wurden von Petrus begleitet, der nach wie vor in graue Gewänder gekleidet, sich an uns wandte.

»Meine Freunde, es ist Zeit.«, seine Stimme vibrierte vor Anspannung, »Ihr müsst uns jetzt begleiten. Folgt mir in die Halle des Bundes des Blutes.«

Der Kontrast zwischen dem Bad und dem nachfolgenden Raum konnte nicht größer sein. Während der erste in hellem, strahlendem Weiß gehalten war, betraten wir nun einen dunklen Raum. Die dominanten Farben waren Rot und Schwarz. Er erinnerte ein wenig an einen altmodischen Hörsaal, in dem Vorlesungen über Anatomie abgehalten wurden. Wir wurden in das ringförmige Innere des Saals geführt, das steil aufsteigende Sitzreihen umgaben, die bis auf den letzten Platz besetzt waren. Ich schätzte, dass uns etwa einhundert schwarz verhüllte Mönche beobachteten. Erkennen konnten wir niemanden, da sie ihre Kapuzen tief ins Gesicht gezogen hatten. Doch wenn uns so viele beobachteten, hieß das dann nicht auch, dass sie sich alle dem Ritus unterzogen hatten? Nicolas musste der gleiche Gedanke gekommen sein, denn er flüsterte mir, »es sind mehr, als ich dachte«, zu.

Ich hatte fast den Mittelpunkt erreicht, als mir der Atem stockte. Was ich dort erblickte, ließ nichts gutes ahnen. Im Zentrum war ein Rahmen aus Gitterrohren errichtet worden, an dem zwei Paar Ketten und Fesseln hingen. Es gehörte wenig Grips dazu, eins und eins zusammenzuzählen, um zu ahnen, wer sich bald in diesen Fesseln wiederfinden würde.

»Dieser Teil des Ritus ist Vorbereitung und Probe zugleich.«, erklärte Petrus, »Man wird euch binden. Man wird euch geißeln, bis euer Blut hervorquillt, welches aufgefangen und gesammelt wird. Ihr werdet Schmerzen, unerträgliche Schmerzen erleiden. Euer Körper wird versuchen, sich ihnen zu entziehen und sich in Besinnungslosigkeit flüchten. Sollte dies auch nur bei einem von euch passieren, so habt ihr beide versagt.«

Es war nicht nötig, uns zu erklären, was ein Versagen bedeutete. Wir begriffen auch so, dass Petrus von unser beider Tod sprach. Bisher war mir das Ritual wenig spektakulär erschienen, doch mit dem, was uns nun drohte, kippte meine Stimmung von Zuversicht in Richtung Panik. Mein Puls beschleunigte sich. Mein Herz pochte laut und deutlich in meiner Brust. Schweiß brach auf meiner Stirn aus und rann die Wangen herunter. Meine Hände waren klitschnass.

»Beginnt!«

Was? Keine Frage, ob wir bereit waren? Einfach nur ein Wort: »Beginnt«?

Die acht blutrot gekleideten Mönche setzten sich sofort in Bewegung. Vier ergriffen Nicolas, die anderen schnappten sich mich. Wir wurden zum Gestell geführt. Warum wehrten wir uns nicht? Stattdessen ließen wir uns wie Schlachtvieh willig abführen. Die Mönche legten uns die Fesseln an die Handgelenke an. Anschließend wurden die Ketten, an denen sich die Fesseln befanden, emporgezogen, bis wir frei in der Luft pendelten. Schon diese Position, wenn der ganze eigene Körper an den Armen hing, war schmerzhaft, wenn auch nicht ganz so, wie ich es befürchtet hatte. Vermutlich hatte sich mit meiner Verwandlung zum Vampir auch mein Schmerzempfinden gewandelt.

Die Mönche hatte uns so aufgehängt, dass wir uns ansehen konnten und nur knapp einen halben Meter voneinander entfernt hingen.

»Und, bist du immer noch der Meinung, dass das Ritual eine gute Idee war?«, wollte ich von Nicolas wissen.

Der lachte, was ich kaum glauben wollte. Wohl wissend, dass ihm gleich eine Peitsche oder ein ähnlich unerfreuliches Werkzeug die Haut aufreißen würde, lachte mein noferatuanischer Freund.

»Ich habe nie behauptet, dass die Idee gut sei. Es war der einzige Weg, der deine Probleme lösen kann.«

Während Nicolas sprach, wurde von den rot gewandten Mönche eine ziemlich große silberne Wanne herbeigetragen und unter unseren Körpern aufgestellt. Offensichtlich sollte sie unser Blut aufnehmen - Unser beider Blut.

»Es ist keine Schande, zu schreien.«, raunte uns Petrus zu, »Ihr müsst uns nicht eure Tapferkeit beweisen.«

Wenn diese Bemerkung eine Aufmunterung darstellen sollte, verfehlte sie völlig ihr Ziel. Mich beschäftigte nur eine Frage: Wie war ich nur in diesen Albtraum hinein geraten? Vampire, Untote, Rituale, Blutslinien, Fürstentümer. Dieser ganze Scheiß konnte mir, mit Verlaub, gehackt bleiben. Verdammt! Nun fangt doch endlich an!

»Mitbrüder«, wandte sich Petrus an das Auditorium, »Werdet nun Zeugen des Blutzolls der Brüder Nicolas und Florian. Möge ihr Geist von aufrichtigem Glauben an ihre Stärke erfüllt sein.«

Auf dem Zahnfleisch

Constantin

Einen Vorteil hatte die Krise meines Hauses, sie schweißte zusammen. Egal, ob es sich um einen Varadin oder einen Breskoff handelte, jeder und jede war bemüht, das von Frantz angerichtete Chaos zu beseitigen. Die einzige Person, die nicht mit anpacken konnte, war ich, dessen Blut nach wie vor mit der für alle Vampire tödlichen Vampirpest verseucht war.

Wie nicht anders zu erwarten, gelangten nach ein paar Tagen Gerüchte über eine unnatürliche Unpässlichkeit des Stammvaters des Hauses Breskoff-Varadin an die Öffentlichkeit. Es sollte einen Unfall am alten Standort der Varadins gegeben haben, in dessen Folge ich schwer verletzt worden sei. Einige Gerüchte behaupteten sogar, ich wäre einem Anschlag zum Opfer gefallen und tot. Mit jeder Stunde, die verging, nahmen die vordergründig wohlmeinenden Anfragen der anderen Häuser zu, die sich nach meinem Wohlbefinden erkundigten. Es war absehbar, dass wir meinen Zustand nicht mehr lange verbergen konnten. Was dann drohte, wollte ich mir nicht ausmalen.

Doch so weit war es zum Glück noch nicht. Ganz im Gegenteil konnten wir kleine Fortschritte verkünden. So war es Bruno gelungen, Ricardos Verfahren zur Aschefilterung nachzuvollziehen. Einer Wiedererweckung unseres Oberwissenschafters stand fast nichts mehr im Wege. Leider hatte sich Frantz für seine Bombe aus fast allen Laboren Ausrüstungsgegenstände zusammengeklaubt. Bruno fehlten schlicht ein paar Laborgeräte, die erst noch beschafft werden wollten. In der Zwischenzeit kümmerte er sich darum, die Versorgung mit unverseuchtem Blut sicherzustellen. Insbesondere unterzog er jeder Konserve unseres Vorrats einer doppelten Kontrolle bevor sie zum Verzehr freigegeben wurde.

Ritter Simon brütete nach wie vor über den beschädigten Daten der angekokelten Festplatte aus Frantz Notebook. Trotz diverser anfänglicher Schwierigkeiten zeigte er sich inzwischen zuversichtlich, sämtliche Inhalte von der Magnetschreibe kratzen zu können. Ein kleines selbst geschriebenes Programm sollte ihm dabei helfen, welches aber eine ganze Weile rechnen müsste. Wo hatte der Bursche gelernt, so gut mit Computern umgehen zu können? Ich fiel aus allen Wolken, als er mir erzählte, dass die Programmiererei nicht so aufwendig gewesen wäre, wie er befürchtet hatte. Programmieren? Seit wann konnte Simon programmieren?

Pragmatisch wie er war, nutze mein kleiner Wachvampir die unvermeidliche Pause, die das Programm benötigte, um die Bits von der angeknusperten Festplatte zu kitzeln dazu, den kleinen Spezialauftrag auszuführen, um den ich ihn gebeten hatte. Während Simon Christiano besuchte, um in Erfahrung zu bringen, wie es meinem Florian ging, blieb mir nichts weiter übrig, als in meinem S4-Labor, welches sich von Minute zu Minute mehr wie ein Gefängnis anfühlte, Däumchen zu drehen. Anfangs wurde ich noch regelmäßig per Videoverbindung besucht, doch mit der Zeit und der anstehenden Aufgabe, das Haus wieder in Ordnung zu bringen, nahm die Frequenz der Besuche rapide ab, von den täglichen Statusberichten abgesehen.

»Wir müssen noch die Vorbereitungen für deine Berufungszeremonie durchgehen.«, bemerkte Lydia während unseres morgendlichen jour fixe, »Wir sollten an der bestehenden Planung festhalten, um niemandem einen Anhaltspunkt zu geben, es könnte in unserem Haus etwas nicht stimmen.«

»Ich gebe dir recht.«, pflichtete Laurentius bei, »Zum Glück haben mehrere Häuser von sich aus eine Verschiebung beantragt. Ich war ein wenig überrascht, dass die Nosferatu dem Wunsch kommentarlos zustimmten und habe ein paar Nachforschungen angestellt.«

»Und?«, wollte ich wissen.

»Nichts, sogar weniger als das.«, Laurentius massierte sich die Stirn, was bei ihm ein Zeichen für größtmögliche Irritation war, »Eigentlich dachte ich immer, noch recht gute Kontakte zu meinem alten Orden zu besitzen. Doch als ich das Thema anschnitt, erntete ich Schweigen. Irgendetwas geht hinter den Mauern der Klöster meiner ehemaligen Brüder vor. Da braut sich etwas zusammen, von dem ich nicht ansatzweise sagen könnte, was es ist.«

Das auch noch. Als wenn wir nicht genügend eigene Probleme hätten.

»Könnte es sein, dass die Nosferatu gegen uns operieren?«, wollte Michael wissen.

»Jein.«, antwortete Laurentius, »Die Nosferatu arbeiten weder für noch gegen uns. Sie sind neutral und nur dem Kodex gegenüber loyal. Zumindest darauf können wir uns verlassen. Wenn sie gegen uns arbeiten, dann nur dann, wenn wir den Kodex verletzt hätten, was wir aber nicht haben. Es muss etwas anderes sein. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, die Nosferatu befänden sich in einer spirituellen Aufruhe.«

»Einer was?«, wollte Lady Timon wissen. Ganz die bodenständige, zählten Begriffe, wie »spirituelle Aufruhe«, nicht zu ihrem aktiven Wortschatz.

»Ich weiß nicht, wie ich es besser beschreiben soll.«, Laurentius blieb vage, »Sollte sich etwas ergeben und ich mehr erfahren, lasse ich es euch sofort wissen. Die Sache ist für mich ebenso eigenartig, wie für euch.«

»Apropos eigenartig.«, schaltete sich Michael in die Unterhaltung ein, »Weiß jemand, wo Simon steckt? Ich wollte ihn eigentlich fragen, ob er mir mit dem Sicherheitssystem des Gebäudes helfen kann, finde ihn nur nirgends.«

»Simon befindet sich auf einer Außenmission.«, erwiderte ich knapp und erntete dafür ein wissendes Nicken von Lydia, »Frag Orwell, den Hauptmann der Wache, ob er dir helfen kann. Große Teile des Systems wurden nach seinen Vorgaben erstellt.«

Michael zog erstaunt eine Augenbraue hoch, gab sich aber mit meiner Erklärung zufrieden und meinte stattdessen, dass er Orwell gleich nach der Sitzung aufsuchen würde. Genau in diesem Moment kam Bruno hereingeplatzt und verkündete sichtlich stolz, dass es ihm gelungen sei, Ricardos Asche endlich zu filtern. Das letzte fehlende Laborgerät wäre kurze Zeit vorher geliefert worden, ein Massenspektrometer, mit dem er eine abschließende Kontrolle des Filtrats durchführen wollte. Die Frage, so Bruno, wäre nun, wer Ricardo wiedererwecken sollte, was zu allgemeinem Schmunzeln führte. Die meisten Mitglieder aus der Führungsetage des alten Hauses Varadin wussten, dass Bruno für seinen Chef schwärmte. Nach dieser Sitzung würden auch die wichtigsten Köpfe des ehemaligen Hauses Breskoff davon wissen. Laurentius war bereits damit beschäftigt, Timon eine entsprechende Information ins Ohr zu flüstern, die diese mit einem albernen Kichern quittierte.

»Ich glaube, mein liber Bruno«, ich richtete meinen Blick in Richtung Webcam, »dass es außer Frage steht, dass dir diese Ehre gebührt. Schnapp dir Ricardos Asche und erwecke unseren Freund zu neuem Leben.«

»Aye Chef!«, jubelte Bruno und rannte strahlend davon.

»Wenn er so weiter macht, wird er sein Pulver noch zu früh verschießen.«, bemerkte Michael breit grinsend und erntete dafür einen maßregelnden Knuff vonseiten Lady Cassandra, die als mütterlicher Gluckentyp meinte, ein wenig auf das Niveau der Sitzung achten zu müssen. Aber auch sie konnte sich nicht eines gewissen Schmunzelns erwehren.

»Nehmt euch ein Vorbild an unserem Bruno.«, kommentierte ich die Szene mit todernster Miene, »Ihr werdet alle noch genügend Gelegenheit haben, eure Standfestigkeit zu beweisen.«

Auf diese Bemerkung hin erntete ich insbesondere von den Männern entgeisterte Blicke, als ihnen klar wurde, dass Ricardo nur der erste einer großen Zahl eingeäscherter Vampire war, die es wiederzuerwecken galt. Da die Prozedur allgemein bekannt war, dämmerte ihnen, dass ihre Manneskraft bald auf die Probe gestellt wurde.

»Gelegentlich ist es eben doch von Vorteil, kein Kerl zu sein.«, merkte Cassandra süffisant an und erntete bei ihren beiden Schwestern zustimmendes Grinsen.


»Wie geht es Florian? Wie Christiano?«

Ich gebe zu, dass ich Simon mit dieser Frage unmittelbar nach seiner Rückkehr wirklich überfiel. Kurz vor Anbruch der Morgendämmerung war der Ritter vom fehlenden Fuß eingetroffen und hatte sofort Kontakt zu mir aufgenommen. Eine kleine Statusanzeige in der Konferenzanwendung zeigte, dass Simon die höchste Verschlüsselungsstufe gewählt hatte, um mit mir zu sprechen.

»Florian war nicht bei Christiano.«

Obwohl ich Simon nur auf dem Bildschirm meines Notebooks sah und seine Stimme nur per Lautsprecher hörte, konnte ich seine Anspannung spüren. Dass er dabei zögerte, entsprach dabei nur der Kirsche auf dem Sahnehäubchen. Mir verschlug es im ersten Moment die Sprache. Florian war nicht bei Christiano?

»Wie? Was? Wieso ist er nicht bei Christiano? Wo ist er?«

Meine Fragen überschlugen sich, genauso wie meine Gedanken. Simons Reaktion war auch nicht dazu angetan, mich entspannt zurückzulegen. Der Bursche schaute ziemlich unglücklich in die Webcam. Selbst durch das bescheidene Bild konnte ich erkennen, dass sich der Kleine nicht wohl in seiner Haut fühlte. Die nächste Frage stellte ich daher mental, auch wenn dies inzwischen sehr viel Konzentration erforderte. Mentale Kommunikation funktionierte nur dann sehr gut, wenn der Gesprächspartner einen frisch gebissen hatte.

Was ist los?

Simon seufzte, holte tief Luft, atmete nachdenklich aus, bevor er zu einer Erklärung ansetzte:»Florian ist bei Tamir.«

»Florian ist bei Tamir?«, meine Stimme überschlug sich, kippte ins hysterische, »Was macht er bei dem Totenschädel?«

»Ich weiß es nicht. Christiano weiß es, will aber nichts sagen.«, Simon zögerte. Er suchte nach den richtigen Worten und ich musste mich zwingen, nicht auszurasten, was nicht unbemerkt blieb, »Bitte, Constantin, vertrau mir und vertrau Christiano. Du weißt, er würde niemals gegen dich handeln. Ich habe versucht, mehr Informationen zu erhalten, aber Christiano meinte, dass er nichts sagen könne.«

Ich war kurz davor zu platzen. Nicht, weil ich wirklich befürchtete, von Christiano hintergangen worden zu sein oder dass er sich zu irgendeiner Illoyalität hätte hinreißen lassen, sondern weil ich mich so unendlich hilflos vorkam. Das S4-Labor, in dem ich feststeckte, wurde von Minute zu Minute unerträglicher. Wie sollte ich ein Haus führen, seinen Vorturner geben, wenn jeder Kontakt tödlich endete? Zu sagen, dass ich das Gefühl hatte, dass mir langsam die Kontrolle entglitt, war mehr als nur untertrieben.

»Simon, bitte, lass mich allein.«

War es soweit? Resignierte ich? Auf jeden Fall wollte ich nichts mehr von Simon hören. Nicht von ihm und auch nicht von irgendjemand anderem. Stattdessen schwebte mir vor, als pathetischer Jammerlappen mich unter die Decke meines Feldbetts zu verkriechen und zu heulen. Fürst Constantin Varadin, ein bemitleidenswertes Nervenbündel.

»Nein!«

Wie jetzt?

»Ich werde dich nicht allein lassen.«, hörte ich Simon sagen, konnte ihn aber nicht auf dem Bildschirm des Notebooks entdecken. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich mich tatsächlich unter der Decke meines Feldbetts verkrochen hatte und Simon, eingepackt in einen Schutzanzug, neben mir stand. Wie lange hatte ich vor mich hingewimmert und dabei die Zeit vergessen?

»Was willst du hier?«, ein barscherer Tonfall war mir nicht möglich.

»Bei dir sein.«, erwiderte Simon in einer Weise, die vermuten ließ, dass es nicht so leicht werden würden, ihn zu vergraulen.

»Oh toll. Willst du deinem todgeweihten Stammvater einen letzten Höflichkeitsbesuch abstatten?«

»Du bist nicht tot, nur untot.«, manchmal hasste ich Simons Besserwisserei, »Und ein Höflichkeitsbesuch ist es garantiert nicht. Ich bin hier, weil ich das Gefühl hatte, dass du einen Freund gebrauchen könntest.«

Verdammt! Wie schaffte es diese ausgebuffte Ratte von einem Vampir nur, mich auch noch meines Selbstmitleids zu berauben? Gönnte er mir denn gar nichts? Aber seine grundehrliche, gerade Art traf einen Nerv. So sehr ich mich in meinem Trübsinn suhlen wollte, es gelang mir nicht. Nicht, solange Simon in der Nähe war. Ganz im Gegenteil hellte sich meine Stimmung sogar ein wenig auf.

»Danke!«

»Dafür nicht.«, entgegnete Simon und ließ sich vorsichtig, peinlich darauf bedacht, die Hülle seines Anzugs nicht zu verletzen, neben mir auf dem Feldbett nieder.

»Ich gehe auf dem Zahnfleisch.«, warum verriet ich Simon meine Seelenverfassung? »In diesem bekackten Labor eingeschlossen zu sein und nicht zu wissen, ob es jemals ein Gegenmittel geben wird, zerrt an den Nerven – ach was erzähl ich – die liegen blank. Ich erwarte jeden Moment eine Delegation der anderen Häuser, die eine Beseitigung der letalen Bedrohung aller Hämophagen fordert. Warten – genau damit bin ich beschäftigt, mit warten. Ich warte auf meinen täglichen Blutbeutel, auf Informationen von Lydia, Laurentius, dir oder irgendwelchen anderen Leuten. Ich warte auf Ergebnisse von Bruno. Ich warte, warte und warte. Simon, ich sitze in einem Knast. Frantz mag mich nicht umgebracht haben, das Ergebnis seiner Bombe kommt aber effektiv auf dasselbe heraus.«

»Ich weiß, und ich wünschte, ich könnte etwas daran ändern. Glaube mir, auch wenn du es von hier aus nicht mitbekommen magst, aber Bruno und die Jungs seines Labors, die nicht das Pech erwischte, vom verseuchten Blut zu trinken, arbeiten rund um dir Uhr an einem Gegenmittel. Und nein, das ist nicht symbolisch gemeint. Das Team arbeitet in drei Schichten.«

»Drei Schichten? Einer pro Schicht, oder wie?«

»Oh, hatte ich vergessen zu erwähnen, dass unsere Jungs durch die Leute aus Prag verstärkt wurden. Das ganze Team aus Schloss Breskopol ist hergekommen, um an der Forschung mitzuarbeiten.«, bemerkte Simon grinsend. »Ich weiß, dass du dir Sorgen um das Zusammenwachsen der Häuser gemacht hast. Nun, wenn es nicht zynisch wäre, so etwas zu sagen, dann müsste man deinen Zustand als Segen betrachten. Alle ziehen an einem Strang, wie eine große Familie.«

»Wow!«, damit hätte ich nicht gerechnet. »Trotzdem, Simon, du solltest nicht hier sein. Die Gefahr, deinen Anzug zu verletzten, ist viel zu groß. Ich will dich nicht verlieren.«

Statt sofort zu antworten, schaute sich Simon um, ging zu meinem Notebook und fuhr es herunter. Nachdem es sich ausgeschaltet hatte, entfernte er die Akkus.

»Was soll das?«

»Es gibt da etwas, das ich dir persönlich erzählen wollte.«, begann Simon und rückte dichter an mich ran. Leise, fast flüsternd, fuhr er fort, »Da Christiano nichts sagen wollte, habe ich selbst ein paar Nachforschungen angestellt. Sowohl Christianos als auch Florians Wohnung wird von den Nosferatu überwacht. Sie haben sich zwar alle Mühe gegeben, nicht entdeckt zu werden, aber da ich wusste, was ich suchte, war es nicht sonderlich schwer, sie auszumachen. Ich bin auch nicht direkt von Christiano zurückgekehrt, sondern habe mich in der Szene umgehört. Irgendetwas geht da vor. Die Nosferatu sind nervös, um nicht zu sagen aufgewühlt. Es kursieren die wildesten Gerüchte. So soll der Stammvater eines ausgestorbenen Nosferatustamms wiederauferstanden sein. Kann das irgendetwas mit Florian zu tun haben? Die ganze Aufregung scheint von einem einzigen Kloster unserer Totenschädelfreunde auszugehen.«

»Weißt du welches?«

»Irgendetwas mit Nebeln.«, meinte Simon und versetzte mir damit das psychische Äquivalent zu einem Elektroschock.

»Meinst du zufällig die Bruderschaft der grauen Nebel?«, hakte ich nervös nach.

»Ja, genau. Kennst du es?«

»Ja!«, erwiderte ich nachdenklich, »Konntest du zufällig in Erfahrung bringen, wohin Tamir mit Florian gegangen ist?«

Simon schüttelte verneinend den Kopf: »Nein, leider nicht. Es gibt zwar das Gerücht, dass sich Tamir in diesem Kloster aufhalten soll, aber dies schien im Zusammenhang mit diesem ausgestorbenen Nosferatu zu stehen.«

»Tamir, was hast du vor?«, murmelte ich vor mich hin.

Urinstinkt

Florian

Constantin, Christiano, Simon, Constantin, Tommy, Nicolas...

»Constantin!«

Das Erwachen erfolgte schlagartig. Eben noch in einem merkwürdigen Schlaf voller tiefgründiger Traumfetzen, jagte ich panikartig auf, saß kerzengrade und riss meine Augen auf. Wo war ich? Was war passiert?

»Hier!«

Mit diesem Wort wurde mir ein Eimer vor den Kopf gehalten.

»Was...«

Weiter kam ich nicht. Ohne vorwarnende Übelkeit schoss mein Mageninhalt die Speiseröhre empor und entleerte sich in dem dargereichten Eimer. Mit etwas Verzögerung wurde mir dann auch noch redlich übel. Begleitet von Kotzgeräuschen eines Leidensgenossen schloss ich innige Freundschaft mit dem Auffangbehältnis in meinen Armen, bis der Brechreiz nach etlichen qualvollen Minuten langsam abebbte.

»Was zum Teufel...?«

Mein Orientierungssinn schien auf Standby zu stehen, was sich folgerichtig in Orientierungslosigkeit niederschlug. Nachdem mir ein freundlich gesonnenes Wesen etliche Papiertaschentücher reichte, mit denen ich mir den Rotz von und aus Nase und Mund wischen konnte, wagte ich einen vorsichtigen Blick in die Runde. Vielleicht half das meinem Gedächtnis auf die Sprünge und gestatte mir, die golfballähnliche Leere aus meinem Kopf zu vertreiben und mich daran zu erinnern, wo ich war und was eigentlich passiert war.

Was sich meinem Blick offenbarte war ein weißer Raum. Ich selbst hockte auf einer Liege, dessen weiße Decke bis zu meinem Bauch hinabgerutscht war. Wie die parallelen Kotzgeräusche und die vorausschauende Eimerreichung vermuten ließen, war ich nicht allein. Parallel zu meiner Liege stand eine zweite, auf der Nicolas in einer ähnlichen Pose wie ich hockte und sich ebenfalls an einen Eimer klammerte. Neben seiner Lagerstätte stand Tamir und begutachtete den Mann mit dem Eimer. Auch mir war ein Beobachter beigestellt. Mit aufmerksamer und prüfende Miene begutachtete Petrus jede meiner Regungen.

»Du solltest dich hinlegen.«

Ohne abzuwarten, dass ich seinen Rat befolgte, nahm mir Petrus den Eimer ab, griff nach meinen Schultern und drückte mich sanft aber nachdrücklich auf die Liege. Noch während ich überlegte, ob ich mich ärgern oder einfach nur wundern sollte, wurde mein Körper von einem Schweißausbruch erfasst, dem sich ein Zittern hinzufügte, gefolgt von Herzrasen und Kurzatmigkeit. Mein Mund wurde staubtrocken. Ich keuchte und schloss die Augen.

Mit einem Schlag überwältigte mich die Erinnerung. Alles, was Nicolas und ich während des Rituals erlebt und ertragen hatten, flammte wieder auf und brannte in meinem Bewusstsein.

»Ruhig!«, hörte ich Petrus Stimme, der mit seinen Händen beruhigend meine Schultern massierte, »Es ist gleich vorbei. Kämpf nicht dagegen an. Lass es einfach geschehen.«

Ich versuchte es. Mein Gott, ich versuchte es wirklich. Mit zusammengekniffenen Augen, aus deren Winkeln Tränen quollen, versuchte ich den Erinnerungssturm zu ertragen. Alles war wieder da. Blut, Schläge, Schmerzen, Erschöpfung, unnatürliche Geilheit, Stärke, Agonie, Kraft, Zerrissenheit, Krämpfe, Wehrlosigkeit, Auflösung, Leere und Verzweiflung, aber auch Liebe, Verbundenheit, Zuneigung und Hoffnung. Krämpfe erfassten meinen Körper. Unkontrollierbar zappelte ich herum, verlor die Kontrolle über meinen Körper, pisste und schiss mich ein. Petrus blieb unbeeindruckt. Mit stoischer Ruhe kümmerte er sich um mein Malheur, wischte meine Ausscheidungen mit feuchten Tüchern weg. Ihm war wirklich nichts menschliches respektive vampirisches fremd.

»Es ist okay. Kümmer dich nicht drum und wehr dich nicht. Lass es einfach geschehen.«, Petrus hielt mich, stand mir bei.

Ich verlor mein Zeitgefühl, soweit ich überhaupt eins hatte. Der Anfall hatte nicht nur meinen gesamten Körper, sondern auch mein Bewusstsein erfasst. Ich erlebte das Servius-Novatin Ritual erneut – im Schnelldurchlauf. Ehrlich gesagt, einmal reichte vollkommen. Aber mich fragte niemand.

Neben mir stöhnte und seufzte es. Der Nebel der Erinnerungsagonie lichtete sich und ließ mich zur Oberfläche meines Bewusstseins auftauchen. Langsam kämpfte sich die Umgebung wieder in meinen Wahrnehmungshorizont zurück.

Nicolas kämpfte. Mein Nicolas, sollte ich wohl besser sagen. Ich spürte die Verbindung zwischen uns. Nicolas wirkte anders, verändert. Ich konnte seine Präsenz fühlen. Er war mein, mein Geschöpf, obwohl ich ihn niemals gebissen hatte. Aber dieses verfluchte Ritual – der Gedanke daran verursachte einen erneuten Zitteranfall – band ihn an mich. Er hatte sich mir ergeben, indem er sich zum Gefäß meiner Essenz machte. War das fair?

Aus Ermangelung einer adäquaten Antwort versuchte ich etwas anderes. Ein bisher unbekannter Fürsorgeinstinkt zwang mich, aufzustehen und die Liege zu verlassen. Auf wackeligen Beinen und von Petrus gestützt, stolperte ich zu meinem Geschöpf. Nicolas keuchte und stöhnte. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Die Augen weit aufgerissen, starrte er ins Nirgendwo, war tief versunken in der Erinnerung an ein wirklich traumatisches Erlebnis. Auch er hatte die Kontrolle über seine Körperfunktionen verloren.

»Nicolas, ich bin bei dir.«

Kaum dass meine Hand seinen Körper berührte, seufzte dieser auf. Sein Blick veränderte sich, verließ die weite Ferne eines kaum erträglichen Albtraums und kehrte in unsere reale Welt zurück.

»Florian?«, wisperte Nicolas, »Bist du es wirklich? Haben wir...?«

»Ja, wir haben es überstanden.«, erwiderte ich und nahm meinen Nosferatu in den Arm. Ich angelte nach seinem Körper, zog ihn zu mir heran, umschlang und presste ihn an mich. Diese körperliche Nähe bewirkte wahre Wunder. Nicolas beruhigte sich, sein Zittern ließ nach und machte einer entspannten Ruhe Platz. Nicolas weinte und auch mir quollen Tränen aus den Augen. Wir weinten nicht aus Traurigkeit, sondern vor Glück und Erleichterung, eine Prüfung überstanden zu haben, die sich vorzustellen kaum möglich war.

»Ich sehe, ihr versteht jetzt.«

Tamir musterte uns. Er und Petrus hatten sich auf der anderen Liege niedergelassen und betrachteten uns. Ich erwiderte den Blick und verstand tatsächlich. Sowohl in den Augen Tasmanir Musferatus als auch in Petrus schimmerte die Erinnerung in ein ähnliches Erlebnis auf. Die beiden Männer hatten zu ihrer Zeit den gleichen Weg wie wir beschritten. Aus welchen Gründen, ließ sich nicht erahnen.

»Florian, wie fühlst du dich?«

Eine interessante Frage, die ich erst beantworten konnte, nachdem ich in mich hinein gehört und meinen inneren Stimmen gelauscht hatte. Das Ergebnis war gleichzeitig erschreckend und beflügelnd.

»Da ist eine Leere in meinem Wesen, die früher Constantin einnahm.«, gestand ich offen, »Doch meine Liebe, der Teil meines Herzens, den ich Constantin schenkte, gehört nach wie vor ihm, vielleicht sogar mehr als zuvor.«

»Fühlst du dich frei?«, wollte Petrus wissen.

»Frei? Nein, nicht wirklich. Ich kann fühlen, dass ich zwar mein eigener Herr bin, aber das macht mich nicht frei. Ganz im Gegenteil, ich versteh es zwar noch nicht, wie dies möglich ist, aber ich spüre ein tiefes, inneres Gefühl von Verantwortung gegenüber meinem Haus und meinem Erbe. Ich bin für diesen Mann verantwortlich.«, bei dem letzten Satz drückte ich Nicolas ein wenig fester an mich.

Auf den Gesichtern Tamirs und Petrus breitete sich ein zufriedenes Lächeln aus.

»Nicolas, bereust du, Florian begleitet zu haben und dadurch sein Geschöpf geworden zu sein?«, wollte Tasmanir Musferatu wissen.

»Nein«, antwortete der befragte entschlossen, »Die Prozedur war... Nein, darüber möchte ich im Moment nicht reden. Aber nein, ich bereue keine Sekunde, mich Florian unterworfen zu haben und sein Geschöpf geworden zu sein. Nicolas Margaux sur Rhone klingt doch ganz nett, oder? Scherz beiseite. Die Entscheidung war richtig. Ich fühle mich gut. Als ich in dieses Kloster eintrat, war das der Beginn einer Reise, deren Ziel oder Richtung ich nicht kannte oder auch nur erahnte. Aber jetzt weiß ich, dass ich angekommen bin.«

»Gut, wir lassen euch jetzt allein. Reinigt euch, ruht euch aus und sammelt Kraft. Das ganze «, Tamir zögerte es auszusprechen, »war sehr anstrengend.«

Die beiden Nosferatu erhoben sich und wandten sich in Richtung Ausgang, kurz bevor sie den Raum verließen, drehte sich Petrus um und grinste Nicolas an: »Ich weiß ja nicht, ob es wichtig bis, aber als Geschöpf Florians gehörst du nicht mehr der Bruderschaft der grauen Nebel an und unterliegst somit auch nicht ihren Regeln. Das nur als kleinen Hinweis.«

Nach dieser Bemerkung grüßte Petrus uns noch kurz zu, verschwand und ließ Nicolas mit hochrotem Kopf in meinen Armen zurück. Inzwischen hatte sich mein Körper so weit erholt, dass ich auch wieder für Details aufnahmefähig war. Eines dieser Details war mein und Nicolas Bekleidungszustand. Ich stand nackt neben seiner Liege. Ich war aufgesprungen und zu ihm geeilt, ohne dabei zu realisieren, dass mein Körper bis dahin nur von einer weißen Bettdecke bedeckt war. Gleiches galt für Nicolas. Seine Decke war bis zum Bauchnabel hinabgerutscht und hatte dabei seinen nackten Oberkörper entblößt. Es gehörte wenig Fantasie dazu, zu ahnen, wie Nicolas unterhalb der Deckenkante bekleidet war. Was mir aber sofort auffiel, waren die fehlenden Narben, die er bisher vom Schwertkampftraining mit Markus trug. Tastend, suchend, prüfend fuhr ich mit meiner Hand über seine Brust, Bauch und Hüften. Die Narben waren verschwunden, stattdessen präsentierte sich mir ein makellos glatter, gut gebauter Körper eines jungen Mannes.

»Wow, deine Narben sind verschwunden.«, verkündete ich Nicolas, der darauf prompt selbst nachsehen musste. Während er seinen offensichtlich neuen Körper ausgiebig begutachtete, nutzte ich die Gelegenheit, mir meinen Nosferatu selbst etwas näher anzusehen.

Nosferatu? Ich wollte meinen Augen kaum trauen, aber Nicolas hatte sich weitaus mehr verändert, als ein paar Narben zu verlieren. Seine typische Nosferatutotenschädelvisage war weicher geworden und einem kantig markanten Gesicht gewichen. Seine Wangen-, Stirn- und Kieferknochen traten immer noch stark hervor. Seine Augen lagen sehr tief in ihren Höhlen. Für unsereins war der Nosferatu in ihm weiterhin deutlich erkennbar, aber weitaus milder als vor dem Ritual. Eigentlich sah er jetzt sogar auf eine herbe Weise attraktiv aus.

Die Veränderung in Nicolas Physiognomie wurde natürlich durch die Verbindung zu mir bewirkt. Ich war überrascht, dass die Kraft eines Stammvaters so weit ging, selbst solch derartig tiefgreifende Veränderungen zu bewirken. Umso mehr wuchs das Gefühl, für diesen Mann in meinen Armen verantwortlich zu sein, was nicht heißt, dass mich sein an mich schmiegender Körper nicht erregte. Er schien von unserer innigen Berührung auch nicht unbeeindruckt zu bleiben. Anders konnte ich mir das kleine Zelt, das seine Bettdecke bildete, nicht erklären.

Wenn auf eins Verlass war, dann auf die Geilheit von uns Vampiren. Unser Sexualtrieb war generell stark und wuchs sogar noch mit dem Alter permanent an. Primär diente er der Verführung unserer Opfer, erfüllte aber auch einen wichtigen anderen Zweck. Es konnte die Verbundenheit der Mitglieder des Hauses untereinander stärken.

»Du hast es gehört.«, säuselte ich Nicolas ins Ohr, »Du unterliegst nicht mehr den Regeln der Bruderschaft.«

Nicolas wusste natürlich genau, worauf Petrus und ich anspielten. Mit dem Wechsel vom Nosferatu zu einem Mitglied meines Hauses, unterlag er nicht mehr dem Zwang zur Enthaltsamkeit des Zölibats. Doch zuvor hatte ich noch etwas anderes vor.

»Trink!«, bat ich Nicolas und hielt ihm mein Handgelenk vor den Mund. Mein erstes und bisher einziges Familienmitglied schaute mich fragend an: »Wirklich?«

Ich grinste und nickte Nicolas aufmunternd zu. Der zögerte dann nicht mehr, packte mein Handgelenk, grinste mich lüstern an, während er seine Zähne ausfuhr und sie langsam und genussvoll in meine Pulsader bohrte. Er saugte genauso langsam wie er zugebissen hatte. Es war nicht viel, bestenfalls zwei Züge, aber genug, um uns beide in Ekstase zu versetzen. Kaum, dass er von mir abgelassen hatte, fielen wir, noch unter der Dusche, übereinander her. Es ging richtig zur Sache. Es mag billig klingen, aber wir rammelten, als wenn es kein Morgen gäbe. Ich habe keine Ahnung, wo diese unbändige Energie herkam, die uns immer wieder zu einer weiteren Nummer antrieb, genauso wenig wie ich mich daran erinnern kann, wie wir es in das große Bett geschafft hatten, das im Aufwachraum bereitstand.

Natürlich musste auch das wildeste Liebesspiel irgendwann zum Ende kommen. Unsere Kondition mochte extrem hoch sein, unerschöpflich war sie nicht. Erschöpft, nein, komplett ausgepowert, schliefen wir aneinandergeschmiegt ein und erwachten erst wieder, als unser beider Mägen laut und deutlich knurrten.

Wir befanden uns immer noch in diesem weißen Raum, der offensichtlich dem Zweck diente, wiedererweckten Brüdern eine angenehme Umgebung zu bieten. Der Servius-Novatin Ritus mochte zwar einer der extremsten sein, ganz ohne waren, so Nicolas, die anderen aber auch nicht. Keine Wiedergeburtsprozedur war ein Spaziergang. Jeder, der diesen Weg betrat, fühlte sich hinterher wie ausgekotzt. Ein vorausschauender Geist hatte frische Kleidung bereitgelegt. Seine Weitsicht schien sogar die zwischenvampirische Interaktion mitberücksichtigt zu haben. Auf dem Kleiderstapel prangte ein gelber Haftzettel, der mit »Erst duschen!« beschriftet war. Ein Pfeil zeigte in Richtung eines von Vorhängen verhüllten Durchgangs, der uns in ein geräumiges Bad führte.

»War das vorhin deine Art, ein neues Mitglied deines Hauses zu begrüßen?«, wollte Nicolas wissen. Ein nasser Schwamm landete als Antwort mitten in seinem Gesicht. Die Rückantwort ließ nicht lange auf sich warten. Es entbrach eine Wasserschlacht. Zwei alberne Kerle tobten sich im Bad aus, das vor einer Überschwemmung nur dadurch gerettet wurde, weil es über ausreichend Abflussöffnungen im Fußboden verfügte.

»Es ist die Art, wie ich einem guten Freund meine Dankbarkeit ausdrücke.«, kam ich am Ende der Duschorgie auf Nicolas Thema zurück, »Danke, mein Freund. Danke, dass du die Sache mit mir durchgestanden hast, Sir Nicolas Margaux sur Rhone.«

»Sir Nicolas?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob es der richtige Titel ist. Aber als Großherzog müsste ich dich eigentlich in den Adelstand befördern dürfen. Ich glaube, dass du einen prächtigen Ritter abgibst.«

»Du verarscht mich, oder?«, Nicolas verzog ärgerlich die Stirn.

»Nein, wirklich nicht.«, lachte ich ihn an, »Komm mit. Irgendwo muss es doch ein Schwert in diesem Kaninchenbau geben.«

»In meiner Zelle. Ich sagte doch, dass Markus mit mir Schwertkampftraining gemacht hat.«

»Sehr gut!«, rief ich erfreut aus, »Komm, lass uns gehen.«

Etwas verstört folgte mir Nicolas aus dem Bad zum Aufwachraum, in dem die frische Kleidung auf uns wartete. Dabei kamen wir an einem körpergroßen Spiegel vorbei, dem ich eher zufällig meine Aufmerksamkeit spendete und abrupt stehen blieb.

»Was zum Teufel?«, fluchte Nicolas, der anlässlich meines unerwarteten Halts in mich hineingestolpert war.

»Bin ich das?«, wollte ich von Nicolas wissen. Aus dem Spiegel schaute mich ein mir nicht unähnlicher Kerl an. Ich hatte mich verändert und auch wieder nicht. Es waren unverkennbar meine Gesichtszüge, das lange blonde Engelshaar, dieser verfluchte etherische Glanz, der mir immer wieder Gespött und Hohn eingebracht hatte. Doch zu diesen weichen Attributen hatten sich eine ganze Handvoll harter, maskuliner Schattierungen gesellt. Mein nackter Körper wirkte muskulöser und akzentuierter, die Schultern waren breiter, mein Gesicht zeigte mehr Kanten, aber am auffälligsten waren meine Augen. Ihre Farbe hatte sich zwar nicht verändert, dafür funkelte ein heißkalter Glanz in ihnen, der sogar mir eine Gänsehaut einjagte.

»Sag ja zu deinem neuen Körper.«, meinte Nicolas und legte mir seine Hand auf die Schulter, »Was hast du erwartet? Unsere alten Hüllen haben sich...«

»Ähm, ich glaube, ich will daran nicht erinnert werden. Dafür liegt mir die Sache nach meinem Geschmack noch nicht weit genug zurück.«

»Du hast recht. Trotzdem sieht du geil aus, Chef.«, meinte Nicolas und klapste mir zur Verdeutlichung seines Standpunkts auf den nackten Hintern, »Stramm und fest.«

Wir schnappten uns die neuen Kutten und verließen das weiße Aufwachzimmer. Erstaunlicherweise fanden wir uns nicht unweit des Trakts mit den Unterkünften wieder. Die Nosferatu mussten unsere neuen Körper nach dem Ritual durch das halbe Kloster getragen haben. Umso schneller waren wir in Nicolas Zelle. Sein Schwert war ein stolzes Stück Stahl, reich verziert und von absoluter handwerklicher Perfektion gezeichnet. Ich ahnte, dass auch in diesem Werkstück Wochen, Monate, wenn nicht Jahre mönchischer Arbeit steckte.

»Nimm es mit!«, befahl ich in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Nicolas zuckte zusammen und parierte. Akzeptierte er wirklich bedingungslos meine Führungsrolle? Ein heißer Schauer lief mir über den Rücken. Diese Verantwortung wog schwer. »Lass uns in den Speisesaal gehen.«

Mit dem Schwert in der Hand, das sicher in seiner Scheide ruhte, liefen wir in Richtung Speisesaal, auf dessen Weg uns Bruder Markus, Petrus und Tamir begegneten.

»Wohin des Wegs?«, wollte der Abt wissen.

»Wir haben Hunger und wollten uns im Speisesaal stärken. Die letzten Stunden waren kräftezehrend.«, entgegnete Nicolas.

»Und dafür braucht ihr ein Schwert?«, Markus zog skeptisch seine rechte Augenbraue hoch.

»Oh, das Schwert soll einem kleinen Ritual des Dankes dienen.«, beeilte ich mich, Nicolas mit einer Antwort zuvorzukommen, »Könntet Ihr vielleicht etwas von Eurer kostbaren Zeit entbehren und uns begleiten?«

Die drei Nosferatu wechselten einige Blicke miteinander, stimmten aber zu, sodass wir zu fünft in Richtung der großen Halle eilten.

Es musste Abend sein, die übliche Frühstückszeit von Vampiren und Nosferatu. Der Speisesaal war voll, nicht brechend voll, aber so zu gut achtzig Prozent. Das war etwas mehr, als ich eigentlich geplant hatte. Doch zuerst galt es, Flüssignahrung zu fassen, dessen Organisation zu unser aller Überraschung Abt Markus höchstselbst übernahm, während Tamir uns ein freies Fleckchen Tisch suchte, an dem wir uns zu fünft niederlassen konnten.

»Was hast du vor?«

Tamir kam direkt auf den Punkt, sowohl mit seiner Frage, als auch mit einem Blick auf Nicolas Schwert. Ich wartete mit meiner Antwort, bis Markus mit einem Tablett voller Becher gefüllt mit gewürztem, frischem Blut eintraf. Nachdem jeder einen Becher vor sich stehen und zumindest einen Schluck davon getrunken hatte, leitete ich meine Rede mit einem Nicken ein und wandte mich an den Abt.

»Ehrwürdiger Abt, ich möchte keinesfalls respektlos erscheinen, aber gehe ich recht in der Annahme, dass unser Freund Nicolas nach dem Ritual nun meiner Jurisdiktion unterliegt?«

»Ihr seid alles andere als respektlos, Florian, und habt völlig recht. Bruder Nicolas ist kein Bruder mehr, sondern Euer Untertan.«

»Ehrwürdiger Tasmanir Musferatu, Stammvater der Nosferatu des Westens, stimmt es, dass ich als Großherzog das Recht habe, Mitglieder meines Hauses in den Adelsstand zu erheben?«

Der alte weise Nosferatu blickte zum Schwert, verstand und grinste: »Selbstverständlich habt Ihr das. Erlaubt mir, soweit der Abt zustimmt, aber die Honneurs auszurufen.«

»Es wäre mir eine Ehre.«

Während Markus, Petrus, Tamir und ich uns köstlich amüsierten, schien mir Nicolas, das Objekt unserer Unterhaltung, auffällig nervös. Er wurde sogar noch nervöser, als sich Tamir plötzlich erhob und sich räusperte.

»Verehrte Brüder, dürfte ich um einen Moment der Aufmerksamkeit bitten?«

Er musste nicht lange bitten. Wenn einer der geistigen Führer der Nosferatu das Wort ergriff und sich an ein Auditorium, wie dem des Speisesaals wandte, dann genoss er auf jeden Fall die Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Becher wurden abgesetzt, Münder abgetupft, Saugzähne eingezogen und sich zum Sprecher umgedreht, soweit er nicht bereits im Blickfeld lag. Tamir wartete, bis sich das Publikum bereit war, seinen Ausführungen ungestört folgen zu können.

»Liebe Mitbrüder, ich möchte die Gelegenheit nutzen, euch zwei Freunde unserer Art vorzustellen: Großherzog Florian Margaux sur Rhone, gebürtiger Hati, Erbe Vidars und Sohn Gylfis, und Nicolas, bisheriges Mitglied der Bruderschaft der grauen Nebel.«

Es wurde mucksmäuschenstill, so still, dass ich kaum wagte zu atmen. Eine fallende Stecknadel hätte beim Aufprall auf den Steinboden markerschütternd gescheppert. Sämtliche Augenpaare waren auf mich gerichtet. Ungläubige, fassungslose, freundliche und sehnsuchtsvolle Blicke berührten mich. Eine Welle der Sympathie schlug über mich herein und verursachte einen veritablen Schweißausbruch. Mein Erbe ließ mich nicht mehr los. In den Augen der Nosferatu war ich ein lang verschollen geglaubter enger Verwandter.

»Doch genug der eitlen Formalien.«, Tamir wechselte den Tonfall, nahm die Steifheit aus der Rede, »Florian und euer Mitbruder Nicolas haben sich dem Servius-Novatin unterzogen und sind erst vor vier Stunden erwacht.«

Dieses Mal ging ein Raunen durch die Reihen. In die Blicke mischte sich Ehrfurcht und Respekt, hier und da sogar ein wenig Mitleid, aber bei einigen wenigen, es waren drei oder vier, entdeckte ich Anzeichen von Verständnis und Wissen, wie sie diejenigen auszeichnete, die die Erfahrung des Rituals mit uns teilten.

»Einige von euch werden ahnen, welches Opfer Nicolas dabei erbrachte, den anderen möchte ich es erklären. Das Servius-Novatin Ritual zählt nicht nur zu den prüfendsten seiner Art, es bindet seine Teilnehmer auch aneinander, weswegen es nur paarweise durchgeführt werden kann. Bruder Nicolas heißt seit heute Nicolas Margaux sur Rhone und ist das erste und bisher auch einzige Mitglied des Hauses Margaux. Obwohl Nicolas nicht mehr zu unseren Mitbrüdern zählt, möchte ich euch alle bitten, ihn und Florian stets wie Mitbrüder zu behandeln. Beide sind wahre Hati. Sie sind Familie. «

Stille. Tamirs Worte hallten noch nach, ansonsten herrschte Stille, bis sich ein Nosferatu erhob und leise, aber deutlich verständlich sprach: »Florian und Nicolas sind Familie.« Ein weiterer Nosferatu erhob sich und wiederholte die Worte. Einer nach dem anderen stand von seinem Sitzplatz auf und wiederholte die fünf Worte. Das ganze wirkte weder einstudiert noch selbstverständlich. Ich hatte nicht den Eindruck, dass Tamir diese Reaktion von seinen Mitbrüdern erwartete, bestenfalls erhoffte. Egal in welche Totenschädelfratze ich schaute, ich sah nur ehrliche Sympathie.

»Und jetzt möchte Florian ein paar Worte an euch richten.«

Was? Ich schluckte. Erwartete Tasmanir Musferatu tatsächlich, dass ich vor hundert und mehr Nosferatu sprach?

»Tja, mein Junge, da musst du jetzt durch. Du bist ein Großherzog. Vor großen Ansammlungen zu sprechen, wird von dir erwartet.«, raunte mir Petrus zu. Ich nickte ihm zu und erhob mich mit ausgesprochen weichen Knien von meinem Platz.

»Ehrwürdige Nosferatu.«, begann meine Rede, »Ehrwürdiger Tasmanir Musferatu, Stammvater der Nosferatu des Westens, spiritueller Führer, ich danke dir für deine Worte. Aber ich danke insbesondere euch, meine Cousins, meine Familie, für eure warmherzige Aufnahme. Sei mein Haus auch euer Haus. Ich heiße jeden Bruder in meinem Haus willkommen. Obwohl...«, ich lächelte verschmitzt, »ich eigentlich noch gar kein Haus habe. Nicolas und ich, wir beide sind alles, was sich das Haus Margaux schimpft. Trotzdem gilt es. Was ich auch immer für euch vollbringen mag, solltet ihr meine Hilfe erbitten, ich werde es versuchen. Doch soll nicht ich im Mittelpunkt dieser Rede stehen, sondern Nicolas, euer ehemaliger Mitbruder. Seine Selbstlosigkeit, sich für mich zu opfern und den Servius-Novatin mit mir zu erdulden, soll honoriert werden. Ich stehe in seiner Schuld. Nicolas knie nieder!«

Ein Raunen ging durch die Reihen. Spätestens als ich nach dem Schwert griff und es aus seiner Scheide zog, begriff auch der Letzte, was ich plante. Doch bevor ich weitersprechen konnte, unterbrach mich Tamir.

»Brüder, enthüllt euch!«

Es war ein gleichzeitig atemberaubender, aber auch unheimlicher und beängstigender Anblick zu sehen, wie sich über hundert Nosferatu enthüllten und ihre vampirische Natur zeigten, ihre Fangzähne ausfuhren, ihre Augen sich gelb färbten und zu Schlitzen wurden. Jeder Mensch wäre bei diesem Anblick in Panik geraten und schreiend um sein Leben gerannt. Ich geriet nicht in Panik. Stattdessen wurde ein anderer, mir bisher unbekannter Instinkt geweckt. Es begann mit meinen Zähnen, die spontan ausfuhren, doch dabei blieb es nicht. Meine Kieferknochen veränderten sich. Sie wurden schmaler und schoben sich nach vorn, ebenso die Form meines Kopfes. Meine eh schon langen Haare wucherten und bildeten eine Mähne, der jeder Löwe Respekt gezollt hätte. Die Transformation setzte sich fort. Knochen krachten, Gelenke ploppten. Gleichzeitig fasziniert und befremdet sah ich zu, wie meine Hände zu Pranken mit rasiermesserscharfen Klauen wurden. Mein inneres Wesen, meine vampirische Urform hatte sich enthüllt.

»Boah ey!«, entschlüpfte es Nicolas, dessen Augen vor Staunen zur Größe von Untertassen angewachsen waren, »Ich scheiß mich ein!«

Seine Wortwahl mochte ein wenig prollig daher kommen, war aber verständlich. Ein Mönch hatte tatsächlich seine Digitalkamera gezückt und ein paar Fotos von mir geschossen. Als er sie mir später per E-Mail zusandte, war mein erster Gedanke ebenfalls: »Ich scheiß mich ein!« Florian Margaux war in seiner Urform ein verdammtes Raubtier.

»Ehrwürdige Nosferatu, seid nun Zeuge unserer Worte.«, woher wusste ich, derart geschwollen zu reden? Es musste sich um einen Fall von kollektivem Gedächtnis handeln, soweit es so etwas überhaupt gab. Oder ich zitierte einfach nur irgendwelche schlechten Filme, die ich mir während meiner Kindheit reingezogen hatte und an die ich mich nun erinnerte, »Nicolas Margaux, mit diesem Schwert schlagen wir Euch zum Ritter des Hauses Margaux sur Rhone.«

Der Ablauf war weidlich bekannt. So dachte ich jedenfalls. Doch dann flammten einige krude Erinnerungsfetzen in meinem Bewusstsein auf, die definitiv nicht von mir stammten. Bevor ich die berühmte Halbkreisbewegung von einer Schulter zur anderen ausführte, ritzte ich mir mit dem Schwert die rechte Handinnenfläche und bestrich mit dem hervorquellenden Blut die beide Breitseiten der Klinge, mit welcher ich dann gegen Nicolas Wangen schlug, sodass diese von je einem roten Streifen geziert wurden.

»Erhebt euch, Sir Nicolas!«

Mit Schirm, Charme und Melone

Constantin

»Ricardo!«

Endlich ein Schimmer der Hoffnung. Stolz schob Bruno unseren wiederweckten Chefwissenschafter zu mir ins S4-Labor. Die vergangenen vierundzwanzig Stunden waren von Rückschlägen geprägt, angefangen bei Florians Verschwinden über renitent andauernde Probleme mit der Haustechnik bis hin zu Anfragen der anderen Häuser bezüglich meines Gesundheitszustands. Wie zu erwarten, waren Gerüchte über einen Vorfall im Hause Varadin-Breskoff an die Öffentlichkeit geraten und sorgten dort für Aufregung. Unter dem Vorwand, Hilfe und Unterstützung anbieten zu wollen, versuchten unsere Gegner Zugang zu unserem Haus zu erlangen. Meine Leute waren natürlich sehr bemüht, den wild um sich greifenden Vermutungen Einhalt zu gebieten. Leider liegt es in der Natur des Gerüchts, sich ab einer gewissen Größe selbst zu befeuern. Unsere Bemühungen um Schadensbegrenzung wurden prompt als Versuch interpretiert, ein wesentlich umfänglicheres Problem zu vertuschen. Lydia und Laurentius wurde tatsächlich unterstellt, gegen mich geputscht zu haben. Selbst nachdem ich persönlich mit mehreren Stammvätern telefoniert hatte, bestand eine erstaunliche Koalition aus Baron van Sanden, dem Wortführer der Dracul, Fürst Kasimir zu Bronkovic, dem Inbegriff eines Opportunisten und Lord Bromley of Staffordshire, dem inoffiziellen Sprecher der isolationistischen Fraktion darauf, unserem Haus einen Besuch abzustatten und mit mir persönlich zu sprechen. Damit lief alles auf eine Katastrophe hinaus. Spätestens zum Zeitpunkt ihres Besuchs müssten wir die Fakten auf den Tisch legen.

Wie würden sie reagieren? Bei Baron van Sanden war ich mir sicher, dass er auf eine sofortige Beseitigung der Bedrohung einschließlich meiner Person bestand. Ganz anders Lord Peter Berresford Eanruig Bromley. Ich kannte den alten Haudegen ganz gut und durfte schon öfters die Ehre seiner Gastfreundschaft genießen. Lord Peter war der Prototyp des englischen Gentlemans, gleich nach John Steed. Mich indirekt zum Tode zu verurteilen, indem er verlangte, die verseuchten Räume einschließlich aller Inhalte einer pyrolytischen Reinigung zu unterziehen, würde er, da war ich mir absolut sicher, als zutiefst unsportlich betrachten und stattdessen meinen Wissenschaftern angemessene Zeit einräumen, ein Gegenmittel zu entwickeln. Seine Lordschaft zählte zu den Isolationisten, einer Gruppe von Häusern, die für eine möglichst große Distanz zu den Menschen plädierte. Sie waren der direkte Gegenentwurf zu Vladimir Breskoffs feudalherrschaftlicher Lebensweise, die die Menschen seiner Umgebung in sein Haus einband. Interessant war, dass die Isolationisten den Standpunkt der Dracul ebenfalls ablehnten. Sich von Menschen ernähren zu müssen, betrachtete Lord Peter als notwendiges Übel, um zu überleben, leitete daraus aber nicht den Anspruch ab, die dominante Lebensform des Planeten zu sein. Dass ich ein Interesse an diesen »anderen intelligenten Zweibeinern« hegte, betrachtete seine Lordschaft stets als meinen persönlichen Spleen.

Für mich unvergessen blieb ein gemeinsames Abendessen mit Lord Peter. Obwohl oder gerade weil er stockheterosexuell war, bevorzugte seine Lordschaft, sich von Männern zu nähren. Wir waren im London der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts unterwegs, als uns ein leichtes Hungergefühl plagte. Wir liefen eine schwach beleuchtete Gasse entlang, Lord Peter im makellosen Gentlemanoutfit inklusive Regenschirm und Melone, als uns ein Mann, schätzungsweise Anfang dreißig entgegenkam. Mein adliger Begleiter hüstelte vornehm, nahm mit einer leichten, fast nur angedeuteten Verbeugung seinen Hut ab und wandte sich an den Passanten, der anlässlich dieser Geste innehielt.

»Entschuldigen Sie, mein Lieber, aber gestatten Sie mir, mich an Ihrer Halsschlagader zu nähren?«

Wie zu erwarten, blieb der Mann stumm, was Lord Peter konsequenterweise als Zustimmung interpretierte und sich einen Schluck aus der Arteria carotis communis gönnte. Dies geschah so dermaßen nonchalant und stilvoll, als hätte er den Mann um die Uhrzeit gebeten, was auch genau dem mentalen Befehl entsprach, mit dem Lord Peter seine Opfer den Vorfall vergessen ließ. Nein, von diesem Inbegriff eines englischen Gentleman drohte keine Gefahr, denn dies hätte dem Sportsgeist widersprochen, dem er sich zutiefst verpflichtet fühlte.

Wenn wirklich davon auszugehen war, dass der Besuch der drei Stammväter über mein Wohl und Wehe entschied, dann stand es bisher eins zu eins unentschieden und Fürst Kasimir zu Bronkovic würden den Ausschlag geben. Fürst Kasimir Ernst Stabros zu Bronkovic, der mit weitem Abstand größte Opportunist unter den Stammvätern. Wie würde er entscheiden? Nervös stellte ich fest, dass ich keine Ahnung hatte.

Bronki, wie er von den meisten in seiner Abwesenheit nur genannt wurde, war so windelweich in seinen Ansichten, dass im Vergleich selbst nasses Klopapier als Stahlbeton durchging. Der Fürst war in direkter Blutslinie mit dem früheren italienischen Königshaus der Savoyer verwandt, woraus er das Recht zu einer ziemlich penetranten Blasiertheit ableitete. Auf eine Sache konnten wir uns bei ihm aber immer verlassen: Egal wie unbedeutend ein gesellschaftlicher Anlass auch war, Fürst Bronkovic weilte mit hundertprozentiger Sicherheit unter den Gästen. Sein Steckenpferd war der gepflegt belanglose Smalltalk, den er zur Kunstform weiterentwickelt hatte. Am liebsten hörte er sich selbst reden, konnte aber auch zuhören. Er schaffte es tatsächlich, seinen Gesprächspartner geschlagene zwei Stunden zuzutexten, ohne dass das bemitleidenswerte Opfer hinterher sagen konnte, wovon Bronki eigentlich gesprochen hatte. Der Mann war aalglatt. Sein Abstimmungsverhalten im Rat der Häuser erinnerte eher an einen perfekten Zufallszahlengenerator, als an eine Strategie. Zumindest war mir bisher noch keine nachvollziehbare Linie aufgefallen. Mal stimmte er mit den Dracul, dann opponierte er vehement. Am Ende stimmte er konsequent mit der Mehrheit. Seine Wortbeiträge waren wohlwollend ausgedrückt eigenwillig, andere, weniger diplomatisch veranlagte Ohrenzeugen bezeichneten sie als schwachsinnig. Es galt unter den Stammvätern daher als common sense, dass Fürst Kasimir zu Bronkovic nicht wirklich ernst zu nehmen war, was diesen aber auch nicht wirklich zu stören schien. Damit blieb die Frage ungeklärt, wie er in meinem Fall wohl entschied, sollte van Sanden wirklich meine Beseitigung verlangen.

Genau in diese Überlegungen hinein platzten Bruno und sein wiedererweckter Chef Ricardo und hoben meine trübe Stimmung.

»Hallo Chef«, grüßte mich Ricardo gut gelaunt, »Du machst ja Sachen.«

»Ich?«, protestierte ich gespielt entrüstet, »Und was ist mit Frantz?«

Ricardo knurrte bei der Erwähnung unseres Verräters und ließ meine Entgegnung unkommentiert. Stattdessen hielt er mir einen scharfen Spatel vor die Nase.

»Du entschuldigst?«

Eine Antworte wurde nicht abgewartet. Ricardo nahm den Spatel und fuhr mir damit über die Haut von Handrücken, Schulter und Rücken. Die dadurch abgeschabten Hautschuppen sammelte er in mehreren Petrischalen. Als er damit fertig war, kam eine kleine Spritze zum Einsatz, mit der er mir 10ml Blut abzapfte.

»Wollen wir doch mal sehen, wer sich am Ende als schlauer herausstellt. Frantz oder ich.«

»Auch, wenn es etwas eigennützig klingen mag, aber ich hoffe auf dich.«

»Abwarten!«, dämpfte Ricardo meinen Enthusiasmus und begann mit der Präparation der Proben für das Rastertunnelmikroskop, welches sich neben anderen Geräten ebenfalls im S4-Labor befand, während gleichzeitig Bruno das Massenspektrometer beschickte. Mein Chefwissenschafter hatte seine Arbeit aufgenommen und war ganz in seinem Element. Ich hingegen fühlte mich ein wenig überflüssig und versuchte, die beiden Forscher so wenig wie möglich in ihrer Konzentration zu stören und wandte mich einem Dossier zu, das Laurentius über Fürst Bronki zusammengetragen hatte.

»Ha, haben wir dich!«

Ricardos triumphaler Aufschrei schreckte mich von meiner Lektüre auf. Die beiden Wissenschafter grinsten breit.

»Hier, schau ihn dir an!«, rief mir Bruno triumphierend zu.

Stolz wir Bolle präsentierten die zwei ein mehrwürdig buntes Ding auf einem Computerbildschirm. Mir sagte es nichts, allerdings vermutete ich, dass es mit meiner Vergiftung durch Frantz Kampfstoff zu tun hatte. Außerdem wollte ich die beiden Jungs nicht enttäuschen. Ihr Enthusiasmus war beispiellos und ich ein schlechter Stammvater, hätte ich dies nicht gewürdigt.

»Lasst mich raten: Das ist die Vampirpest, dieser künstliche Virus, oder?«

»Das ist der Übeltäter.«, verkündete Ricardo. Die Genugtuung in seiner Stimme war deutlich hörbar. »Tja mein Freund, so genial, wie du dachtest, warst du dann doch nicht. Aber ich will fair sein. Was Frantz da geleistet hat, ist beeindruckend. Aber dass sich mit diesem Fiesling alle Hämophagen ausrotten lassen sollen, ist dann doch etwas weit hergeholt. Es wäre interessant, die Bildungsmatrix weiter studieren zu können, allerdings bleibt uns dafür keine Zeit.«

»Ähm, und warum nicht?«, wollte ich wissen.

»Weil sich das Gegenmittel in deinem Blut abbaut.«, erwiderte Ricardo ernst, »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, einen Weg zu finden, diesen Widerling endgültig zu entschärfen, andernfalls...«


Mir lief die Zeit weg. Der drohende Besuch der drei Stammväter wurde plötzlich zur belanglosen Randnotiz. Ich hatte ein ganz anderes Problem. Das Gegenmittel, das ich in mich aufgenommen hatte, als ich Frantz biss, begann sich zu zersetzen. Dumm nur, dass es nicht wie eine Impfung wirkte, die einmal appliziert dauerhaft wirkte. Sein Schutz funktionierte anders. Solange in meinem Körper ein bestimmter Pegel des Gegenmittels nicht unterschritten wurde, blockierte es die Wirkung des Kampfstoffs. Da die schützende Substanz aber langsam von meinem Körper abgebaut wurde, war es nur eine Frage der Zeit, bis es kritisch wurde.

»Wir schaffen das!«, erklärte Ricardo voller Überzeugung und Zuversicht, »Wir haben die Substanz identifiziert und konnten sie sogar darstellen. Wir kommen mit Riesenschritten voran.«

So sehr ich Ricardos Zuversicht auch gerne geteilt hätte, war es alles andere als realistisch anzunehmen, dass es ihm gelang, innerhalb kürzester Zeit ein Gegenmittel für einen Kampfstoff zu entwickeln, für den Frantz Monate, wenn nicht Jahre gebraucht hatte. Ich war Realist – leider.

»Leute?«, aus dem Lautsprecher meines Notebooks quoll Simons Stimme, »Ich glaube, wir sind ein gutes Stück weiter. Mein Datenrekonstruktionsprogramm konnte Frantz Laborjournale wiederherstellen. Ich glaube, ich habe den Bauplan des Kampfstoffs entdeckt.«

So fühlte sich also ein Wechselbad der Gefühle an. Fortschritt, Rückschlag, Fortschritt, Rückschlag und dann wieder ein kleiner Fortschritt. Was kam wohl als nächstes?

»Kannst du mir die Journale rüberschicken?«, fragte Ricardo.

»Schon geschehen. Sie liegen verschlüsselt auf Constantins Notebook.«, erklärte Simon.

»Und das Kennwort?«, hakte Ricardo nach.

»Ich denke gerade dran.«, erwiderte Simon und ließ mich wissen, wie ich und nur ich an das Kennwort kam. Unsere Verbindung wurde zwar immer schwächer, aber da mein junger Ritter intensiv an das Kennwort dachte und er wollte, dass ich es lesen konnte, funktionierte es ganz gut. Ein paar Momente später konnten Bruno und Ricardo das Journal studieren. Ihre Dialoge waren bizarr.

»Was ist das?«

»Und das soll funktionieren?«

»Niemals... oder doch?«

»Wie funktioniert das?«

Die zwei hatten sich als erstes auf die hübschen bunten Grafiken und Diagramme gestürzt, bevor sie sich dem Text zuwandten. Bruno war ein Murmler. Während Ricardo still und leise las, bildeten Brunos Lippen Silben, die zuweilen auch kleine Wortfetzen entweichen ließen, die ich selbst durch seinen Schutzanzug hören konnte. Irgendwie wirkte es bei ihm niedlich.

Die Schutzanzüge – ich war erstaunt, wie gut die beiden Männer sie vertrugen. Wie ich schon erwähnte, standen die Teile unter Überdruck, weswegen ihre Träger wie Michelinmännchen wirkten. Dass die Anzüge unter einem höheren Druck standen hatte einen guten Grund. Sollte die Hülle durch einen spitzen Gegenstand verletzt werden, wovon es in einem Labor mehr als genug gab, sorgte der Überdruck dafür, dass keine Substanzen in den Anzug gelangten. Die Atemluft wurde über einen Druckschlauch zugeführt. Und hier wurde es anstrengend. Der Anzug war aus Kunststoff, was jeden Träger wie Sau schwitzen ließ. Umgekehrt war die Atemluft sehr trocken und wehte ständig durch die Kopfhaube, was die Augen austrocknete. Freiwillig trug niemand den Anzug gerne.

»Meint der das ernst?«, fragte Bruno.

»Ich befürchte, er meint das ernst.«, entgegnete Ricardo. Nicht dass ich die geringste Ahnung hatte, worüber die beiden sprachen. Mein chemisches Wissen beschränkte sich auf Grundkenntnisse. Wenn man ein paar Jahrhunderte existiert, schnappt man hier und da ein paar Dinge auf. Ich verstand die Summenformeln einfacher anorganischer Reaktionen oder die Strukturformeln simpler organischer Substanzen, doch was Frantz beschrieb, ging meilenweit über meine Fähigkeiten hinaus.

»Das ist genial. Total abartig, aber genial.«, erklärte Ricardo, »Die Sache ist so einfach, so unglaublich einfach. Aber ehrlich gesagt, je länger ich den Text lese, desto mehr hege ich ernsthafte Zweifel daran, dass das Ding wirklich auf Frantz Mist gewachsen ist. Der Mann war gut, was schon beweist, dass es ihm gelang, das Konzept ganz alleine umzusetzen. Doch dass ihm der Wirkstoff quasi nebenbei in der Dusche eingefallen sein soll... Nee, ich mag es einfach nicht glauben. Da steckt mehr dahinter.«

Bücherwürmer

Florian

»Erhebt euch, Sir Nicolas!«

Nicolas, mein Sir Nicolas, erhob sich und platzte fast vor Stolz. Sein Grinsen reichte wirklich von einem Ohr zum anderen. Das brach den Bann. Erst applaudierte ein Nosferatu gefolgt von einem zweiten, dritten, bis am Ende der ganze Saal Beifall spendete. Ich hatte nicht gedacht, dass Nosferatu zu derartigen Gefühlsausbrüchen fähig waren und hielt sie bis dahin für unterkühlte Kopftypen. Wieder bewies sich, dass vorschnelle Urteile den Blick auf die Realität verstellen konnten.

Was für die Gäste der Speisehalle als normales Frühstück begann, entwickelte sich zu einer fröhlichen und sehr kultivierten Feierstunde in dessen Mittelpunkt sich unerwartet Nicolas und ich wiederfanden. Die versammelte Nosferatuschaft wollte einfach alles von uns wissen: Ob Nicolas es bedauere, auf die Vampirseite gewechselt zu sein und wie es sich anfühle. Ob ich beabsichtigte, mein Haus kurzfristig um weitere Mitglieder zu verstärken. Ob Nicolas schon wisse, wie er die Aufgabe eines Marschalls angehe. Aber vor allem wollten sie alles über mein Erbe wissen. Auch wenn es auf den ersten Blick so klingen mag, als wenn die Nosferatu sehr aufdringlich wären, war das genaue Gegenteil der Fall. Mir sind selten so zurückhaltende, zuvorkommende und höfliche Wesen wie sie begegnet, die ihre Fragen fast schüchtern äußerten, aber umso freudiger strahlten, nachdem ich ihnen alles erzählte, was sie wissen wollten.

Durfte ich alles erzählen? Im ersten Moment war ich mir nicht sicher, ob es nicht klüger wäre, ein paar Dinge nicht offen zu erörtern. Entschied mich aber dann doch dagegen. Mir schwappte eine unglaubliche Welle von Freundschaft und Offenheit entgegen, die ich einfach nicht durch Geheimniskrämerei entwerten wollte. Erstaunlicherweise stellte sich die Frage, möglicherweise delikate Informationen enthüllen zu müssen, gar nicht. Unsere Gesprächspartner schienen genau zu spüren, welche Fragen harmlos und für die Allgemeinheit interessant und welche eher nicht gestellt werden sollten.

»Darf ich euch die Brüder Albrecht und Jost vorstellen?«

Die spontane Feier anlässlich Nicolas Ritterschlag neigte sich ihrem Ende. Die meisten Gäste hatten den Speisesaal verlassen, um sich ihren eigentlichen Aufgaben zu widmen. Und auch wir, Nicolas und ich, waren froh, langsam wieder zur Ruhe kommen zu dürfen. Sich mit über hundert Nosferatu unterhalten zu müssen oder dürfen, mochte zwar erhellend, geistreich und sogar unterhaltsam sein, es war aber hochgradig anstrengend, insbesondere nach einem Ritual wie dem Servius-Novatin. Wir waren gerade damit beschäftigt, den Brüdern der Blutschalenausgabe dabei zu helfen, die leeren Becher von den Tischen einzusammeln, als uns Tamir zwei Mönche vorstellte.

»Ich freue mich, euch kennenzulernen, Brüder.«

Ein Blick reichte, um zu erkennen, warum uns Tamir miteinander bekannt machte. Die beiden Männer waren nicht nur im doppelten Sinne Brüder, das heißt nicht nur Mönche, sondern auch eineiige Zwillinge, ihr Wesen, ein tiefes Glitzern in ihren Augen, zeigte uns auch, dass sie ebenfalls Absolventen des Ritus waren.

»Ähm, Eure König...«, begann Albrecht – oder war es Jost? – wurde von mir aber sofort unterbrochen, »Florian, einfach nur Florian. Dieses ganze Adelstitelgedöns muss wirklich nicht sein. Bis vor einem Monat war ich einfach nur Tischler.«

»Dann eben Florian.«, lachte Jost – oder war es Albrecht? – amüsiert und reichte mir die Hand, »Ich bin Jost und das mein jüngerer Zwillingsbruder Albrecht.«

Es folgte eine kleine gegenseitige Vorstellungsorgie, nach der sich Tamir, Petrus und der Abt verabschiedeten. Dass sie sich überhaupt die Zeit genommen hatten, der Feier bis fast zu ihrem Ende beizuwohnen, war für sich schon beeindruckend genug und zeigte mir, welche Wichtigkeit sie uns beimaßen. Schließlich war Tamir einer der spirituellen Führer aller Nosferatu und Petrus sein Sekretär. Die Vermutung lag nahe, dass die beiden ziemlich beschäftigte Leute waren. Gleiches galt für den Abt, der immerhin ein Kloster zu leiten hatte, das nach allem, was ich bisher davon gesehen hatte, mehr war, als die Zufluchtstätte einer Bruderschaft mit bizarren Ritualen, dafür beherbergte es viel zu viele Gäste.

»Gestern?«, wollte Jost wissen und meinte natürlich, wie lange unsere Wiedererweckung zurücklag.

Nicolas nickte, sagte aber nichts. Sein Gesicht sprach Bände. Der gequälte Ausdruck entsprach ziemlich genau meiner eigenen Empfindung.

»Es wird besser.«, erklärte Albrecht und drückte meine Schulter, »Es wird euch immer begleiten, aber die Wahrnehmung wird sich ändern. Es wird eure Bindung aneinander stärken.«

Wir setzten uns. Jost holte uns noch eine Runde frisches Blut. Eine Weile saßen wir einfach nur schweigend auf den Bänken, tranken gelegentlich einen Schluck und ließen die Seele baumeln. Der Saal war jetzt fast leer. Nur noch die Brüder der Becherausgabe waren da und räumten auf.

»Darf ich euch etwas fragen?«, irgendwo musste ich das Gespräch wieder starten.

»Sicher. Was willst du wissen?«

»Was ist an diesem Kloster so besonders, dass es so viele Gäste gibt? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es an dem besonderen Weg der grauen Nebel liegt, Erleuchtung und Weisheit zu erlangen.«

»Du weißt es nicht?«, fragte Albrecht erstaunt und wandte sich an Nicolas, »Hast du ihm nichts erzählt? Ich dachte, er wäre dein Schützling?«

»Öhm...«, stammelte mein Ritter, »Irgendwie kam es nicht dazu.«

Albrecht schüttelte amüsiert den Kopf: »Wegen der Bibliothek. Diese Abtei ist eine von fünf, die das Wissen und die Geschichte der Nosferatu und Vampire bewahrt. Unsere Gäste arbeiten in der Bibliothek. Sie recherchieren, legen neue Dokumente an, aktualisieren Einträge oder helfen bei der Katalogisierung.«

»Du musst kein Bruder der grauen Nebel sein, um dort arbeiten zu können.«, fügte Jost hinzu. Irrte ich mich, oder schwang Stolz in den Stimmen der beiden Zwillinge mit? Mich beschlich so eine Ahnung, welche Funktion die beiden in diesem Kloster bekleideten.

»Ihr seid die Bibliothekare, oder? Ihr seid die Hüter des Wissens?«, fragte ich frech heraus.

»Nicolas, du hast ihm doch etwas erzählt.«

Der Angesprochene wehrte mit wedelnden Händen ab: »Nein, wirklich nicht. Das Archiv ist überhaupt nicht zur Sprache gekommen. Mein Meister ist einfach ein schlaues Kerlchen.«

»Meister?«, hakte ich mit gekräuselten Augenbrauen nach. Nicht schon wieder dieses Thema »Du bist nicht mein Sklave.«

»Ähm, entschuldigt, ich wollte nicht respektlos erscheinen.«, korrigierte sich Nicolas in einem unterwürfigen Tonfall, der mich erst recht aufregte.

»Nicolas Margaux, hör auf damit. Ich bin Florian. Ich bin kein Meister, keine Königliche Hoheit oder dergleichen Käse für dich. Wir sind Familie. Gut, vielleicht bin ich der Chef dieser Familie, aber dieser Chef kann eine Sache auf den Tod nicht ausstehen: Unterwürfigkeit seiner Familienmitglieder. Ich habe begriffen, dass es im Umgang mit den anderen Häusern offensichtlich gewisse Protokolle gibt, die wir einhalten müssen, aber gerade uns beide, du und ich, verbindet etwas, dass es pervers wäre, wenn ich dich nicht als Partner betrachtete, der mit mir auf Augenhöhe spricht.«

Nicolas starrte mich mit großen, ungläubigen Augen an, brachte aber keinen Ton heraus. Vielleicht, so überlegte ich, musste ich noch etwas deutlicher werden und nahm den Mann einfach in meinen Arm, drückte ihn an mich und hielt ihn fest.

»Du bist mein Bruder. Ich lebe, weil du mein Gefäß warst.«

»Junge bist du zu beneiden!«, entfuhr es Jost und Albrecht fügte hinzu, »Für einen Vampir hat der Kleine ein richtig coole Einstellung.«

»Danke, Florian.«, antwortete Nicolas gerührt. Ich drückte ihn noch einmal, dann wandten wir uns den Zwillingen zu. Die lächelten zustimmend, bis Jost das Wort ergriff.

»Du hast recht, Florian. Wir sind die Bibliothekare des Klosters der grauen Nebel.«

»Habt ihr deswegen...? Ihr wisst schon. Das Ritual...«, ich war wirklich neugierig.

»Er ist wirklich ein schlaues Kerlchen.«, Albrecht nickte, »Auch darin hast du recht. Der Servius-Novatin hat die eh sehr starke Verbindung zwischen mir und meinem Bruder verstärkt. Wir können telephatisch miteinander in Verbindung treten. Was Jost weiß, weiß auch ich. Sollte einer von uns aus welchen Gründen auch immer ausfallen, geht kein Wissen verloren. Denn das ist unsere Aufgabe, die Pflege, Verwaltung und der Schutz der Bibliothek.«

»Möchtest du sie sehen?«, fragte Jost, der meinen strahlenden Blick bemerkt und richtig interpretiert hatte.

»Ja, sehr gerne.«


»Das ist fantastisch!«

Wir standen am Geländer einer Galerie, von der aus sich der Lesesaal der Bibliothek überblicken ließ. Saal? Kathedrale traf es eher. Vor meinen Augen entfaltete sich ein gigantisches Kuppelgewölbe von kaum überschaubaren Dimensionen. Von unserer Warte aus konnte ich zwölf gigantische Leuchter ausmachen, die an armdicken Eisengliederketten von der Gewölbedecke herabhingen und die unzähligen Stühlen und Tische unter sich erleuchteten an denen ebenso unzählige Mönche saßen und arbeiteten. Jeder Tisch entsprach einem Arbeitsplatz und verfügte über eine Leselampe, einen Laptop, Bücherständer, Schreibunterlage und Schreibutensilien.

Die Leuchter hingen in einer Linie und markierten die Längsrichtung des Lesesaals. In etwa fünf Metern Höhe, so genau konnte ich das bei den vorherrschenden Lichtverhältnissen nicht abschätzen, umspannte eine Galerie den Saal auf der wir auch gerade standen. Die Grundform der Halle entsprach einem lang gezogenen Rechteck, dem der Galerieumlauf exakt folgte. Die beiden Zwillinge hatten uns über einen Zugang auf der Schmalseite in die Bibliothek gebracht und führten uns jetzt entlang der linken Längsseite zu einer von unzähligen Wendeltreppen, die die Galerie mit der darunter gelegenen Lese- und Arbeitsebene verbanden. Auf dem Weg hinab klärte sich eine Frage, die mich bereits gleich nach Betreten der Bibliothek bewegte: Wo waren die Bücher? Links und rechts vom Lesesaal zweigten Stollen ab, angefüllt mit Reihen über Reihen voller Bücherregalen, die so dicht gepackt waren, dass zwischen den Regalschränken nur schmale Gänge übrig blieben.

»Die meisten Texte liegen auch in digitalisierter Form vor, aber leider nicht alle.«, erläuterte Jost. Albrecht ergänzte: »Manche Bücher sind zu empfindlich, um sie digitalisieren zu können, bei anderen spricht der Inhalt dagegen.«

»Der Inhalt?«, ich spitzte meine Ohren.

»Die digitalisierten Texte können im Lesesaal online abgerufen werden.«, begann wieder Jost, »Nach einer Identitätsprüfung hier im Kloster oder einer der anderen Bibliotheken, kann ein Mönch die Dokumente auch aus der Ferne abrufen. Du kannst dir vorstellen, dass wir sehr umsichtig vorgehen müssen, um die Menschen nicht auf unsere Existenz aufmerksam werden zu lassen. Dazu zählt auch, den Zugang zu besonders brisantem Material nur vor Ort zu erlauben.«

»Habt ihr eine Giftliste?«, hakte ich nach.

Albrecht grinste breit: »Ja, die haben wir. Es gibt Bücher, deren Inhalt einfach nicht für jedermanns Augen bestimmt ist. Die Gründe dafür können dabei so unterschiedlich wie die Bücher selbst sein und reichen von privaten oder sogar intimen Dokumenten noch lebender Personen, bis hin zu geheimen Verträgen zwischen den hohen Häusern, von denen ihre Konkurrenten natürlich nichts wissen dürfen. In dieser Beziehung sind wir neutrale Archivare. Wie verwahren Dokumente und sichern sie gegen Verfall. In klimatisierten Kavernen ruhen die ältesten Dokumente, die je von Menschen-, Vampir- oder Nosferatuhand geschrieben wurden. Aber folgt mir. Ich glaube es gibt etwas, das euch interessieren könnte.«

Wir folgten Jost und Albrecht durch den Lesesaal, entlang der über ihren Texten vertieften Mönche. Trotz der modernen Computerarbeitsplätze verströmte der Saal die Atmosphäre eines mittelalterlichen Schreibsaals, in dem fleißige Mönche kostbare Schriften kopierten oder diese mit kunstvollen Miniaturen verzierten. An einem dieser Tische entdeckte ich Logan, unseren schottischen Freund und ging zu ihm.

»Florian, my dear! You made it!«, begrüßte mich der Whiskeytrinker, »I am so proud of you! Oder sollte ich jetzt lieber, Your Highness sagen? Nici, that bastard, never said, you where a fucking duke, grand duke. I beg you pardon!«

»Für dich einfach nur Florian.«, dass mir immer wieder dieser blöde Titel in die Quere kam, nervte erheblich. Eigentlich wollte ich noch ein paar Worte mit Logan wechseln, aber Jost, Albrecht und Nicolas waren bereits weitergegangen, sodass ich mich sputen musste, ihnen zu folgen, »Ich muss weiter. Wir sehen uns.«

Logan nickte mir freundlich zu und wandte sich wieder seinen Büchern zu, während ich zu meinen drei Begleitern aufschloss, die mein Zurückbleiben bemerkt und angehalten hatten.

»Ich wollte nur Logan, diesen verrückten Schotten, kurz grüßen.«, erklärte ich eilig.

»Kein Problem.«, meinte Albrecht und führte uns in eine der unzähligen mit Bücherregalen angefüllten Stollen. Der zur Verfügung stehende Raum wurde von zwei mal drei Regalreihen eingenommen: Je eine Reihe säumte eine Wand, gefolgt von einem schmalen Gang, der nur von einer Person durchschritten werden konnte, einem Regal, einem weiteren schmalen Gang und noch einem Regal. Der Gang in der Mitte war etwas breiter, sodass zwei Personen leicht versetzt nebeneinander gehen konnten. Nach etwa jeweils fünf Metern unterbrach ein Quergang die Regalschränke. Erleuchtet wurden die Gänge von geschlossenen Gaslichtern, die an der Gewölbedecke des Stollens hingen. Offensichtlich wollte das Kloster einerseits am Verzicht auf elektrisches Licht festhalten, doch andererseits die kostbaren Bücher nicht durch offenes Feuer einer Kerze gefährden.

»Wir platzen aus allen Nähten.«, erläuterte Jost und verwies auf die Reihen voller Bücher. Jedes Regal verfügte über neun Ebenen, die alle bis zum bersten voll waren. »In zwei Monaten werden wir beginnen, vier neue Stollen auszugraben.«

Wie lang war der Stollen? Ich zählte neunzehn Quergänge, bevor wir das Ende erreichten, was zwanzig Regalen mit je fünf Metern Länge entsprach. Damit musste der Stollen etwa um die einhundertzehn Meter lang sein, wenn ich die Quergänge auf sechzig Zentimeter Breite schätzte.

»Es sind einhundertundzwölf Meter.«, bestätigte Albrecht meine Überlegung, »So, wir sind da.«

Das Ende des Stollens markierte eine Panzertür, die Jost und Albrecht für uns öffneten. Niemand könnte behaupten, die Bruderschaft der grauen Nebel wäre technikfeindlich. Ganz im Gegenteil zeugten ein Retina- und Fingerabdruckscanner sowie zwei Touchscreens vom genauen Gegenteil. Kaum dass sich die beiden Bibliothekare ausgewiesen hatten, kam Leben in die Tür. Ein metallisches Geräusch, das von einer deutlich spürbaren Erschütterung des Bodens begleitet wurde, ließ vermuten, dass mächtige Stahlbolzen eingefahren wurden und die Verriegelung der Panzertür freigaben. Nachdem für ein paar Sekunden das leise Surren eines Motors zu hören war, klackte es vernehmlich und der Türflügel schwang gemächlich auf.

»Dies ist einer von zwei Serverräumen.«, erläuterte Jost, während wir einen eindeutig klimatisierten Raum betraten, der ganz im Gegensatz zum Rest des Klosters von Leuchtstoffröhrenleuchtbändern erhellt wurde. Vier Servertürme in der Größe ausgewachsener Duschkabinen füllten den Raum, je zwei Türme standen sich gegenüber. Dass es sich nicht einfach um schnöde PC-Boxen handelte, erkannte selbst ich, der zwar einen PC bedienen konnte, aber sich nicht unbedingt als Computerfreak bezeichnet hätte. Blank poliertes Aluminium, farbig eloxierte Bänder, sanft vor sich hinglimmende Kontrollleuchten - an den Servern hatte sich ein Designer ausgetobt.

»Zurzeit verfügen wir über eine Speicherkapazität von 128 Terabyte RAID-6 gesicherter Daten pro Turm. Je zwei Türme bilden eine Einheit. Die beiden Einheiten halten die Daten gespiegelt vor. Mit anderen Worten heißt das, dass 256 Terabyte zur Verfügung stehen. Das mag sehr aufwendig klingen, aber hier lagert das dokumentierte Wissen unserer Art.«

Was war beeindruckender – die Bibliothek mit ihren echten Büchern, die sich anfassen ließen, oder diese kühle Technik? Die Antwort lautete: beides. Ob Buch oder Festplatte spielte nur eine untergeordnete Rolle, entscheidend war der Inhalt.

»Kommt weiter!«, forderte Jost uns auf, ihm weiter zu folgen. Der Serverraum stellte offensichtlich nicht unser Endziel dar. »Wir befinden uns im Hochsicherheitsbereich der Bibliothek, in dem die empfindlichsten, kostbarsten, geheimsten oder sogar gefährlichsten Dokumente gelagert werden. Die Server hier zu platzieren, war nur konsequent.«

Dass der Serverraum neben der Tresortür über eine zweite verfügte, war danach nur logisch. Diese brachte uns in einen alten, leicht feuchten und modrigen Gang, von dem reihenweise Türen abgingen, womit wir den Bereich des Hightechs wieder verließen und in einen magischen und mystischen Bereich abtauchten, der zu den ältesten Teilen des Klosters überhaupt zählte und die ersten Archivkatakomben beherbergte. Jede einzelne Tür war etwas besonderes. Eine war mit fantastischen Schnitzereien verziert. Allerdings konnte ich dafür auch kein Schlüsselloch entdecken. Die Nächste schien dafür fast ausschließlich aus Schlüssellöchern zu bestehen. Wie ich erfuhr, wurden für sie sage und schreibe vierundzwanzig Schlüssel benötigt, die in einer ganz bestimmten Reihenfolge gesteckt und gedreht werden mussten. Ein Fehler und jemand anderes musste von vorne beginnen, da die Tür sich bei einem Fehlversuch tödlich wehrte. Ich ging schnell zur nächsten Tür, die im Vergleich zu den anderen sehr schlicht daher kam. Einzig ein rückwärts laufendes Uhrwerk deutete darauf hin, dass sich diese Tür nur zu einem bestimmten Zeitpunkt öffnen ließ.

»Hier«, verkündete Albrecht und hielt vor einer staubigen Tür, die nur ein Muster aus vier ineinander verschlungenen Kreisen zeigte.

»Diese Tür wurde seit Jahrhunderten nicht mehr geöffnet.«, erklärte Jost, »Konnte nicht geöffnet werden. Hinter ihr liegt das Archiv der Ersten.«

»Ich verstehe.«

War dies eine Prüfung? Wollten die beiden Bibliothekare oder gar Tamir und der Abt mich testen? Glaubten sie mir nicht, dass die Ersten wirklich zu mir gesprochen hatten? Immerhin war klar, was von mir erwartet wurde. Ich sollte die Tür öffnen. Wenn ich doch nur wüsste, wie!

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