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Nachtschatten II - Golden Red

Der zweite Teil der Sage um Florian, den König der Vampire

Teil 2

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Bjarni

»Sniper!«

Der Warnruf kam ebenso unerwartet, wie er überflüssig war. Spätestens mit der ersten Kugel, die wenige Zentimeter neben Atlis Gesicht in einer Ecke der hinter ihm liegenden Häuserwand einschlug, war jedem im Team klar, was die Stunde geschlagen hatte. Die Staubwolke der abplatzenden Bröckchen aus Mörtel und Backstein strich über Atlis Wange, ritzte seine Haut und geriet ihm in die Augen - Willkommen in Sarajevo!

»Shit!«

Orientierungslos torkelte der isländische SAR-Spezialist weiter und damit direkt in das Schussfeld des Heckenschützen. Ein weiterer Schuss fiel, verfehlte aber zum Glück ebenfalls sein Ziel. Der Heckenschütze schien seiner Tätigkeit noch nicht lange nachzugehen.

»Atli!«, kreischte Bjarni und sprang noch bevor der Sniper einen dritten Schuss abfeuern konnte los. Ohne über die Dummheit seiner Handlung nachzudenken und vollkommen reflexhaft packte er seinen Kollegen, riss ihn nieder und wäre dabei fast in eine klaffende Spalte in der Wand hinter sich gestürzt. Als ob die ständigen Heckenschützenangriffe nicht schon genug Stress bereiteten, lauerten in den Trümmern der geschundenen Stadt nicht minder tödliche Gefahren. Etwa instabiles Mauerwerk einer teilweise abgebrochenen Wand oder Decke, das bei der kleinsten Erschütterung in sich zusammenbrach und den arglosen Passanten erschlug. Oder eben finstere und tiefe Löcher, die in das, was früher mal ein Keller war, führten. Wohin das dunkle Loch neben Atli ging, konnte Bjarni nur erahnen. War es ein Keller oder vielleicht etwas ganz anderes? Ein ehemaliger Fahrstuhlschacht? Wie tief es dort wohl hinabging? Die letzte Frage wollte er lieber nicht erkunden und vermied es, dem Schlund all zu nahe zu kommen. Dass er sich dabei exponierte und zum Ziel des Snipers machte, kam ihm erst in den Sinn, als eine weitere Kugel um Haaresbreite seinen Schädel verfehlte und er den Windhauch des Projektils über seine Haut wehen spürte. Verdammt, fluchte Bjarni innerlich, er war Sanitäter und kein Kämpfer! Atlis und sein Job bestand darin, Menschenleben zu retten und nicht, es zu nehmen. Mit dieser Aufgabe waren sie, begleitet von kampferprobten Kräften der IFOR-Einsatztruppe, zu dieser Zielmission aufgebrochen, die darin bestand, der Zivilbevölkerung eines besonders unter Beschuss liegenden und dadurch eingekesselten Stadtteils Sarajevos dringend benötigte medizinische Hilfe zukommen zu lassen.

Als NATO-Mitgliedsstaat steuerte Island Einsatzkräfte für die IFOR-Mission bei, wobei der kleine Inselstaat über kein eigenes Militär verfügte. Stattdessen nahmen Mitglieder der Küstenwache Aufgaben im Bereich der Search-And-Rescue-Dienste wahr. Bjarni und Atli hatten gerade mit ihrem Medizinstudium begonnen, welches ihnen im Rahmen ihrer Rettungssanitätertätigkeit in der isländischen Küstenwache ermöglicht wurde, als ihr Vorgesetzter mit der Bitte an sie herantrat, als Teil der SAR-Kräfte an der IFOR-Mission teilzunehmen. Weder Atli noch Bjarni mussten lange überlegen, erst recht nicht, weil jeder wusste, dass sie beide mit von der Partie sein würden.

Atli und Bjarni - wenn es je eine sprichwörtliche Sandkastenfreundschaft gab, dann zwischen den beiden. Die zwei Jungs waren Freunde, seit sie krabbeln konnten. Von da an konnte nichts und niemand die beiden auseinander bringen. Nichts, außer einem unsichtbaren Heckenschützen, der irgendwo in den Ruinen einer zerbombten und geschundenen Stadt hockte und durch ein Fernrohr seine Ziele ins Visier nahm. Ziele, die er nicht kannte, die er nicht kennen wollte und seiner Meinung nach auch nicht kennen musste. Schließlich herrschte Krieg und jeder, der nicht auf seiner Seite stand, stand auf der anderen, war ein Feind und galt als legitimes Ziel.

War der Sniper ein böser Mensch? Verblendet, fanatisch, aufgestachelt, hasserfüllt - all diese Attribute trafen zweifelsfrei auf ihn zu, aber böse? Er selbst sah sich nicht so. Für ihn waren die anderen die Feinde, die es auszulöschen galt. So wurde es ihm eingetrichtert, so wurde er erzogen, so wurde ihm die Welt erklärt. Und so regten sich auch nicht die geringsten Zweifel oder gar Gewissensbisse an seinem Tun, als er seinen Finger krümmte.

»Bjarni!«

***

»Hallo, mein Freund.«

In der Stimme schwang ein Akzent durch, der Bjarni vertraut vorkam, den er aber nicht zuordnen konnte. Zu einer der lokalen Bevölkerungsgruppen gehörte er jedenfalls nicht. Er war weder serbisch, noch ungarisch, kroatisch, russisch, slowakisch oder rumänisch. Selbst das in manchen Regionen vorkommende Albanisch klang anders. Immerhin, überlegte Bjarni, bin ich in der Lage, mir über Akzente Gedanken zu machen. So schlimm konnte seine Lage also nicht sein. Aber was war mit der Kugel, die ihn getroffen hatte? Ich wurde doch von einer Kugel getroffen, oder?

Auch wenn Bjarni nicht so richtig zu fassen bekam, was es war, aber irgendetwas stimmte nicht. Vielleicht lag es an der leichten Benommenheit, die ihn seit dem Aufwachen begleitete und nervigerweise daran hinderte, einen wirklich klaren Gedanken zu fassen. So brauchte es eine ganze Weile, bis die Umgebung, in der er sich befand, bis zu seinem Bewusstsein vorgedrungen war. Mit einer recht fatalistischen Grundstimmung nahm Bjarni zur Kenntnis, dass er auf einer einfachen und nicht notwendigerweise sauberen Pritsche lag, einem primitiven Metallrohrgestell, auf das jemand eine Matratze gelegt hatte. Eine Decke oder gar ein Laken war nicht vorhanden. Aber das machte nichts. Der Rest des Lagers gestaltete sich auch nicht wesentlich luxuriöser. Etwa knapp einen Meter entfernt stand eine schwächelnde Petroleumlaterne auf einer Holzkiste. Rechts neben der Kiste hockte eine in einen kuttenähnlichen Mantel gehüllte Gestalt. Die Kapuze des Kleidungsstücks hatte er sich weit über den Kopf gezogen. Vom Gesicht war nichts zu erkennen.

»Ich muss mich für unsere primitive Unterkunft entschuldigen«, bemerkte der Unbekannte. »In Anbetracht der Umstände ließ sich leider auf die Schnelle nichts anderes auftreiben.«

»Wo? Wer? Was? Umstände?«, wollte Bjarni wissen und griff unsicher nach seiner Brust, wo ihn die Kugel getroffen hatte. Ihn hatte doch eine Kugel getroffen, oder?

»Wo? Nach wie vor in Sarajevo, nicht wirklich weit vom Ort entfernt, an dem ihr in den Hinterhalt geraten seid. Eine Sorge kann ich dir immerhin nehmen. Atli und den anderen deines Teams geht es gut. Sie sind in Sicherheit.«

»Atli!«, rief Bjarni und wollte sich aufrichten, was ihm aber nicht gelang. Er fühlte sich schwach, komischerweise aber auch gleichzeitig gut und kräftig. Das passt nicht zusammen, oder?

»Wie fühlst du dich?«, wollte der merkwürdige Mann wissen.

»Direkt gefragt? Seltsam! Mir dröhnt der Schädel, ich fühle mich zu schwach und tatterig, um mich aufrichten zu können, habe aber gleichzeitig den Eindruck, Bäume ausreißen zu können«, gestand Bjarni. »Was ist mit mir? Hat mich... hat mich die Kugel des Snipers verletzt?«

»Ehrliche Antwort?«

»Ja, bitte!«

»Okay, du sollst sie bekommen. Aber vorher musst du zu Kräften kommen. Hier, trink!«

Der Unbekannte reichte Bjarni eine Holzschale. Obwohl sich der fremde Mann dafür erheben musste, bewegte er sich so, dass sein Gesicht die gesamte Zeit unter der Kapuze verborgen blieb. Selbst als Bjarni versuchte, aus seiner tieferen Position unter die Kapuze zu luschern, gelang es ihm nicht, auch nur einen kurzen Blick von seinem Gesicht zu erhaschen. Gleichzeitig frustriert aber auch dankbar, etwas zu Trinken zu bekommen, griff der isländische IFOR-Sanitäter nach der gereichten Schale, die eine dunkle, zähe Flüssigkeit enthielt. Ihr Duft hatte etwas betörendes. Es roch nach aromatischen Gewürzen, aber auch ein klein wenig metallisch. Unsicher schwenkte Bjarni das Gefäß umher. Unter den spärlichen Lichtverhältnissen ließ es sich schwer erkennen, aber es schien, als ob die Flüssigkeit eine dunkelrote Farbe besaß. Was es auch immer war, es roch sehr verlockend und weckte Verlangen. Ohne weiter darüber nachzudenken, setzte Bjarni die Schale an und trank den Inhalt in einem Zug aus. Mit jedem Schluck, der seine Kehle hinunter rann, erfüllten Energieschübe Bjarnis Körper. Er konnte fühlen, wie er an Kraft gewann und sich auch die Watte in seinem Schädel auflöste.

»Die Kugel hat dich nicht verfehlt«, erklärte der Mann unter der Kapuze lakonisch, nachdem Bjarni ausgetrunken und die Schale beiseite gestellt hatte. »Sie traf genau ins Ziel. Direkt ins Herz. Zerfetzte deine rechte Herzkammer. Sorry, aber da war nicht mehr viel zu löten.«

Reflexartig griff der NATO-Sanitäter erneut nach seiner Brust und schob das T-Shirt, das ihm der Unbekannte angezogen haben musste, hoch. Entsetzt stellte er fest, dass dort, wo bisher die makellos glatte Haut eines zwanzigirgendwasjährigen seine muskulöse Brust zierte, nun eine kleine, aber doch unübersehbare Narbe prangte.

»Aber dann müsste ich tot sein.«

»Ähm, weißt du, dies ist genau der Moment, der mir an der ganzen Sache immer am unangenehmsten ist.«, grummelte der Mann mit der Kapuze und klang dabei ein wenig verlegen. »Du bist Isländer, oder?«

»Ähm, ja, wieso? Was hat das mit meiner Frage zu tun?«

»Emotionale Stabilität«, erwiderte der Mann trocken. »Ihr geltet als psychisch recht robustes Völkchen, das so leicht nichts aus der Bahn wirft. Du bist doch psychisch robust, oder?«

»Könntest du auf den Punkt kommen? Was ist mit mir?«, entgegnete seinerseits Bjarni ein klein wenig gereizt.

»Schon gut! Schon gut! Du stehst offenbar nicht auf ein Vorspiel. Dann eben ohne viel Vorgerede: Du bist tot!« bemerkte der Mann kurz und schmerzlos. Er zuckte mit den Schultern. »Das heißt, korrekt muss es heißen: Du bist untot.«

»Sehr witzig«, Bjarni knurrte und war versucht, seinem Gesprächspartner ordentlich die Meinung zu geigen, doch dann fiel sein Blick auf die Schale, aus der er gerade getrunken hatte. Am Boden befand sich immer noch ein kleiner Rest der roten Flüssigkeit. Obwohl ihm längst dämmerte, was er da gerade getrunken hatte, tippte Bjarni in die kleine Pfütze, nahm mit der Fingerspitze einen Tropfen auf und verrieb ihn zwischen Zeigefinger und Daumen. Anschließend führte er seine Hand zur Nase und roch daran.

»Das ist Blut oder?«

»Und ein paar Gewürze, um die Wirkung zu erhöhen und es für deinen Körper verträglicher zu machen, bis er sich an seine Veränderung gewöhnt hat.«

»Dann bin ich jetzt ein Vampir?« Bjarni klang mehr als nur ungläubig.

»Ein Nosferatu«, erwiderte der Kapuzenmann. »Vampire waren Menschen, die zu ihren Lebzeiten verwandelt wurden. Nosferatu nicht. Du warst bereits tot, wenn auch nicht lange. Ich konnte dich sofort verwandeln, weswegen du nicht ganz so nosferatuhaft aussiehst, wie es für uns gemeinhin üblich ist.«

Mit dieser letzten Erklärung schlug der Mann seine Kapuze zurück und ließ Bjarni für einen Moment vor Schreck erst zurückzucken und dann erstarren. Nosferatuhaft schien eine schmeichelhafte Umschreibung für monströs und abstoßend zu sein. Obwohl... Bjarni zögerte einen Moment und sah sich sein Gegenüber dann doch etwas genauer an. Ganz so schrecklich, wie auf den ersten Blick, sah der Typ gar nicht aus, sondern einfach nur anders. Der Mann hatte etwas von einem Totenschädel. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen. Hinzu kamen ein kahler Schädel und ein sehr kantiges und hageres Gesicht, unter dem sich die Schädelknochen deutlich abzeichneten. Alles zusammen verlieh es ihm ein finsteres und unheimliches Aussehen, gerade bei so unvorteilhaften Lichtverhältnissen wie in ihrem Kellerloch. Bjarni, wie sein Freund Atli, zählten nie zu der Gruppe Leuten, die jemanden nach seinem Äußeren beurteilten, sondern schaute immer etwas genauer hin. Statt also seinem ersten Impuls zu folgen, studierte Bjarni den Nosferatu genauer und entdeckte eine Reihe Details, die deutlich darauf hindeuteten, sein Gegenüber auf keinen Fall zu unterschätzen. Zum einen lag ein ganz besonderer Glanz in seinen hellwachen Augen, der auf einen extrem wachen Verstand hindeutete. Hinzu kam die Art, wie er sich bewegte und dabei die Muskeln unter seiner Haut arbeiteten. Der Körper des Nosferatu wurde zwar von dessen Kutte zum Großteil verdeckt, aber das, was sich erkennen ließ, deutete auf einen sehr agilen, muskulösen und kräftigen Mann hin, und das trotz des eher hager bis sehnigen Erscheinungsbilds.

»Warum hast du mich gerettet?«, wollte Bjarni wissen und fügte scherzhaft hinzu: »Wenn das überhaupt eine Rettung war.«

»Dein Humor gefällt mir.« Der Nosferatu schmunzelte, was recht gewöhnungsbedürftig aussah: »Aber zu deiner Frage. Mir gefiel deine Selbstlosigkeit. Du hast keine Sekunde gezögert, deinen Kumpel vor dem Sniper in Sicherheit zu bringen.«

»Ach, das war doch nichts. Alles reiner Reflex.«, tat Bjarni seinen Rettungsversuch ab.

»Vielleicht sollte ich erwähnen, dass wir bei einer Verwandlung eines Menschen dessen Gedanken teilen.«

»Oh!«, entfuhr es dem Isländer, der so rot anlief, dass dies sogar im mickrigen Licht der Petroleumlaterne zu erkennen war.

»Du musst dich nicht dafür schämen, jemanden zu mögen oder diesen jemand vielleicht sogar etwas mehr als nur zu mögen. Aber erlaube mir eine Frage: Warum hast du Atli nie gesagt, was du für ihn empfindest?«

Ja, warum eigentlich? Diese Frage hatte sich Bjarni mehr als einmal gestellt. Island zählte eigentlich nicht zu den homophob geprägten Gesellschaften. Die Gesetze gegen gleichgeschlechtlichen Sex wurden bereits 1940 abgeschafft. Wenige Wochen, bevor sie zu ihrem IFOR-Einsatz aufbrachen, Anfang 1996, hatte das Parlament ein Gesetz verabschiedet, mit dem gleichgeschlechtliche Paare ihre Partnerschaft offiziell eintragen lassen konnten. So fortschrittlich waren bisher nur Schweden und Dänemark. Allerdings... Bjarni schnaubte verächtlich. Selbst als Untoter hatte er keinen Arsch in der Hose. Statt endlich mit der Sprache rauszukommen und Klartext zu reden, dass er hoffnungslos in Atli verliebt war, flüchtete er in einen inneren Monolog und erörterte lieber die gesellschaftliche Situation in Skandinavien. Was war er nur für ein feiger Wichser. Obwohl er seinen Freund seit allerfrühsten Kindergartentagen kannte und sie jederzeit über alles und jedes, selbst den dümmsten und peinlichsten Scheiß, quatschen konnten, hatte Bjarni sich nie getraut, diesem Mann, der ihm nicht nur viel, sondern alles bedeutete, ehrlich und offen zu sagen, was er für ihn empfand. Selbst dann, wenn dieser seine Liebe nicht erwiderte. Aber als Toter, oder genauer Untoter, war es jetzt wohl ein wenig spät, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.

»Oh, Shit!«, entfuhr es Bjarni, als ihm siedend heiß ein versiegelter Umschlag und der darin enthaltene Brief einfiel, den er unmittelbar vor ihrem IFOR-Einsatz verfasst hatte und der sich nun wohl auf dem Weg zu seinem Empfänger befinden durfte.

»Was?«, wollte der Nosferatu wissen.

»Der Brief! Atli und ich haben uns gegenseitig vor unserem IFOR-Einsatz Briefe geschrieben. Im Fall, dass einem von uns etwas zustieß, sollte der entsprechende Brief dem jeweils anderen zugestellt werden. Oh Mann, wenn Atli das liest... Oh, Shit! Oh, Shit! Oh, Shit!«

»Was ist daran so schlimm?«, wollte der Mann in der Kapuzenkutte wissen.

»Der Inhalt!«, japste Bjarni. »Das meiste Zeug was ich geschrieben habe ist harmlos. Der übliche Kram, den wohl jeder absondert, wenn er in einen gefährlichen Einsatz zieht. Der erste Teil ist mehr oder weniger mein Testament und Letzter Wille. Im zweiten Teil meines Briefes wird’s dann aber doch recht deutlich und... ähm, explizit, wenn du verstehst, was ich meine. Ich weiß nicht, was mich geritten hat. Aber ich habe mir wirklich alles von der Seele geschrieben, was ich Atli seit Jahren beichten wollte. Warum habe ich das getan? Ich weiß nicht. Vielleicht, weil ich nie damit gerechnet habe, wirklich in Kampfhandlungen verwickelt zu werden. Unsere kleine Nordseeinsel gilt nicht unbedingt als der größte Krisenherd der Welt. Dass die Sache hier heiß werden könnte, ahnten wir zwar schon, aber so konkret, dass einem die Kugeln um die Ohren fliegen und das Herz zerfetzen... Nee, ich hätte nie damit gerechnet, das Land im Sarg wieder zu verlassen. Obwohl... Es gibt ja keine Leiche, oder?«

»Nein, die gibt es nicht. Sonst könnten wir uns nicht unterhalten, oder?«, gab der Nosferatu zu bedenken. »Auf der offiziellen Verlustliste wirst du als MIA geführt.«

»Missing in Action... Woher weißt du das? Moment, wie viel Zeit...«

»Es sind fünf Tage vergangen. Ich habe deine Verwandlung zwar sofort eingeleitet, doch benötigte dein Körper die Zeit, um sich von der Verwundung zu erholen. Üblicherweise sorgte das Herz dafür, dass unser hämophagisches Blut in alle Zellen des Körpers transportiert und damit die Mutation ausgelöst wird. Was soll ich sagen? Dein Herz war... Schrott! Totaler Schrott! Einfach nur ein matschiger Klumpen ehemaliges Muskelgewebe. Mit pumpen war da nichts mehr. Was die Sache etwas langwieriger gestaltete.«

»Sag mal, wie heißt du eigentlich?« Bjarni konnte seinen blutsaugenden Kollegen ja schlecht Totenfratze nennen.

»Bjarni, ich muss mich aufrichtig bei dir entschuldigen. Wie überaus gedankenlos und unhöflich von mir. Mein Name war Tavin Hamish McInnes. Inzwischen bin ich nur noch Bruder Tavin vom Orden der Ghosts of the Higher Lands«, erklärte Bruder Tavin und schmunzelte in Anbetracht von Bjarnis offensichtlicher Verwirrung. »Keine Angst, die Sache mit der Bruderschaft ist zurzeit nicht so wichtig. Ich werde dir irgendwann alles erklären und jede deiner Fragen beantworten. Was die Verlustlisten betrifft. Dein Status ist zurzeit noch MIA, aber man wird dich wohl offiziell als Gefallenen, als KIA - Killed in Action - erklären. Das ganze Einsatzteam sah, wie du getroffen wurdest. Sorry, aber du kannst nur tot sein. Natürlich wollten deine Leute deinen Körper bergen, doch wurde dann der Beschuss der Häuserruine so massiv, dass sie den Versuch abbrechen und sich vorübergehend zurückziehen mussten. Das war ihr Glück. Kaum hatten sie das Gelände verlassen, schlug eine Mörsergranate genau dort ein, wo du gefallen bist und zerstörte den Rest des Gebäudes. Dein Leichnam gilt deswegen als verschüttet und kann nicht geborgen werden.«

»Na super«, knurrte Bjarni. »Und warum kann ich nicht einfach wieder auftauchen?«

»Weil Du jetzt untot und ein Nosferatu bist?«, schlug Bruder Tavin vor. »Du hast doch bestimmt schon mal einen Vampirfilm gesehen? Du bist jetzt ein Blutsauger, ein Wiedergänger, Untoter oder schlicht, ein Vampir. Womit ich nicht diese Glitzerdinger meine, über die neuerdings Filme gedreht und Bücher geschrieben werden. Also, zum Mitschreiben: Sonne gleich verbrennen gleich megaaua gleich schlecht. Du bist kein Mensch mehr, sondern ein Wesen der Nacht.«

»Klingt total scheiße!«

»Ist es aber nicht. Glaub mir, ich habe es nie bereut, ein Nosferatu geworden zu sein. Womit wir elegant zum offiziellen Teil deiner Erweckung als Untoter gekommen wären. Ich muss dich nämlich fragen, ob du ein Nosferatu sein willst oder es vorziehst, die Natur ihren Lauf nehmen zu lassen.«

»Und das heißt konkret?«

»Entweder wählst du ein Leben als Untoter und wirst ein Bruder unseres Ordens oder... naja, dann trinkst du noch ein wenig Blut mit ein paar speziellen Kräutern, schläfst ein und wachst nicht mehr auf. Total schmerzlos. Deine Entscheidung. Aber wenn ich ehrlich sein soll, wäre es echt schade um dich. Du bist ein knuffiges und ziemlich helles Kerlchen. Eines, das wir gut in unserem Orden gebrauchen könnten.«

»Danke... Glaub ich jedenfalls.« Bjarni kräuselte die Stirn und erweckte damit den Anschein zu überlegen, zwischen einer Existenz als Untoter und einer Nichtexistenz als gänzlich Toter abzuwägen. Dabei war seine Entscheidung längst gefallen. Als vierundzwanzigjähriger Mann bereits in die Kiste zu springen, betrachtete er definitiv als zu früh und persönliches Versagen. Immerhin schrieben sie das Jahr 1996. Noch vier Jahre - oder fünf, wenn es nach den Nerds ging - und ein neues Millennium brach an. Das 21. Jahrhundert! Bjarni und Atli hatten sich fest vorgenommen, Menschen des neuen Jahrtausends zu werden. Da konnte er doch unmöglich knapp vor der Zielgeraden das Handtuch werfen, oder?

»Bevor ich ja zum Leben als Nosferatu sage, hätte ich da noch eine Frage: Was ist mit Sex?«

Meister des Schwertkampfs

»Wow!«

Bastis Augen wollte fast aus ihren Höhlen springen und auch Philip zeigte sich beeindruckt, blieb aber im Gegensatz zu seinem Freund sprachlos. Christiano zeigte sich hingegen von seiner coolen Seite und präsentierte der kleinen Reisegruppe ein feines Lächeln, während er einen aus anderen Gründen beeindruckten Simon mit seinen Armen umschlungen hielt. Nosferatu Petrus nickte anerkennend. Nur Nicolas und Marco schauten ziemlich nervös drein. Ich hingegen stellte mir die Frage, wie wohlhabend das Haus Varadin-Breskoff eigentlich wirklich war. Vor uns stand eine wunderschöne Gulfstream G550. Die Einstiegstreppe des Firmenjets war heruntergelassen und lud zum Boarding ein. Die Entscheidung, nach New York zu fliegen, hatte ich innerhalb weniger Sekunden getroffen. Die Vorbereitung für die eigentliche Reise benötigte dann doch einen ganzen Tag, respektive die dazugehörige Nacht, bis wir dann am frühen Mittag des nächsten Tages im abgedunkelten Hangar der »Varadin Transportation and Logistics International Ltd.« den für uns bereitstehenden Firmenjet bewundern durften.

»Königliche Hoheit«, wurden wir von Orwell, dem Schwert des Hauses Varadin, begrüßt. Constantin konnte es sich einfach nicht verkneifen, alles vampirmögliche für unsere Sicherheit zu tun.

»Orwell«, knurrte ich den schwarzen Hünen an. Er wusste ganz genau, wie sehr ich meinen Titel liebte.

»Okay! Okay!«, ruderte der Mann mit deutlich amerikanischem Akzent zurück. Das passierte immer, wenn er verlegen war. »Florian! Ich soll dich von Constantin grüßen. Er lässt ausrichten, dass er versucht, in einigen Tagen nachzukommen. Ansonsten stehen dir alle Ressourcen des Hauses Varadin-Breskoff zur absolut freien Verfügung.«

»Oh, Constantin«, entfuhr mir ein Seufzer. »Der Mann arbeitet zu viel. Ich kann wirklich froh sein, nur ein kleines Haus führen zu müssen.«

»Kleines Haus? Flo, du bist unser König«, gab Orwell zu bedenken.

»Danke, dass du mich daran erinnerst«, knurrte ich, dieses Mal aber nur scherzhaft. »Unser kleiner Ausflug hat zum Glück auch etwas von Urlaub. Fünf Nächte die Woche lang täglich Audienzen ist echt der Horror. Nicht dass ich mich beschwere. Ich freue mich, wenn ich helfen kann. Aber der Job schlaucht. Ich frage mich, wie Breskoff das mehr als ein Jahrtausend lang durchgehalten hat.«

»Ich bin zwar noch nicht so lange an Bord«, erwiderte der hundertfünfzigjährige Vampir, »aber was ich so mitbekommen habe, gewährte Breskoff nur alle paar Wochen Audienzen, und dann auch nur für wenige Stunden. Er drehte den Spieß eher um und ließ die Hohen Häuser bei sich antreten.«

»Oh, welch für ein verlockender Gedanke«, seufzte ich. Und plötzlich wurde mir etwas klar, was mir bisher noch nie in dieser Klarheit bewusst war: Ich war Breskoffs Nachfolger! Natürlich wusste ich, dass ich der König der Hämophagen war. Immerhin hatte ich Ja gesagt, als mir der Rat „den Job“ anbot. Doch über einen Aspekt hatte ich mir bisher hingegen nie Gedanken gemacht: was für ein Erbe ich da eigentlich angetreten hatte. Tausend Jahre politisches Ränkespiel, fein dosierte Intrigen, subtile Drohungen bei gleichzeitigen offenen Freundschaftsbekundungen, manchmal sogar Drohungen durch Freundschaftsbekundungen. Oder sah ich Vladimirs Regentschaft zu negativ? Immerhin hatte er es über die Jahrhunderte fertiggebracht, der Welt der Blutsauger Kriege zu ersparen. So wie ich die Bande bisher kennengelernt hatte, stellte sich die berechtigte Frage, ob ich zu einer solchen Meisterleistung ebenfalls in der Lage war. Oder sollte meine heimliche Befürchtung zutreffen, dass meine Ernennung dazu dienen sollte, diesen zuweilen erzwungenen Frieden zu beenden?

Da fiel mir ein, dass Breskoff seine letzten Jahre dazu genutzt hatte, Constantin auf seine Rolle als König vorzubereiten. Seine Wahl lag nahe. Constantins Vater, Tasmanir Musferatu, der Stammvater der Nosferatu des Westens und Breskoff waren sehr enge Freunde. Freunde, die mehr als nur ein Geheimnis und wohl eine ganze Reihe Leichen im Keller miteinander teilten, die mehr als nur dazu angetan waren, das überaus sensible Machtgefüge zwischen den Häusern und damit den Frieden ernsthaft zu gefährden. Eines dieser Geheimnisse hatten Constantin und ich nicht nur aufgedeckt, es hatte mich auch auf den Thron befördert. Etwas, womit Breskoff, der nach dem Tod von Constantins Vater ein wenig die Rolle eines Ersatzvaters übernommen hatte, nicht rechnen konnte. Dabei hatte er wenige Wochen zuvor das ultimative Opfer erbracht, um Constantin den Anspruch auf die Königswürde zu sichern.

»Flo?«, schreckte mich Christiano auf. Ich stand am Geländer der Flugzeugtreppe und war in einen Tagtraum verfallen.

»Oh, Entschuldigung. Ich glaube, ich hatte gerade eine Art Epiphanie.«

»Und welcher Art war diese Selbstoffenbarung?«

»Dass Constantin ein ziemlich egoistisches Arschloch ist, mir diesen blöden Job als König aufgehalst zu haben«, erwiderte ich fröhlich.

»Wenn ich mich an den Verlauf der Ratssitzung korrekt erinnere, habe ich von dir kein Nein gehört.«

»Pah, Besserwisser!«


So eine Gulfstream war schnell. Mit einer Reisegeschwindigkeit von 0,85 Mach, was bei einer Außentemperatur von rund -50 Grad Celsius in einer Flughöhe von 10.000 Metern etwas über 900 km/h entsprach, benötigten wir irgendetwas zwischen acht und neun Stunden, um die Strecke bis New York zurückzulegen. Da sich Startgenehmigungen gemeinhin nicht nach den Präferenzen lichtscheuer Blutsauger orientierten, blieb nichts anderes übrig, als uns an die üblichen Flugzeiten zu halten und während des Tages zu fliegen. Die Begeisterung meiner Begleiter, den Tag nicht in einem gemütlichen Bett tief in einer Vampirhöhle verschlafen zu dürfen, war ihnen ins Gesicht geschrieben. Obwohl die Gulfstream über eine perfekte Lichtisolation verfügte und sämtliche Fenster der höchsten Sicherheitsgüte von fünf Fledermäusen entsprachen, war das geliebt-gehasste Zentralgestirn deutlich spürbar und wirkte alles andere als belebend. Während sich Orwell, ganz in der Rolle des Hartarsches, keine Blöße gab und versuchte hellwach zu wirken, ließen Basti und Phillip keine Zweifel daran aufkommen, dass ihnen die späte Stunde überhaupt nicht gefiel. Die zwei kultivierten ein dermaßen ansteckendes Wettgähnen, dass ich mich erbarmte und sie aufforderte, ein wenig zu schlafen. Constantins Businessflieger war mit sehr bequemen Sitzen ausgestattet, die sich per Knopfdruck in mehr als akzeptable Liegen verwandeln ließen. Da unsere Piloten einen ruhigen Flug ohne wesentliche Turbulenzen prognostizierten, sollte einem Nickerchen eigentlich nichts im Weg stehen.

»Die Jugend von heute.«, ließ sich Christiano breit grinsend verlauten, als sich meine Jungs in ihre Decken wickelten, »So ein bisschen Sonne. Ich habe Wochen als Tischlerlehrling tagsüber malocht.«

»Jedem sein Hobby,«, knurrte Basti, »aber ich brauche jetzt meinen Schönheitsschlaf.«

»Redet man so mit einem Botschafter?«, wollte der wilde Portugiese scherzhaft von mir wissen.

»Eigentlich nicht. Es sind halt Grünschnäbel, denen du ihr loses Mundwerk nachsehen musst«, spielte ich den verständnisvollen Stammvater, um anschließend in eine leicht melancholische Stimmung zu wechseln. »Aber Christiano, sind es wirklich schon fünf Jahre? Ich meine die gemeinsame Zeit bei Niederreuter... Es ist komisch, aber aus der Distanz betrachte ich die Zeit mit ganz anderen Augen. Insbesondere die Wochen nach meiner Rettung durch Constantin. Im Nachhinein waren es mit die spannendsten Tage, die ich je erlebt habe. Okay, vielleicht davon abgesehen, dass wir am helllichten Tag eine Schwammsanierung durchführen durften.«

»Ich begreif bis heute nicht, wie ihr die Zeit durchgehalten habt«, schaltete sich Marco in die Unterhaltung ein. »Tagsüber zu schuften muss für euch doch die Hölle gewesen sein. Ich empfand es ja als Mensch schon stressig, in der stickigen Luft zu schuften. Immerhin ist mir jetzt klar, warum ihr gegen Abend munter wurdet.«

»Okay Leute, ich weiß ja nicht, wie ihr das seht, aber ich hau mich auch ein paar Stunden aufs Ohr«, bemerkte ich gähnend und erntete von allen ein zustimmendes Nicken. Von allen, bis auf Orwell. Schweigend zog er sich in die hintere Ecke der Kabine zurück, hockte sich dort auf den Boden, legte sein Schwert vor sich hin und begann seine Wache. Bevor ich meine Augen schloss, warf ich ihm einen dankbaren Blick zu. Nein, Orwell würde seine Augen keinen Moment schließen, sondern still über uns wachen. Welche Gefahren erwartete er? Was konnte einer Gulfstream mit sieben friedlich schlafenden Vampiren und einem Nosferatu schon geschehen, die unauffällig über den Atlantik in Richtung amerikanischer Ostküste flog?

Es muss so ungefähr auf halber Strecke gewesen sein, dass ich kurz aufwachte. Jemand war so nett gewesen, die Kabinenbeleuchtung bis auf einige kleine Orientierungslichter zu löschen, was für unsere vampirischen Augen aber immer noch hell genug war, um recht gut sehen zu können. Ich wäre sofort wieder eingeschlafen, hätte nicht eine Bewegung in den Augenwinkeln meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Nicolas, mein Ritter und Schwert meines Hauses hatte sich erhoben und zu Orwell gesellt. Die beiden Männer wechselten ein paar Worte miteinander, sprachen dabei aber so leise, dass sie niemanden weckten. Die beiden plauderten eine ganze Weile. Mir schien, als wenn während der Unterhaltung mehr und mehr Nicolas das Reden übernahm und Orwell stattdessen nicht nur zuhörte, sondern an den Lippen meines Marschalls hing. Plötzlich holte Nicolas sein Schwert heraus und reichte es Orwell, der es fachkundig betrachtete und begutachtete. Nicolas sagte etwas und deutete mit einer Bewegung seines Kopfes in Richtung eines der freien Sitze. Orwell zögerte einen Moment, nickte dann aber zustimmend. Er ergriff sein eigenes Schwert und verstaute es in seiner Scheide. Stattdessen nahm nun Nicholas seine Position als Wache ein, was er dadurch dokumentierte, nun seinerseits sein Schwert vor sich griffbereit hinzulegen.


Ein paar Stunden später erwachten wir frisch und munter kurz vor unserer Landung. Durch die Zeitverschiebung war es in New York früher Nachmittag und die Sonne weit davon entfernt, alsbald unterzugehen. Wir fühlten uns trotzdem ausgeschlafen und begannen, den bevorstehenden Abend zu planen.

»Wie geht es denn jetzt weiter?«, wollte Basti wissen.

»Ich hatte eigentlich geplant, erst direkt in unser New Yorker Haus zu fahren«, erläuterte ich meine Überlegungen, »Wir können uns etwas frisch machen, Klamotten auspacken, duschen und dann vielleicht auf einen Snack durch die Stadt schlendern. Aber wenn ihr eine bessere Idee habt, nur zu. Ich bin für alle Vorschläge offen. Bruder Petrus, Ihr seid selbstverständlich herzlich eingeladen, euren Aufenthalt unter unserem Dach zu verbringen.«

»Flo, bitte, lass das Bruder weg. Wir sind hier nicht in einer Ratssitzung«, entgegnete Petrus. »Ich würde dein Angebot gerne annehmen. Allerdings bringen mich dann meine lieben Mitbrüder aus den New Yorker Klöstern um. Der Stammvater der Nosferatu des Westens kommt in den Big Apple und besucht nicht seine Leute? Danke für dein lieb gemeintes Angebot. Aber ich werde abgeholt. Der hiesige Orden hat einen Wagen geschickt.«

»Was ist mit uns?«, wollte Phillip wissen. »Wie kommen wir in unser Haus? Habt ihr Loren informiert?«

»Ähm, nein«, mischte sich Christiano ein, »wir waren der Meinung, möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erregen. Dies ist ein ganz normaler Charterflug. In Newark, unserem Zielflughafen, werden wir von ein paar Limousinen der Fearless Night Charter, Air Cargo and Services Inc. erwartet. Ach, da habe ich noch etwas für euch.« Christiano angelte nach seiner Aktentasche: »Ja was haben wir denn hier? Sechs Pässe. Flo und Nicolas, ihr habt, so wie ich, als akkreditierte Diplomaten der UN entsprechende Pässe, die sowohl euch als auch euer Gepäck vor Kontrollen schützen. Orwell, du bist sowieso ein US-Citizen. Für dich ist dies ein Heimspiel. Aber ich nehme an, dass ich dein Schwert verwahren soll. Für euch restliche, einfache Untoten gibt es normale Pässe mit unbegrenzter Aufenthaltserlaubnis, auch Green Card genannt. Ihr müsst bei der Einreise die Schalter für residents nehmen. Andernfalls könnte das verdächtig wirken. Die Jungs und Mädels der Homeland Security Service sind in letzter Zeit ein wenig paranoid. Von der NSA will ich gar nicht erst anfangen. Die entwickeln sich mehr und mehr zum Albtraum. Die ahnen, dass es uns gibt. Sie wissen zwar nicht, wer und vor allem was wir sind, wissen aber um unsere Existenz. Seit gut zehn Jahren versuchen sie, in unsere Datennetze einzubrechen, was extrem lästig ist. Bei einem entdeckten Versuch reicht es nicht, das Netz wieder dicht zu machen. Die NSA weiß ja dann um seine Existenz und wird alles versuchen, um es weiter zu erkunden. Wir äschern daher kurzerhand alle entdeckten Teile plus reichlich Sicherheitsabstand ein und bauen ein neues Netz auf. Ich möchte euch deswegen bitten, nur die bereitgestellten Notebooks und Smartphones zu verwenden. Die Geräte arbeiten voll verschlüsselt und sind auf Schwachstellen geprüft.«

»Oh, oh!«, kommentierte Basti, den die ganze Sicherheitsbelehrung eher weniger interessierte und an einem anderem Punkt hängen geblieben war: »Loren weiß nicht, dass unser heiß geliebter Stammvater ihr New Yorker Haus besucht? Das kann lustig werden.«

Was würde ich nur ohne Christiano machen? Ohne seine minutiösen Reisevorbereitungen und Anweisungen hätten wir wesentlich länger mit den Einreiseformalitäten verbracht, wenn uns die Beamten des Heimatschutzes überhaupt ins Land gelassen hätten. Bei Orwells oder Nicolas Bewaffnung war das ziemlich fraglich. Ich hatte schon einiges über den schroffen und barschen Umgangston gehört, mit der die immigration officers gerade an der Ostküste Einreisende ohne permanente Aufenthaltsgenehmigung oder Status als US-Staatsbürger abfertigten. Die mich begrüßende Beamtin präsentierte sich hingegen einigermaßen freundlich. Vermutlich lag dies aber auch an der Tatsache, dass die Frau auf Diplomaten spezialisiert war. Trotzdem benötigten wir noch eine gute Stunde, bevor uns die Fahrer von Fearless Night am Ausgang des Terminals in Empfang nehmen konnten.

»Hallo Cowboy!«, wurde Orwell von einem Typen begrüßt, der selbst dem Prototyp eines waschechten Cowboys entsprach. Mit tiefblauer Wrangler, naturlederfarbenen Caterpillar-Stiefeln, schwarzem, schlichtem Ledergürtel, weißem Hanes-T-Shirt und tatsächlich einem sandfarbenen Stetson präsentierte er sich als Archetyp eines Viehhirten nordamerikanischer Prägung. Es fehlte nur das Lasso. So wie sich das Shirt an seinen Oberkörper schmiegte und die Rippen der Muskelpäckchen in Pose brachte und ein leicht spitzbübisches Grinsen seine Lippen umspielte, zusammen mit einer perfekten Körperhaltung, konnte er locker einem GQ- oder Mens Health-Heft entstiegen sein.

»Hallo Cowboy!«, erwiderte Orwell, begann zu strahlen, dem anderen Mann in den Arm zu fallen und sanft über die Wange zu streichen. »Pete, was machst du denn hier?«

»Dafür ist unser wilder Portugiese verantwortlich«, antwortete Pete und deutete auf Christiano. »Christiano, du alter Drecksack. Wenn du wieder mal auf die Idee kommst, mit deinen Freunden einen Ausflug nach New York zu unternehmen, wäre es nett, mich etwas früher zu informieren. Acht Stunden war wirklich ein wenig knapp. Immerhin hast du mir mein Riesenbaby mitgebracht. Insofern sei dir verziehen. Aber ich vergesse meine Kinderstube: Möchtest du mir nicht deine Reisetruppe voller Jungblutsauger vorstellen?«

»Ähm, Pete...«, räusperte sich Orwell und deutete wenig dezent auf mich.

»Was denn?«, grummelte Pete irritiert und starrte mich fragend an. »Wer ist da...« Für den Konsonanten des bestimmten Artikels reichte es nicht. Stattdessen schien es dem Cowboy etwas warm unter dem Kragen seines weißen T-Shirts zu werden.

»Königliche Hoheit«, hauchte Pete leise und sah schamhaft zu Boden.

»Einfach nur Florian«, beeilte ich mich schnell seinen Anfall unangebrachtem Devotismus zu unterbinden. Ich versuchte es jedenfalls, aber Pete kam mir zuvor. Der locker einen Kopf größere Mann ging vor mir in Knie. Ich seufzte. Wussten die Leute nicht, was sie mir mit diesem Untertanenscheiß antaten? Ich ging auf ihn zu, griff mit beiden Händen nach seinen Schultern und stellte den Kerl kurzerhand wieder auf die Füße. Niemand sollte die Kraft eines gebürtigen Vampirs unterschätzen. So zierlich mein Körper im Vergleich zu Muskelkerlen wie Pete auch erscheinen mochte - meine Exkollegen bei Niederreuter hatten mich nicht ohne Grund als Elfenschwuchtel bezeichnet - als Vampir, als gebürtiger Vampir, hätte ich es locker mit jedem einzelnen unserer Gruppe aufnehmen können, notfalls auch mit allen gleichzeitig. Was wirklich in mir steckte, erfuhr ich vor knapp einem Jahr von niemand geringerem als Bruder Markus, dem Abt des Klosters der grauen Nebel.

Basti und Phillip hatten ein weiteres dreiwöchiges Schwertkampftraining erfolgreich absolviert, wobei sie dieses Mal von Nicolas und mir begleitet wurden. Nicolas Anwesenheit wurde ausdrücklich erwünscht, denn Bruder Markus hielt für meinen Marshall eine handfeste Überraschung bereit. Es begann mit einer Woche ungewöhnlich intensivem Training. Am Ende der Nacht war Nicolas dermaßen geschlaucht und wirklich fertig, dass er am Morgen kaum noch die Augen aufhalten konnte. Er war sogar so müde, dass er während des gemeinsamen Frühstücks einnickte und sofort einschlief, kaum dass wir nach dem obligatorischen Bad in der Grotte ins Bett geschlüpft waren. Nach zwei mörderischen Wochen wirklich extremstem Training, während dem Bruder Markus wirklich jedes Quäntchen Kraft aus Nicolas herauszuquetschen schien, war plötzlich von einem Moment auf den anderen Schluss. Mein Freund und allererstes Mitglied meines Hauses sollte sich zwei Tage ausruhen und einfach nichts machen, außer entspannen und Kerzen wechseln. Pünktlich um Mitternacht des dritten Tages sollte er sich zusammen mit mir in der großen Trainingshalle einfinden.

Und so erholte sich Nicolas. Nach einem gemeinsamen Frühstück am Abend des ersten freien Tages bat mich Nicolas, ihn zu entschuldigen, um genau das zu tun, was Bruder Markus von ihm erwartete: Die Kerzen des Klosters zu wechseln. Was wie ein langweiliger Job klang, war genau das nicht: langweilig. Denn eigentlich war er viel mehr. Ich hatte es selbst erlebt. Nach einer anstrengenden Nacht mit Studien alter Dokumente in der Gruft der Ersten, kam ich einfach nicht zur Ruhe. Unrastig wachte ich immer wieder auf, während der völlig ausgepowerte Nicolas wie ein Stein neben mir schlief und selbst von meiner Wühlerei nicht erwachte. Am nächsten Abend ließ ich meine Studien Studien sein und suchte stattdessen den Meister der Kerzen, den magister candelarum auf, der für die Beleuchtung des Klosters zuständig war. Nach einer kurzen Unterweisung begann ich Kerzen zu wechseln. Ich weiß nicht, welches Geheimnis in diesen unscheinbaren Wachsstangen steckte, aber bereits nach kaum einem Dutzend gewechselter Kerzen, breitete sich eine Ruhe und Ausgeglichenheit in mir aus, die ich so weder erwartet noch jemals erlebt hatte. Kerzen wechseln war pure Meditation. Die kleinen Flammen über den Dochten entwickelten mit ihrem Schein eine hypnotische Wirkung, der ich mich einfach nicht entziehen konnte.

Meinem Marschall, dem Schwert des Hauses Margaux, erging es genauso. Als wir uns am Morgen des ersten trainingsfreien Tages in der großen Speisenhalle wieder trafen, stand mir ein entspannter, erholter und wacher Nicolas gegenüber. Es wurde ein langer Morgen, den wir im Bad verbrachten. Nicolas hatte mich von hinten in seine Arme genommen und kuschelte sich mit seinem Kinn an meine Schulter, seine Wange an die meinige geschmiegt.

»Ich habe keine Ahnung, was Markus geritten hat. So erbarmungslos und brutal, wie er mich die letzten zwei Wochen ran genommen hat, war er noch nie.«

»Wer weiß schon, was im Kopf unseres Abtes vorgeht«, erwiderte ich, hatte aber eine Idee, was es sein könnte. Ich entwand mich Nicolas Umarmung, drehte mich um und betrachtete meinen Exnosferatu. Sein Körper war eine Skulptur. Die zwei Wochen hatten die eh schon harten und markanten Muskeln in Granit verwandelt. Was sich unter Nicolas Haut abspielte, suchte seinesgleichen. Was Markus auch immer mit ihm veranstaltet hatte, die Wirkung war unübersehbar. Sanft ließ ich meine Finger über den subtil athletischen Körper meines Freundes wandern. »Keine Narben«, bemerkte ich nach einer zärtlichen Inspektion. »Immerhin hat Markus dich nicht in einen Fleischspieß verwandelt.«

»Oh, er hat es mehr als nur versucht. Wenn es nicht Markus gewesen wäre, mit dem ich da gekämpft habe, hätte ich mir ernsthaft Sorgen gemacht. Bei diesem Training gab es keinen, nicht den allerkleinsten Spielraum für Fehler. Hätte ich auch nur einmal gepatzt, würden mir jetzt die einen oder anderen essenziellen Körperteile fehlen.«

Wie brutal und erbarmungslos die Schwertkämpfe des Trainings wirklich waren, konnte ich eineinhalb Tage später bestaunen. Natürlich hatte ich eine ungefähre Vorstellung von dem, was uns - Basti, Phillip und eine Reihe Mönche waren ebenfalls anwesend - erwartete - und lag falsch, vollkommen falsch. Dabei begann der Kampf an sich eher unspektakulär. Markus und Nicolas standen sich direkt gegenüber. Unbeweglich, ihre Schwerter vor sich mit den Spitzen auf den Boden gestellt, belauerten sich die zwei Kombattanten. Absolut still harrten sie auf die kleinste Regung ihres Gegenübers: Ein fast nicht erkennbares Muskelzucken als Zeichen einer Offensive. Eine winzige Abgelenktheit, die sich für einen Überraschungsangriff ausnutzen ließ. Die Schwertkämpfer versuchten ihren Gegner zu lesen, um einerseits den richtigen Zeitpunkt für eine geeignete Attacke nicht zu verpassen, umgekehrt aber auch nicht von einem gegnerischen Angriff kalt erwischt zu werden.

Die Stille im Saal war nervenaufreibend. Jeder konnte die Spannung fühlen und für einige unter uns war sie wohl zu viel. Basti schien die knisternde Atmosphäre nicht mehr aushalten zu können und räusperte sich. Ein profanes Schnauben, um den Kloß im Hals runterzuschlucken und etwas Schleim aus dem Rachen zu bekommen, reichte, um ein Stahlgewitter über uns hereinbrechen zu lassen. Von einem Wimpernschlag zum nächsten entflammte ein tödlicher Tanz zwischen Markus und Nicolas auf der Matte des Kampfrings und sprengte meine Vorstellungskraft. Beide Männer trugen nur speziell geschnittene Kampfhosen aus einem ähnlichen Stoff, den auch Judoka trugen. Barfuß, mit nacktem Oberkörper und nur ihren Schwertern in der Hand, schlugen die Männer aufeinander ein. Wir wurden Zeuge eines Balletts, eines pas de deux der extremsten Art. Stahl traf auf Stahl und ließ Funken stieben. Verglühenden Metallsplitter zeichneten Kurven von Bewegungen nach, die zu schnell waren, um von unseren Augen noch aufgelöst werden zu können. Die beiden Kämpfer bewegten sich mit übermenschlicher Geschwindigkeit. Hier kämpften Vampire, Nosferatu, die sich ihrer Existenz als Hämophagen mit jeder Faser ihres Körpers bewusst waren und alle Reste ehemals menschlicher Verhaltensmuster weit hinter sich gelassen hatten.

Mehr als einmal war ich kurz davor aufzuspringen. Mein Löwe, das animalische, ursprüngliche Monster in meinem Inneren rüttelte und riss an seinen mentalen Gitterstäben. Es roch den Schweiß, es witterte das Testosteron, es spürte die tödliche Kraft hinter den Schwerthieben und bleckte seine virtuellen Zähne. Ich fühlte - oder nein - ich wusste, dass mein Löwe keine Klinge fürchtete und auch nicht fürchten musste. Basti und Phillip hatte es hingegen vollkommen die Sprache verschlagen. Mit weit aufgerissenen Augen und Mündern folgten sie gleichzeitig fasziniert und schockiert dem Spiel der Klingen.

»Stopp!«

Ein einzelnes Wort donnerte durch den Saal. Ihm folgte Stille. Nicolas hielt inne. Schweiß rann ihm von Stirn und Schläfen, lief ihm über Brust und Arme. Doch wenn ich erwartet hatte, ihn keuchen und schwer atmen zu hören, dann wurde ich überrascht. Nicolas blieb hochkonzentriert. Sein Puls war hoch und seine Atmung tief, doch gleichzeitig auch entspannt. Bruder Markus nickte und zeigte dabei tatsächlich ein zufriedenes, leichtes Lächeln, ein sehr zufriedenes Lächeln.

»Bruder Nicolas, Schwertmeister der Bruderschaft der grauen Nebel, ich danke Euch für diesen Kampf.«

Das war es. Mir war die Implikation der von Bruder Markus verwendeten Anrede sofort klar. Dem Adressat nicht, der brauchte eine Sekunde länger. Völlig perplex klappte ihm der Unterkiefer herunter. Nicolas wollte etwas sagen, doch sein Sprachzentrum verweigerte ihm den Dienst.

»Ja, mein Freund und Bruder. Du bist ein Meister der Schwertkampfkunst!«, erklärte Bruder Markus feierlich. »Du hast die Fesseln deiner menschlichen Konditionierung abgeworfen und dich deinem vampirischen Wesen ergeben. Das Training der letzten Tage diente nicht dazu, deine Fähigkeiten zu erweitern. Die ließen sich nicht mehr erweitern. Es diente dazu, dass du dich deiner selbst bewusst wurdest.«

Diese Offenbarung war für Nicolas einfach zu viel. Er brach zusammen. Er fiel einfach auf seine Knie und konnte sich gerade noch mühsam an seinem Schwert festhalten. Mit einem Schlag begriff er, was sein früherer Ordensbruder die letzten Tage mit ihm getrieben hatte und was es bedeutete. Der Titel eines Schwertkampfmeisters der Bruderschaft der grauen Nebel, selbst wenn er nur dem niedrigsten Grad entsprach, war eine Auszeichnung, die nur wenigen Nosferatu zu Teil wurde. Weltweit zählten vielleicht vierzig Hämophagen zum Kreis der Träger dieses Titels. Laurentius war einer von ihnen. Und nun auch Nicolas.

Ein zufriedener Ausdruck umspielte Bruder Markus Gesicht, der bei nicht blutsaugenden Lebewesen aller Wahrscheinlichkeit nach einen sofortigen Fluchtreflex ausgelöst hätte. Bei Nicolas löste er hingegen ein Gefühl von Stolz und Dankbarkeit aus. Er ergriff die ihm entgegengereichte Hand und ließ sich vom Abt auf die Beine stellen.

»Du hast dir den Titel redlich verdient. Nicolas, du warst und bist einer meiner begabtesten Schüler. Du verstehst jetzt, dass der Meistertitel nur ein äußeres und formales Zeichen einer wesentlichen inneren Veränderung seitens seines Trägers symbolisiert. Du hast die Tür zu einer völlig neuen Welt aufgestoßen und einen ersten, einen allerersten Schritt gewagt. Ich würde mich freuen, wenn ich dich bei den nächsten Schritten begleiten und dich führen darf. Nicolas, was du heute und die Tage zuvor erreicht hast, ist nur die Spitze des Eisbergs.«

»Danke, Meister.«

»Ich danke Euch, Meister.«

Und dann stand er vor mir. Nicolas - strahlend, glücklich, stolz und komplett fertig und ausgepowert. Ich nahm ihn in den Arm, drückte ihn und zeigte ihm, wie stolz ich auf meinen Marschall, Freund und Blutsbruder war.

»Und dir, Bruder Florian«, wurde ich direkt von Markus angesprochen, »Dir, nosferat leo, sollte inzwischen klar sein, dass Schwerter deinen Weg nur schwerlich stoppen können.«


»Ihr seid also Pete?«, fragte ich freundlich lächelnd den verblüfften Cowboy, der kaum glauben wollte, dass so ein blondes Engelchen von einem Vampirlein wie ich es zu sein schien, ihn einfach so an der Schulter packen und emporheben konnte. »Der Mann, der Orwells Augen strahlen lässt, kaum dass sein Name fällt. Ich freue mich, dich kennenzulernen.«

»Wow!«, stammelte der Mann und ergriff die ihm gereichte Hand. »Kön... Florian.«, stammelte er. Offensichtlich erinnerte er sich an einen dezenten Hinweis Constantins, mich bloß nicht mit diesem blöden Titel anzuquatschen. Trotzdem schien er sich bei der Sache unsicher zu fühlen.

»Wie sprichst du mit Constantin? Eure Lordschaft? Fürst Varadin? Seine Durchlaucht?«, wollte ich fröhlich wissen.

»Quatsch! Constantin ist Constantin.«

»Und ich sein Männe. Mehr nicht. Florian oder Flo. Mehr nicht, okay?«

»Okay«, erwiderte Pete und nickte verlegen. »ähm, sollen wir jetzt fahren? Die Limousinen warten.«

»Ja, wir sollten fahren«, schaltete sich Christiano ein und unterstrich damit seine Rolle als Reiseleiter unserer kleinen Truppe. »Mit einer kleinen Programmänderung. Die Fahrt geht nicht zu uns, sondern in Florians, also Herzog Margaux New Yorker Haus.«

»Kein Problem, die Fahrzeuge warten in der Vorfahrt.«

Jeder Hämophage, egal ob nun Vampir oder Nosferatu, pflegte naturgemäß ein ambivalentes Verhältnis zum Zentralgestirn unseres Sonnensystems. Die Bandbreite reichte von demonstrativer Gleichgültigkeit bis hin zu kultisch gepflegter Hassliebe. Um es auf den Punkt zu bringen: Wir liebten, was uns umbrachte. Ein jeder von uns konnte sich an die Zeit erinnern, an der er oder sie unter ihrem Licht wandeln konnte, ohne in einen Haufen Asche verwandelt zu werden. Ich erinnerte mich noch sehr gut an meine Kindertage, als ich mit meinen Eltern am Strand der Ostsee unter einem tiefblauen Himmel kaum aus dem Wasser zu bekommen war. Wobei mir im Nachhinein verständlich wurde, warum meine Mutter es vorzog, mit einem leichten Sommerkleid unter einem großen Sonnenschirm oder im schattigen Wäldchen am Rand des Strands zu verbringen, statt wie die anderen Mütter im knappen Bikini sich von der Sonne durchknuspern zu lassen. Ihre Liebe zu mir muss unendlich groß gewesen sein, sich dieser Qual auszusetzen, nur damit der kleine Florian über den Strand jagen konnte. Inzwischen selbst ein Hämophage war mir sehr bewusst, was es hieß, am Tag nicht nur aktiv zu sein, sondern unter der Sonne herumlaufen zu müssen.

Vom rein technischen Standpunkt aus betrachtet war das Risiko kalkulierbar. Es gab Sonnenschutzcremes, die über einen dermaßen potenten Lichtschutzfaktor verfügten, dass selbst der blasseste Nosferatu einen Strandtag im Hochsommer an der Côte d'Azur verbringen konnte, ohne dabei einem unerfreulichen stofflichen Veränderungsprozess unterworfen zu werden. Angenehm war trotzdem etwas anderes. Außerdem machte es hungrig. Um auf Nummer sicher zu gehen, hatten wir uns, die ganze Reisegruppe einschließlich unseres nosferatischen Gastes, gut eingecremt und uns UV-blockierende Kontaktlinsen eingesetzt. Am nervigsten empfand ich es immer, den Kopfhautschutz aufzutragen. Glatzköpfe hatten es da deutlich einfacher. Mähnenträger wie meiner einer mussten sich stattdessen mit Unmengen Spezialspray einnebeln, bevor genug von dem Zeug bis zum Schädel vorgedrungen war. Das Zeug juckte, bis es in die Haut eingedrungen war. Das gleiche Spray diente auch dazu, Ohren- und Nasenlöcher UV-dicht zu machen. Für Vampire hatte die Redewendung »Einen Satz heiße Ohren bekommen« eine sehr konkrete Bedeutung. Trotz des Schutzsprays trug ich gerne Wollmützen respektive Beanies. Ob die wohl zur standesgemäßen Kleidung eines Königs zählten?

Zum Glück mussten wir nur einen relativ kurzen Weg zu den bereitstehenden Limousinen zurücklegen. Allerdings schien die Sonne immer noch ziemlich intensiv vom Himmel. Die Wetterschutzdächer des Flughafens boten nur relativ wenig Schatten. Insbesondere Simon wirkte nicht sonderlich glücklich und bewegte sich ungewöhnlich vorsichtig.

»Probleme?«, wollte ich wissen.

»Du kennst doch seinen Titel«, antwortete Christiano statt seines Geliebten. »Simon, Ritter vom fehlenden Fuß.«

»Lacht ihr nur!«, grummelte Simon. »Ich werde der sein, der lacht, wenn ihr stolpert und euer Fuß in Rauch aufgeht.« Sprachs und stolperte prompt über einen Vorsprung an einer Stoßfuge einer nicht ganz eben verlegten Gehwegbetonplatte, wie sie offensichtlich in den Vereinigten Staaten gerne als Fußweg verwendet wurde. Zum Glück hatte er sich ausreichend eingecremt, weswegen es nicht zu einer schmerzhaften Rauchentwicklung kam. Die braute sich eher vor Wut über Simons Kopf zusammen: »Kein Wort!«

Der Junge kochte, was die Sache nur noch umso komischer machte. Wir mussten uns alle, einschließlich Obernosferatu Petrus, arg zusammenreißen, nicht laut loszuprusten. Marco hatte einige Schwierigkeiten und presste beide Hände auf den Mund. Simon sah sich um, grunzte, blieb stehen und ließ kapitulierend Kopf und Schultern hängen: »Okay, ihr habt recht, es ist witzig. Aber bitte, warum passiert das immer nur mir?«

»Um mir einen Grund zu geben, besser auf dich aufzupassen«, beantwortete Christiano die rhetorische Frage seines Freundes und drückte ihm liebevoll die Schultern. »Komm, lass uns endlich ins Haus fahren.«

Wenig später saßen wir in drei schweren, gepanzerten, amerikanischen Straßenkreuzern mit sehr schwarz getönten, UV-dichten Scheiben. Zwischen den drei Wagen existierte eine digitale hochverschlüsselte Videoverbindung, sodass wir uns während der Fahrt unterhalten konnten. Die Fahrt von Newark bis zum Haus in die Upper East Side dauerte etwas unter einer Stunde. Als unsere Wagen vor dem Haus vorrollten, Draculas ehemaligem Domizil im Big Apple in der 61. Straße, staunte ich nicht schlecht. Der Schuppen war nett. Nicht extravagant, sondern eher gediegen und damit so unauffällig, dass bisher noch nie der Verdacht aufgekeimt war, dass es sich um die Unterkunft einer Vampirfamilie handeln könnte. Vielleicht spielte auch einfach die New Yorker Mentalität in unsere Hände, sich nicht um die Angelegenheiten des Nachbarn zu kümmern, solange dieser nicht die eigenen störte. Dass dann auch drei schwere Limousinen hielten, schien wirklich niemanden zu interessieren.

Das ist also mein Haus. Fasziniert stand ich vor dem kleinen geschmiedeten Metallzaun, der das Grundstück vom öffentlichen Straßenland trennte, und schaute in die Höhe. Es war kein Wolkenkratzer, sondern eher das krasse Gegenteil: Souterrain, Ground-, First- und Second Floor - mehr gab es nicht und mehr benötigte es auch nicht. Ein wenig nervös, wobei ich nicht wusste, warum, trat ich auf die erste Stufe der Treppe zur lindgrün lackierten Haustür. Am eleganten Portal prangte über einem kleinen Klingelknopf ein dezentes, auf Hochglanz poliertes, verchromtes Schild, in das ein einziges Wort eingraviert war: »Margaux«. Hier waren wir eindeutig richtig.

Oder auch nicht. Der abschätzig dreinblickende, ebenso steife wie hagere ältere Typ, der mir die Tür öffnete, sah es offenbar anders. Mit einer skeptisch emporgezogenen Augenbraue sah er auf mich hinab, was nicht wirklich an seiner Körpergröße lag. Der Mann war zwar schätzungsweise einen halben Kopf größer als ich, doch war dies nicht der Grund dafür, dass ich zu ihm aufsehen musste. Das lag ganz simpel und wohl sehr beabsichtigt an der Stufe, die er höher stand.

»Sir, kann ich Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein?«, fragte der Mann, der wohl so etwas wie einen Butler darstellte. Ähnlich Tomek und Anton, meinem Protokollchef und Butler in Charlottenhof, verstand es auch dieser Mann seiner Stimme eine zwar unausgesprochene, aber deswegen nicht minder deutliche Botschaft einzuflechten, und diese lautete: »Du willst meine Hilfe nicht. Du wolltest auch nicht an dieser Tür klingeln. Du willst jetzt gehen und nie wieder kommen.«

»Margaux«, nannte ich meinen Namen. Warum fühlte ich mich von dem Typen eingeschüchtert?

»Ja, dies ist das Haus Margaux«, missverstand mich der Butler, der eindeutig kein Vampir, sondern ein ganz normaler Mensch war.

»Ich weiß. Deswegen habe ich ja geklingelt. Ich würde gerne Loren sprechen?«

Wenn ich meinen Gesprächspartner mit dieser Frage überrascht haben sollte, wusste er es sehr gekonnt zu verbergen. Einzig vielleicht, dass er nicht mehr ganz so herablassend wirkte.

»Es tut mir Leid, aber Lady Loren ist leider unabkömmlich. Wenn Sie mir Ihre Karte geben könnten, bestände die Möglichkeit, Sie zu einem späteren Zeitpunkt zu kontaktieren.« Nicht, dass dieser jemals eintreten würde.

Moment, Karte? Ich kramte in meiner Jackentasche und beförderte meine Brieftasche hervor. Seit meinem Wechsel vom Menschen zum Hämophagen hatte sich die Notwendigkeit einer Brieftasche, aber mehr noch einer Geldbörse, deutlich relativiert. Mir wurde doch jeder verdammte Wunsch von was weiß ich abgelesen. Was hätte ich nur dafür getan, mir mal wieder einen fiesen, fettigen Hamburger zu gönnen. Was der Fleischfrikadelle an Nährwert fehlte, konnte ich hinterher ja immer noch dem Hals eines der Verkäuferkerlchen entziehen. Schnellrestaurants hatten eben auch für Vampire ihren Reiz.

»Meine Karte!«

In meinem Schreibtisch in Charlottenhof lag eine ganze Schachtel voller Visitenkarten. Die meisten Häuser pflegten bei ihrer Gestaltung einen ziemlich barocken Stil mit total verschnörkelter Schrift, geschwungenen Linien und Goldprägung, halt allem, was gut und teuer war. Meine Karte, oder genauer Karten, war schlicht und sachlich gehalten. Es gab zwei verschiedene Ausgaben: eine für menschliche Kontakte und eine für den Umgang mit Hämophagen. Dem Butler reichte ich die zivile Version. Ich nahm zwar an, dass er wusste, für wen er arbeitete, konnte mir dessen aber nicht sicher sein.

»Sie sind Florian Margaux?« Wenn ich seine Stimme richtig interpretierte, dann stand der Butler kurz davor, die Polizei zu rufen. Jedenfalls schien er keine Sekunde lang daran zu glauben, dass ich tatsächlich die Person war, die ich behauptete zu sein. »Ich glaube, es wäre besser, wenn Sie jetzt das Grundstück verließen«, setzte der Butler recht ultimativ nach. »Ich würde es sehr bedauern, die hiesigen Ordnungskräfte rufen zu müssen.«

Das war ein schlechter Scherz, oder? Wollte mich mein eigener Butler etwa verhaften lassen? Ich wollte gerade etwas entgegnen, als ich im Hintergrund des dunklen und insbesondere sonnengeschützten Flures meinte, einen Schatten oder eine Bewegung ausmachen zu können. Dort trieb sich jemand rum, und so wie dieser oder diese jemand sich in den Schatten drückte, musste es sich um eines meiner blutsaugenden Familienmitglieder handeln.

»Loren, bist du da?«, rief ich den Flur hinunter.

»Flo?«, kam eine überraschte Antwort zurück, die aber klanglich keiner Frau, sondern der eines jungen Mannes entsprach.

»Jurek, bist du das?«, rief ich erneut. »Könntest du eurem Empfangschef hier bitte sagen, dass er mich rein lassen soll?«

»Master Jurek, ist Ihnen dieser Herr tatsächlich bekannt?«, wurde meine Identität vom Butler weiterhin infrage gestellt. »Bitte seien Sie vorsichtig!«, fuhr er fort. »Erlauben Sie mir den Hinweis, dass Sie heute noch keinen Sonnenschutz aufgelegt haben.«

»Clifford, ich weiß und danke für deine Sorge, aber ja, ich kenne diesen Mann. Das ist Florian, Florian Margaux. Mein und auch dein Chef. Lass ihn bitte eintreten.«

»Selbstverständlich«

Ich erwartete nicht, dass Clifford, wie der Buttler wohl hieß, auch nur ansatzweise sein bisheriges Verhalten thematisierte oder gar um Verständnis bat. Ganz im Gegenteil. Der Mann war Profi. Es war sein Job, unerwünschte Besucher abzuwimmeln und den gedachte er konsequent zu erfüllen, bis sich die Situation änderte, was sich mit der Bestätigung meiner Identität durch Jurek zum Glück tat. Ich wurde hereingelassen und mit mir auch die ganze Rasselbande. Kaum dass alle Mann im Haus waren und Clifford die Außentür schloss, fuhr eine zweite innere Tür, die eher einem Schott entsprach vor die erste. Ein kleines rotes Kontrolllicht über ihr signalisierte Sonnenlicht. Wir befanden uns eindeutig in einem Vampirbau.

»Wow! Wow! Wow!«, rief Jurek völlig aus dem Häuschen und kam freudig strahlend auf uns zu gerannt. »Basti, Phillip, Nicolas, Marco, Simon, Christiano und Flo... ich meine Chef, äh Hoheit. Was macht ihr denn alle hier und wer sind die anderen drei Herren?«

»Jurek, wie oft soll ich das noch sagen? Flo, einfach nur Flo oder Florian, okay? Komm, lass dich erst mal in den Arm nehmen.« Ich drückte dieses ungestüme Kerlchen, strich ihm väterlich über die Wange, was eigentlich völlig absurd war, da Jurek einige Jahrzehnte älter als ich und obendrein auch noch durch und durch hetero war.

»Die drei anderen Herren sind Orwell und Pete, zwei Mitglieder aus Christianos Haus und Bruder Petrus, der Stammvater der Nosferatu des Westens.«

»Eure Heiligkeit«, flüsterte Jurek ehrfürchtig und verbeugte sich. »Ich wollte nicht despektierlich sein.«

»Ihr ward in keiner Weise despektierlich. Ich freue mich, eure Bekanntschaft zu machen, Jurek!«, erwiderte der Nosferatu.

»Nachdem wir nun alle protokollarischen Fragen geklärt hätten«, übernahm ich wieder das Reden, »wüsste ich zu gerne, wo Loren steckt.«

»Ähm, ich glaube, das kann ich beantworten«, antwortete Jurek verlegen. »Ich befürchte, unsere gute Loren schlendert gerade über die 5th Avenue und wandelt auf den Spuren Audrey Hepburns - Frühstück bei Tiffany.«

Auf der Flucht

»Shit!«, knurrte Bjarni und landete auf der Matte.

»Nochmal!«

»Oh Mann, Bruder, erbarmen!«

»Bjarni, komm! Einmal noch!«, erwiderte Bjarnis Trainingspartner und half ihm auf die Beine.

Training, immer nur Training. Irgendwie hatte sich der junge Isländer das Leben als Untoter anders vorgestellt. Seit seinem IFOR-Einsatz, den er bedauerlicherweise nicht überlebt hatte, waren rund fünf Jahre vergangen und ein neues Jahrtausend angebrochen. Fünf Jahre, die wie im Flug vergangen waren. Fünf aufregende, atemberaubende, beängstigende, faszinierende und gelegentlich auch sehr bewegende Jahre, die unmittelbar mit seiner Erweckung begannen. Das finstere Kellerloch in Sarajevo, in dem er als Hämophage erwacht war und sein zweites Leben als Nosferatu begann, war alles andere als ein optimaler Ort, um ihn in die Feinheiten der Existenz als Hämophage einzuführen. Insbesondere weil wenige Meter über ihren Köpfen ein erbarmungsloser Bürgerkrieg tobte. Gerade Kampfgebiete zählten weder für frisch erweckte Nosferatu noch Vampire zu den geeigneten Aufenthaltsorten: zu viel Blut. Zu viel Versuchung. Junge Blutsauger waren im Allgemeinen nicht in der Lage, ihr Verlangen nach dem roten Saft zu beherrschen. Das Verlangen beherrschte sie. Das Ergebnis und die Folgen wurden allgemein als wenig erfreulich bewertet.

Als bester Ort für einen jungen Nosferatu galt seit Jahrhunderten die Ruhe und Abgeschiedenheit des Klosters seines Ordens. Dort konnte er sich an die umwälzenden Veränderungen in seinem Körper, seiner Psyche und den damit einhergehenden anderen Bedürfnissen gewöhnen. Dummerweise gab es weit und breit kein Kloster. Tavin blieb nichts anderes übrig, als zu improvisieren: Wenn sie nicht in ein Kloster gehen konnten, musste das Kloster eben zu ihnen kommen.

»Das läuft jetzt so«, erläuterte der erfahrene Nosferatu, »wir werden es uns hier ein paar Tage gemütlich machen müssen, bis du dein Blutdurst halbwegs in den Griff bekommen hast. Ich werde für Nachschub sorgen und du... Nun, sagen wir, du wirst versuchen, nicht auf deinen Körper zu hören.«

Die nächsten drei Tage zeigten sich für Bjarni von der ruppigen Seite und erinnerten ihn zuweilen an Szenen eines kalten Entzugs aus einem Drogenfilm. Wann immer ihn der Hunger überkam, und der kam mit der Regelmäßigkeit einer ungeliebten Jahreszeit, wurde es haarig. Bjarni empfand eine unglaubliche, ja unmenschliche und unwiderstehliche Gier nach Blut, die drohte ihn zum willenlosen Sklaven seiner Instinkte zu degradieren. Aber eben nur drohte - denn im Gegensatz zu Tavins Befürchtung, die auf langjährige Erfahrungen mit früheren Erweckungen basierte, zeigte sich dieser isländische Felsbrocken von einem Kerl als überraschend willensstark. Es war offensichtlich, dass Bjarni arg mit sich zu ringen hatte. Tavin wusste ganz genau, welche seelische Qual der Hunger auf Blut verursachen konnte. Jeder Nosferatu und Vampir kannte es, das Verlangen. Diesen Instinkt kontrollieren zu lernen, war der harte Part während der Verwandlung, den Bjarni aber erstaunlich geschmeidig meisterte. Er fiel nicht über den Becher her, den Tavin ihm reichte. Ganz im Gegenteil zwang er sich, kontrolliert und langsam zu trinken und sich den Inhalt nicht in einem Rutsch die Kehle hinunterlaufen zu lassen. Die ersten Male konnte er sich nach ein paar Schlucken noch nicht beherrschen und verfluchte sich hinterher für seine Willensschwäche. Doch mit der Zeit lernte er, seine Instinkte zu unterdrücken und die Schale nach jedem einzelnen Schluck abzusetzen.

»Du hast einen wirklich starken Willen, Bjarni«, lobte Tavin, als es seinem Schützling bereits am vierten Tag gelang, seine Schale frischen, duftenden Blutes vollständig in langsamen Schlucken zu trinken und auch nicht am Ende darüber herzufallen. »Ich glaube, du bist bereit. Heute Abend werden wir versuchen, Sarajevo zu verlassen. In den Außenbezirken und außerhalb der Stadt gibt es ein paar Notunterkünfte. Jedenfalls hoffe ich, dass Sie noch existieren. Dieser verdammte Bürgerkrieg ist seit langem das Perverseste, was ich seit Unzeiten erlebt habe. Und wenn ich sage Unzeiten, dann meine ich Unzeiten.«

»Tavin, darf ich dich fragen, wie alt du bist?«

»Als Mensch oder als Nosferatu?« Tavin grinste. »Ich war fünfunddreißig, als ich an einem Galgen landete. Und bevor es zu irgendwelchen Missverständnissen kommt, ich hatte den Strick verdient. Oh ja, ich hatte es wirklich verdient. Vielleicht erzähl ich dir die Geschichte irgendwann einmal. Das ganze war vor fast vier Jahrhunderten. In all der Zeit habe ich einige Brüder erweckt und sie in unsere Welt eingeführt. Was soll ich sagen? Ich kann mich nur an eine Handvoll erinnern, die ähnlich schnell lernten, ihre vampirischen Instinkte zu kontrollieren, wie du es gerade machst. Ich glaube, dass du über Potenzial verfügst. Vielleicht sogar eine Bestimmung. Aber das wird erst die Zeit zeigen.«

»Bestimmung? Klingt ein wenig esoterisch.«

»Esoterik ist Quatsch. Magie ist ziemlich konkret.«

»Magie? Du verarschst mich, oder?«

»Ach ja? Und unsere Existenz ist was? Normal? Wissenschaftlich erklärbar? Ich weiß ja nicht, wie gut du in Biologie und Chemie aufgepasst hast, aber nach den Gesetzen der Natur kann es uns nicht geben.«

»Touché«


Die Flucht aus Sarajevo war alles andere als ein Spaziergang. Bjarni war durchaus bewusst, dass er über keinerlei signifikante Erfahrung hinsichtlich einer Existenz als Hämophage im Allgemeinen und Nosferatu im Speziellen verfügte, aber er hatte Augen im Kopf. So wie sich Tavin verhielt, die möglichen Routen ihres Fluchtwegs abwog, sie teilweise ein Stück weit erkundete und insbesondere versuchte, seine Nervosität vor Bjarni zu verbergen, sprach Bände. Der Mann war beunruhigt, zeitweise sogar ernsthaft besorgt. Als Mitglied einer SAR-Truppe mit jedenfalls zum Teil semimilitärischer Ausbildung, wusste der isländische Jungnosferatu, dass es Zeiten für Gespräche gab, aber auch welche, an denen es besser war, die Klappe zu halten und entschied, dass letzteres in ihrer Lage angebrachter war. Stattdessen versuchte er, mit seinen veränderten Sinnen klarzukommen. Trotz Nacht und einem bedeckten Himmel, durch den nur wenig des herrschenden Halbmonds herabschien, konnte er überraschend gut sehen. Obwohl, überlegte Bjarni, war seine veränderte Sehfähigkeit durchaus plausibel. Als primär nachtaktives Wesen dürfte für einen Hämophagen eine hervorragende Nachtsichtigkeit nicht ungewöhnlich, sondern überlebenswichtig sein. Gleiches schien auch für das Hören und Riechen zu gelten. Vielleicht waren seine Sinne auch nicht besser geworden, sondern hatten nur ihren Schwerpunkt verlagert. Insbesondere der Geruchssinn schien sich nicht verbessert, sondern eher verändert zu haben. Es waren eindeutig andere Dinge, auf die Bjarni reagierte. Allerdings waren die neuen Eindrücke noch viel zu überwältigend, dass er einzelne Veränderungen in seiner Wahrnehmung konkret benennen konnte.

Ein Schritt nach dem anderen. Mit diesem Satz als Mantra, den er immer wieder in seinem Kopf wiederholte, versuchte sich Bjarni auf einen Sinn zu konzentrieren und die restlichen vorerst auszublenden. Als visuelles Wesen fiel seine Wahl auf das Sehen. Bei jedem Stopp, den Tavin nutze, um die Lage zu erkunden und sich für den nächsten Weg zu entscheiden, begann Bjarni das Gelände zu scannen. Eigentlich war ihm der deprimierende Anblick der zerbombten, belagerten und umkämpften Stadt aus den Briefings im IFOR-Einsatzzentrum bekannt. Ihre direkten Teamleiter und die vorgesetzten Offiziere der kämpfenden Einheiten hatten sie mit umfangreichem Bild- und Filmmaterial auf die anstehenden Einsätze vorbereitet, bis es dann ganz konkret und praktisch wurde und ihnen die Kugeln um die Ohren flogen. Die Realität einer vom Bürgerkrieg verletzten Stadt holte jeden auf den Boden zurück, der über etwas mehr Gefühl als ein Kieselstein verfügte. Spätestens beim Anblick des ersten Schwerverletzten, oder schlimmer, des ersten Toten, verwandelten sich selbst die großmäuligsten Aushilfsrambos ihres Trupps in wortkarge Muttersöhnchen. War es ein Vorteil, als SAR-Experte bereits einiges gesehen zu haben? Nordsee und Atlantik konnten sehr raue, lebensfeindliche und tödliche Meere sein. Viele Isländer bestritten ihren Lebensunterhalt mit Fischfang, was ein sehr gefährlicher Beruf sein konnte. Bjarni und Atli hatten an mehr als einem Rettungseinsatz auf hoher See teilgenommen und dabei auch einige Leben gerettet. Für einige kam leider jede Hilfe zu spät. Aber wie auch immer die Einsätze ausgingen, die beiden Isländer hatten für ihr noch relativ junges Leben schon einiges gesehen und erlebt. Sie wussten, wie Leid aussah, sparten sich deswegen vor ihren IFOR-Einsätzen alle Großmäuligkeit und versuchten stattdessen ihr bestes zu tun, während sich die Typen mit der vorher großen Klappe beim Anblick eines offenen Bruchs oder einer Schusswunde die Seele aus dem Leib kotzten.

Mit diesem Gedanken im Hinterkopf versuchte Bjarni während einer Pause einen Überblick von ihrer Umgebung zu gewinnen. Sie hatten Unterschlupf in einer Häuserruine gefunden. Dem Zimmer einer Wohnung im zweiten Stock, das sie als Versteck gewählt hatten, fehlten große Teile seiner vier Wände. Tavin verteilte zur Stärkung ein paar Schlucke Blut. Anschließend deutete er seinem Schützling in Deckung zu bleiben, während er selbst auf Erkundungstour ging. Bjarni tat wie ihm geheißen und drückte sich tief in die Finsternis der nächtlichen Schatten. Von hier aus ließ er seinen Blick schweifen und versuchte, die graublaue Dunkelheit vor sich zu durchdringen. Vor dem Haus lag eine von weiteren ähnlich beschädigten Gebäuden umgebene Straßenkreuzung. Die Straßenlaternen, soweit noch vorhanden und nicht zerschossen, verbreiteten hier und da schwache Lichtkleckse. Ein gleichmäßiger, lang anhaltenden Landregen überzog die Welt mit seiner feuchten Decke. Hinter den wenigen intakten Fenstern war es fast überall dunkel. Nur in einzelnen ließ sich ein schwacher Schein, vielleicht von einer einsamen Glühbirne oder einer Laterne, ausmachen. Viel interessanter als die mehr oder weniger stark erleuchteten Ecken, verhielt es sich mit den Schatten und dunklen Winkeln. Bjarni spähte in die Dunkelheit und stellte verblüfft fest, dass sich in einer Ecke tatsächlich etwas regte. In einer anderen Ruine, der Kreuzung gegenüber und zwei Häuser die Straße hinunter, lauerte eine Gestalt in einem besonders finsteren Mauerwinkel. Bjarni war erstaunt, wie deutlich er die Person ausmachen konnte. Kaum hatte er sich konzentriert, kam es ihm vor, als wenn alle seine Sinne auf dieses eine Wesen zoomten. Als würde er durch ein Fernglas blicken, füllte die Gestalt Bjarnis Sichtfeld komplett aus. Er konnte Details erkennen, wie das Scharfschützengewehr, mit dem der Typ - es war eindeutig ein Mann - die Straße absuchte. Ein Sniper! Bjarni entfuhr ein tiefes Grollen. Heckenschützen zählten nicht zu seinen persönlichen Sympathieträgern. Trotz dessen war es faszinierend. Er konnte tatsächlich die Atemgeräusche des Mannes und dessen Herzschlag hören. Unwillkürlich leckte sich der junge Nosferatu über seine voll ausgefahrenen Zähne. Ohne es bewusst zu bemerken, hatte sein Körper auf Jagdmodus umgeschaltet.

Wie bei jedem Hämophagen, den das Jagdfieber packte, begann sich auch Bjarni auf einen Sprung vorzubereiten, der ihn in die Luft erheben und zu seinem potenziellen Opfer befördern sollte. Doch bevor es dazu kam, wurde der Sniper aktiv. Wie es aussah, hatte er ein Ziel ausgemacht. Leider ließ sich nicht genau erkennen, wohin er zielte. Bjarni versuchte zwar die Richtung des Gewehrlaufs zu verfolgen, endete aber blickmäßig an einem Mauervorsprung, bis plötzlich eine Figur aus dem Schatten trat.

Shit! durchzuckte es den Isländer, als er Tavin erkannte. Der Sniper zielte. Sein Finger näherte sich dem Abzug. Bjarni überlegte nicht. Er sprang und fauchte. Im gleichen Moment drückte der Sniper ab, verriss aber, aufgeschreckt von Bjarnis Fauchen, sein Gewehr. Die Kugel verfehlte ihr Ziel und schlug in die Wand neben Tavin ein, dem ein überrascht-wütender Ausruf entwich und Bjarnis Blick kurz Richtung seines Erweckers wandern ließ. Ein großer, greller und blendender blauviolett strahlender Fleck bedeckte die Stelle der Wand, an der die Kugel des Schützen eingeschlagen war. Vom Sniper war im gleichen Moment ein verärgertes Keifen und der Versuch zu hören, das Gewehr nachzuladen.

Es blieb beim Versuch. Noch bevor es ihm gelang, eine weitere Kugel in den Lauf zu schieben, war Bjarni vor ihm gelandet, hatte ihn gepackt und wollte gerade seine Zähne in dessen Hals rammen, als Tavin dazu geeilt kam und ihn stoppte.

»Nicht beißen!«, befahl der Schotte scharf, packte stattdessen den Heckenschützen an Kopf und Hals, verdrehte beide gegeneinander und brach ihm das Genick. »Vampirjäger!«, fauchte Tavin kehlig und spuckte verächtlich auf die in sich zusammensackende Leiche. »Lass uns schnell verschwinden.«

Schnell? Leichter gesagt als getan. Bjarni begriff, dass ihre Flucht gefährlich war, womit er überhaupt nicht gerechnet hatte. Tavin überlegte ein paar Sekunden, schnupperte in die regennasse Luft und deutete dann in Richtung entlang einer finsteren Seitenstraße. Blitzschnell sprangen die zwei Nosferatu in den nächstgelegenen Schatten, drückten sich in die Dunkelheit und ließen sich von ihr einhüllen. Ohne weitere Umschweife legte Tavin los und trieb Bjarni und sich im Parforceschritt durch die schuttüberhäuften Reste ehemals bewohnter Gebäude. Waren sie bisher eher vorsichtig und auf Heimlichkeit bedacht, schien Tavin jetzt von Eile getrieben. Kurz anhalten, umsehen, Weg festlegen und weiterrennen - mit diesem Dreiklang trieb der Schotte sie Stunde um Stunde voran. Erst kurz vor Sonnenaufgang, am Horizont war bereits ein erster schwacher Schimmer des neuen Tages zu erkennen, verlangsamte Tavin die Flucht, sah sich einen Moment unsicher um, bis er eine Landmarke zu erkennen schien und sich ein zufriedener Ausdruck in seinem Gesicht ausbreitete. Langsam und wieder etwas vorsichtiger hielt er auf eine richtig finstere Seitenstraße zu. Die führte zu einem noch dunkleren, eng von Häusern umschlossenen kleinen Platz, an dessen Rand sich ein unscheinbarer Betonquader befand, der an eine Trafostation erinnerte. Tatsächlich schien er auch einen derartigen Umformer zu beherbergen. Die Warnschilder deuteten jedenfalls darauf hin. Obwohl Tavin über keinen Schlüssel zu verfügen schien, öffnete er die kleine Wartungstür und ließ Bjarni hineinschlüpfen, um anschließend ihm nachzufolgen und die Tür von innen wieder zu verriegeln. Kaum dass die Tür ins Schloss fiel, wurde es selbst für hämophagische Verhältnisse zappenduster. Es raschelte. Eine Kunststofffolie wurde aufgerissen. Das Geräusch von knirschendem Glas drang an Bjarnis Ohren und es wurde hell. Tavin hatte ein Knicklicht aktiviert, das nun den Betonklotz von innen erhellte. Das erwartete elektrische Großbauteil füllte rund zwei Drittel des Betonquaders aus und machte sich ansonsten durch ein sonores Brummen bemerkbar. Bjarni hätte fast ein wenig enttäuscht reagiert. Diese Notunterkunft wäre wirklich ein wenig arg spartanisch. Doch inzwischen kannte er seinen Schöpfer und Mentor recht gut und ahnte, dass der Trafo-Container nicht das Ende vom Lied sein konnte.

Er sollte recht behalten. Auf den ersten und sogar auf den zweiten Blick kaum zu erkennen, verbarg sich eine Klappe im Boden, die geöffnet ein paar dicke Hochspannungskabel zeigte. Allerdings handelte es sich bei diesen nur um eine gut gemachte Attrappe. Mit einem Griff nach einem versteckten Hebelchen ließ sich eine Art Kassette mit den Dekokabeln verschieben, hinter der eine Metallleiter sichtbar wurde, die in die Tiefe führte. Tavin ließ erst das Knicklicht hineinfallen und dann Bjarni als erstes hinabklettern. Er selbst zog erst noch die Falltür hinter sich zu und folgte dann seinem Schützling. Im Gegensatz zum Betonklotz sah es hier unter wesentlich mehr nach einem Versteck aus.

»Dies ist eine Notunterkunft der Kategorie IV. Ausreichend, um fünf Hämophagen zwei Wochen lang Schutz bieten zu können. Massive Panzerung, Notkommunikationsgeräte, Notrationen, Waffen und ein paar Liegen.«

»Notrationen?«

»Vakuumversiegeltes, gefriergetrocknetes Blut. Der Nährwert ist... naja, solala. Es macht gerade eben satt, hilft aber nicht bei Verletzungen. Immerhin sollten wir hier vorerst sicher sein.«

»Okay, was war das vorhin? Warum hast du den Mann getötet?«, wollte Bjarni wissen, dem einfach nicht aus dem Kopf gehen wollte, wie Tavin kaltblütig einen Menschen töten konnte und ihn dann noch nicht einmal auszuzelte. Noch mehr beunruhigte ihn, dass er nicht nur kein Problem damit hatte, sondern kurz davor stand, den Typen selbst kalt zu machen.

»Das, mein junger Schüler, war ein Vampirjäger und du - sollte es dir aufgefallen sein - hast mein Leben gerettet.« Tavin griff nach Bjarnis Schultern, zog den verdatterten Mann zu sich heran, umarmte und drückte ihn. »Danke, Bjarni. Eigentlich sollte ich dir gehörig den Kopf waschen. Du hast keine Ahnung, in welche Gefahr du dich begeben hast. Aber was darf ich mich beschweren? Ohne deinen Einsatz wäre ich jetzt Asche... oder schlimmeres.«

»Mit was für einer Munition hat der Vampirjäger geschossen? Und überhaupt, Vampirjäger? Wissen die Menschen von unserer Existenz?«

»Okay« Tavin nickte, unternahm aber keine Anstalten, Bjarnis Frage zu beantworten. Stattdessen sah er sich um und begann in einem der Wandregale zu kramen. Bisher verbreitete der Knicklichtstab einen blassgrünen Schein, doch dies sollte sich schnell ändern. Tavin wurde fündig. Zwei batteriebetriebene Laternen wurden an für sie vorgesehene Deckenhaken befestigt und eingeschaltet. Die Leuchtstoffröhren in den Lampen zündeten eher träge und verbreiteten anfangs nur sehr wenig Licht, das kaum gegen das Plastikleuchtstäbchen anstinken konnte.

»Die wurden lange nicht gebraucht, werden aber gleich heller.«, murmelte Tavin und kramte weiter. »Die Vampirjäger verwenden eine Spezialmunition mit einer Füllung aus einer Chemolumineszenzlösung, die teilweise im UV-Bereich strahlt und einem Nervengift. Das UV-Licht kann sich zum Glück nicht mit echtem Sonnenlicht messen, ist aber immer noch stark genug, um garstige Verbrennungen zu verursachen. Und die sind verdammt schmerzhaft. Das Nervengift ist dagegen von einem anderen Kaliber. Es lähmt dich. Die Wirkung hält zwar nur für ein paar Minuten an, reicht aber aus, damit die Vampirjäger ihr Werk vollenden können. Ach ja, beiß nie einen Vampirjäger. Die meisten haben ihr Blut vergiftet. Es bringt dich zwar nicht um, setzt dich aber für Stunden außer Gefecht, was du auf keinen Fall willst. Wo sich ein Vampirjäger rumtreibt, treiben sich auch noch andere herum. Etwas Blut?«

Zwei Dosen steril versiegeltes Trinkwasser, zwei Beutel Trockenblutpulver und zwei Becher samt passender Rührstäbchen, fertig war die hämophagische Notmahlzeit. Bjarni fühlte sich in seiner Erwartung bestätigt. Das Zeug schmeckte mehr als bescheiden, machte aber überraschend satt.

»Vampirjäger«, fuhr Tavin fort, »sind ein absolut widerliches Pack, dem du auf jeden Fall aus dem Weg gehen solltest. Ich hasse es, Menschen zu töten. Selbst solchen Abschaum, wie die Vampirjäger. Es mag ein wenig seltsam klingen, aber für uns Nosferatu ist das Leben heilig. Du wirst es mit der Zeit verstehen. Dem Typen das Genick zu brechen, war reine Selbstverteidigung. Selbst verletzt sind sie noch hochgefährlich. Sie hassen uns so sehr, dass sie keine Sekunde zögern, sich in einer ausweglosen Situation zur lebenden Bombe zu machen. Hätten wir ihn am Leben gelassen, hätte er seine Leute gerufen und die Gegend würde vor Jägern nur so wimmeln. Allerdings befürchte ich, dass sie das inzwischen sowieso tut, je nachdem, wann er seine Kontrollmeldung durchgeben hätte müssen.«

Es schien, als ob sich Sarajevo für Bjarni zum absoluten Albtraum entwickeln sollte. Erst erwischte ihn ein Sniper. Gut, das musste bei einem Einsatz in einem Kriegsgebiet als Berufsrisiko verbucht werden. Niemand hatte ihn gezwungen, sich für den Einsatz zu melden. Aber dass ihm auch noch als untoter Leute an die Gurgel wollten, empfand er dann doch ein wenig übertrieben.

Wenn Bjarni Tavin richtig verstand, war ihre Lage nicht wirklich prickelnd, und das war noch freundlich ausgedrückt. Wie der Isländer erfuhr, operierten Vampirjäger grundsätzlich in Teams, was bedeutete, dass ihre Begegnung nicht folgenlos bleiben würde. Den Jäger auszuschalten, hatte ihnen nur etwas Zeit verschafft. Spätestens mit Ausbleiben seiner regelmäßigen Statusmeldungen, wusste sein Team, dass etwas nicht stimmte und mit Entdecken seiner Leiche wussten sie, dass Hämophagen in der Nähe waren. Bjarni begriff, warum Tavin nach dem Vorfall von Sicherheit auf Schnelligkeit umgeschaltet hatte. Es galt, möglichst viel Distanz zwischen sich und dem Jäger zu schaffen. Damit war das eigentliche Problem aber noch lange nicht gebannt. Ihre Gegner, Menschen, die sie um jeden Preis auslöschen wollten, waren da draußen und wussten von ihrer Anwesenheit. Sie würden suchen, und so wie Tavin sie beschrieb, erst aufgeben, wenn sie ihr Ziel erreicht hatten. Blieb die Frage, wie lange die zwei Nosferatu in ihrem Kellerloch aushalten mussten.

»Frag nicht«, knurrte Tavin unwirsch und kramte weiter in den Regalen. »Hier müsste es irgendwo einen Notsignalsender geben.«

Loren

Was für eine Reinkarnation - da stand sie - meine Stellvertreterin in New York – Loren. Sie sah aus, als wäre tatsächlich Audrey Hepburn an die 5th Avenue zurückgekehrt. Die Abenddämmerung hatte die Stadt in ein sanftes Licht getaucht, das sich fast erträglich anfühlte, wenn auch nur mit einer dicken Schicht Sonnenschutzcreme. Das Zeug zog zwar rückstandslos in die Haut ein, glänzte nicht, roch nicht und war auch sonst nicht direkt unangenehm. Trotzdem hatte ich immer das Gefühl, als ob ich mir ein Pfund Butter ins Gesicht kleisterte. Aber Loren - Loren, die elegante Vampirin, die unter Bronkovic einfach nur verkümmerte, strahlte und erhellte die Straße mit ihrem Glanz und einer Präsenz, dass sich Männlein wie Weiblein nach ihr umdrehte und es nicht nur mir die Sprache verschlug: Der große, breitkrempige, schattenspendende Hut, die klassische Sonnenbrille, das Kostüm, die Schuhe und das atemberaubende Selbstbewusstsein, mit dem sie dieses Ensemble trug, ließ selbst die abgebrühten New Yorker kurzzeitig stocken.

Ihr Auftritt war einfach nur unglaublich. Es war, als ob eine Göttin auf die Erde zurückgekehrt wäre. Loren stand nicht wie seinerzeit Holley Golightly vor Tiffany, sondern unmittelbar gegenüber vor den Fenstern Louis Vuittons, wo sie sich, wie könnte es anders sein, Handtaschen ansah. Oder nein: Eine Frau ihrer Klasse sah sich keine Handtaschen an.

Sie erlaubte den Handtaschen, von ihr betrachtet zu werden.

***

Ich weiß nicht, was mich ritt, aber irgendwie hatte ich keinen Nerv, in unserem New Yorker Haus auf meine Hauschefin zu warten. Stattdessen frischte ich meinen Sonnenschutz auf und stürzte mich kurzerhand in das Chaos des Big Apple. Wie nicht anders zu erwarten, bestanden sowohl Nicolas als auch Marco darauf, mich zu begleiten. Sicherheit ging vor. Ich protestierte auch nur ein ganz klein wenig, denn eigentlich gefiel mir ihre Begleitung. Christiano und Simon entschieden sich, ebenso wie Pete und Orwell, im Haus zu bleiben, während Basti und Phillip eigene Pfade beschreiten wollten.

»Und, was ist mit dir?«, wollte ich von Jurek wissen. »Hast du Lust, für uns den Tourguide zu geben?«

Der freche Bengel von einem Blutsauger, der sonst nicht auf den Mund gefallen war, zeigte sich tatsächlich für eine halbe Sekunde sprachlos, nur damit sich unmittelbar darauf ein ebenso breites wie freches Grinsen in seinem Gesicht ausbreiten durfte. Der Mann freute sich über meine Frage, und ich ahnte auch warum. Bei aller Quirligkeit, die Jurek immer zeigte, vermutete ich eine tiefe Unsicherheit in seiner Psyche und wurde in meiner Ahnung bestätigt, als er von einer Sekunde zur nächsten ernst wurde und schüchtern »Echt?« fragte.

»Natürlich«, erwiderte ich sanft und fixierte Jurek mit einem ebenso freundlichen aber insbesondere zusichernden Blick, dass ich meinen Wunsch nicht nur höflich, sondern absolut ehrlich meinte. Das Problem, mit dem ich mich hier erneut konfrontiert sah, hörte auf den Namen Bronkovic. Selbst fünf Jahre nach der Vereinigung meines Mikrohauses - es bestand damals aus nur drei Personen: Nicolas, Marco und mir - mit den von ihrem Stammvater verratenen, verkauften und zurückgelassenen Geschöpfen, blitzte immer wieder eine tiefliegende Unsicherheit bei ihnen auf. Ich kannte den Grund für das Problem, wusste aber nicht, wie ich ihn von heute auf morgen beseitigen konnte. So banal es klang, aber die Ursache war ich.

Genaugenommen war es meine sexuelle Orientierung, die indirekt für eine kniffelige Situation sorgte. Nicht, dass sich irgendjemand daran störte, dass ich mit Kerlen kuschelte oder ganz handfest poppte. Ganz im Gegenteil schienen es sogar einige meiner weiblichen Familienmitglieder mit romantisch wohlwollenden Augen zu betrachten. Nein, Homophobie war in unserem Haus definitiv kein Thema. Ganz im Gegenteil reagierten ausnahmslos alle Familienmitglieder auf Schwulenfeindlichkeit ausgesprochen ungehalten, selbst dann, wenn es sich dabei nur um eine unüberlegte flapsige Bemerkung handelte. Das Problem meiner Bronkovicianer bestand eher darin, nicht schwul, sondern hetero zu sein, weswegen sie sich offensichtlich als zweitklassige Margaux betrachteten. Wie sollte ich Jurek, Loren und all den anderen nur klar machen, dass sie mir kein Quäntchen weniger, sondern genauso viel bedeuteten, wie Nicolas, Marco, Basti oder Phillip?

Ich ahnte, wo dieser merkwürdige Minderwertigkeitskomplex herrührte. Ihr Ursprung führte wieder zurück zum Anfang der Geschichte und hörte wie gesagt auf den Namen Dracula alias Bronkovic, dem ehemaligen Stammvater meiner Leute. Wie ich nach und nach von ihnen erfuhr, war der Mann ein rechtschaffendes Arschloch. Einerseits spielte er aller Welt die Rolle eines naiven, trotteligen, einfältigen, penetrant opportunistischen und alles andere als ernst zu nehmenden Dummschwätzers vor, doch gleichzeitig vermittelte er ihnen ganz subtil ein Gefühl von Minderwertigkeit, auf dass sie selbst den Eindruck gewannen, seinen Ansprüchen nie wirklich gerecht zu werden. Je mehr ich über Dracula erfuhr, desto mehr kristallisierte sich das Bild eines pervers genialen Geistes heraus, der sein gesamtes Potenzial leider auf destruktive Ziele verschwendete, etwa dem, Constantins und mein Leben zu zerstören. Allerdings musste er wirklich brillant gewesen sein, wenn er es schaffte, dem Rat der hohen Häuser über Jahrhunderte seine wahre Identität zu verheimlichen.

Was Dracula oder Bronkovic auch immer gewesen sein mochte, sein Wesen und die Art, wie er seine Geschöpfe manipulierte, wirkte nach. Fünf Jahre reichten nicht ansatzweise aus, um die Folgen seiner Beeinflussung rückgängig zu machen. Natürlich gab es Mitglieder, denen es leichter gelang, ihre geistigen Fesseln abzuschütteln, als anderen. Ein Versuch diesen Emanzipationsprozess zu fördern, bestand darin, das Selbstbewusstsein meiner Leute zu heben. Dies ließ sich kaum besser erreichen, als Vertrauen zu schenken und Verantwortung zu übertragen. Die Mitglieder meines Hauses sollten die Chance bekommen, sich selbst zu beweisen, dass sie besser waren, als Dracula ihnen weiß machen wollte. Genau aus diesem Grund hatte ich sowohl das Haus in Berlin als auch das in New York wieder geöffnet. Rein praktisch betrachtet brauchten wir keine dreißig Leute, um Charlottenhof zu unterhalten. Welchen Sinn machte es, dreimal die Woche das Tafelsilber zu polieren? Umgekehrt hatten wir Draculas alten Standort vorerst geschlossen. Die Idee dazu war aber nicht auf meinen Mist gewachsen, sondern entsprang dem ausdrücklichen Wunsch meiner Familienmitglieder, die ihr altes Heim zumindest für eine Weile verlassen wollten. Sie meinten, es wäre ein Akt seelischer Hygiene und dass sie an Bronkovics alter Wirkungsstätte einfach nicht loslassen könnten. Dem konnte ich nur zustimmen und ging eben einfach noch einen Schritt weiter: Was stärkt das eigene Ego mehr, als für eine Filiale oder einen gesamten Standort unseres Hauses verantwortlich zu sein?

Hier kamen starke Persönlichkeiten wie Loren ins Spiel. Diese fantastische Frau verfügte über ein unglaubliches Potenzial, das aber unter Draculas Herrschaft verkümmerte und verdorrte. An sich galt meine Menschenkenntnis als unterirdisch schlecht. Aber vielleicht war meine Vampirkenntnis besser. Ich musste Loren nur ansehen, um zu erkennen, dass diese Frau voller Möglichkeiten steckte. Vielleicht war sie der Schlüssel, um meine Leute vom Geist ihres ehemaligen Stammvaters zu befreien. Aus diesem Grund bot ich ihr an, unsere New Yorker Niederlassung zu leiten. Für fünf Sekunden war Loren komplett sprachlos und wie versteinert, dann fiel sie mir vor Freude um den Hals.

Ich ließ ihr vollkommen freie Hand. Sie sollte selbst entscheiden, wen sie nach New York mitnahm und wie sie das Haus führte. Für die notwendigen finanziellen Mittel sollte sie sich mit meinem Vater und Marco einigen, die zusammen das Vermögen des Hauses Margaux verwalteten. Alles in allem überhäufte ich Loren mit einem riesigen Haufen Verantwortung. Brach sie darunter zusammen? Ganz im Gegenteil. Sie blühte auf und wuchs über sich hinaus. Keine zwei Monate, nachdem sie und ihr Trupp im Big Apple angekommen waren, rief sie in Charlottenhof an und lud mich offiziell nach New York ein.

Loren war auf dem richtigen Weg. Nur leider waren nicht alle Mitglieder meines Hauses wie sie. Es gab auch krasse Gegensätze, wie Florence, die schüchterne und schweigsame Vampirin im Körper eines jungen Mädchens, die nicht mehr wollte, als mir aufzuwarten, dabei aber kein einziges Wort rausbrachte und mir einfach nicht einmal in die Augen schauen konnte. Irgendwo zwischen ihr und Loren rangierte Jurek. Wo Loren tatsächlich selbstbewusst war, versuchte er mit seiner frechen und flapsigen Art seine Unsicherheit zu überspielen. Vielleicht war genau jetzt der Moment gekommen, damit aufzuräumen.

»Jurek?«, sprach ich den jüngsten Exdracul direkt an und fixierte ihn mit meinem Blick. Der zuckte zusammen und schaute mich wie jemand an, der sich bei etwas ertappt fühlte, aber auf Teufel-komm-raus nicht wusste, wobei.

»Flo?«, hauchte der Mann ängstlich.

»Keine Panik«, versuchte ich aufkeimende Angst zu vertreiben. »Es ist nichts schlimmes. Ich möchte nur etwas von dir wissen.«

»Und was?«

»Was kann ich tun?«

»Wie? Ich verstehe nicht. Was kannst du tun?«

»Was kann ich tun, damit du mir vertraust? Was muss ich anstellen, damit du dich wohlfühlst?«

»Aber ich...«, rief Jurek erbost, verstummte mitten im Satz und schaute frustriert zu Boden. Leise, kaum mehr als flüsternd, fuhr er fort: »Ich weiß auch nicht. Ich... Es ist nur... Ach, vergiss es. Es ist nicht wichtig.«

»Oh doch, das ist es. Es gibt nichts wichtigeres!«, erklärte ich entschlossen und setzte mich mangels Sitzgelegenheit einfach auf den Fußboden im Flur des New Yorker Hauses. Eigentlich wollten wir aufbrechen und Loren beim Lustwandeln an der 5th Avenue aufspüren. »Ich werde keinen Meter vom Fleck weichen, bevor du mir nicht erklärst, was dein Problem ist.«

Ein Bluff - mehr war es nicht. Mein Druckmittel war lächerlich. Ich wollte zu Loren und nicht Jurek. Ihm konnte es egal sein, ob ich ging oder im Flur sitzen blieb. Aber wie das mit Bluffs oft so ist, funktionieren sie trotzdem. Jurek holte hörbar Luft, sah mich flehentlich an und floss plötzlich dahin wie ein Schneemann im Sonnenschein. Erst ließ er seine Arme hängen, dann rutschte er die getäfelte Wand entlang und plumpste neben mir auf den Boden.

»Ich weiß, das mag ungerecht klingen, aber ich bin neidisch«, begann Jurek.

Ich war verwirrt und fasste es in einem Wort zusammen: »Worauf?«

»Naja, darauf, wie ihr miteinander umgeht: Basti, Phillip, Christiano, Simon, Nicolas und du... Zwischen euch herrscht eine Intimität, eine Nähe, die... Da kommen wir einfach nicht rein. Nein, vergiss die anderen. Da komme ich nicht rein.«

»Aber...«, stammelte ich, »das ist doch gar nicht wahr. Naja, eigentlich ist es wahr, aber auch wieder nicht. Es ist... ähm, kompliziert. Es...«

»Flo, lass es gut sein... Ich sehe ja, dass du dir alle Mühe gibst, uns einzubinden und ein gemeinsames Haus zu geben. Aber ich weiß, was dir Bronkovic angetan hat. Wir waren eben seine Geschöpfe...«

»Halt! Halt! Halt!«, unterbrach ich Jurek, packte ihn an den Schultern und zog ihn zu mir heran. »Glaubst du wirklich, dass ich euch deswegen anders behandle? Du bist Jurek Margaux. Du trägst meinen Namen! Du bist genauso viel ein Margaux wie Nicolas hier!« Der hockte ein Stück neben uns und nickte zustimmend. »Weißt du, warum ich Distanz wahre?«

»Nicht, weil ich ein Bronkovic bin - ich meine - war?«

»Nein, du Torfnase!« Ich musste lachen und Jurek in die Seite knuffen. »Ja, ich habe mich zurückgehalten. Aber doch nur aus Respekt vor dir.«

»Hä?« Jurek wirkte verdattert. »Respekt?«

»Junge, du bist hetero und ich dein Stammvater. Ich wollte nicht, dass du dich von mir bedrängt oder angemacht fühlst oder gar meinst, du wärst zu etwas verpflichtet, weil ich dein Boss bin.«

Vielleicht steckten noch Reste meines alten Wesens in mir, dem des Mobbingopfers, des Prügelknaben, der sich nie wehrte und übervorsichtig alles unterließ, was auch nur ansatzweise als Anlass für einen weiteren unfreundlichen Übergriff dienen konnte. Zu diesem Verhalten zählte auch, auf Teufel-komm-raus alles zu unterlassen, was als „anschwulen“, wie es mein Intimfeind Andreas formulierte, gelten konnte. Auf keinen Fall sollte damals jemand erfahren, dass ich auf Männer stand. Inzwischen machte ich aus meiner Orientierung kein Geheimnis mehr - das wäre auch ziemlich witzlos, immerhin war ich vor dem versammelten Hohen Rat der Vampire den Bund des Erdblutes mit Constantin eingegangen. Was aber mein heterosexuelles Umfeld betraf, hielt ich mich unbewusst sehr zurück. Niemand sollte auf falsche Gedanken kommen, ich würde meine Position ausnutzen, um Heterokerlchen ins Bett zu bekommen. Und nun kam dieses rund neunzigjährige Heterokerlchen von einem Vampir daher und warf mir genau diese Zurückhaltung vor.

»Ja und?«, kam es nicht direkt gereizt, aber doch in einem leicht resignativ sarkastischen Unterton in der Stimme.

Meine Antwort bestand aus einem einzigen Namen: »Florence«

»Oh!«, erwiderte Jurek und nickte. »Ich verstehe dein Problem. Sie spricht nicht, oder?«

»Kein Wort!« Ich seufzte, zuckte mit den Schultern und kratze mich am nicht vorhandenen Bart. »Je mehr ich versuche, sie aus ihrem Schneckenhaus zu locken, desto mehr scheint sie sich darin zu verkriechen.«

»Nein, das bringt nichts. Für sie bist du... äh, das wird dir jetzt nicht gefallen... Du bist für sie das Zentrum der Welt. Du bist ihr Fürst und den spricht man nicht an.« Jurek ballte seine Hände zu Fäusten: »Bronkovic, dieses Arschloch, diese Mistmade von einem verfluchten Blutsauger! Der Wicher hat einen emotionalen Krüppel aus ihr gemacht. Nein, nicht aus ihr. Aus uns allen. Den einen mehr, die andere weniger.«

»Deswegen habe ich mich zurückgehalten«, bemerkte ich leise. »Natürlich hätte ich dich gerne in den Arm genommen, gedrückt und... Keine Ahnung. Auf jeden Fall nichts sexuell übergriffiges. Was soll ich sagen? Du bist knuffig. Allerdings...«

»...wolltest du verhindern, dass wir deine Zuneigung missverstanden. Im Sinne von: Warum streichelt mir der notgeile Arschficker über die Wange, will er etwa, dass ich ihm meinen Arsch hinhalte?«

»Du hast eine wirklich treffliche Art, die Dinge auf den Punkt zu bringen.« Ich grinste, allerdings nur halbherzig, weswegen meine Miene auch eher Zartbitter als Vollmilch ausfiel. »Ich mag zuweilen notgeil sein. Himmel, ich penne eigentlich nie alleine in meinem Bett. Und ja, ich ficke auch gerne Ärsche und lasse mich ebenso gerne ficken. Wobei du aber niemals vergessen solltest, dass Blasen genauso viel Spaß macht...«

»Öhm!«, röchelte Jurek, der erneut einen Pisswettbewerb in Klartextsprache gegen mich verloren hatte. Trotzdem versuchte er es immer wieder.

»Aber«, wurde ich ernst, »eines darfst du dabei nicht vergessen. Ich zwinge niemanden. Alle, die zu mir unter die Bettdecke schlüpfen, schlüpfen freiwillig. Wenn sie es täten, weil sie der Meinung sind, dazu verpflichtet zu sein oder glauben, es würde von ihnen erwartet, würde ich sie hochkantig rausschmeißen... Ähm, aus dem Bett, nicht aus dem Haus. Frag Nicolas, frag Basti oder Phillip.«

»Echt?«

»Yupp!«, komprimierte der ein paar Schritte weiter hockende Nicolas alle möglichen Antworten und Erklärungen auf Jureks Frage in ein einziges Wort.

»Wow!«

»Ich habe es immer wieder gesagt und werde es so oft wie nötig wiederholen: Ich werde niemals ein Mitglied unserer Familie belügen - weder Loren, noch dich, Florence oder irgendeine andere Seele unseres Hauses. Und das werde ich dir beweisen: Ich habe Angst. Ich habe die Hose gestrichen voll, weil ich befürchte, euren Bedürfnissen nicht gerecht zu werden oder euch, nach allem, was Bronkovic euch angetan hat, falsch zu behandeln. Offensichtlich war genau das falsch.«

»Bronkovic, dieser Wichser. Fünf Jahre tot und macht immer noch Stress«, knurrte Jurek, »Ein echter Wiedergänger.«

»Wem sagst du das?« Bronkovics Krieg gegen die übrigen zwei ursprünglichen Vampirgeschlechter, die Kodiak und die Hati, hatte mein Leben zur Hölle gemacht, die erst endete, nachdem ich versuchte, Selbstmord zu begehen und Constantin mich rettete und später in einen Vampir verwandelte. Doch wenn ich mir Jurek ansah, wurde mir klar, dass es damit noch lange nicht zu Ende war.

»Komm!«, rief ich Jurek zu, packte ihn am Handgelenk, sprang auf und zog das Kerlchen mit mir hoch. »Lass uns Loren überraschen.«


Der junge, neunzigjährige Bengel von einem Blutsauger entpuppte sich als ein hervorragender Fremdenführer. Was wusste ich von New York, außer dass die Stadt riesig war, an der Ostküste des nordamerikanischen Kontinents lag und viele Leute Manhattan fälschlicherweise mit der Stadt gleichsetzten? Dass Manhattan auf der Karte wie ein Penis aussah und die Bronx damit den Hodensack New Yorks bildete, konnte ich allerdings ansatzweise nachvollziehen.

Statt mit einer protzigen Limousine aus dem Fuhrpark des Hauses vorzufahren, gingen wir vier, Jurek, Marco, Nicolas und ich, ganz unprätentiös zu Fuß. Von unserem Domizil in der 61. Straße zu unserem ersten Ziel - 5th Avenue Ecke 59th Street - waren es nur ein paar Blocks. Es war zwar noch hell, aber mit richtig guter Sonnenschutzcreme, Hochleistungskontaktlinsen und lockerer, aber auch lichtdichter Kleidung ausgestattet, stand dem Spaß nichts entgegen. Die tagesübliche Müdigkeit unserer Art kompensierte ein ganz anderer Aspekt. Unser erstes Ziel entsprach nämlich einer besonderen Bitte meines Marschalls, der dem Wahn um die Produkte eines US-amerikanischen Elektronikkonzerns verfallen war, dessen Markenzeichen aus einem angebissenen Fallobst bestand. Kaum dass Nicolas den unterirdischen Verkaufstempel betreten hatte, nahmen seine Augen den Glanz eines wahrhaft Gläubigen an. Oder waren es die eines Süchtigen? Die Grenzen mussten wohl als fließend betrachtet werden. Es dauerte dann auch gut eineinhalb Stunden, bis wir das Ladengeschäft mit vier Notebooks wieder verließen. Ja, ich gebe es zu, ich war in Spendierlaune und gönnte uns dreien je einen mobilen Computer... und ein Tablet... und ja, auch noch ein Mobiltelefon... und, ähm, nein, die Desktoprechner nahmen wir nicht gleich mit, sondern ließen sie liefern. Die vier 27-Zoll-Geräte wären einfach zu unhandlich, um sie mit uns rumschleppen zu können.

Während Marco noch grummelte und nicht so recht wusste, wie er die Ausgabe verbuchen sollte, schlenderten wir gemütlich die 5th Avenue entlang, um keine zwei Blocks weiter Loren in ihrer perfekten Audrey Hepburn Verkörperung zu entdecken. Ich konnte sehen, wie sie die Blicke der Passanten auf sich genoss. Genauso wie Audrey alias Holly Golightly lauerte auch hinter Loren das Wesen eines Raubtiers. Während bei ersterer die Suche nach einem reichen Mann stand, war es bei letzterer das Wesen einer Frau, die sich mit jeder Faser ihrer Existenz ihres Wesens als Vampir bewusst war: Der ebenso smarte wie straighte Anzugträger, der sie im Vorübergehen mit seinen Augen auf fast obszöne Weise auszog, entging ihr ebenso wenig, wie der Fahrradkurier, den der Anzugträger, abgelenkt von Lorens überirdischer Präsenz, um Haaresbreite von seinem Aluminiumhightechross gekickt hätte. Zu einer Ausweichbewegung gezwungen, rauschte der Typ mit den Megawaden mikrometerknapp an einem Vollweib in Bürostandarddress vorbei, der daraufhin vor Schreck ihr Thermobecher angefüllt mit dem angeblich New Yorks besten organic low carb double shot macchiato - natürlich laktosefrei - aus der Hand rutschte.

»Hoppla!« Mit einer für menschliche Augen kaum erkennbaren Geschwindigkeit hatte Loren den Becher im Fallen gepackt, um der verdattert dreinschauenden Geschlechtsgenossin den von ihr schon mental abgeschriebenen Getränkebehälter hinzuhalten. »Es wäre schade drum.«

»Danke...«, entfleuchte der Frau ganz unnewyorkisch ein Ausdruck von Freundlichkeit, den Loren nur mit einem ebenso freundlichen Lächeln quittierte, während ihre Augen dabei aber nicht die Büroarbeiterin, sondern den Anzugträger fixierten. Ich musste grinsen. Ich kannte den Blick und wusste, was meiner Hauschefin durch den Kopf ging. Es fehlte eigentlich nur noch, dass sie sich über die Lippen leckte. Ohne es zu ahnen, hatte sich der straighte Businesstyp als Abendessen qualifiziert. Lorens Vampirruf hatte die Stärke und Fokussierung eines Megawatt-LASERs. Schlafwandlerisch drehte sich der Typ zu ihr um und blickte in das Gesicht einer Frau, die ihn dermaßen gewinnend anstrahlte, als ob es außer ihm in der Welt nichts anderes mehr gäbe. Für diese Frau war er „The Man“. In gleichem Maße wie sich Lorens Interesse auf ihn konzentrierte, wich der Einfluss auf die übrigen Passanten, die das taten, was der gemeine New Yorker gewöhnlicherweise tat: Sich um seinen eigenen Scheiß kümmern.

Nicht so der Bürohengst. Der stand vollkommen im Banne Lorens. Als wenn er nie etwas anderes gewollt hätte, folgte er ihr in die Verkaufsräume der französischen Handtaschenfirma. Amüsiert fragte ich mich, wie lange meine Vampirin wohl für ihren Snack brauchte.

»Keine fünfzehn Minuten«, gab Nicolas eine Schätzung ab.

»Dreißig Minuten und eine Handtasche«, setzte Marco nach.

»Es wäre unfair, wenn ich eine Wette abgebe«, gab Jurek zu und bewies Sportsgeist. »Ich weiß, wie sie jagt.«

Wir hatten die gesamte Szene einige zehn Meter von ihrem Ursprung entfernt von der anderen Straßenseite aus beobachtet und warteten nun darauf, dass Loren und ihr Abendessen wieder auftauchten, was fünfundzwanzig Minuten später der Fall war. In der rechten Hand trug Loren eine Einkaufstüte, die vorher noch nicht da war.

»Ha, ich habe gewonnen. Ich war dichter dran!«, rief Marco triumphierend.

»Mag sein, aber mit der Handtasche lagst du falsch. Die hätte sie nicht in eine Tüte stecken lassen«, erwiderte Nicolas. »Oh, schaut euch den Kerl an! Debiler kann kaum einer aus der Wäsche schauen als der.«

»Oh, täuscht euch nicht«, wandte ich sehr breit grinsend ein. »Ihr habt Christiano noch nicht auf der Jagd erlebt.« Mir fiel da eine Szene in Christianos Tiefgarage kurz vor meiner Verwandlung ein. Wie er sein Opfer umgarnte, es systematisch um den kleinen Finger wickelte, um ihn dann ganz professionell zu Ader zu lassen, war an Eleganz kaum zu überbieten. Aber ich musste zugeben, dass unsere Loren seinem handwerklichen Können verdammt nahe kam. Zum Abschluss gab sie ihrem Leckerchen noch ein Küsschen auf die Wange, dann war er mental entlassen. Dies war unser Stichwort: »Nun, dann werde ich mal zu ihr rüber gehen.«

In fast allen Bereichen meines Lebens waren die letzten fünf Jahre intensive Lehrjahre. Niemand wurde als Vampir geboren, von einer Ausnahme namens Constantin einmal abgesehen. Meine Erweckung war nicht der Endpunkt der Verwandlung, sondern dessen Anfang. Primär bedeutete es für mich, zu lernen, zu lernen und nochmals zu lernen: Zum Beispiel wie ich unseren Lockruf richtig einsetzte. Als indirekt gebürtiger Vampir gelang es mir zum Glück, die meisten vampirischen Fähigkeiten ziemlich schnell zu meistern. Manche beherrschte ich sogar, ohne dass mir jemand erklären musste, wie sie funktionierten. Und dann gab es noch die Fähigkeiten, die kein Vampir erlernen konnte, sondern diese erst für sich entdecken musste. Fast jeder Hämophage verfügte über eine besondere übersinnliche Gabe, wie zum Beispiel Christiano, der ein begnadeter Telepath war, oder Constantin, der sich in einen Dunst verwandeln konnte. Meine hatte sich mir bisher nur zum Teil erschlossen. Eher zufällig bemerkte ich, dass es mir möglich war, quasi in Form eines umgekehrten Vampirrufs meine Präsenz vollständig zu maskieren. Mehr noch: Ich konnte die Anwesenheit unserer gesamten Gruppe aus dem Bewusstsein der umgebenden Passanten verschwinden lassen. Für die waren wir nicht mehr, als ein Straßenschild, ein Laternenpfahl oder eine Zeitungsbox. Ohne diesen Trick hätte uns Loren bereits eine viertel Meile gegen den Wind gewittert. Aber so konnte ich bequem über die Straße hüpfen und mich keine zwei Schritte von ihr neben sie an die Häuserwand lehnen, ohne dass mich Loren selbst dann erkannte, als sie zufällig in meine Richtung blickte.

»Einen beeindruckenden Stil hast du da entwickelt.«

»Was... Wer?«, schreckte Loren alarmiert auf. Kein Vampir schätzte es, als ein solcher erkannt zu werden. Blitzschnell, kontrolliert und in extremem Maße kampfbereit wirbelte sie zu mir herum und hätte mich wohl auch an der Gurgel gepackt, wäre ihr nicht noch in der Bewegung klar geworden, wer ihr gegenüberstand.

»Flo!«, brach aufrichtige und ehrliche Freude bei Loren aus, um sofort von Überraschung ersetzt zu werden. »Flo?«

»Oh, ja, es freut mich auch dich zu sehen, allerliebste Loren.«, strahlte ich meine Hauschefin an.

»Flo!«, stammelte sie verdattert.

»Ja, das ist mein Name.«, grinste ich breit.

»Flo? Was machst du in New York. Ich... ähm, ich meine, nicht dass du nicht hier sein sollst. Aber, ähm, warum bist du hier? Jetzt? Ausgerechnet jetzt?«

»Och, darf ich denn meiner obersten New Yorker Blutsaugerin keinen Überraschungsbesuch abstatten?«, flötete ich mit einer Stimme, als ob ich kein Wässerchen trüben könnte.

»So so. Oberste Blutsaugerin?«

»In New York«, schränkte ich fröhlich ein. »Du weißt ja, in Charlottenhof gibt es nur eine Chefin.«

»Himmel, Lucretia«, stöhnte Loren. »Wie geht es der alten Giftmischerin?«

Das war nicht despektierlich gemeint, sondern zählte unter den Damen meines Hauses offensichtlich zum guten Ton und höchsten Form einer Respektbekundung. Ich empfand das als ein wenig merkwürdig, aber wer war ich schon, dass ich mich in ihre Umgangsgepflogenheiten einmischte.

»Oh, nach eigenem Bekunden geht es ihr blendend. Ich soll die aufgebrezelte Designerschlampe schön grüßen - O-Ton«

»Das hat sie aber schön gesagt«, freute sich Loren. »Und du bist elegant meiner Frage ausgewichen, du kleiner Schlingel.«

»Ach Loren, du bist zu misstrauisch«, säuselte ich fröhlich. »Und du hast natürlich recht. Allerdings glaube ich nicht, dass das hier der richtige Ort ist.«

»Touché«, erwiderte die elegante Hauschefin. Loren sah mich an, lächelte und wirkte durch und durch zufrieden: »Ich finde es schön, dass du hier bist. Flo, willkommen in New York!«

Und dann tat sie etwas, was ich nicht erwartete. Loren fiel mir um den Hals. Diese extrem attraktive Frau, nach der sich nicht halb, sondern ganz New York umschaute, und die erscheinungsmäßig etwa wie Anfang dreißig und damit wie meine größere Schwester wirkte, diese Frau angelte mit ihren Armen nach mir, zog mich zu sich heran und drückte mich mit einer Kraft, die ich so nicht erwartet hätte. Die Passanten wohl auch nicht, denn die blieben stehen und sahen sich zu uns um. Ich weiß nicht, ob es an einem unterschwelligen Minderwertigkeitskomplex meinerseits lag, aber ich gewann das Gefühl, jeder der uns anstarrte schien sich zu fragen, was eine Coverbildschönheit an einer halben Portion wie mir fand.

»Oh Flo, du kannst dir kaum vorstellen, wie sehr ich mich freue, dass du hier bist.« Loren hatte sich wieder von mir gelöst. Ihre Hände hatte sie auf meine Schultern gelegt und hielt mich auf Armeslänge, um mich genauer betrachten zu können. »Junge, du siehst gut aus. Reifer, ein wenig kerliger. Du... oh, ich hoffe, das war nicht respektlos...«

»Loren, bitte!« Ich konnte meine Zerknirschung kaum verstecken. »Deine Begrüßung war die erfrischendste Respektlosigkeit, die ich seit Langem erlebt habe. Bitte, bleib so!«

Kellerloch

»Notsignalsender?« Bjarni klang skeptisch. »Lässt sich der nicht anpeilen?«

»Schlaues Köpfchen«, lobte Tavin. »Das Ding ist High-Tech. Es sendet ein verschlüsseltes Ultrabreitbandsignal, das für normale Empfänger nur wie weißes Rauschen klingt. Erst wer den Schlüssel des Pseudozufallszahlengenerators kennt, ist in der Lage, das Signal zu dekodieren. Allerdings hast du recht. Das Rauschen kann auffallen. Es ist zwar schwerer als ein diskretes Signal zu orten, unmöglich ist es aber nicht.«

»Okay und warum gehen wir das Risiko ein?«

»Wer hat gesagt, dass ich ihn verwenden will?«

Ohne auf Bjarnis Verwirrung einzugehen, wühlte Tavin weiter in den Regalen herum, kramte alles mögliche und unmögliche Zeug hervor, um am Ende dann doch fündig zu werden.

»Es ist eine Abwägung von Risiken«, griff der Schotte Bjarnis ursprüngliche Frage wieder auf. »Es ist immer eine Abwägung von Risiken.« Tavin seufzte und ließ sich matt auf eine der Pritschen niederfallen. »Wir können versuchen, die Sache hier in diesem Bunker auszusitzen. Mit anderen Worten: So lange Däumchen drehen, bis die Jäger da draußen verschwunden sind. Die Sache hat nur einen Haken. Sie werden nicht verschwinden. Jedenfalls nicht in absehbarer Zeit. Wegen meiner idiotischen Unvorsichtigkeit wissen sie jetzt, dass sich Hämophagen in der Gegend herumtreiben.«

Mit einer Handbewegung deutete Tavin Bjarni, sich ebenfalls zu setzen. Der zuckte mit den Schultern und ließ sich auf die Pritsche direkt gegenüber plumpsen.

»Vampirjäger sind anhänglich wie Schmeißfliegen auf einem Haufen Kuhscheiße.« Der schottischen Nosferatu unterstrich seine Abneigung mit einem satten, gutturalen Grunzer. »Ich will dir nichts vormachen. Die Sache könnte haarig werden. Früher oder später werden die Typen unser kleines trautes Heim entdecken und dann... Nun ja. Gegen einen Vampirjäger antreten mag noch gehen, aber gegen eine ganz Horde würden wir nach einem Gemetzel biblischen Ausmaßes den Kürzeren ziehen. Deswegen der Notsignalgeber.« Tavin hielt ein klobiges Gerät, einem Mobiltelefon nicht unähnlich, in die Höhe.

»Und das Ding kann helfen?«, wollte Bjarni wissen.

»Ein wenig... Hoffe ich jedenfalls. Es sendet die ID der Notunterkunft. Außerdem lässt sich unsere Lage und Anzahl kodieren.«

»Und unsere Lage wäre?«

»Beschissen!«

Bjarni hatte zwar mit einer Antwort in dieser Richtung gerechnet, nicht aber mit der Deutlichkeit. Das fiel dann auch Tavin auf. Der zuckte relativierend mit dem Mundwinkel und wog seinen Kopf hin und her.

»Ähm, vielleicht ist die Situation nicht vollkommen beschissen«, räumte er ein. »Das Problem ist, dass ich nicht weiß, wie lange wir hier aushalten müssen.«

»Okay... aber?«

»Es könnte sein, dass die Vampirjäger uns vorher finden«, begann Tavin zu erklären und führte dann aus, dass aufgeben nicht in der Natur ihrer Gegner lag. Die Typen würden so lange suchen, bis sie Tavin und Bjarni gefunden hatten. Die Jäger wussten, dass Hämophagen in der Nähe waren und verfügten über den Willen und die Mittel, diese auch aufzuspüren. Ob Bodenradar, Infrarotkameras, die schwächste Temperaturunterschiede unterscheiden konnten, oder hochempfindliche Geophone. Keine Technik war den erklärten Todfeinden der Vampire und Nosferatu zu aufwändig. In der Konsequenz verfügte die Notunterkunft weder über eine Heizung, einen Stromanschluss, Frisch- und Abwasseranschluss oder eine Lüftung. Nur der Trafo über ihnen sorgte für ein wenig Schutz, da sein elektromagnetisches Feld ihre Anwesenheit in gewissen Grenzen maskierte.

»Ähm, und warum sind wir dann noch nicht erstickt?«, wollte Bjarni wissen.

»Du denkst noch wie ein Mensch«, erwiderte Tavin fröhlich. »Unser Stoffwechsel benötigt keinen Sauerstoff. Ganz im Gegenteil werden wir unser trautes Heim im Fall der Fälle mit SF6 füllen.«

»SF6, was ist das?«

»Schwefelhexafluorid. Klingt giftiger als es ist. SF6 ist ein farb- und geruchloses und vor allem ungiftiges Gas, das allerdings deutlich schwerer ist als Luft. Es wird sich nicht verflüchtigen, sondern die Luft verdrängen, und wie eine Flüssigkeit unser nettes Kellerloch ausfüllen. Ein unfreundlicher Besucher sollte gut darin sein, ohne Sauerstoff auszukommen. Aber schauen wir doch mal, was sich da draußen tut.«

Auf den ersten Blick war Bjarni die Notunterkunft fürchterlich primitiv vorgekommen. Weder gab es ein tolles Videosystem, mit dem sich ein paar Kameras steuern ließen, noch ausgebuffte Alarmsysteme, mit denen sich potenzielle Eindringlinge frühzeitig entdecken ließen, bevor diese zur ernsthaften Bedrohung werden konnten. Selbst in den 90iger Jahren gab es geile Elektronik, doch komischerweise gab es ausgerechnet an dem Ort, an dem Bjarni sie am ehesten vermutet hätte, nichts davon.

»Elektronik benötigt Strom und dessen Verbrauch kann ausfallen«, lautete die einleitende Erklärung Tavins. Überwachungselektronik war in den 90igern noch nicht per Funk angebunden, sondern mit Leitungen und die ließen sich verfolgen. Wenn irgendwo ein Stromkabel in einem Betonklotz verschwand, musste es einen Grund dafür geben. Einem Vampirjäger wären solche Dinge aufgefallen. Erschwerend kam hinzu, dass jedes elektronische Gerät wenigstens ein paar Watt in Wärme verwandelte, zur damaligen Zeit sogar mehr als nur ein paar Watt. Diese Verlustleistung ließ sich aufspüren. Eine empfindliche Wärmebildkamera konnte Wärmequellen erkennen. Umso überraschender gebar sich Tavins Ankündigung, sich die Umgebung genauer anzusehen.

»Faseroptik«, flog dem Isländer ein einzelnes Schlagwort um die Ohren. »Abgesehen von den Batterielampen und dem Notsignalsender, gibt es in der ganzen Unterkunft keine elektronischen Geräte. Das heißt aber nicht, dass wir blind sind. Im Betonklotz über uns befinden sich Faseroptiken mit Ultraweitwinkel- und Teleobjektiven. Du kannst es auch als eine moderne Variante eines Periskops betrachten.«

Das etwas eigenwillige Periskop kam dann auch sofort zum Einsatz. Tavin öffnete eine Metallklappe in einer der Betonwände ihres Kellerverlieses. Hinter der Klappe befand sich eine auf Teleskopschienen gelagerte Trägerplatte, auf der ein optisches Gerät befestigt war. Bjarni nahm jedenfalls an, dass es sich um etwas optisches handelte. Zwei Doppelokulare deuteten jedenfalls darauf hin.

Auf eine Handbewegung Tavins hin näherte er sich einem der Okularpaare, hielt eine Sekunde inne, um dann hineinzublicken und nichts zu erkennen. Irgendetwas war zu sehen, doch das zu verschwommen, um es identifizieren zu können.

»Mit dem rechten Rad kannst du die Schärfe einstellen«, erläuterte Tavin und erntete ein knappes »Okay«.

Der geriffelte Messingknopf ließ sich gut greifen und hatte genau die richtige Größe, um ihn ohne den Blick vom Okular abwenden zu müssen, bedienen zu können. Mit ein paar feinfühligen Drehungen stellte Bjarni sein Bild scharf, während Tavin mit ein paar anderen Dreh- und Schaltknöpfen bestimmte, was sie sahen. Offenbar verfügte die Notunterkunft über mehr als nur eine Faseroptikkamera, denn das Bild wechselte mit einem Klicken zwischen verschiedenen Ansichten.

»Die Dämmerung hat begonnen«, bemerkte Tavin nicht ohne Grund eine Offensichtlichkeit. »Noch eine halbe Stunde, dann können wir uns ausruhen. Die Jäger unterbrechen tagsüber ihre Verfolgung. Es wäre zu auffällig. Außerdem funktionieren ihre Wärmebildkameras und Scanner nicht mehr. Das ist einer der wenigen Fälle, bei dem die Sonne auf unserer Seite ist. Ihre Strahlung ist so stark, dass die Signalverstärkung runtergeregelt werden muss, um den Eingang nicht zu übersteuern. Allerdings wird dadurch die Auflösung des Geräts so unscharf, dass es uns nicht mehr erkennen kann.«

»Ich habe zwar kein Wort verstanden, was du mir erklären wolltest, aber es klingt gut.«

»Entschuldige, aber ich habe selten Gesellschaft, und wenn ich welche habe, texte ich sie hoffnungslos zu.«

»Kein Problem, aber...«

»Ja?«

Bjarni druckste rum. Ihm war die Frage, die an ihm seit Tagen nagte, sogar eigentlich seit seiner Erweckung, ein wenig zu direkt. Er wusste nicht, wie weit er bei Tavin gehen konnte oder durfte oder beides.

Tavin blickte von seinem Periskopokular auf. »Raus mit der Sprache!«, forderte der ältere Mönch seinen Adlatus auf.

»Warum bist du hier? Ich meine nicht in diesem Bunker, sondern hier in Sarajevo. Was treibt Tavin Hamish McInnes von der Bruderschaft der Ghosts of the Higher Land hier in diese Stadt mitten in einem Bürgerkrieg?«

»Ah, du hast dich an meinen Namen erinnert«, wich Tavin grinsend aus, bemerkte dann aber Bjarnis etwas enttäuschten Gesichtsausdruck und grinste noch breiter: »Ich bin ein Headhunter. Ich suche nach Erweckungskandidaten wie dir. Ich weiß, dass das ziemlich kaltblütig klingt, aber du hast es selbst gerade auf den Punkt gebracht. Hier herrscht Bürgerkrieg. Was soll ich sagen? Wir Nosferatu erwecken Tote. Die Perversion des Krieges will es, dass in ihm junge, kräftige Männer fallen, die eigentlich ihr Leben noch vor sich haben sollten. Sieh dich an. Du bist das allerbeste Beispiel: Jung, kräftig, athletisch, intelligent, aufgeschlossen und gutherzig. Ich könnte mir keinen besseren Blutsaugerkandidaten vorstellen.«

»Dann hast du auf mich oder jemanden wie mich gewartet?«

»Jein«, Tavin schüttelte den Kopf. »Keiner von uns wird jemals eine Situation gezielt konstruieren, die mit dem Tod eines Menschen endet, nur um unseren Nachwuchs zu decken. Wenn uns aber jemand so wie du quasi vor die Füße fällt, sagen wir nicht Nein. Und du auch nicht, oder?«

»Wer früher stirbt, ist länger tot«, erwiderte Bjarni. »Nein, ich will mich nicht beschweren oder deine, eure oder unsere moralischen Maßstäbe kritisieren. Ich will diese neue Art zu existieren nur verstehen. Falls es dir entgangen sein sollte, ich war noch nie ein Vampir.«

»Ich versteh dich voll und ganz und gebe dir recht. Du sollest alles erfahren, um diese neue Welt, in die du hineingestolpert bist, vollkommen zu durchdringen, sie zu erleben, zu umschlingen und am Ende auch zu lieben. Nur diese verfluchten Typen da draußen stehen diesem Ziel ein klein wenig im Weg. Und... Holla, was ist das?«

Während er mit Bjarni sprach, hatte sich Tavin wieder dem Periskop zugewandt und nebenbei die Umgebung erkundet. Zuerst war ihm nichts besonderes aufgefallen, außer dass der Tag tatsächlich anbrach und es immer heller wurde. Eigentlich wollte er seine Beobachtung beenden, als ihm in einer dunkleren Ecke des Platzes zwei Typen auffielen, die verdächtig nach Vampirjägern aussahen. Jedenfalls verhielten sie sich nicht wie es normale Menschen in einer Stadt taten, in der ein Bürgerkrieg tobte. Auch sie suchten Deckung, um nicht von Scharfschützen ins Ziel genommen zu werden, doch statt hastig von Punt A nach Punkt B zu eilen, um die Aufenthaltsdauer am öffentlichen Straßenrand auf ein Minimum zu reduzieren, schienen diese Männer zu forschen und zu suchen. Dabei verwendeten sie merkwürdige Geräte, wie Bjarni bemerke, als er wieder durch das Okularpaar des Periskops blickte.

»Schalte die Laterne aus und verhalte dich absolut still«, flüsterte Tavin. »Die zwei sind eindeutig Vampirjäger. Einer trägt eine Wärmebildkamera, der andere ein Geophon. Unser Wärmebild müsste vom Trafo über uns maskiert werden, aber mit dem Geophon könntest du einen Floh in zwanzig Metern Tiefe husten hören.«

Wie befohlen knipste Bjarni die batteriebetriebene Campingleuchte aus, sodass ihr Bunker nur noch vom fahlen grünen chemolumineszenten Schein des Knicklichts erhellt wurde. Ganz leise schlich er wieder zum Periskop. Die unheimlichen Vampirjäger wollte er am liebsten keine Sekunde aus den Augen lassen. Die hatten sich inzwischen in einen anderen Bereich der unmittelbaren Umgebung der Notunterkunft zurückgezogen und damit begonnen, weitere Geräte in Betrieb zu nehmen. Der eine Typ hielt eine Art Scanpistole in der Hand, mit der er das Gelände abfuhr. Während er das Gerät mit ausgestrecktem Arm hielt und über die Gebäude wandern ließ, schaute er auf einen größeren Kasten vor seinen Füßen, mit der die Pistole durch ein Kabel verbunden war. Offenbar beherbergte die Kiste einen Bildschirm, auf dem das Wärmebild dargestellt wurde.

Der andere Typ war zur gleichen Zeit damit beschäftigt, ein langes Kabel auszurollen, an dem sich in regelmäßigen Abständen kleine metallische Zylinder befanden. Es brauchte nicht viel Gehirnschmalz, um zu erraten, dass es sich dabei um Bodenmikrofone handelte. Statt etwas zu sagen, beschränkte sich Tavin auch nur darauf, Bjarni leicht anzutippen, damit dieser aufschaute. Die Geste des vor den Mund gelegten Fingers benötigte keinerlei Erklärung und schien in den meisten Kulturkreisen so ziemlich das gleiche bedeuten. Bjarni schluckte, nickte und wandte sich wieder seinem Periskop zu.

Absolut geräusch- und bewegungslos starrten die zwei Hämophagen und beobachteten ihre im wahrsten Sinne Todfeinde, wie diese nach ihnen suchten. Und das taten diese mit erschreckender Zielstrebigkeit. Obwohl der anbrechende Tag es immer heller werden ließ und die zwei Typen nicht wirklich als unauffällig bezeichnet werden konnten, zogen sie stur ihr Programm durch. Bjarni wusste nicht so richtig, ob er ihren Enthusiasmus, ihre Präzision und Professionalität bewundern oder fürchten sollte - vermutlich beides. Noch waren sie recht weit vom Unterschlupf der beiden Vampire entfernt. Das Periskop verfügte über entsprechende Zielmarkierungen und ein Okularmikrometer, mit dem sich die Entfernungen ziemlich genau ausmessen ließen. Leider sagten diese Markierungen aber auch, dass die Jäger immer näherkamen. Bjarni wagte kaum noch zu atmen, oder sich zu bewegen. Er unterdrückte sogar den Wunsch, sein Blickfeld zu verstellen. Selbst Tavin hing absolut bewegungslos an seinen Linsen.

Die Frage, die Bjarni durch den Kopf ging, drehte sich um die Qualität der Ausrüstungsgegenstände ihrer Jäger. Wie gut waren die Bodenmikrofone und die Wärmebildkamera? Entweder waren sie verdammt gut, oder die beiden Typen zogen einfach ein ausgeklügeltes Programm durch, mit dem sie selbst komplexe Umgebungen komplett abdeckten. Dass sie dabei den beiden Blutsaugern in ihrem Versteck gefährlich nahekamen, war gewollt und lag natürlich in der Natur ihres Unterfangens.

Shit!, wäre es Bjarni fast rausgerutscht, als einer der beiden Vampirjäger unmittelbar am Objektiv des Periskops vorbeiging und sogar hineinsah. Zum Glück schien er aber nicht zu bemerken, wo rein er genau blickte. Die Linse musste entweder sehr klein oder so gut getarnt gewesen sein, dass sie selbst bei direkter Betrachtung nicht erkannt oder entdeckt wurde. Wie auch immer, die Typen waren nah, zu nah.

Wenig begeistert musste der ehemalige isländische SAR-Spezialist feststellen, dass er es überhaupt nicht schätzte, das Weiße im Auge eines Gegners zu betrachten, der ihm ohne zu Zögern den Kopf abschlagen, vergiften oder einen Pflock ins Herz rammen würde, sollte er die Gelegenheit dazu bekommen. Was hatte er dem Mann getan, dass er Bjarni dermaßen hasste? Hatte er hier geschrien, als es darum ging, ein Nosferatu zu werden? Bjarni konnte sich nicht erinnern, es sich ausgesucht zu haben, von einem Heckenschützen erschossen zu werden. Und dafür hatte er in den Augen des Vampirjägers den Tod verdient? Bjarni sah ein, dass es auf eine gewisse Weise eigennützig aussehen konnte, trotzdem empfand er das moralische Koordinatensystem seiner Gegner fragwürdig. Wer verlieh ihnen das Recht, über Leben und Tod zu entscheiden? Wer hatte sie zu Anklägern, Richtern und Henkern in einem ernannt?

Das ist doch pervers, überlegte Bjarni, während er seinen Todfeind bei dessen Suche beobachtete, aber der Typ sieht eigentlich ganz schnuckelig aus. Wenn er mich nicht umbringen wollte, würde ich ihn nicht von der Bettkante stoßen.

Obwohl schätzungsweise so um die siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahre, hatte der Mann sich etwas bubihaftes in seinem Wesen bewahrt. In seinen Augen blitzte etwas von einem Schalk auf, aber auch die Eiseskälte eines erbarmungslosen Killers. Was hat dich nur dazu gebracht, uns zu jagen?, sprach Bjarni in einem inneren Monolog mit seinem potenziellen Mörder. Ein Typ wie du sollte keine Vampire jagen. Er sollte bei seiner Liebsten oder bei seinem Liebsten sein und seinen Lebensunterhalt mit konstruktiven Dingen bestreiten.

Hatte er zu laut gedacht? Der Typ wirbelte plötzlich herum und suchte mit wachsamen Augen, aus denen jegliche schalkhaften Anwandlungen verschwunden waren, die Umgebung ab. Erneut kreuzte sein Blick das Objektiv des Periskops, ohne dieses zu bemerken. Offenbar waren nicht Tavin und Bjarni für die spontane Wachsamkeit ihrer Gegner verantwortlich, sondern ein Trupp Blauhelme der UN, die drei Minuten später den Platz bevölkerten. Irgendjemand hatte die beiden Jäger vorgewarnt. In der knappen Zeit vor Eintreffen der Schutztruppe hatten sie ihre Sachen zusammengepackt, in ihren Rucksäcken verstaut und waren in Deckung gegangen. Damit war zumindest die unmittelbare Gefahr einer Entdeckung gebannt, was Tavin nutzte, um ein wenig mit den Vergrößerungsstufen Periskop zu spielen.

»Da!«, rief der schottische Nosferatu triumphierend. »Ich hab es geahnt. Die Typen haben aufgerüstet.«

Gemeint war ein Spiralkabel, das rechts am Hals hinterm Kragen der Einsatzkleidung des Vampirjägers hervorkroch und in einem Ohrknopf endete, der im rechten Hörorgan steckte. Zumindest einer der beiden Männer war verkabelt und wurde per Funk von weiteren Jägern mit strategischen Informationen versorgt.

»Seltsam«, murmelte Tavin.

»Was?«

»Warum verschwinden die Typen nicht? Es ist fast Tag und außerdem treiben sich die Blauhelme hier rum. Normalerweise verschwinden die Arschlöcher, kaum dass der Tag anbricht. Die scheinen sich aber nicht so leicht vertreiben zu lassen. Was...« Ausgesprochen geschickt wechselte der erfahrene Nosferatu zwischen den verschiedenen Ansichten des Periskops hin und her, suchte sich damit den Vampirjäger heraus, der sich am besten beobachten ließ und zoomte an ihn heran. Der hatte sich hinter einem Schutthaufen in einer Ecke des kleinen Platzes versteckt. Dort hatte er seinen Rucksack vor sich gestellt und war nun damit beschäftigt, erst eine lange Holzkiste hervorzukamen, der er dann ein Scharfschützengewehr entnahm, es aufbaute und auf die Blauhelmtruppe anlegte, die ahnungslos in seine Richtung stiefelte.

»Fuck!«, fiel Tavin in seine Muttersprache zurück. »Seit wann wagen es die Typen, sich derart zu exponieren. Ich habe noch nie erlebt, dass Vampirjäger eine Konfrontation eingehen. In einem Punkt sind wir sehr ähnlich. Wir leben im Geheimen und verbergen unsere Existenz vor den Menschen.«

Mit diesen Worten schaltete Tavin vom Bild des Vampirjägers auf das der UN-Truppe und zoomte diese heran. Bjarni versuchte seine Optik halbwegs scharf zu stellen, was bei Tavins extrem schnellen Bildwechseln alles andere als einfach war.

»Stopp!«

Mit einem einzigen Wort, das weder laut noch sonderlich nachdrücklich, sondern nur kurz und prägnant Bjarnis Mund entwich, brachte er Tavins Umschaltorgie zum abrupten Halt. Die Einstellung des Faseroptiksystems blieb beim Bild eines einzigen Mannes stehen.

»Atli«

Und wieder sorgte nur ein einziges Wort dafür, dass Tavin reagierte, was Bjarni überraschte.

»Okay«, verkündete der Schotte und verließ seinen Posten am Periskop. Stattdessen knipste er eine der Laternen wieder an und begann in den Regalen mit den Ausrüstungsgegenständen zu wühlen. Keine Sekunde später wurde er fündig. Bjarni hörte es metallisch klicken. Er musste nicht hinsehen, um zu wissen, welcher Gegenstand ein derartiges Geräusch machte. Seine Ausbildung für den UN-Einsatz sah, obwohl er nicht zu den Kampfverbänden zählte, auch die Schulung und Unterweisung in Waffen vor.

»Hier!«, erklärte Tavin und reichte Bjarni eine Waffe und eine Tube Sonnenschutzcreme.

»Was?«, erwiderte Bjarni erschrocken und starrte ungläubig auf die Waffe.

»Es ist Atli. Und auch wenn es alles andere als eine schlaue Idee ist, sich in die Sache einzumischen, würdest du es mir niemals verzeihen, sollte ihm irgendetwas zustoßen. Schmier dich mit der Creme ein. Ich gehe ans Tageslicht und versuche zu verhindern, dass dein Atli in einen Hinterhalt läuft. Und du machst dich bereit, notfalls zu fliehen.«

Sue

»Erzähl das nochmal« Sue Prescott, die Buchhalterin, Kassenwartin und gute Seele der Beratungsstelle für Hämophagen, wollte einfach nicht verstehen oder glauben, was Dexter ihr erzählte und ließ ihn die Geschichte bestimmt schon das dritte Mal wiederholen.

»Ed hatte rot glühende Augen und löste sich dann in Staub auf?«

Die beiden Kollegen standen in der Teeküche ihrer Arbeitsstätte, dem Beratungszentrum für Hämophagen im Herzen New York Citys. Während sich Dexter gemütlich gegen die Tresenkante gelehnt hatte und ein Glas frisch gepressten Orangensafts genoss, war Sue mit der Zubereitung eines netten kleinen Cappuccinos beschäftigt, was leider auch einen großen Teil ihrer geistigen Kapazität in Beschlag nahm und die These widerlegte, Frauen seien multitaskingfähig.

»Nicht in Staub, in Nichts. Edwins Körper verschwand einfach«, korrigierte Dexter.

»Dex, ich bitte dich. Nichts kann sich in Nichts auflösen«, tat Sue Dexters Schilderung ein wenig oberlehrerhaft ab, wobei ihr zugutegehalten werden musste, dass sie nicht wirklich bei der Sache war, da das Aufschäumen ihrer premium organic pure diary milk vollste Konzentration erforderte.

»Nun, Edwin löste sich in Nichts auf. Ich war nicht der einzige Augenzeuge. Gideon war dabei.«

»Und wer ist jetzt wieder Gideon?«, wollte Sue wissen, während sie versuchte, ein schönes Muster in den Milchschaum zu zaubern.

»Das hatte ich dir doch schon erklärt...« Dexter seufzte. In diesem Zustand war mit seiner Kollegin wenig anzufangen. Wenn Sue Prescott, die eigentlich Olga Sobrinsky hieß, mit etwas konfrontiert wurde, das dem Bild ihrer kleinen Welt widersprach, reagierte sie ausgesprochen erratisch, verhielt sich wenig kooperativ und zeigte sich eher von der unfair ungeduldigen Seite. Dexter kannte das. Jeder im Beratungszentrum kannte Sues kleine Ticks. Was aber nichts daran änderte, dass die gute Olga zu den wichtigsten und engagiertesten Mitgliedern des Teams des Zentrums zählte. Niemand kannte sich so gut mit den speziellen Aspekten hämophagischer Finanzen aus, wie sie. Welche Geldanlagen waren bei der außergewöhnlichen Lebenserwartung eines Blutsaugers sinnvoll? Wie ließ sich die Steuerfahndung überlisten? Wie ließen sich größere Summen zwischen verschiedenen Ländern transferieren, ohne dass die menschlichen Behörden darüber stolperten? Waren die hämophagischen Finanzinstitute, wie etwa FarInvest vertrauenswürdig?

Wenn jemand über Antworten zu diesen Fragen verfügte, dann Sue. Jeden ihrer Fälle nahm sie sehr persönlich und biss sich zuweilen wie ein Terrier daran fest. Das zentrale Problem, auf das sich fast jedes andere zurückführen ließ, nahm zweifelsohne die überaus lange Untotenschaft der Blutsauger ein. Selbstverständlich gab es Menschen, die hundert, hunderteins, hundertzwei oder gar hundertfünf und auch schon mal hundertsechs Jahre alt wurden. Doch irgendwann begannen selbst die lahmarschigsten Behörden hellhörig zu werden und fragten sich, ob etwa diese eine Leistungsbezieherin wirklich hundertzwanzig Jahre alt war und noch lebte. Nun, sie tat es natürlich nicht. Untote lebten nicht. Nur wie ließ sich so etwas dem Finanzamt erklären? Privatwirtschaftliche Unternehmen zeigten sich im Gegensatz zu Behörden sogar als noch wesentlich weniger geduldig und witterten schon bei einem einfachen achtundachtzigjährigen sogenannten Leistungsmissbrauch und begannen, Nachforschungen anzustellen, ob wirklich alles mit Rechten Dingen zuging und sich nicht möglicherweise jemand auf ihre Kosten bereicherte.

Damit es gar nicht erst so weit kam und Behörden oder Firmen der Idee verfingen, in Dingen herumzustochern, die sie nichts angingen, hatte sich Sue darauf spezialisiert, frühzeitige Exit-Strategien für ihre Klienten zu entwickeln. Die meisten Vampire hatten auf ihr Anraten etwaiges Vermögen in Stiftungen untergebracht. Als deren Angestellte konnten sie so über ihre eigenen Mittel ganz legal verfügen, wenn auch nicht ohne dabei gewisse Grenzen einhalten zu müssen. Sue verfolgte dabei die Idee, dass Mitarbeiter durchaus wechselten, während Stiftungen hingegen blieben. Die freien Vampire New Yorks vertrauten Sue Prescott. Blutsauger waren nicht per se wohlhabende oder gar reiche Leute. Es war einfach eine Folge der langen Unlebensdauer, dass sich über die Jahre fast immer ein kleines Vermögen ansammelte, von dem sich auskömmlich leben ließ. Und Sue sorgte ebenso diskret und unauffällig dafür, dass es so blieb. Die Klienten zeigten sich im Allgemeinen ausgesprochen dankbar, was Sue prompt für ihre eigentliche Tätigkeit im Beratungszentrum ausnutzte, dem Fundraising. Das Büro bestritt seinen Unterhalt ausschließlich aus Spenden. Und wer spendete bereitwilliger, als jemand, dem zuvor buchstäblich der Arsch vom Objekt seiner Spende gerettet wurde?

Von Zeit zu Zeit geriet aber auch ein Finanzprofi wie Sue Prescott an ihre Grenzen, etwa dann, wenn die Fahnder des IRS, der US-amerikanischen Steuerbehörde, bereits an die Tür eines vermeintlichen Steuerbetrügers klopften, bei dem es sich aber eigentlich nur um einen rüstigen Hundertsiebenundachtzigjährigen handelte. In solchen Fällen waren die Talente Dexters gefordert. Es gab nur sehr wenige Umstände, unter welchen die IRS Criminal Investigation Division ein eingeleitetes Ermittlungsverfahren wieder einstellte. Eines war der Tod des potenziellen Steuersünders. Dexter Hunter Jones amüsierte es jedes Mal aufs Neue, die Szene seines eigenen offiziellen Todes nachzustellen, womit nicht die standrechtliche Erschießung gemeint war, sondern das etwas morbide Vergnügen, einen Untoten aus seinem frischen Grab zu befreien. Anders ausgedrückt: Dexters besondere Fähigkeit bestand in der Inszenierung natürlich erscheinender Todesfälle seiner untoten Klientel.

»Gideon ist einer der Nosferatu, die das Pilgerhaus in der Nähe Pearl Ecke Water betreiben«, beantwortete Dexter Sues Frage zum bestimmt vierten Mal an diesem Abend.

»In Brooklyn? Wie bist du darauf gekommen, Ed in Brooklyn zu suchen?«, stellte Sue die erste intelligente Frage, was Dexter hoffen ließ, dass seine Kollegin begonnen hatte, die Geschichte zu verarbeiten.

»Ich vermutete, dass Edwin wahrscheinlich eines der Pilgerhäuser nutzen würde. So wie ich Ed kannte, wäre ihm das Haus in Manhattan zu überlaufen gewesen. Zu viele Touris. Das Brooklyner Haus ist gleichzeitig größer und anonymer. Jemand wie Ed, der seine Privatsphäre schätzte, würde dort absteigen.«

»Ich weiß nicht«, murmelte Sue nachdenklich und schlürfte etwas von ihrem Cappuccino. »Ich bin ja nun auch schon eine Weile blutsaugend auf dieser Welt, aber an diese Totenfratzen konnte ich mich noch nie richtig gewöhnen.«

»Das wollte ich dich schon immer mal fragen. Wie lange bist…«

»Dexter Hunter Jones«, unterbrach Sue Prescott gespielt schroff die Frage ihres Kollegen, »Du wirst doch wohl eine Dame nicht nach ihrem Alter fragen?«

»Sollte mir eine Dame begegnen, werde ich deine Worte gerne beherzigen«, konterte Dexter frech und erntete einen mehr als tadelnden Blick seiner Kollegin. Möglicherweise den Bogen ein kein wenig überspannt zu haben, ging Dexter theatralisch in Deckung, was die Prescottsche Vampirin grinsen ließ und es mit einem mahnend erhobenen Zeigerfinger bewenden ließ.

»Du hast aber recht«, wurde der Vampircowboy ernst und ließ sich auf einem der drei Schemel nieder, die so etwas wie eine Sitzgelegenheit in der Teeküche versuchten zu imitieren. »Die Nosferatu sind mir auch ein wenig unheimlich. Bisher habe ich den Kontakt mit ihnen auch eher gemieden.«

»Aber?«, wollte Sue wissen, die, dem Vorbild ihres Kollegen folgend, sich ebenfalls hingesetzt hatte. Während sie ihren Kaffee genoss, musterte sie Dexter über den Rand ihres Bechers hinweg.

»Es war Gideon, der Bruder, mit dem ich zu tun hatte. Er ist eigentlich ganz nett. Du musst nur hinter seine Fratze schauen.« Dexter leckte sich über die Lippen, um etwas hängengebliebenen Orangensaft von ihnen zu bekommen. »Es ist seltsam. Vielleicht ist es auch nur eine Besonderheit unserer unheimlichen Vettern. Aber je länger du einen von ihnen betrachtest, desto mehr scheint dessen fiese Fratze zu verschwinden. Es ist fast wie eine Maske, die sich dadurch auflöst, dass du sie anschaust. Oder auch nicht.« Dexter seufzte und rang nach geeigneten Worten: »Gideon ist abstoßend und er ist es auch wieder nicht.«

»Hör bloß auf. Du klingst wie Tante Charlotte«, entwich es Sues Lippen, wofür sie sich am liebsten geohrfeigt hätte.

»Tante Charlotte?«, hakte Dexter sofort nach. Es kam ausgesprochen selten vor, dass Sue Prescott etwas von sich preisgab.

»Hm, es ist jetzt elf. Lass uns in den Park gehen«, verkündete die Finanzvampirin, stellte ihren leeren Kaffeebecher in die Spüle der Teeküche und ging zu ihrem Arbeitsplatz, um sich ihre Jacke zu holen. »Leute, Dex und ich verschwinden für eine Weile«, rief die naturalisierte Amerikanerin und wanderte in Richtung Notausgang.

Zu sprachlos, um auf diese sehr überraschende Einladung etwas entgegnen zu können, schnappte sich Dexter seine eigene und folgte seiner Kollegin zur Hintertür hinaus. Mit einem kurzen Blick zu beiden Seiten der Stichstraße entlang versicherten sich die zwei Hämophagen davon, von niemandem beobachtet zu werden, bevor sie in die Schatten der finsteren Seitenstraße eintauchten. Dort schwangen sie sich in die Lüfte und flogen das kurze Stück bis in den Central Park. Dort landeten sie in einem zu dieser Tageszeit eher spärlich frequentierten Areal und ließen sich auf einer der Parkbänke nieder.

»Du weißt, dass ich nicht immer Sue Prescott hieß?«, begann Sue mit einer klassisch rhetorischen Frage als Einleitung, die Dexter pflichtbewusst schweigend, aber mit einem Nicken bejahte.

»Mein ursprünglicher Name ist Olga Sobrinsky. Ich kam in der polnischen Woiwodschaft Karpatenvorland zur Welt. Dort wurde ich auch erweckt. Er hieß Miklas... Mein Schöpfer. Er war ein lieber Junge, der mich, ganz dunkler Ritter, vor der Grausamkeit der Welt retten wollte. Dex, du hast mich nach meinem Alter gefragt. Ich bin so um die vierhundertdreißig Jahre alt. Mein vermutliches Geburtsjahr war wohl 1583. Genau weiß ich es selbst nicht. An meine Eltern kann ich mich nicht erinnern. Sie sind, so wurde es mir erzählt, gestorben, als ich vier Jahre alt war. Ich bin dann in die Familie des älteren Bruders meines Vaters gekommen. Begeistert waren sie nicht, mich aufnehmen zu müssen. Aber als gute Katholiken blieb ihnen nichts anderes übrig, wollten sie nicht gegen das Gebot der christlichen Nächstenliebe verstoßen. Pah, Nächstenliebe! Dass ich nicht lache!«

Die Geschichte beförderte einige sehr alte und ebenso sehr unschöne Erinnerungen zurück in die Gegenwart. Obwohl äußerlich ruhig und abgeklärt, spürte Dexter, wie es in Sue brodelte. Er schwieg. Die Parkbank, auf der die beiden Kollegen saßen, lag im Schatten einiger alter und hoher Bäume. Niemand war auf die Idee gekommen, diese Ecke des Parks mit einer Laterne zu versehen, um die Dunkelheit zu bannen, die die Menschen so sehr fürchteten. Nur ein paar Lücken im Blätterdach sorgten für einige vereinzelte kleine Lichttupfer, mit denen sich der vorherrschende Vollmond bemerkbar machte.

»Er missbrauchte mich.«

Drei Worte, in denen selbst nach über vierhundert Jahren unendlich viel Leid steckte. Dexter musste schlucken, um den Kloß wegzubekommen, der plötzlich seinen Hals ausfüllte und ihn am Atmen hinderte.

»Ich war fünfzehn, als mein Onkel zu mir kam. Es gibt keine Worte, mit denen sich ausdrücken lässt, was mir dieses Tier angetan hat. Nein, vergiss Tier. Tiere verhalten sich anders - ehrlicher, anständiger. Für ihn war ich einfach nur ein Loch, irgendein Objekt, in das er sein Ding stecken konnte. Drei Stöße, ein Grunzen, und er war fertig. Kein Wort, keine Geste, nichts. Der Akt war widerlich, aber was darauf folgte, war einfach nur unerträglich. Mein Onkel wusste ganz genau, was er tat, und er hasste sich dafür. Aber was tat er? Er ließ seinen Selbsthass an mir aus. In seinen Augen war ich daran schuld, dass er mich vergewaltigte. Nein, ich wurde nicht geschlagen oder misshandelt - also nicht von ihm - nein, er behandelte mich einfach nur schlecht. Selbst die Magd war besser angesehen, als ich. Immerhin, außer seinen nächtlichen Besuchen rührte er mich nicht an. Da gab es jemand anderen: meine Tante. Sie wusste, was ihr Mann mit mir trieb und machte mich dafür verantwortlich, dass ihre Ehe bisher kinderlos geblieben war. Diese Frau war ein noch größeres Monster, als mein Onkel. Sie schlug mich, sie trat mich, sie riss mich an den Haaren. Irgendein Grund fand sich immer, um mich verbal oder körperlich fertigzumachen. Dexter, ich war doch nur ein Kind, ein junges Mädchen. Weißt du, dass Schönheit ein Fluch sein kann? Trotz der schlechten Behandlung, obwohl ich in den abgewetztesten Lumpen rumlaufen musste, entwickelte ich mich immer mehr zu einem schönen Mädchen. Ja Dex, ich war mal auf eine bäuerlich, natürliche Art schön. Doch diese Schönheit hatte einen Preis. Je älter, reifer und weiblicher ich wurde, desto mehr betrachtete mich meine Tante als Konkurrentin. Was, wenn ich schwanger werden würde? Kinderlosigkeit galt tatsächlich als schlimmeres Los, als ein uneheliches Kind zur Welt zu bringen. Wäre ich von meinem Onkel schwanger geworden, wäre dies der Beweis, dass meine Tante nicht fähig war, Kinder zu empfangen. Mein Onkel hätte die Ehe annullieren lassen können. Verstehst du, zu welcher Gefahr ich damit für meine Tante wurde?«

Statt etwas zu sagen, streichelte Dexter nur mit seiner Hand sanft über Sues, die diese neben sich auf die Parkbank gelegt hatte.

»Ich wurde schwanger.« Sue holte tief Luft: »Und verlor das Kind. Wenn auch nicht freiwillig.«

Schweigen und Stille - viele Menschen und auch Vampire empfinden Stille als drückend und werden zu kopflosen Quasselstrippen, nur um eine ihnen unheimliche Gesprächspause zu vermeiden. Nicht so Dexter und Sue. Gerade für den ehemaligen Cowboy war Schweigen eine Gelegenheit, um sich zu sammeln und seine Gedanken zu ordnen, oder aber, um Sue den Raum zu geben, ohne Druck und in ihrem Tempo die eigene Geschichte zu erzählen.

»Sie, die Frau meines Onkels, stieß mir mit aller Gewalt in den Unterleib. Mehrfach. Und so verlor ich mein ungeborenes Kind. Doch damit nicht genug bezichtigte sie mich, das Kind vorsätzlich abgetrieben zu haben. Ich hätte mich die Stiege zu meiner Kammer heruntergestürzt. Ich glaube, du kannst dir vorstellen, was es damals in einem ebenso tief- wie strenggläubigen katholischen Land bedeutete, abgetrieben zu haben oder auch nur im Verdacht zu stehen?«

Dexter beschlich ein Gefühl von déjà-vu. Er verfügte über eine ziemlich gute Vorstellungsgabe und ahnte, welchen Ausgang Sues Tante für ihre Nichte, respektive Stieftochter, geplant hatte. Dexter hatte am eigenen Leib erlebt, wozu skrupellose Menschen fähig waren, um ihre eigene Machtposition zu sichern. Ihn hatte es vor ein Erschießungskommando gebracht. Und Sue? Wohin hätte sie es gebracht? Mit ziemlicher Sicherheit in die Hände des Scharfrichters und dessen Schwert. Aber so wie Dexter das sechzehnte Jahrhundert einschätzte, stand vor dem kalten Stahl noch eine unerfreuliche Bekanntschaft mit einem Folterknecht. Doch das Schicksal hatte zum Glück andere Pläne. Ohne es zu ahnen, hatte sich ein gewisser Miklas in das junge Bauernmädchen Olga Sobrinsky verguckt. Leider stand zwischen ihr und ihm ein kleines Hindernis. Miklas war ein Vampir.

»Miklas war wirklich total lieb. Wie er mich aus dem Kerker befreite und mir ein neues Leben anbot, war so unendlich lieb und romantisch, wie es sich ein junges Mädchen nur vorstellen konnte.«

War Sues Schilderung bisher von Schmerz und Leid geprägt, wandelte sich der Unterton und nahm eine warme, melancholisch sehnsüchtige, aber auch liebevolle Stimmung an.

»Er war wirklich süß, zudem recht knackig gebaut und hätte mir die Welt zu Füßen gelegt. Aber ich... Ich war ein psychischer Krüppel. Bei der kleinsten körperlichen Berührung rastete ich aus. Aber was tat Miklas? Er blieb geduldig, unvorstellbar geduldig. Tag um Tag, Woche um Woche, Jahr um Jahr kümmerte er sich um mich und half mir, ganz ganz langsam mein Trauma zu überwinden. Und glaub mir, ich habe es ihm wirklich nicht leicht gemacht. Bis es plötzlich bei mir Klick machte und ich meine Vergangenheit abschüttelte. Oh ja, ich habe Miklas geliebt, wirklich geliebt, und er mich. Wir waren über hundert Jahre zusammen. Hundert wirklich erfüllende und wunderschöne Jahre, bis... Naja, es war ein Unfall. Einfach nur ein ganz beschissener, banaler Unfall. Es gab keine Vampirjäger, keine Blutfehde mit einem anderen Haus, sondern einfach nur ein blöder Unfall und Miklas war nicht mehr, entkörpert, zu Asche verbrannt und in alle Winde verweht. Shit happens!«

Bevor Dexter etwas erwiderte, musterte er seine Kollegin: »Das klingt jetzt aber ein wenig zu abgeklärt.«

»Meinst du?«, Sue musste lachen. »Aber leider hast du recht. Nach Miklas Entkörperung war ich reif für einen Neuanfang oder Neustart, wie immer du es auch ausdrücken magst. Die Stammmutter unseres Hauses, die berühmt berüchtigte Markgräfin Charlotte von Tarnobrzeski, oder einfach nur kurz Tante Charlotte, hatte da eine Idee.«

»Berüchtigt?«, hakte Dexter sofort nach.

»Sagen wir, Charlottes Männerverschleiß ist legendär.« Sue zuckte schmunzelnd mit den Schultern: »Sie ist eine Stammesmutter und ein Mitglied des Hohen Rates der Vampire, obwohl sie, soweit ich weiß, von ihrer Mitgliedschaft nur selten Gebrauch macht. Stattdessen amüsiert sie sich mit ihren polnischen Bauernlümmeln. Was meinst du, wie Miklas zum Blutsauger wurde? Aber Charlotte ist nicht eifersüchtig, das war sie nie. Als sie merkte, dass Miklas ein Auge auf mich geworfen hatte, stand sie seinem Glück nicht nur nicht im Weg, sondern gestattete ihm sogar, mich zu verwandeln. Nachdem mein Miklas dann... nun, nachdem er unsere Welt für immer verlassen hatte und eine am Boden zerstörte Olga Sobrinsky zurückließ, war es Tante Charlotte, die mir einen Tapetenwechsel, einen vollkommenen Neuanfang vorschlug: Auswandern. Markgräfin Charlotte von Tarnobrzeski bot mir an, mich aus ihrem Haus zu entlassen, damit ich mir in der Neuen Welt eine neue Existenz aufbaute. Bitte versteh mich nicht falsch, sie hat mich nicht rausgeschmissen. Ganz im Gegenteil bestand Charlotte darauf, dass ich mir ihren Vorschlag ganz genau überlegte und mir ein Jahr Zeit nahm, bevor ich eine Entscheidung traf.«

»Wow!«

Die drei Buchstaben von Dexters Ausruf brachten seine Sprachlosigkeit auf den Punkt, denn mehr fiel ihm einfach nicht ein, was er hätte anderes sagen können. Sues oder besser Olgas Lebensgeschichte mit einem Begriff wie heftig zu beschreiben, hätte es nicht ansatzweise getroffen. Was seine Kollegin, nein eigentlich sogar Freundin, durchstehen musste, war extrem. Oder war sie es nicht? War es das wirklich? Dexter musste an die Umstände seiner eigenen Erweckung denken. Vor ein Erschießungskommando gestellt zu werden, wenn auch bereits als Vampir, konnte durchaus als traumatisch betrachtet werden. Die Umstände, wie es dazu kam, waren es auf jeden Fall.

»Beschädigte Ware, das ist es, was wir sind«, sprach Dexter einen Gedanken aus, der ihm seit einiger Zeit im Kopf rumspukte. »Wie wird jemand zum Vampir?«, führte er seine Überlegungen aus. »Sue, mal ehrlich, wie viele von uns kennst du, der oder die nicht auf die eine oder andere Weise ein Produkt von Gewalt und Tod ist?«

»Hm, nicht viele. Ich glaube, der alte Steuben ließ sich freiwillig verwandeln«, sinnierte Sue. »Wie steht es mit dir?«

»Habe ich das nie erzählt?«, hakte Dexter lächelnd nach. Natürlich hatte er es niemandem erzählt. »Es war im amerikanischen Bürgerkrieg. Mehr oder weniger wurde meine Familie dazu gepresst, dass ich in die Armee der Konföderierten eintrat. Dort machte ich dann die unerfreuliche Erfahrung, dass es eine ausgesprochen dumme Idee ist, seinen Vorgesetzten eines Kriegsverbrechens zu beschuldigen. Statt ihm, brachte es mich vor ein Erschießungskommando. In der Nacht vor meiner Exekution suchte mich ein Vampir heim und verwandelte mich. Die Idioten haben am nächsten Tag einen frisch erweckten Blutsauger erschossen, der aber dermaßen neben sich stand, dass er nichts mitbekam. Willst du mal lachen?«, versuchte Dexter die Stimmung ein wenig zu heben. »Als mich die Kugeln trafen, empfand ich das einfach nur als lästig. Es war zwar Tag, aber total düster. Tiefhängende, schwarze Wolken, aus denen es wie aus Eimern schüttete, schirmten zwar sehr effektiv die Sonne ab, änderten aber nichts an ihrer Wirkung. Ich war fürchterlich müde. Was wusste ich schon von hämophagischer Tagesmüdigkeit? Nichts. Stattdessen ließ ich mich nach den Schüssen erschöpft fallen und pennte ein. Bei dem herrschenden Unwetter hielt sich die Motivation des Erschießungskommandos, meine sterblichen Überreste zu untersuchen, in sehr engen Grenzen. Ein oder zwei stupsten mich wohl mit den Füßen an, um anschließend zu verkünden, dass das Verräterschwein hinüber sei. Ich wurde in einen Sarg verfrachtet und begraben, um in der nächsten Nacht von einem mexikanischen Kerlchen namens Jose, ebenfalls ein Blutsauger, wieder ausgegraben zu werden. Der erklärte mir dann grobschnittmäßig, dass ich von nun an ein Vampir wäre, und textete mich mit den Regeln zu. Das war es dann auch schon.«

»Wie, du weißt nicht, wer dein Schöpfer ist?«

»Nope! Als er mich in meiner Zelle heimsuchte, blieb er die ganze Zeit im Schatten verborgen. Er meinte nur, dass es mein Glückstag sei. Er würde mir Leben und die Möglichkeit schenken, mich bei meinen Freunden zu bedanken.«

»Und, hast du?«, wollte Sue wissen.

»Mich bei meinen Freunden bedankt?« Dexter Hunter Jones lächelte, wie nur Vampire lächeln konnten - mit voll ausgefahrenen Saugzähnen. »Oh ja, und das mit Genuss. Ich war hungrig und habe mich an den Typen richtig sattgetrunken. Jose passte in den ersten Tagen auf mich auf und verhinderte, dass ich meine Appetithappen umbrachte. Es war göttlich zu sehen, wie sich dieses Arschloch von einem Offizier vor mir einpisste. Der Typ dachte, sich wirklich alles erlauben zu können, weil Papa ein sehr einflussreicher Plantagenbesitzer und Politiker der Konföderierten war. Ich habe selbst erlebt, wie er unbeteiligte Zivilisten, einfache Farmer erschoss, nur weil diese ihm nicht ihre letzten Lebensmittel überließen. Manchmal brachte er sie auch nicht um, sondern ließ nur ihre Häuser und Felder niederbrennen und die Frauen und Töchter vergewaltigen - als Erziehungsmaßnahme. Jose brauchte all seine Kraft, um zu verhindern, dass ich diesen Typen komplett auszuzelte. Ich bin nicht stolz darauf, aber zu sehen, wie er bei meinem Anblick die Kontrolle über seinen Körper verlor, tat mir verdammt gut.«

»Ach Dex!«, seufzte Sue und lehnte sich mit ihrem Kopf an seine Schulter. »Wäre ich doch nur ein wenig jünger und du nicht schwul, wir würden gut zusammenpassen.«

Der angesprochene reagierte auf seine Art. Statt mit Worten zu antworten, legte er seinen Arm um Sue und zog sie zu sich heran. Ein ahnungsloser Passant wäre vermutlich von einem ungleichen und unpassenden Pärchen ausgegangen, hätte sich aber sonst dabei nichts gedacht. Vielleicht wären dem einen oder dem anderen Gedanken, wie „Was macht der knackige Kerl mit so einer Frau? Die könnte glatt seine Mutter sein“ gekommen oder umgekehrt „Respekt, wie hat die nur diese Sahneschnitte abgegriffen?“

Weder Sue noch Dexter wusste, was das schmunzelnde Paar dachte, als es ihre Parkbank passierte. Die Nacht war lau, fast warm, der Park war dunkel und die zwei Hämophagen hungrig. Sue grinste breit, fuhr ihre Zähne aus und wandte sich dem ebenfalls dental erigierten Dexter zu: »Überlässt du mir den Typen?«

»Ausnahmsweise«


Eine halbe Stunde später und gut gesättigt waren die beiden Kollegen in das Beratungszentrum zurückgekehrt und hockten hinter ihren Schreibtischen. Während Sue Prescott einige Rechnungen und Anträge auf Unterstützung durchging, trieb Dexter Hunter Jones nach wie vor der ungewöhnliche und alles andere als natürliche Tod seines Freundes Edwin um, so weit sich davon bei Vampiren sprechen ließ. Dazwischen warfen sich die beiden Kollegen vielsagende Blicke zu. Zwischen ihnen hatte sich mit dem Ausflug in den Central Park ein gegenseitiges Verständnis entwickelt, das keiner Worte benötigte.

»Mr. Jones, Mr. Dexter Hunter Jones?« Eine unbekannte Stimme schreckte Dexter auf. Vor ihm stand ein fremder Mann im piekfeinen Maßanzug.

»Ja?«, entgegnete der Mitarbeiter der Beratungsstelle ebenso überrascht, dass jemand seinen vollständigen Namen kannte. Der Mann gegenüber war eindeutig ein Vampir, aber eigentlich niemand, der zum üblichen Klientenkreis ihres Zentrums zählte.

»Mein Name ist Frederic, Arthur Frederic von Caldwell, Humphreys und Jones«, stellte sich der Anzugträger vor, während er eine Ledermappe öffnete, die er bei sich führte, und ihr einen mit Urkundenfaden und Lacksiegel verschlossenen Manilaumschlag entnahm, den er Dexter reichte. »Unser Klient, Mr. Edward Willem Hendrik deFries, beauftragte uns im Falle seiner endgültigen Entkörperung Ihnen dieses Dokument zukommen zu lassen. Weiterhin wurde unsere Kanzlei von Herrn deFries mit der Verwaltung seines Nachlasses und Umsetzung seines Letzten Willens betraut. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie davon in Kenntnis setzen, dass Herr deFries Sie als seinen Alleinerben eingesetzt hat. Wäre es Ihnen möglich, uns in den nächsten Nächten in unserer Kanzlei zu besuchen, damit wir die Formalitäten klären könnten? Hier ist meine Karte.«

»Ähm, ja natürlich«, stammelte ein vollkommen überrumpelter Dexter, der noch damit beschäftigt war, Edward Willem Hendrik deFries als Edwin zu identifizieren. »Ähm, Mr. Frederic? Mit Edward deFries... Meinen Sie damit Ed?«

»In der Tat war Mr. deFries allgemein als Ed bekannt und kultivierte eher einen ... ähm, unkonventionellen Lebensstil. Aber ja, bei der Person namens Ed handelt es sich um Mr. deFries. Wenn das dann alles wäre...?« Arthur Frederic schaute demonstrativ auf seine Armbanduhr und zum Fenster hinaus.

»Oh, ja natürlich. Es ist früh geworden«, erwiderte Dexter, der mit seinen Gedanken noch ganz wo anders war. So bekam er auch gar nicht mit, wie sich der Anwalt von ihm verabschiedete, das Büro verließ und einen verwirrten Cowboyvampir zurückließ.

»Ed hat mich als seinen Erben eingesetzt?«, fragte Dexter niemanden bestimmten.

»Hast du eigentlich einen blassen Schimmer, wer Caldwell, Humphreys und Jones sind?«, wollte eine aufgeregte Sue Prescott wissen.

»Ich nehme an, dass es Anwälte sind, oder?«

»Anwälte? Es sind die Anwälte!«, kreischte Sue hysterisch. Ihr war schon bewusst, dass Dexter nicht unbedingt zu den Leuten zählte, denen Status, Macht und Einfluss etwas bedeutete. Aber so ignorant konnte er doch unmöglich sein, nicht zu wissen, wer Caldwell, Humphreys und Jones waren. Oder doch? Und das nicht nur, weil es sich bei einem von ihnen um einen Namensvetter handelte. Doch wie es aussah, war Dexter Hunter Jones tatsächlich so naiv und ahnungslos. Er hatte nicht den Ansatz einer Idee, dass es sich bei den drei Herren um die Namensgeber einer der renommiertesten, ältesten und einflussreichsten Anwaltskanzlei der gesamten hämophagischen Welt handelte - und der kostspieligsten.

Insbesondere der letzte Aspekt trug dazu bei, dass hinter Edwins Namen noch ein paar mehr Fragezeichen auftauchten und Sues Interesse an dem vermeintlichen Penner weckte. Ein wenig musste sie sich eingestehen, Mr. deFries fälschlicherweise nach seinem Äußeren beurteilt zu haben. Doch wenn er sich die Dienste Caldwells, Humphreys und Jones leisten konnte, musste er über gewisse Mittel verfügen, die ihn im Nachgang in einem ganz anderen Licht erschienen ließen. Außerdem sollten Äußerlichkeiten nicht überbewertet werden. Sue musste wegen ihrer eigenen Scheinheiligkeit den Mundwinkel verziehen und grunzen. War sie wirklich derart materialistisch geworden, dass sie Attraktivität an den Saldo des Bankkontos koppelte?

»In der alten Welt«, begann Sue zu erläutern, »gab es bisher wenige vampirische Anwälte, da die meisten unserer Art Mitglieder eines der hohen Häuser waren. Das hat sich inzwischen ein wenig geändert, denn auch in Europa und Asien gibt es immer mehr freie Hämophagen. Die Rechtspraxis hat sich hingegen kaum geändert. Streitigkeiten werden nach wie vor von den Häusern entschieden. Tante Charlotte war nicht nur meine Stammesmutter, sie war auch die oberste Richterin unseres Clans. Bei Konflikten innerhalb des Hauses sprach sie Recht. Bei Problemen mit anderen Häusern wurde entweder eine Kammer aus drei Ratsmitgliedern einberufen, bestehend aus je einem der betroffenen Parteien und einem unabhängigen Ratsmitglied, der oder die auch den Vorsitz übernahm. Oder, wenn der Fall komplizierter wurde, kam der Fall vor den König.«

»König?«, wollte Dexter wissen. Ja, im Prinzip war ihm bekannt, dass es da einen König der Vampire geben sollte. Aber welche Funktion dieser ominöse König einnahm, war dem bodenständigen Cowboy ziemlich egal und ging ihm am durchaus wohlgeformten, strammen, ja geradezu knackigen Arsch vorbei.

»Oh, Junge, du weißt ja gar nichts!«, bemerkte Sue kopfschüttelnd. »Bis vor fünf Jahren war Graf Breskoff unser König. Er war ein Baku. Genaugenommen war er der letzte Baku.«

»Baku?« Dexter verstand gar nichts mehr.

»Oh, Dexter. Ist dir von unserer Geschichte überhaupt irgendetwas bekannt?« Sue musterte Dexter, der unschuldig blinzelnd mit den Schultern zuckte. »Okay, Cowboy, sag nichts. Es ist früh geworden. Die Sonne geht gleich auf. Du lädst mich jetzt zu dir ein und ich gebe dir einen Crashkurs. Außerdem bin ich neugierig, was in deinem beigen Umschlag ist.«

Stirnrunzelnd überlegte Dexter, ob sich seine Wohnung in einem Zustand befand, die Damenbesuch zuließ. Gedanklich ging er eine improvisierte imaginäre Checkliste durch - Sauberkeit von Bad, Küche und Wohnzimmer, Grad der Unordnung, keine Pornos auf dem Wohnzimmertisch, keine halb ausgezuzelten Blutbeutel, die in der Gegend herumlagen - im Prinzip sprach nichts dagegen, Sue zu sich einzuladen.

»Okay, komm mit!«, verkündete Dexter und klopfte auf den Umschlag. »Ich glaube, ich kann Gesellschaft ganz gut gebrauchen.«

Darren

»Der war lecker!«

Zufrieden und gesättigt leckte sich Marco über die Lippen, um eventuelle Blutreste zu entfernen und nichts von dem kostbaren Saft zu verschwenden. Nach Computershopping und der kleinen Wiedersehensfeier mit Loren waren wir nicht sofort ins Haus zurückgekehrt, sondern hatten stattdessen die Stadt ein wenig unsicher gemacht und waren mehr oder weniger ziellos durch die Häuserschluchten geschlendert. Loren und Jurek wurden nicht müde, uns die touristischen Highlights New Yorks zu präsentieren, was auch die kulinarischen mit einschloss. Marco hatte in einem Medien-MegaStore zugeschlagen, wo, so Tourguide Loren, sich immer nette junge Kerlchen rumtrieben, die unserem Geschmack entsprechen dürften.

Ich gebe es zu. Auch mich plagte ein leichtes Hungergefühl. Meine letzte Mahlzeit bestand aus den Blutbeuteln während des Fluges. Die waren zwar frisch, aber eben doch nur Konserven. Es ging einfach nichts über direkt aus einer Arterie gezapftes. Die ganze Zeit durch die abendlich mit Sonnenlicht erfüllten Straßenschluchten zu schlendern, ließ meinen Magen knurren. Als wir dann an einem der Ladengeschäfte jener sehr körperbetonten amerikanischen Modekette mit den zwei Buchstaben und den leckeren halbnackten Türstehermodels vorbei kamen, musste ich einfach das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.

Mit den letzten fünf Jahren gingen nicht nur ein paar Veränderungen in meinem Wesen einher, die mehr oder weniger meinem neuen Job als Oberblutsauger geschuldet waren. Ich hatte mich auch körperlich verändert, was primär dem rigiden Fitness- und Kampftraining geschuldet war, dem mich Nicholas und Christiano unterzogen. Constantin, mein geliebter Göttergatte, bestand darauf, dass sich sein blondes Engelchen ein paar Muckis erarbeitete. Seine Begründung dafür war interessant: Dass ich mich im Zweifelsfall selbst verteidigen könnte, stand bei meiner Präposition außer Frage. Immerhin handelte es sich bei mir um einen direkten Abkömmling der Hati, dem Löwengeschlecht der ursprünglichen vampirischen Blutlinien. Nur sah ich nicht danach aus. Auf einen unbefangenen Betrachter wirkte ich nicht sonderlich bedrohlich. Dabei war ich problemlos in der Lage, selbst einen Haufen Seals locker zu Kleinholz verarbeiteten konnten, ohne dabei sonderlich ins Schwitzen zu geraten. Aber wer würde solche Fähigkeiten bei einem blondgemähnten, hageren und schlaksigen Kerlchen vermuten? Richtig: niemand, was mich, so Nicholas und Constantin unisono, potenziell in Gefahr brachte und zum vermeintlich leichten Ziel eines Überfalls abstempelte. Um gar nicht erst in diese Situation zu geraten, sollte ich mir ein wenig Muskelsubstanz antrainieren.

»Außerdem dürftest du mit ein paar Brustmuskeln und der Andeutung eines Sixpacks noch tausendmal geiler aussehen«, fügte Constantin verschwörerisch und unverhohlen lüstern hinzu.

Nach Jahren des Trainings betrat ich entsprechend gut gebaut das schummrige und mit lauter Musik beschallte Etablissement des amerikanischen Bekleidungshändlers, der sowohl für die großformatigen Werbeplakate mit seinen halbnackten männlichen Models als auch für seine körperakzenturierenden Schnitte berüchtigt war. Mir die dargebotenen Waren anschauend, schlenderte ich durch die angenehm dunklen Räume, schaltete meinen Vampirruf ein und genoss es, wie mehr als ein lüsterner Blick attraktiver College-Bengel Marke All-American-Boy auf mir zu ruhen kamen.

»Kann ich dir helfen?«

Sein Name lautete Darren. Das behauptete zumindest das Namensschild an seiner Brust. Darren verkörperte im Wortsinn die Grundidee des Marketingkonzepts des Ladens, bei den Verkäufern, den Mädels genauso wie den Jungs, nur ausgenommen augenfreundliches Personal zu beschäftigen und sie mit den Produkten des Unternehmens einzuhüllen. Letzteres aber nur sparsam. Darrens Hemd stand so weit offen, dass ich seine wohlgeformte Brust bewundern konnte und mir unwillkürlich über die Lippen lecken musste. Es erforderte ein gerütteltes Maß an Konzentration, nicht die Zähne auszufahren. Das Verkäufermännchen interpretierte meine Geste als Einwilligung, mit seinen Annäherungsversuchen fortzufahren. Offensichtlich gefiel ich ihm.

»Ich glaube, dieses Shirt könnte dir richtig gut stehen. Dazu diese Cargopants und... Ach, warum probierst du es nicht einfach mal an?«

Sprachs und führte mich in den hinteren Teil des Shops zu den weniger häufig genutzten Anprobekabinen. Dort angekommen zog er den Vorhang zurück und schob mich hinein. Statt nun aber den Vorhang von außen zu schließen, schlüpfte er mit hinein und zog ihn erst hinter sich zu. Darren lächelte mich an und zog mich gleichzeitig mit seinen Blicken aus. Nun, er hatte mit dem Spiel angefangen, warum also aufhören? Demonstrativ langsam zog ich mein T-Shirt aus und entblößte meinen Oberkörper. Verkäuferbengel Darren japste nach Luft und leckte sich nun seinerseits über die Lippen.

»Die Hose auch?«, wollte ich in der coolsten mir möglichen Stimmlage vom Bekleidungsfachverkäuferkerl wissen. Der konnte nur schlucken und nicken. Ein paar Sekunden später hatte ich meine Schuhe abgestreift, meine Jeans fallengelassen und war aus deren Beinen gestiegen. Ich stand vor Darren mit nicht mehr als einem Paar schneeweißer Retropants und Sneakersocken bekleidet. Der Mann sabberte. Er tat dies, ohne dass ich mit meinem Vampirruf nachhelfen musste und ihn einen Moment später der Mut verließ. Statt lüstern schaute er mich nun unsicher an. Ich griff nach seiner Hand und drückte sie gegen meine Brust. Dies wirkte wie ein Weckruf und eine Initialzündung zugleich. Darren ging auf Tuchfühlung. Wobei... Tuch hatte ich doch gar keines mehr an. Während ich mich noch fragte, ob in der Umkleide illegalerweise wohl Kameras versteckt sein könnten, gingen meine Hände auf Wanderschaft, schoben sich unter sein Shirt und umschlangen seinen Körper. Ich zog Darren zu mir heran, obwohl es da wenig zu ziehen gab. Ganz im Gegenteil schmiegte er sich an meinen Körper, drückte sein Becken gegen meines. Der Kerl war erregt, sprich mit einer veritablen Erektion gesegnet. Ich muss gestehen, dass mir der Mann gefiel. Darren fiel voll in mein Beuteschema, und das sowohl kulinarisch als auch sexuell. Manch einer wird sich vielleicht fragen, wie ich es mit meiner Treue zu Constantin in Einklang bringen konnte, mit einem fremden Kerlchen rumzumachen. Nun ja, Sex gehört zu unserer Kultur. Unsere Nahrungsaufnahme, die Penetration mit unseren Zähnen, hatte etwas von einem sexuellen Akt und unsere Nahrungslieferanten waren beim Akt hochgradig erregt. Aber es war im Allgemeinen keine Liebe, sondern bestenfalls Zuneigung, die wir empfanden - von Ausnahmen abgesehen. Außerdem verband Constantin und mich weit mehr, als schnöde Körperlichkeit. Irgendjemand hatte vergessen, uns das Kleingedruckte zu zeigen, als wir das Ritual des Erdblutes vollzogen. Wer hätte das gedacht, aber das Band, das wir miteinander knüpften, ließ sich nicht wieder lösen - ewige Liebe.

Was Darren betraf, dem brachte ich definitiv Zuneigung entgegen, vielleicht sogar ein wenig mehr. Er war knuffig und, soweit meine Vampirsinne nicht trogen, wohl auch ganz nett. Ein gerader und aufrechter Kerl - und ein lüsterner. Der Mann war etwas größer als ich, was es ihm erleichterte, seinen Kopf dichter an mich zu bringen. Fast hätte ich gelacht, als Darren begann, an meinem Ohrläppchen zu knabbern und mir über den Hals zu lecken. Meine Zähne fuhren aus. Ich war kurz davor, zuzubeißen, als...

»Wir werden beobachtet«, flüsterte mir Darren ins Ohr. »Sie wissen, was du bist. Ich muss mit einem eurer Anführer sprechen. Viele Leben hängen davon ab. Jetzt beiß mich, damit sie keinen Verdacht schöpfen!«

Zu verdattert, um das Risiko zu erkennen, in dem ich mich potenziell befand, bohrte ich Darren meine Zähne in den Hals und trank von ihm. Es war nicht viel. Etwa hundertfünfzig Milliliter. Aber es reichte, um mich zu sättigen und meinem Blutspender ein glückliches Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Dem Duft nach, der seinem Schritt entströmte, hatte mein Bekleidungsverkäufer seine Boxershorts durchfeuchtet.

»Wow, du bist ja krass. Megageil!«, raunte mir Darren zu, während er sich noch etwas fester an mich presste. Ich dachte schon, der Kerl wollte sich einen sexuellen Nachschlag holen, und teilweise traf das auch zu. Doch dann fühlte ich, wie er massiv auf Tuchfühlung ging und zwei Finger seiner rechten Hand mir etwas in den Bund meiner Retropants schoben.

»Danke, das war nett!«

»Ich habe zu danken«, erwiderte ich und begann die Klamotten anzuprobieren, die wir mit in die Kabine genommen hatten. Sie passten perfekt. Darren schüttelte ungläubig den Kopf.

»Was?«, wollte ich schmunzelnd wissen. »Ich wollte mir ein paar Sachen kaufen. Echt!«


»Oh, du hast ja nette Beute gemacht«, begrüßte mich Loren gut gelaunt, kaum dass ich das Geschäft verlassen hatte. Mein Abendbrot mochte auf eine beunruhigende und vielleicht sogar gefährliche Situation hingewiesen haben, aber dies hieß noch lange nicht, dass ich mir deswegen die Kauflaune vermiesen lassen musste. Ganz im Gegenteil: Wenn seine Andeutung in irgendeiner Weise substanziell begründet war und somit etwas zu bedeuten hatte, dann wäre es ziemlich dämlich, mir irgendetwas anmerken zu lassen, etwa indem ich ein verändertes Verhalten an den Tag legte, das vermuten ließ, es könnte irgendetwas vorgefallen sein. Statt also mit überraschend vorsichtigem oder gar alarmiert wirkendem Verhalten Aufmerksamkeit zu erregen, präsentierte ich mich ausgesprochen entspannt und zeigte stolz und breit grinsend meine Papiertüten vor.

Ich ließ mir nichts anmerken. Ich widerstand sogar der Versuchung, in einer dunklen Straßenecke mit meinen Fingern in meiner Unterhose zu angeln und zu schauen, was mir Darren hineingeschoben hatte. Genauso hätte ich mich gerne nach denjenigen umgesehen, die uns angeblich beobachteten. Aber genau das wäre natürlich der größte Fehler überhaupt. Also spielte ich den gut gelaunten Stammvater und wartete geduldig, bis wir eineinhalb Stunden später in den Schutz unseres Hauses zurückgekehrt waren.

»Habt ihr noch einen Moment?«, fragte ich, während ich meine Einkaufstüten in den Flur stellte, wohlwissend, dass es alles andere als eine Frage war. Loren, Jurek, Nicolas und Marco sahen mich fragend und überrascht an. »Und wenn wir schon dabei sind«, fuhr ich ernst fort und steigerte damit die Verwunderung und Spannung in unbekannte Höhen, » holt bitte Simon, Christiano, Basti und Phillip dazu. Ich befürchte, wir haben ein Sicherheitsproblem. Loren, gibt es in diesem Haus einen Raum, der für uns alle groß genug und abhörsicher ist?«

»Ja, dein Büro.«

»Mein, ähm Büro?« Ich hatte ein Büro? Cool, aber eigentlich nicht überraschend. Ich musste mir nur in Erinnerung bringen, dass ich der Vorturner dieser Bande war. Natürlich hatte ich ein Büro. »Okay, also in meinem Büro.«

Eins musste ich Loren lassen. Sie kannte mich besser, als ich dachte. Die Einrichtung meines Arbeitszimmers entsprach ziemlich genau meinem Geschmack. Ich hätte mich sogar darüber gefreut. Leider war ich viel zu nervös und aufgeregt, als dass ich in der Lage gewesen wäre, das Interieur angemessen zu würdigen. Stattdessen angelte ich mit meinen Fingern nach dem, was mir Darren in die Unterhose geschoben hatte. Nach der Textur des Materials zu urteilen, schien es ein Zettel zu sein, den ich aber vorerst in meiner Hand behielt, da sich im gleichen Moment der Raum mit meinen Leuten füllte.

»Flo?«, verlieh mir Nicolas das Wort, kaum dass wir vollzählig waren.

»Vorhin ist etwas vorgefallen, das mich... nun, sagen wir, beunruhigt«, begann ich mein merkwürdiges Verhalten zu erklären. »Der Verkäufer im Klamottenladen wusste nicht nur, was ich bin, sondern will auch jemanden treffen, der in unseren Kreisen etwas zu sagen hat. Einen unserer Anführer. Er meinte, wir würden beobachtet und steckte mir dies zu.«

Ich hielt den Zettel hoch, entfaltete ihn und las vor, was darauf stand. Es war eine Nummer. Ich kannte mich zwar nicht mit dem amerikanischen Telefonnummernschema aus, vermutete aber, dass es sich bei der auf dem Zettel um eine Rufnummer handelte.

»Er hat dich als Vampir erkannt?«, wollte Christiano wissen. »Hat er deine Zähne gesehen?«

»Nein!« Ich schüttelte den Kopf. »Die hatte ich noch gar nicht ausgefahren. Er schien ganz genau zu wissen, was ich von ihm wollte. Er forderte mich sogar auf, ihn zu beißen, um keinen Verdacht zu erwecken. Er war clean und schmeckte gut. Ich hatte tatsächlich überlegt, ob es eine Falle sein könnte und der Typ vielleicht vergiftet war. Ich bin nicht sonderlich telepathisch begabt, aber ich konnte fühlen, dass er mich nicht anlog, davon überzeugt war, clean zu sein und die Sache mit der Überwachung absolut ernst meinte.«

»Das ist ernst. Das ist richtig ernst«, meinte Nicolas und erntete von Christiano ein ebenso nachdenkliches wie zustimmendes Nicken. »Loren, weißt du etwas davon, dass hier in New York Menschen von unserer Existenz wissen?«

Bevor sie antwortete, wog die Angesprochene ihren Kopf hin und her: »Jein. Wir waren kaum in New York, hier im Haus angekommen, da wurden uns Gerüchte zugetragen, dass es Menschen gäbe, die nicht nur von unserer Existenz überzeugt wären, sondern die gezielt unsere Nähe suchen und uns verehren. Anfangs meinten alle, die ich befragte, dass es sich wirklich nur um ein Gerücht handeln soll und niemand tatsächlich einem dieser Vampirgroupies begegnet sei. Allerdings ist es schwierig, wirklich an gesicherte Informationen zu gelangen. Die Vereinigten Staaten sind nicht Europa. Hier gibt es keine hohen Häuser, vom alten Steuben einmal abgesehen. Aber der gilt quasi als Exot, als Relikt einer anderen Zeit und Welt. Genauso wie wir. In dieser Stadt leben acht Millionen Menschen. Davon sind rund zweitausend Vampire. Steubens Haus zählt soweit ich weiß zweiunddreißig Leute, wir sind acht. Außer uns und Constantin unterhält kein anderes Haus eine Dependance. Das heißt umgekehrt, dass mehr als fünfundneunzig Prozent der Vampire New Yorks freie, ungebundene Bürger sind. Sie fühlen wie Amerikaner, sie denken wie Amerikaner und sie leben wie Amerikaner. Es sind Amerikaner oder konkret US Citizens. Die Leute leben halt in einer hämophagischen Community, so wie es eine black, hispanic, italian, irish, gay, islamic, transgender, chinese oder jewish community gibt. Nun, die Hämophagen machen es wie alle anderen auch. Sie helfen sich untereinander. Sie unterhalten sogar ein info- and support center.«

»Ein was?«, hakte ich nach.

»Eine Beratungsstelle für Hämophagen«, wiederholte Loren. »Sie helfen bei Problemen, die mit unserer Lebensweise einhergehen. Wie verhindert man, dass die Steuerbehörde auf einen aufmerksam wird? Wie sorgt man für ein auskömmliches Einkommen? Wie für eine Wohnung? Oder ganz generell, wie lebt man als Vampir in einer Stadt wie New York. Flo, du musst bedenken: Wenn du in unserer feudalen Welt gebissen und in einen Hämophagen verwandelt wirst, fällst du zwar nicht notwendigerweise weich, aber auf jeden Fall in ein Netz, welches dich auffängt. Okay, bei van Sanden mag es aus Stacheldraht gespannt sein, damit du gleich weißt, wo dein Platz ist, aber der Punkt ist, dass es Leute gibt, die dich verstehen und dir zeigen, wie dein neuer Körper funktioniert, worauf du achten musst, halt alles, was für unsereins wichtig ist.«

»Ich verstehe«, erwiderte ich nickend. »Kein Haus, kein Stammvater, also auch kein Schutz. Jedenfalls dann nicht, wenn man es nicht anders organisiert. Ich bin kein Experte in vampirischem Recht. Weiß jemand, wie die Krone zu freien Vampiren steht? Was sagt der Kodex?«

»Ich glaube, da kann ich etwas beitragen«, nahm Nicolas den Faden auf. Während seiner Zeit im Kloster war er als Historiker und Politikwissenschafter tätig. Seit wir uns gemeinsam einem etwas bizarren Ritus unterzogen hatten, zählte der Mann zu meinen Leuten. Genaugenommen war er das erste Mitglied meines Hauses. Noch genauer entstanden mein Haus und er im gleichen Prozess des Rituals. Nicolas war mit mir auf eine Weise verbunden, an die selbst Constantin nicht herankam. Es lag einfach auf der Hand, Nicolas zum Marschall des Hauses zu ernennen, auch wenn mir damals nicht vollkommen bewusst war, was dieser Titel eigentlich bedeutete. Ich ging immer davon aus, er sei primär militärischer Natur. Aber da hatte ich mich geirrt. Constantin erklärte mir, dass sein Marschall, Laurentius, viel mehr sei, als nur der exekutive Arm seines Hauses. Der Mann war Berater, Freund und Gewissen zugleich. Er behielt die Details im Auge, verwandelte Constantins Ideen erst in Strategien und dann in Realität. Er wusste ganz genau, wo auf dem Weg dorthin die Fallstricke und Stolperstellen lauerten. Und bei all dem war Laurentius immer die Ruhe selbst. Er pflegte einen Minimalismus, den er zu Perfektion und Markenzeichen zugleich getrieben hatte: Laurentius trat immer perfekt, aber minimalistisch auf. Seine Mimik, seine Gestik, seinen ganzen Habitus hatte er auf ein Mindestmaß reduziert und trotzdem konnte er mit einem nur angedeuteten Zucken des Endes einer Augenbraue mehr sagen, als den meisten anderen nicht mit tausend Worten möglich war.

Nicolas war nicht Laurentius. Ihr Wesen, ihre Art, ihr gesamtes Auftreten war vollkommen unterschiedlich. Trotzdem waren sich die beiden ähnlich. Unterschiedliche Wege, das gleiche Ziel. Auch Nicolas strebte Perfektion an, und wenn ich ihn mir ansah, war er dem Ziel schon verdammt nahgekommen.

»Die Krone sorgt für das Recht. Du, mein lieber Florian, bist die letzte Instanz, der oberste Richter. Dein Urteil ist endgültig. Es ist Gesetz. Ob freier Vampir oder Mitglied eines Hauses, jeder hat das Recht, die Krone anzurufen und du die Pflicht, diesem Ruf Gehör zu schenken. Soweit die Theorie. In der Praxis sieht es etwas anders aus. An wie viele Fälle kannst du dich in den letzten fünf Jahren erinnern, in denen du von freien Vampiren angerufen wurdest?«

»Öhm« Ich musste passen und zuckte mit den Schultern. »Viele waren es nicht. Lass mich überlegen. Normalerweise muss ich einmal im Monat zu Gericht sitzen. Pro Sitzungstag haben wir zwei, höchstens drei Fälle. Mit ein paar Extratagen komme ich auf vielleicht dreißig Fälle pro Jahr. Wenn ich schätzen sollte, würde ich auf zwei Fälle tippen, in denen freie Vampire vor mir standen.«

»Nicht schlecht, Flo. Es waren tatsächlich vier«, klärte uns Nicolas auf. »Der Punkt ist: Es kommt vor, zwar selten, aber es kommt vor. Selbst unsere stolzen und auf ihre Freiheit so erpichten Amerikaner erkennen die Krone als oberstes und finales Gericht an. Auf die Autorität der Häuser würde ich hingegen nicht bauen, die zählen hier nicht viel, vom alten Steuben einmal abgesehen. Der wird respektiert, weil er...«

»...anders ist«, führte Loren Nicolas Gedankengang fort. »Eine meiner ersten Amtshandlungen bestand darin, mich ihm brav vorzustellen. Ein ganz offizieller Antrittsbesuch. Da fällt mir ein, dass die Krone - also du - zu einem Festbankett eingeladen wurde.«

Mir war schon vor unserer Abreise klar, dass ich um einen Besuch des Hauses Steuben nicht herumkommen würde. Begeistert war ich trotzdem nicht. Auf der anderen Seite konnte ich mich kaum beschweren. Ich hatte die Königswürde freiwillig angenommen. Niemand hatte mich dazu gezwungen. Da konnte ich jetzt kaum kneifen, nur weil mir die Aufmerksamkeit für meine Person zuwider war.

»Was dieses Beratungszentrum betrifft...« Mir kam da eine Idee. »Mir gefällt das Konzept. Die Leute helfen sich selbst. Aber wie ich solche Organisationen kenne, dürfte deren finanzielle Ausstattung alles andere als üppig sein. Könnte die Krone helfen?«

»Nein«, erklärte Nicolas, »Das würde die Neutralität der Krone gefährden. Allerdings spricht nichts dagegen, wenn das Haus Margaux eine philanthropische Ader an sich entdeckt.«

»Ähm«, schaltete sich nun Marco in die Diskussion ein, »genaugenommen, hat das Haus Margaux seine Ader schon vor einer Weile entdeckt. Loren hatte dieselbe Idee und einen Etat beantragt. Da du ihr freie Hand bei der Führung dieses Standorts gegeben hast, sahen wir keinen Grund, ihr den Posten zu verwehren.«

Was bei jedem anderen wie eine Rechtfertigung klang, war bei Marco einfach eine Feststellung, eine Information, um mich auf den Stand der Dinge zu bringen. Das war das Problem mit der Führung eines Hauses. Entweder kümmerte ich mich um jeden Scheiß, behielt dabei aber auch die volle Kontrolle über alle Entscheidungen, oder ich gab Verantwortung ab, was aber umgekehrt bedeutete, nicht mehr über jedes einzelne Detail informiert zu sein. Nun, andere Häuser mochten Verfechter des Mikromanagement sein und ihre Untergebenen zu reinen Befehlsempfängern degradieren, ich wollte selbstbewusste Familienmitglieder, die eigene Entscheidungen wagten und notfalls dabei auch riskierten, hin und wieder einen Griff ins Klo zu landen. Einer meiner besseren Berufsschullehrer während meiner Lehre als Tischler hatte es auf den Punkt gebracht: »Lernen kann man nur durch Fehler.« Mir gefiel Lorens Vorgehen. Sie hatte keine Angst, sich auch mal eine blutige Nase zu holen. Dafür zeigte sie aber auf eine Weise Initiative, wie ich sie mir von einer Leiterin einer meiner Hausniederlassungen wünschte. Wenn sie der Meinung war, es sei sinnvoll, das Beratungszentrum zu unterstützen, dann hinterfragte ich ihre Entscheidung nicht, sondern schenkte ihr meine volle Unterstützung.

»Sehr gut«, lobte ich Loren, Marco und indirekt auch meinen Vater. Er und mein Exkollege hatten das Management der Finanzen des Hauses Margaux übernommen. Was mein Vater an kaufmännischem Fachwissen einbrachte, wurde von Marco um die spezifischen hämophagischen Aspekte angereichert.

Mein Vater - da stand noch ein riesiger rosa Elefant mitten im Raum, den wir, er und ich, seit nun mehr fünf Jahren geflissentlich ignorierten. Der Mann war ein Mensch und in den fünf Jahren um dieselbe Zahl an Jahren gealtert. Ich hingegen war ein Vampir und körperlich immer noch der neunzehnjährige Bengel, der ich vor fünf Jahren war. Ich konnte sehen, wie er alterte, und wagte es trotzdem nicht, ihm die Frage der Fragen zu stellen.

Wovor hatte ich Angst? Dass er Nein sagte, oder gar, dass er Ja sagen könnte? Wie lange konnten wir der Frage noch aus dem Weg gehen? Die Antwort war einfach: gar nicht. Ich musste das klären, sobald wir aus New York zurückgekehrt waren.

»Flo, könntest du mir den Zettel mit der Rufnummer geben?«, riss mich Jurek aus meinem spontanen Tagtraum.

»Ja, natürlich. Aber was hast du vor?«

Einiges, um es gelinde zu sagen. Ich hatte ja keine Ahnung, was Loren in den fünf Jahren in der Stadt getrieben hatten. Offensichtlich nannte das Haus Margaux ein paar sehr interessante Unternehmungen sein eigen, die sogar recht nette Profite abwarfen. Eine dieser Firmen hörte auf den typisch vampirischen Namen »Dark Sentinel Inc.« und bediente ein uramerikanisches Bedürfnis: Das Verlangen nach totaler Sicherheit oder, um es europäisch zynisch zu betrachten, der Befriedigung der Fiktion von totaler Sicherheit. Es war eine Binsenweisheit, dass die Terroranschläge des 11. Septembers tiefe Narben in der Psyche des amerikanischen Volkes hinterlassen hatten. Niemand mit Herz und Verstand blieb davon unbeeinflusst. Allerdings hatte sich die Erfahrung in „Gods own country“ zur Paranoia weiterentwickelt. Für den reinen Anschein von Sicherheit war ein ganzes Volk kollektiv bereit, seine Freiheit zu opfern, indem es begann, alles und jeden überall zu überwachen: Mit Kameras in allen Ecken und Winkeln der Stadt, mit Spähprogrammen auf den Servern des Internets, mit Sprachanalysesystemen in den Vermittlungsstellen der Telefongesellschaften. Aber Amerika wäre nicht Amerika, hätte es aus dem Überwachungswahn nicht ganz konsequent auch ein Geschäft gemacht. Natürlich waren es privatwirtschaftliche Firmen, die die Überwachungssysteme im Auftrag der Regierung entwarfen, aufbauten und am Ende auch betrieben. Wer Gefängnisse oder die Steuerfahndung in die Hände börsennotierter Firmen übergab, machte doch nicht bei der Ausspähung seiner Bürger davor halt. Dafür gab es Dienstleister, zum Beispiel »Dark Sentinel Inc.«. Wie ich von Jurek erfuhr, war unsere Firma mit dem Betrieb der Überwachungskameranetzwerke von NYPD, MTA und unzähligen anderen staatlichen Organisationen betraut. Daneben boten wir den gleichen Dienst auch privaten Firmen und Organisationen an.

»Wir sind auch Technologiedienstleister für so ziemlich alle Mobilfunknetzbetreiber«, fügte Jurek schmunzelnd hinzu und begann die Rufnummer des Bekleidungsverkäufers in ein Programm auf seinem Tablet einzugeben. Im gleichen Moment verschwand die Wandverkleidung über dem Kamin meines Büros und gab den Blick auf einen Großbildmonitor frei. Der schaltete sich ein und zeigte wenig später eine Karte New Yorks.

»Okay, die Nummer gehört einem Darren McClusky. Sein Mobiltelefon ist eingeschaltet«, erklärte Jurek, während die Karte auf immer höhere Vergrößerungsstufen wechselte. »Ah, wie ich sehe, ist er ein echter Chelsea-Boy. Klischeehafter geht es wohl kaum.«

Mein fragender Gesichtsausdruck blieb nicht unbemerkt, sodass Jurek ein paar erläuternde Worte zum sozialen Umfeld im besagten Stadtteil seiner Feststellung hinzufügte. Chelsea, das war einer der Borroughs New Yorks mit einem der höchsten Anteilen gut gebauter Jungs mit alternativen Lebensentwürfen, wie es in den besseren Kreisen vornehm formuliert wurde. Anders ausgedrückt: In Chelsea hatte sich in den letzten Jahrzehnten eine Subkultur muskelbepackter und körperfixierter Schwuppen ausgebildet, dass dem unbedarften Betrachter der Gedanke kommen konnte, die Typen könnten einer Klonfabrik entsprungen sein. Doch wenn auf eins Verlass war, dann auf die Gabe der queer community sich ständig neu zu erfinden und permanent dem nächsten Trend hinterher zu hecheln. Die Typen liefen zwar immer noch tagtäglich in die Muckibude, allerdings hatte die ganze Sache eine entspanntere Tonlage angenommen. Dogmatismus war out. Der Körperkult wurde legerer gehandhabt, Piercings, die noch vor ein paar Jahren Pflicht waren, wollte Mann In sein, wurden wieder entfernt und die alten Tattoos künstlerisch übermalt. So wie Jurek die Subkultur beschrieb, entsprach mein Verkäuferkerlchen exakt dem neuen Archetypen des modernen urbanen Schwulen.

»Soweit ich das sehen kann, scheint dein Darren sauber zu sein. Das Mobiltelefon zur Nummer befindet sich, nach den Positionsdaten seines GPS-Empfängers in einem unverfänglichen Wohnhaus. Ich kann es dir ganz genau sagen, wenn du ihn anrufst.«

Während ich mir noch die moralischen Aspekte unserer ziemlich weitreichenden Überwachungsmöglichkeiten durch den Kopf gehen ließ, hatte mein Unterbewusstsein bereits eine Entscheidung getroffen. Meine linke Hand hatte nach meinem Mobiltelefon gegriffen und damit begonnen, die Ziffern der Rufnummer einzutippen. Ich gönnte mir noch eine Sekunde Bedenkzeit, dann berührte ich den grünen Wahlbutton auf dem Touchscreen.

»McClusky«, meldete sich wenige Sekunden später eine Stimme, die unverkennbar Darrens war.

»Ich habe deinen Zettel gefunden«, antwortete ich, ohne meinen Namen zu nennen. »Du wolltest jemanden sprechen.«

»Nicht am Telefon. In einer halben Stunde im Chelsea Park an der Statue.«

Jäger

Mit Sonnencreme war es nicht getan. Tavin drückte Bjarni ein ganzes Sammelsurium an Ausrüstungsgegenständen in die Hände, damit sich dieser sonnentauglich machen konnte. Neben Schutzhandschuhen, lichtdichter Kleidung und Sonnenbrille, enthielt es auch eine Kopfbedeckung mit Nackenschutz, Kontaktlinsen und sogar lichtdichte Schuhe und Socken.

»Du willst wirklich rausgehen?«, wollte Bjarni ungläubig wissen. Noch vor wenigen Sekunden konnte Tavin nicht aufhören, seiner ebenso jungen wie unerfahrenen Schöpfung die Wichtigkeit von Diskretion und Heimlichkeit einzubläuen, und nun wollte er tatsächlich im Lichte des Tages aktiv werden und die Offenbarung ihrer Identität riskieren. Warum?

»Es ist nicht nur wegen Atli, oder?«

»Jein«, erwiderte Tavin und lud seine Pistole durch. »Dir liegt Atlis Wohlergehen am Herzen. Nun, mir auch. Wenn auch aus anderen Gründen als dir. Wenn Vampirjäger Jagd auf Menschen machen, müssen sie an etwas extrem wichtigem dran sein.«

»Wieso?«, hakte Bjarni nach. Tavin seufzte, stopfte sich seine eigene Schusswaffe in die Kutte und begann die Falltür zu öffnen, die ihren Unterschlupf mit dem tarnenden Betonwürfel verband.

»Weil sie mit uns etwas gemein haben«, kam als verblüffende Antwort. »Geheimhaltung und Diskretion - bei Vampirjägern handelt es sich um eine straff hierarchisch organsierte Bruderschaft, die uns seit Jahrhunderten verfolgt. Warum sie es tun? Weil sie uns als eine Perversion der Natur betrachten, eine Ausgeburt der Hölle oder schlichtweg als die Personifizierung des Bösen. So steht es jedenfalls im Verkaufsprospekt, mit dem sie ihre ebenso jungen wie ahnungslosen Rekruten ködern. Die Wahrheit ist deutlich profaner. Während die Adepten und unteren Chargen nach Strich und Faden darauf dressiert werden, uns als sadistische, grausame und erbarmungslose Bestien zu betrachten, die es mit allen Mitteln zu exterminieren gilt, geht es der Führung um etwas ganz anderes - um Macht und Einfluss. Stell dir einfach ein paar Handvoll Personen vor, die über eine weltweit verteilte Elitetruppe verfügt, die ohne Skrupel, Zögern oder Zweifel an der Sache alles macht, was man von ihr verlangt. Du hast die Ausrüstung der Typen gesehen. Die bekommst du nicht im nächsten Elektronikmarkt. Das Zeug ist Hightech, das modernste und beste was in diesem Bereich zurzeit existiert. Es kostet ein Vermögen und trotzdem sind das nur Peanuts zu dem, was die Vampirjäger auf der hohen Kante haben.«

»Woher stammt das Geld?«

»Von Leuten, die sich nicht die Finger schmutzig machen wollen: Kirchen, Geheimorganisationen, Regierungen, Großkonzernen und zuweilen sogar Vampiren.«

»Vampiren?«

»Wie kämpft man gegen einen gegnerischen Clan, ohne sich selbst zu exponieren?«, gab Tavin zu bedenken. »Allerdings stellt dies mit das schwerste Verbrechen dar, das ein Vampir begehen kann. Kein Verrat wiegt schwerer, als die Kollaboration mit dem Todfeind.«

Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Tavin bedachte Bjarni mit einem prüfenden Blick. Ja, der Isländer war bereit. Ohne Worte und nur mit einem entschlossenen Nicken kletterten die beiden Nosferatu die Metallleiter hoch, hielten kurz inne und öffneten die Tür des Betonbunkers. Sonnenstrahlen fluteten die Notunterkunft. Bjarni grunzte. Er hatte nicht damit gerechnet, wie intensiv das Zentralgestirn auf seinen veränderten Körper wirkte. Tavin wirkte dagegen deutlich abgebrühter. Mit stoischer Ruhe sichtete er die Lage, wog seinen Kopf hin und her und begann dann, einen Schalldämpfer auf seine Schusswaffe zu schrauben.

»Du wartest hier!«, befahl Tavin in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. »Sollte die Scheiße überkochen, nimmst du deine Beine in die Hand und verschwindest! Schau nicht zurück! Kümmere dich um nichts und niemanden, sondern fliehe!«

Die Ansage seines Schöpfers war eindeutig und ließ Bjarni ebenso schlucken, wie der Ernst und die Entschlossenheit, mit der der erfahrene Nosferatu vorging. Sein ganzes Verhalten machte deutlich, dass es um weit mehr ging, als ein paar Vampirjäger aufzuhalten oder Atlis Einsatztrupp zu retten. Doch unabhängig davon, wie wichtig seine Aufgabe auch sein mochte, vergaß Tavin zu keiner Sekunde den ehernen Grundsatz der Nosferatu: Unauffälligkeit. Die Sonne war eben erst aufgegangen und stand zu dieser Tages- und Jahreszeit noch sehr tief, was lange Schatten und harte Kontraste zwischen den angestrahlten und noch in Dunkelheit liegenden Bereichen des Platzes sorgte. Fasziniert verfolgte Bjarni, wie Tavin von Schatten zu Schatten huschte und dabei mit ihnen regelrecht verschmolz. Wenn Bjarni den Pfad seines Lehrers richtig interpretierte, versuchte der sich nicht nur hinter die Vampirjäger zu manövrieren, sondern auch auf eine Linie zwischen ihnen und dem kleinen NATO-Trupp zu kommen. Kaum hatte er dies erreicht, fiel ein einzelner Schuss - und verfehlte gerade eben Atlis Einsatztrupp, der dabei war, vollkommen ahnungslos in den Hinterhalt der Vampirjäger zu tappen.

Was folgte, war antrainierte Routine. Der IFOR-Trupp ging sofort in Deckung und begann, die Umgebung abzusuchen. Umgekehrt brach bei den beiden Vampirjägern panischer Aktionismus aus. Mit Blutsaugern mochten sie sich auskennen, mit Menschen offenbar nicht. Statt sich ruhig zu verhalten und so irgendwie aus der Situation rauszukommen, nahmen sie die NATO-Männer unter Beschuss. Wobei, was hieß schon Beschuss? Sie hielten einfach ihre Waffen in ihre ungefähre Richtung und feuerten drauf los.

Das war dann auch das letzte, was diese Jäger taten. Die Profikräfte des IFOR-Trupps brauchten keine zwei Minuten, um nicht nur die beiden Männer, sondern auch ihren Späher auf einem der Hausdächer auszuschalten. Während dieses kleinen Feuergefechts schaffte es Tavin tatsächlich, zum Trafobunker zurückzukehren. Er schlüpfte hinein und schloss die Tür hinter sich.

»Fuck!«, grollte der Nosferatu, während er und Bjarni die Treppe in die Notunterkunft hinabkletterten.

»Was ist passiert?«

»Dein Freund Atli oder einer seiner Kollegen hat mich angeschossen«, knurrte Tavin genervt. »Ich hasse Schussverletzungen.«

Dafür, dass der alte Schotte eine Abneigung gegen projektilbedingte Löcher in seinem Körper hatte, verhielt er sich unerwartet abgeklärt. Statt sich um seine Verletzung zu kümmern, stürzte er sich auf das Periskopsystem und verfolgte stattdessen die Aktivitäten an der Oberfläche. Dort tat sich einiges: Es wimmelte vor IFOR-Kräften. Zwei Black Hawks kreisten über dem Schauplatz. Ein Mitglied aus Atlis Einsatztrupp war damit beschäftigt, den einzig verbliebenen, das heißt noch lebenden Vampirjäger zu befragen. Zumindest versuchte er es. Der Typ - Bjarni erkannte ihn als den Typen, der ihm direkt ins Okular des Periskops geschaut hatte - zeigte sich wenig kooperativ. Er schwieg. Mehr noch, bedachte er seinen Gesprächspartner mit einem verächtlichen Blick und biss sich entschlossen auf einen Zahn. Der Schaum, der ihm danach aus dem Mund quoll, bedurfte keine Erklärung. Wenige Sekunden später war auch der letzte verbliebene Vampirjäger tot.

Von da an operierten die Einsatzkräfte mit äußerster Vorsicht. Spezialisten verteilten Gasmasken und Schutzhandschuhe, bevor sie damit begannen, die Ausrüstung der Vampirjäger zu untersuchen. Aber damit kamen sie ebenfalls nicht weit. Plötzlich begannen die Rucksäcke und die darin enthaltenen Gegenstände zu rauchen, um Sekunden später Feuer zu fangen und hell lodernd zu verbrennen.

»Ich sage ja, legt euch nicht mit Vampirjägern an!« Tavin klang alles andere als begeistert. »Die Typen riskieren nichts. Wenn die Situation ausweglos ist, vernichten sie alles, was sie verraten könnte inklusive sich selbst. Sorry Jungs, aber ich werdet nichts mehr finden.«

Das merkten die sogenannten Jungs auch und packten nach und nach ihre Sachen zusammen. Ein Spezialtransporter sammelte die Leichen der Vampirjäger ein. Ein anderer die Reste ihrer Ausrüstung. Die Black Hawks zogen ab. Nach ein paar Minuten befand sich nur noch Atlis Trupp und ein Humvee für ihren Abtransport vor Ort. Einer nach dem anderen stieg in den Wagen, bis nur noch Atli zurückblieb. Bjarni starrte gebannt durch das Okular des Periskops. Atli sah sich um, drehte sich hin und her, blickte hierhin und dorthin. Dabei zeigte er den typischen Gesichtsausdruck von jemandem, der etwas spürte, was er nicht verstand oder verstehen konnte. Wurde er beobachtet? War da jemand, den er kannte, der da aber unmöglich sein konnte?

»Atli!«, entfuhr es Bjarni, als sein Freund genau wie der Vampirjäger zuvor, in die Optik des Periskops blickte. Doch im Gegensatz zu diesem, schien Atli irgendetwas zu ahnen: Er begann zu lächeln, breit, zufrieden und glücklich zu lächeln. Und als ob dies nicht reichte, begannen seine Lippen Worte zu formulieren, die Bjarni verstand, obwohl er nichts hören konnte: »Danke, Bjarni!«


»Huh!«, gurgelte er. »Was war das?«

Völlig geschockt und ebenso verwirrt war Jungnosferatu Bjarni vom Periskop zurückgesprungen. Er wirbelte herum und starrte planlos in die Notunterkunft.

»Faszinierend!«, zitierte Tavin einen legendären Vulkanier und betrachtete seinen Adlatus mit einer Mischung aus Erstaunen und Bewunderung.

»Du hast es auch gesehen, oder?«, wollte Bjarni wissen.

»Ja, ich habe es auch gesehen. Du hast es dir nicht eingebildet. Atli weiß, dass du noch existierst. Wobei wissen vielleicht nicht der richtige Begriff ist. Es fühlt es direkt in seinem Inneren, auf eine Weise, die weder Worte noch Erklärungen bedarf. Ihr müsst wirklich verdammt gute Freunde gewesen sein.«

»Mir fehlen ein wenig die Vergleichsmöglichkeiten. Waren wir enge Freunde? Wahrscheinlich, immerhin kennen wir uns seit dem Sandkasten«, gab Bjarni zu, dem das alles etwas unheimlich war. »Ja, wir waren vermutlich wirklich enge, sehr enge Freunde. Ich habe darüber bisher nie nachgedacht, aber selbst wenn wir längere Zeit getrennt waren, konnte ich Atli fühlen, auch wenn er tausende Kilometer entfernt war.«

»Wow!« Tavin schaute Bjarni aus verträumten Totenschädelaugen an. »Ihr seid seelenverwandt. Das ist sehr selten, sehr kostbar und etwas, das ihr unbedingt festhalten solltet. Ich beneide dich.«

»Und?«, hakte Bjarni nach, der inzwischen recht gut erkennen konnte, wenn sein Kollege mit einem Thema noch nicht fertig war.

»Du hast schnell gelernt, mich zu durchschauen, oder?« Tavin lachte anerkennend auf. »Also gut. Mir liegen da zwei Dinge auf dem Herzen. Eins wird dir gefallen: Du solltest Atli besuchen. So eine Seelenverwandtschaft wirft man nicht einfach weg. Im Prinzip dürfen wir uns den Menschen nicht zu erkennen geben, allerdings gibt es Ausnahmen von dieser Regel. Wie du selbst siehst, gibt es Freundschaften, die selbst den Tod überdauern. Ich bin jetzt schon eine Weile im Untotengeschäft unterwegs und habe eine Menge erlebt. Dass ihr beide immer noch einen Draht zueinander habt, bedeutet etwas. Ich weiß zwar nicht, was es ist, aber es ist zu wichtig, dem nicht nachzugehen.«

»Ich soll mich Atli zu erkennen geben?« Bjarnis Frage troff vor Unglaube, dass ihm sein Partner ernsthaft diesen Vorschlag unterbreitete. »Dir ist schon klar, dass ich untot bin?«

»Detailproblem«

»Ähm, da wäre noch der Brief...« Allein der Gedanke an das Schriftstück ließ Bjarnis Wangen heiß werden.

»Junge, du hast es eben selbst gesehen. Er hat gelächelt! Glaubst du ernsthaft, dass ihm deine Zuneigung in irgendeiner Weise unangenehm ist oder stört? Mensch, merk mal was! Eure Freundschaft steht über solchen Dingen.«

»Und der andere Punkt?«

»Die Vampirjäger und der IFOR-Trupp. Irgendetwas stimmt hier nicht. Wieso fährt die NATO das ganz große Programm auf, nur um ein paar unbedeutende Typen dingfest zu machen. Die müssen irgendetwas wissen. Je mehr ich darüber nachdenke, glaube ich kaum noch, dass die Jäger hinter uns her waren. Wir waren Zufall, quasi unerwarteter Beifang. Die waren hinter irgendetwas anderem her.«

»Ach, und jetzt soll der ahnungslose Jungblutsauger seinen alten Kumpel aushorchen?«

»Ähm... Ja?«, Tavin zeigte sich untypisch verlegen und legte ein verschmitztes Lächeln auf, das wohl nur andere Nosferatu als solches erkennen konnten.

»Okay!«


Die zwei Nosferatu verbrachten den Tag in ihrem Betonbunker. Tavin aktivierte den Notsignalsender. Nach dem Feuergefecht vom Morgen ging Tavin davon aus, dass sich potenzielle Vampirjäger, soweit sich überhaupt noch welche in der Gegend aufhielten, vorerst zurückhielten. Noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen, wäre definitiv schlecht fürs Geschäft. Das Risiko, die Mitbrüder zu informieren, hielt Tavin dagegen für überschaubar. Viel mehr ging ihm seine Schussverletzung auf die Nerven. So eine Gewehrkugel brachte einen Untoten nicht um, aber sie behinderte. Natürlich ließ sich eine derartige Verletzung problemlos und auch schnell wieder heilen, nur war dafür frisches Blut nötig und nicht das geschmacklose, gefriergetrocknete Zeug.

»Du musst heute Abend für uns beide jagen gehen.«

»Shit, das habe ich ganz vergessen. Du hast eine Kugel abbekommen. Wie geht es dir?« Bjarni beschlich ein leichter Panikanfall. Dass sein Partner ins Gras biss und ihn ganz allein zurückließ, erachtete er nicht wirklich für erstrebenswert.

»Keine Panik«, beruhigte Tavin, »noch gebe ich den Löffel nicht ab. Es ist nur, dass diese Kugel bei jeder Bewegung wandert und dabei verdammt wehtut. Sie bringt mich nicht um, aber die Schmerzen... Sagen wir, sie sind etwas hinderlich. Wir sind auf der Flucht und müssen voll einsatzfähig sein. Und ehrlich gesagt, ich bin alles andere als einsatzfähig. Deswegen wirst du für uns beide Blut besorgen. So wie du von mir getrunken hast, werde ich von dir trinken.« Tavin wurde ernst und fixierte Bjarni mit seinen Augen: »Es ist eigentlich viel zu früh, dich alleine jagen zu lassen. Deswegen muss ich dich das fragen: Bekommst du das hin? Bist du in der Lage, dein Verlangen zu kontrollieren und nur so viel zu trinken, dass es für uns reicht, aber den Spender nicht schädigt?«

Statt sofort zu antworten, hockte sich Bjarni auf eine der Pritschen, seufzte, raufte sich die Haare und erwiderte erst dann Tavins Blick: »Ja, ich kann mich beherrschen. Es ist alles andere als leicht, dieses Verlangen... Es zu kontrollieren... Es ist so stark, aber ja, ich kann mich beherrschen. Ich bekomme das hin.«

»Gut, schlaf jetzt! Heute Abend musst du fit sein.«

Während Tavin innerhalb weniger Sekunden einschlief und wirklich wie ein Toter wirkte, war Bjarni innerlich viel zu aufgewühlt, um Ruhe zu finden. Tausend Gedanken gingen ihm gleichzeitig durch den Kopf. Wie Gewitterblitze, die viel zu kurz aufflammten und dann mit ihrer Helligkeit alles überstrahlten, um einzelne Details erkennen zu können, flackerten wahllos einzelne Gedankenfetzen auf, die ständig von anderen ersetzt wurden. Leben, tot, untot? War das nur eine Frage des Blickwinkels? Wie sollte er Atli ansprechen? Wie ihm gegenübertreten? Würde sein alter Freund in Panik verfallen, wenn er ihm als Nosferatu gegenübertrat? Oder stellte das Geständnis in Bjarnis Testamentsbrief ein viel größeres Problem dar?

So sehr er auch grübelte, er fand keine Antworten. Alle Überlegungen führten zu nur noch mehr Fragen. Immerhin machte die Grübelei müde. Die Strahlen der Sonne taten ein übriges. Obwohl verborgen hinter Wolken und Stahlbeton, drangen sie in seinen Körper ein und verbreiteten eine Müdigkeit, die Bjarni mehr und mehr schläfrig werden ließ. Konnte er schlafen? Durfte er schlafen?

Immer noch auf seiner Pritsche herumwühlend, schaute Bjarni zu Tavin. Schlief der Nosferatu wirklich? Der junge Nosferatu schaute genauer hin. Nein, der schottische Blutsauger schlief nicht. Er schien in Trance, oder viel mehr in einer tiefen Meditation. Tavin wachte. Er würde über sie beide wachen und darauf achten, dass ihnen nichts zustieß. Und später? Dann würde Bjarni seinen Teil beitragen und für sie beide Blut, den Lebenssaft ihrer Art, besorgen. War das Partnerschaft? Was das das Konzept hinter diesem Bruderschaftsding? Füreinander einstehen? Etwas beitragen?

Zum ersten Mal seit seiner Verwandlung begann Bjarni, über seine Situation nachzudenken. Was war das für eine Existenzform, die er jetzt einnahm? Wollte er tatsächlich als Untoter, Wiedergänger, Vampir, als Blutsauger leben? Objektiv gesehen schien untot besser als tot zu sein. Und was war mit den Zielen, die sich Bjarni und Atli für ihr Leben gesetzt hatten? Sie wollten etwas bewegen? Etwas Gutes für die Allgemeinheit tun? Deswegen waren sie in den Rettungs- und Sanitätsdienst der Küstenwache eingetreten. Deswegen waren sie in Sarajevo gelandet. Bis hierhin verlief noch alles nach Plan.

Und dann traf ihn eine Kugel. Er starb und wurde wiedererweckt. Wem nützte er jetzt?

Direkt gefragt hätte Bjarni nicht sagen können, warum. Aber tief in seinem Inneren war er überzeugt, dass Tavin und er eine Bestimmung hatten. Welche dies sein könnte, hatte er nicht den blassesten Schimmer. Dies änderte aber nichts an dem Gefühl, nicht zufällig auf Tavin gestoßen zu sein. Mit diesem Gedanken im Kopf, dass alles, was bisher geschehen war, eine Bedeutung zu haben schien, schlief Bjarni endlich ein.

Der Brief

»Nett! Wirklich nett!«

Das Urteil fiel gnädig aus. Mehrere Minuten hatte Dexter für ihn untypisch schüchtern und auch ein klein wenig nervös und unsicher seine Kollegin mit seinen Augen verfolgt, wie diese mit kritischem Blick sein Appartement begutachtete. Mami kontrolliert, ob der Kleine sein Zimmer aufgeräumt hat. Zuweilen spukten abstruse Gedanken in Dexters Schädel umher. Trotzdem, die Art, wie seine Kollegin seine Wohnverhältnisse taxierte, hatte etwas Unheimliches. Ob er wollte oder nicht, Dexter fühlte sich wie ein kleiner Schuljunge und Sue war die Lehrerin, die gerade seine Hausaufgaben kontrollierte.

»Nee, ehrlich Dex« Der peinlich bis unheimliche Moment war verschwunden und aus der strengen Unterrichtskraft war wieder die etwas unkonventionelle Kollegin geworden, »Verrätst du mir, wie du an diese geniale Wohnung gekommen bist? Mit wem muss ich schlafen, wen muss ich beißen, um hier einziehen zu können?«

»Niemanden«, gestand Dexter. Die Verlegenheit war zurückgekehrt, wenn auch aus anderen Gründen. Im Allgemeinen war es Amerikanern alles andere als unangenehm, über einen gewissen Wohlstand zu verfügen und diesen auch zu zeigen. Erfolgreich zu sein war keine Schande, wobei Erfolg entsprechend dem puritanischen Erbe ihrer Gründerväter primär an wirtschaftlichen Eckwerten gemessen wurde. Dexter hatte an sich überhaupt kein Problem, relativ gut situiert dazustehen. Er war nicht gezwungen, seinen Lebensunterhalt mit Arbeit zu bestreiten und hätte sich bequem zurücklehnen und das Leben genießen können.

Er tat es nicht. Bereits der Gedanke an Müßiggang war Dexter zuwider. Er war ein Junge vom Lande, ein Cowboy, der sich nicht vor Arbeit scheute. Ganz im Gegenteil brauchte er eine Beschäftigung, eine Tätigkeit, die seinem Leben Sinn gab. Mehr oder weniger ehrenamtlich für das Beratungsbüro zu arbeiten, gab ihm das Gefühl, etwas sinnvolles und nützliches zu tun.

»Das Haus gehört seit ewigen Zeiten mir«, erläuterte Dexter. »Niemand weiß, dass ich der Eigentümer bin. Es gibt eine Hausverwaltung, an die ich wie alle anderen hier im Haus ganz brav meine Miete zahle. Für die Verwaltung habe ich eine kleine Firma gegründet - Dark Night Inc., mit der ich nur über ein Rechtsanwaltsbüro kommuniziere. Ich habe noch ein paar andere Häuser wie dieses. Wenn du mit deiner jetzigen Unterkunft nicht zufrieden bist, könnte ich prüfen, ob irgendwo etwas frei ist.«

»Das würdest du tun?« Sue wurde hellhörig und wirkte sehr interessiert. Sue seufzte und ihre Freude wurde durch Frustration ersetzt: »Weißt du, ich suche seit Langem nach einer neuen Unterkunft. Tante Charlotte hat mich zwar nicht mittellos in die Neue Welt entlassen und ich dafür gesorgt, dass sich meine Schäfchen über die Jahre fleißig vermehrten, aber die Bruchbude, in der ich zurzeit hause, ist einfach ein überteuertes Drecksloch. Vermieter scheinen wie Trüffelschweine riechen zu können, wenn jemand besonders viel Wert auf Diskretion und Privatsphäre legt. Dabei müsste dieser Wichser von einem Hausbesitzer mir die Füße küssen, überhaupt jemanden gefunden zu haben, der sein feuchtes Kellerloch freiwillig bewohnt.«

»Wichser?«, hakte Dexter nach, der über Sues Begriffswahl erstaunt war. »Ich würde dir niemals ein Kellerloch zumuten.«

»Ach, das Kellerloch ist nicht das Problem. Das habe ich mir selbst ausgesucht. Die Wohnung ist angenehm kühl und vor allem dunkel. Das Problem ist dieses Vermieterwiesel. Der Typ hat mir auf den Kopf zugesagt, dass es ihm vollkommen egal sei, ob ich Drogen koche oder einen Callboy-Ring betreibe, Hauptsache ich würde pünktlich die Miete bezahlen - in bar auf die Hand. Die Höhe wäre nicht verhandelbar. Diskretion hätte halt ihren Preis.«

»Willkommen in New York!«


Die beiden Kollegen hatten die Beratungsstelle recht spät, oder aus menschlichem Betrachtungswinkel kurz vor dem Morgen verlassen. Als sie Dexters Appartement erreichten, hatte die Dämmerung bereits eingesetzt. Ein neuer Tag brach an. Obwohl die Fenster der Wohnung der höchsten UV-Schutzklasse entsprachen, aktivierte Dexter deren Verdunkelung, mit der die Räume in ein für Vampire angenehmes Schummerlicht getaucht wurden.

Trotz der reichlichen Mahlzeit, die sich die beiden Kollegen im Central Park gegönnt hatten, sah Sue keinen Grund, den kleinen ihr von Dexter angebotenen Frühstückssnack in Form einer Blutkonserve abzulehnen. Sue musste über die Versuche ihres Kollegen, einen perfekten Gastgeber zu geben, schmunzeln. Der Junge hatte definitiv keine Erfahrung mit Frauen. Obwohl Sue locker seine Mutter, wenn nicht sogar Großmutter sein konnte und Dexter sowieso für eine andere Liga spielte, verhielt er sich ausgesprochen schüchtern und unsicher.

»Dex, entspann dich. Ich bin weder deine Mutter noch haben wir ein Date.«

»Ähm«, stammelte der Angesprochene. »So schlimm?«

»Du hast in den letzten fünf Minuten sechsmal die Verdunkelung überprüft und mich fünfmal gefragt, ob ich noch eine Konserve haben möchte.«

»Oh, äh... Ich habe selten Damenbesuch«, stammelte Dexter weiter. »Wenn ich genau darüber nachdenke, hatte ich noch nie Damenbesuch. Das heißt, nein, das stimmt so nicht. Vor einiger Zeit habe ich Mrs. Gonzales ein Glas Wasser angeboten. Die arme Frau war völlig außer Atem. Ihre Haushaltshilfe war nicht gekommen und sie hatte versucht, selbst einkaufen zu gehen. Die Frau ist weit über achtzig, fast neunzig und hat es mit dem Herzen. Naja, ich...«

»Dex?«, unterbrach Sue Prescott.

»Ja?«

»Stopp!« Sue lachte: »Alles ist gut. Du bist ein wunderbarer Gastgeber. Und jetzt komm her und lass dir ein wenig von unserer Welt erzählen!«

Noch etwas unsicher, aber um einiges weniger nervös, setzte sich das Landei, für das sich Dexter ab und an immer noch hielt, zu seiner Kollegin in die Sitzgruppe. Etwas Sicherheitsabstand musste sein.

»So!«, begann Sue Prescott entschlossen, »Dann erzähl mir mal, was du über die Geschichte unserer Art weißt!«

»Ähm«, kam es verlegen von Dexter. »Ehrliche Antwort? Nicht viel, eigentlich nichts. Ich habe gehört, dass der alte Steuben aus dem Norden Deutschlands stammen soll und irgendein Herzog oder Graf ist. Ansonsten... Keine Ahnung. Das hat mich bisher auch nie wirklich interessiert. Irgendein Typ hat mich gebissen und verwandelt. Ja, und? Muss ich ihm deswegen dankbar sein? Ja gut, klar, ohne ihn wäre ich tot. Fühle ich mich ihm deswegen zu irgendetwas verpflichtet? Nein. Warum auch? Der Typ hat mich ins kalte Wasser geworfen. Er wollte ganz offensichtlich für mich keine Verantwortung übernehmen, warum sollte ich ihm dann etwas schulden? Abgesehen von Jose, der mir die Grundlagen zum Überleben verklickerte, hat der Kerl nichts für mich getan. Ich habe mich ganz allein bis nach New York durchgeschlagen und bin hier geblieben. Den Rest kennst du.«

Den kannte Sue Prescott in der Tat. Sie war es, die Dexter ein wenig unter ihre Fittiche genommen hatte, als dieser im Jahre 1873 im Big Apple aufschlug. Damals gab es zwar noch keine Beratungsstelle für Hämophagen, aber Sues selbstlose Ader und ihre Angewohnheit, sich um die hilflosen kümmern zu wollen, war bereits vorhanden. Sie kümmerte sich um Dexter, organisierte eine Unterkunft für ihn, machte ihn mit der damals noch deutlich kleineren blutsaugenden Gemeinschaft bekannt und sorgte dafür, dass er etwas zu arbeiten bekam. Nicht dass Vampire wirklich arbeiten mussten. Allerdings hatte Sue recht früh erkannt, dass es Menschen und Hämophagen einfach besser ging, wenn sie eine Aufgabe hatten. Dexter war ihr dafür unendlich dankbar. Der Bürgerkrieg, Dexters Verurteilung zum Tode, seine Erweckung und ziemlich witzlose Hinrichtung, die Rache an seinen Peinigern und die mehrjährige Irrfahrt, bis er in New York angekommen war, all dies hatte den jungen Mann traumatisiert. Er fühlte sich tot, und das nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Es war, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Die Flucht aus dem Süden war deswegen auch eine Art Flucht vor sich selbst. Allerdings kann niemand vor sich selbst und dem was er ist fliehen.

Doch da stand er nun an der Schwelle des Big Apple: Entwurzelt und jeglicher Ziele beraubt, die er für sein Leben bisher gehabt hatte. Dexter hatte dies bisher nie jemandem erzählt, aber damals stand er kurz davor, an einem schönen Morgen ins Sonnenlicht zu gehen. Ohne es zu ahnen, rettete Sue Prescott dem jungen Cowboy aus Tennessee das Leben, einfach dadurch, dass sie ihm ein paar handwerkliche Jobs vermittelte. Die meisten Vampire New Yorks waren Einwanderer aus Europa und überwiegend in der Mitte ihres menschlichen Lebens verwandelt worden. Da kam ein kräftiger junger Mann, der es gewohnt war, mit beiden Händen anzupacken, gerade richtig. Ohne es selbst zu bemerken, wuchs Dexter in die Gemeinde hinein und wurde sogar zu einem angesehenen und beliebten Mitglied. Für den verstörten, verunsicherten und seiner Wurzeln beraubten Cowboy aber viel wichtiger war das Gefühl, gebraucht zu werden und etwas zu tun, das mehr als eine reine Beschäftigung darstellte, um die Nacht rumzukriegen, sondern tatsächlich etwas zu bewegen. Mit der Zeit wurden die Aufträge größer. Seine Klienten aus der hämophagischen Gemeinde bestanden vermehrt darauf, Dexter angemessen für seine Arbeit zu entlohnen. Da der Mann aus Tennessee für sich nicht viel benötigte, konnte er das verdiente Geld anlegen, worum sich wieder Sue Prescott kümmerte.

»Dex, weißt du, dass ich dich ein Stück weit beneide?«, riss Sue Dexter aus seinem Tagtraum.

»Äh, wie jetzt? Beneiden?«

»Es geht darum, worüber wir uns heute die ganz Zeit unterhalten haben: Unsere Geschichte und wo wir herkommen. Mir ist das bisher nie so direkt bewusst geworden, aber wenn ich genau darüber nachdenke, ist es gar nicht deine Geschichte, sondern unsere. Du kennst die Leute unserer Gemeinde. Alles anständige und bodenständige Vampire...«

»Ja.«, versuchte Dexter den Gedankengang seiner Freundin zu folgen.

»Wie viele von unserer Art kennst du, die hier in Amerika erweckt wurden?«

»Ähm...«, musste Dexter überlegen.

»Genau«, lachte Sue, »Wenn du darüber nachdenkst, werden dir schon noch einige einfallen, einige wenige. Aber genau betrachtet, sind die meisten Einwanderer. Hey, ich bin gebürtige und erweckte Polin. Wenn ich dir also etwas von unserer Geschichte erzähle, ist es eigentlich meine Geschichte. Du bist in diesem Land geboren und erweckt worden. Du hast eine eigene Geschichte, die unbeeinflusst vom Ballast zigtausendjähriger Ränkespiele und Kleinkriege angeblich so hochwohlgeborener aristokratischer Häuser ist. Eigentlich muss dich das alles gar nicht interessieren.«

»Aber das tut es«, beeilte sich Dexter zu sagen. »Vielleicht verfügen wir, die wir in Amerika geboren und erweckt wurden, über den Luxus, über eine eigene Geschichte zu verfügen. Aber das ändert nicht, dass auch meine Wurzeln bei euch Auswanderern liegen. Und darüber will ich mehr erfahren. Du hast eben von zigtausend Jahren gesprochen. Meinst du das ernst?«

»Oh ja. Mehr als das. Unser letzter König, Vladimir Breskoff, existierte mutmaßlich mehr als zweitausend Jahre. Aber fangen wir am Anfang an.«

Die nächsten fünf Stunden tat Dexter nichts anderes, als an Sue Prescotts Lippen zu hängen und jedem ihrer Worte aufmerksam zu folgen. Dexter Hunter Johns war fasziniert, was für eine fesselnde und brillante Erzählerin in seiner Kollegin steckte. Minute um Minute verstrich, ohne dass die Schilderung auch nur ein einziges Mal langweilig oder uninteressant wurde. Egal ob es um die vier Urblutlinien der Vampire ging, um die Hohen Häuser und den Hohen Rat, die Königswürde oder die Geschichte der Nosferatu, Dexter saugte jede Information wie ein Schwamm auf, der jahrelang in der trockensten Wüste gelegen hatte und nun in Kontakt mit Wasser kam.

»Was ich immer noch nicht verstehe ist, warum sich die Häuser bekriegen«, überlegte Dexter laut, als er Sue und sich in einer Pause einen Beutel frisches Blut holte.

»Aus purer Langeweile«, entgegnete Sue Prescott. »Du lungerst jetzt seit Pi mal Daumen um die hundertfünfzig Jahre auf der Erde rum. Ist dir in der Zeit nie langweilig gewesen? Und damit meine ich nicht die gelegentliche Lustlosigkeit, die jeden einmal ereilt. Nein, ich meine diese abgrundtiefe Langeweile, die Tage, Wochen, Monate und manchmal sogar Jahre anhält.«

Dexter nickte. Er kannte diesen Gemütszustand. Jeder Vampir kannte ihn. Es war nicht direkt mit einer Depression wie beim Menschen vergleichbar, obwohl Antriebslosigkeit als begleitendes Symptom mit einherging. Es war viel mehr das Gefühl, als gäbe es nichts Neues mehr auf der Welt zu entdecken und man hätte alles erlebt, was es zu erleben gäbe.

»Nun dann weißt du, wovon ich rede. Die Ränkespielchen sind überwiegend Petitessen, um sich die Zeit zu vertreiben. Du musst bedenken, dass die hohen Häuser alles andere als arm sind. Selbst in kleinen Häusern wie Tante Charlottes müsste kein Blutsauger auch nur einen Finger krumm machen, um seine Existenz zu sichern. Sie tun es trotzdem, einfach, um nicht zu verblöden. Egal ob Mensch oder Vampir, ein vernunftbegabtes Wesen braucht eine Beschäftigung. Es gibt Häuser, die haben sich auf ökologische Landwirtschaft spezialisiert und betreiben gut laufende Ökobetriebe. Andere mischen in der Hochfinanz mit oder haben sich auf medizinische Forschung spezialisiert. Was meinst du, wo ich deine Kohle angelegt habe? FarInvest ist ein hundertprozentig vampirisches Unternehmen des Hauses Varadin-Breskoff. Übrigens spielt dessen Stammvater, Constantin Varadin, für deine Liga. Es ist eine Schande, dass dieser wirklich attraktive Kerl schwul ist. Er ist sogar mit Tante Charlotte über zig Ecken entfernt verwandt.«

»Stammvater?«

»Der Chef oder die Chefin eines Hauses oder Clans, also die Person, die das Sagen hat.«

»Hm, klingt, als ob die Leute in so einem Haus Leibeigene wären«, fasste Dexter naserümpfend die Definition eines Stammvaters für sich zusammen. »Ich glaube nicht, dass ich in so einem Haus leben könnte.«

»Ach Dex, du siehst das viel zu schwarz und weiß. Du musst bedenken, dass ich beide Welten kenne. Die in einem der hohen Häuser zu leben und die als freier Vampir. Wenn du mich fragst, welches Leben besser ist, könnte ich dir keine schlüssige Antwort geben. Beides hat seine Vor- und Nachteile. In Tante Charlottes Haus müsste ich mir keine Gedanken um geldgierige und erpresserische Vermieter machen. Andererseits gab es Regeln, die mein tägliches Leben bestimmten. Ich konnte nicht einfach machen, was ich wollte. Ich wurde aber auch zu nichts gezwungen. Insbesondere, als es mir nicht so gut ging. Ja, manchmal vermisse ich das Haus. Es war meine Familie und in der kümmert man sich umeinander. Der Abschied fiel mir wirklich schwer. Aber du hast recht. So ein Haus kann auch die Hölle sein. Es ist wie überall im Leben. Du weißt nie, welche Karten dir das Leben austeilt. Du kannst das Pech haben, in ein Haus kommen, das eher einer Militärdiktatur gleicht, in der der Einzelne wirklich nicht mehr ist, als ein Befehlsempfänger, dem jeder freie Wille abdressiert wird. Du kannst aber auch in ein Haus wie Charlottes aufgenommen werden, in dem du dich fühlst, wie in einer großen Familie, in dem deine Stimme zwar eine von vielen ist, sie aber respektiert und gehört wird.«

Sue legte eine Pause ein, trank ein bisschen Blut und schaute in die Ferne. Dexter ließ sie und wartete geduldig.

»Tja, dann kam Amerika«, fuhr Sue fort. »Was für ein Schock. Nix mehr mit Familie. Plötzlich musste ich mich um alles selbst kümmern. Niemand sagte mir, was ich wie zu tun hatte. Ich konnte machen, was ich wollte. Niemand machte mir Vorschriften. Ich schnupperte Freiheit. Aber mit der Freiheit ist das so eine Sache. Sie will verdient und täglich neu erarbeitet werden. Ja, ich war mein eigener Herr oder meine eigene Frau, aber ich war auch allein. Wenn da niemand ist, der dir sagt, was du zu tun hast, hast du auch niemanden, der dir hilft. Ich musste mir alles selbst erarbeiten. Das fing schon bei so simplen Dingen an, meinen Tag zu strukturieren. Glaub mir, ich bin mehr als einmal richtig auf die Schnauze geflogen.«

»Hey«, lachte Dexter fröhlich auf, »Du lebst den amerikanischen Traum: Etwas anfangen, dabei auf die Fresse fallen, mit blutiger Nase wieder aufstehen und etwas Neues beginnen.«

»So wie du das sagst, klingt es wie eine tolle Sache.«

»Aber Hallo, es ist eine tolle Sache«, erwiderte Dexter mit einer Mischung aus Ernst und Ironie in der Stimme. »Du kannst nur aus Fehlern lernen. Wenn du nicht manchmal auf die... Wie hast du es so schön formuliert? Fresse fällst, warst du nicht bereit, bis an deine Grenzen zu gehen. Das ist okay. Natürlich kannst du auf Sicherheit setzen. Niemand zwingt dich, Risiken einzugehen. Mach genau das, wenn du zur ewigen Mittelmäßigkeit verdammt sein willst.« Dexter schüttelte sarkastisch grinsend den Kopf: »Das war genau der Mist, den der Typ von der Südstaatenarmee vom Stapel gelassen hat, kurz bevor ich zwangsverpflichtet wurde.«

»Dex, Sarkasmus steht dir nicht. Dafür bist du noch viel zu jung.«

»Bin ich das?« Der angesprochene seufzte und nickte: »Wahrscheinlich hast du recht. Ich glaube, dass mir Eds Tod näher geht, als ich wahrhaben will.«

»Du mochtest den alten Hobo, oder?«

»Ja, irgendwie schon. In gewisser Weise habe ich Ed immer für seine Art zu Leben beneidet. Ich hatte immer den Eindruck, dass er glücklich war und sein kleines privates Paradies gefunden hatte.«

Auf dem Wohnzimmertisch lag der Manilaumschlag mit den Dokumenten, die ihm Mr. Frederic von Caldwells, Humphreys und Jones überbracht hatte. Unsicher und nervös betrachtete Dexter das beige Papier.

»Willst du ihn aufmachen?«

Der Umschlag - wie konnte ein so einfacher Gegenstand derart intensive Gefühle wecken, wie sie Dexter in diesem Moment empfand? Da war natürlich Neugier: Was könnte Edwin ihm hinterlassen haben? Warum ausgerechnet ihm? Wer war Edwin wirklich? An die letzte Frage knüpfte sich zusätzlich eine andere Emotion. Die, die Dexter daran hinderte, den Umschlag sofort zu packen und aufzureißen - Furcht. Warum hatte Edwin ihm nie etwas von sich erzählt? Wer war dieser Edward Willem Hendrik deFries wirklich? Was bedeutete, dass Edwin ihn als Erben eingesetzt hatte?

»Wenn du nicht über die seltene Gabe des telekinetischen Sehens verfügst«, bemerkte Sue leise, »wirst du keine Antworten erhalten, solange du den Umschlag nicht öffnest.«

»Das ist ja das Problem. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Antworten wissen will. Verdammt, ich kenne ja nicht mal die Fragen.«

»Aber Dexter, mach dir doch nichts vor. Du hast die Entscheidung doch schon längst getroffen.«, Sue richtete sich auf, zog ihre Stirn in Falten und taxierte Dexter fast streng, »Es nagt an dir. Ed hat dir etwas vorgespielt. Er war ganz offensichtlich nicht der abgerissene Hobo, als der er immer auftrat. Es ärgert dich, weil du immer das Gefühl hattest, dass Ed dir vertraute. Und jetzt willst du wissen, wer der Mann wirklich war. Das einzige, was dich noch aufhält, ist die Furcht über Ed etwas zu erfahren, das dein Bild von ihm trüben könnte. Du möchtest ihn als den schrulligen Typen in Erinnerung behalten, als den du ihn kanntest.«

»Okay, Frau Freud, danke für deine tiefenpsychologische Analyse. Ich wusste gar nicht, dass ich so ein offenes Buch für dich bin«, knurrte Dexter.

»Bist du nicht... Nicht immer. Aber in diesem Fall bist du wirklich einfach zu lesen. Es ist inzwischen Nachmittag. Wir sitzen jetzt seit über acht Stunden in deinem Wohnzimmer und plaudern über Gott und die Welt. Während der ganzen Zeit hast du den Umschlag mit Argusaugen belauert, ihn aber nicht ein einziges mal angerührt. Dex, der Inhalt wird dich schon nicht beißen. Vielleicht solltest du die Sache aus einem anderen Blickwinkel betrachten: Ed, also Edwin, hat eine der ältesten, renommiertesten und vertrauenswürdigsten Anwaltskanzleien damit beauftragt, dir diesen Umschlag auszuhändigen. Das zeigt, dass es ihm sehr wichtig war, dass du den Umschlag erhältst. Du warst ihm wichtig.«

»Okay...«, hauchte Dexter, »Ich hoffe nur, dass er nicht mit irgend so einer „Ich bin dein Vater-Nummer“ kommt.«

»Das ist schon wieder so schräg, dass es zu Ed passen könnte«, bemerkte Sue süffisant. »Ed, der einsame Vampir, der sich seinem Geschöpf freundschaftlich verbunden fühlte, aber es nicht übers Herz bringt, sich ihm als sein Schöpfer zu offenbaren.«

»Sue, kein Wort!«

Mit einem albernen Kichern auf den Lippen packte Sue den Umschlag und drückte ihn einem überrumpelten Dexter in die Hand. Der seufzte, nickte stumm und brach das Lacksiegel. Fast schon andächtig wickelte er den Verschlussbindfaden ab. Die Lasche war nicht verklebt, sodass sich der Inhalt auskippen ließ, der aus nur zwei Teilen bestand.

»Noch ein Umschlag?«

Im Umschlag fand sich eine weitere beigefarbene Papiertüte, die sich in diesem Fall aber zugeklebt zeigte. Mit einem dicken Filzstift hatte jemand »Nicht öffnen! Erst Brief lesen!« geschrieben. Damit war die zweite Inhaltskomponente gemeint, ein Brief, dessen Umschlag mit »Lies mich!« und »Für Dexter Hunter Jones« beschriftet war. Statt ihn aufzureißen, erhob sich der Adressat von seinem Sofaplatz, um sich aus seinem Arbeitszimmer einen Brieföffner zu holen. Dexter musste über sich selbst und seinen Tick schmunzeln. Er verabscheute lieblos aufgerissene und ausgefranste Briefumschläge. Sauber mit einem Öffner aufgeschlitzt sahen sie einfach ordentlicher aus, insbesondere, weil er wichtige Briefe in ihren Umschlägen aufbewahrte.

Edwins Brief bestand aus drei Seiten. Der Mann hatte eine elegante, schön geschwungene, fast aristokratische aber vor allem gut leserliche Handschrift. Dexter war zwar kein Handschriftenexperte, meinte aber, ein paar Informationen aus der Schrift herauslesen zu können. Edwin war eindeutig ein selbstbewusster Mann. Dies war nicht überraschend. Jemand, der wie Ed als heruntergekommener Hobo auftrat, musste über ein ausgesprochen großes Selbstbewusstsein verfügen. Darüber hinaus meinte Dexter aber auch das Wesen eines machtbewussten Mannes entdecken zu können.

»Und?«, wollte Sue wissen. Auch wenn sie es nicht zugeben wollte, war sie neugierig wie ein ganzer Wurf Katzenkinder.

»Ich lese vor.«


Lieber Dexter, wenn du diese Zeilen liest, bin ich offensichtlich tot, oder präziser endgültig entkörpert. Ich kann nur hoffen, dass mein Abgang halbwegs würdevoll vonstattenging, befürchte aber, dass die Umstände eher dagegen sprechen werden.

Du wirst dich sicherlich fragen: »Wieso ich? Warum schreibt mir ausgerechnet dieser runtergekommene Penner?« Allerdings wird dir dieser Brief von einem Anwalt überbracht werden, der dir meinen ganzen Namen mitteilen wird. Wie ich dich kenne, wirst du ein wenig verärgert sein, weil ich dir all die Jahre, die wir uns kennen, offenbar etwas verschwiegen habe. Allerdings glaube und hoffe ich, dass du neugierig genug bist, mit deinem Urteil so lange zu warten, bis du meine Seite der Geschichte kennst.

Wer bin oder war ich?

Für dich war ich immer Ed. Ich war ganz und gar die Person, die du kennengelernt hast. Ich habe dir nie etwas vorgemacht, denn ich habe so gelebt, wie ich leben wollte: ungebunden und jenseits von Konventionen und Zwängen.

Allerdings war ich in einem früheren Leben eben auch Edward Willem Hendrik deFries und so sehr ich diese Tatsache vergessen oder wenigstens verdrängen wollte, so sehr bin ich am Versuch gescheitert. Ich musste einsehen, dass letztlich niemand seiner Vergangenheit und damit seinem Schicksal entfliehen kann.

Ich habe mir vorgenommen, ehrlich zu sein und dir all das zu erzählen, was ich zu meinen Lebzeiten nicht konnte. Dafür war ich einfach zu feige. Du wirst dich fragen, warum es ausgerechnet dich getroffen hat, mein Erbe zu sein. Die Antwort ist einfach und ein wenig deprimierend. Du warst der einzige, der mich, meine Marotten und das merkwürdige Leben, das ich pflegte, ohne Vorbehalte akzeptierte. Du hast nie auf mich hinabgesehen, mich als dreckigen Penner bezeichnet oder mich mit noch weit unfreundlicheren Begriffen bedacht. Dich interessierte immer der Mensch, die Persönlichkeit, hinter dem Äußeren. Du hast nie versucht, mich zu bekehren oder zu erziehen. Statt wie andere besser als ich zu wissen, was gut für mich sei, hast du mir zugehört. Dexter Hunter Jones, du warst mein Freund, der einzige Freund, den ich seit Langem hatte. Du hast das Recht zu erfahren, wer ich war.

Ich war der Schattenmann des Hauses Breskopol, der Spion und zuweilen Meuchelmörder des Königs der Vampire. Wenn ich schreibe „war“, dann deswegen, weil ich diese Tätigkeit vor über zweihundertfünfzig Jahren aufgegeben habe. Aber ob es nun zehn, zwanzig, fünfzig, hundert oder zweihundertfünfzig Jahre her ist, es bestimmt wer und was ich war: Ein Jäger auf der Suche nach Informationen, Geheimnissen und Verschwörungen und zuweilen auch die kalte Hand des Todes.

Soll dies eine Rechtfertigung sein? Nein, denn ich schäme mich nicht für das, was ich für meinen Stammvater, unseren König getan habe. Habe ich Fehler begangen? Oh ja, unzählige, von denen ich jeden einzelnen bedaure. Waren meine Taten und Handlungen falsch? Einige wenige aus heutiger Sicht betrachtet wohl ja. Aber zu ihrer Zeit? Nein. Du wirst dich fragen, warum ich meine Aufgabe als Schattenmann aufgegeben habe. Dafür gab es viele Gründe: Ich wurde älter, nicht notwendigerweise weiser, aber vielleicht ein wenig müder. Der Job, wie so etwas heutzutage genannt wird, wurde mit den Jahren anstrengender. Als Spion bist du ein Schatten, du traust niemandem und dir traut niemand. Es ist ein einsames und entbehrungsreiches Leben. Eines, das ich nicht mehr leben wollte. Deswegen bat ich meinen Stammvater, mich aus seinem Dienst zu entlassen.

Dexter, du kannst das nicht wissen, denn du bist als freier Mann geboren. Du bist dein eigener Herr. Ich war es nicht und ich bat meinen Herren, mir die Freiheit zu schenken. Es gibt viele Stammväter, die dich bei einer derartigen Bitte sofort hinrichten lassen und deutlich weniger, die sie dir gewähren. Breskoff tat mehr als nur meiner Bitte zu entsprechen, denn er war ein außergewöhnlicher Mann: Er bat mich um Verzeihung! Mich, eines seiner vielen Geschöpfe seines Hauses bat er um Verzeihung, dass er so blind und unaufmerksam war, mein Wohlergehen nicht im Blick behalten zu haben. Er gewährte mir meinen Wunsch und entließ mich aus seinem Haus. Er schenkte mir die Freiheit und die Freundschaft des Hauses Breskopol, seine Freundschaft.

Warum erzähle ich dir dies alles? Will ich deine Absolution erlangen? Nein, denn dazu müsste ich irgendetwas bereuen. Ich möchte versuchen zu erklären, worum es geht und worauf du dich einlässt, solltest du mein Erbe antreten.

Meine Vergangenheit und meine Fähigkeiten haben mich eingeholt. Dexter, ich kann Verschwörungen riechen, wenn ich ihren Weg kreuze. Ich erkenne Verrat, noch bevor dem Verräter bewusst ist, dass er einen begeht. Ich bin wie ein Trüffelschwein, wenn es darum geht, dunkle Geheimnisse aufzudecken. Es ist wie eine Sucht für mich, aber ich muss den Dingen auf den Grund gehen, bis ich zum Kern vorgedrungen bin und die Wahrheit freigelegt habe. Allerdings befürchte ich, dass mir mein Verlangen dieses mal zum Verhängnis werden könnte und wenn du diese Zeilen liest, weißt du, dass dem so ist. Im verschlossenen Umschlag findest du alle Informationen, die ich in den letzten Jahren zusammengetragen habe und die für meinen Tod verantwortlich sein dürften. Was für Informationen dies sind? Dokumente, Fotos, Notizen, Pläne, Schlussfolgerungen, die zusammen die Blaupause von etwas ungeheuerlichem skizzieren. Was es ist, kann ich dir nicht sagen, denn ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass es Leben, viele Leben gekostet hat - das von Menschen und von Vampiren.

Mehr möchte ich dir nicht sagen. Denn jede weitere Information wäre eine zu viel und könnte dein eigenes Leben gefährden. Es ist an dir zu entscheiden, ob du das Risiko eingehen und meine Arbeit fortsetzen möchtest. Ich bitte dich nicht. Ich verpflichte dich zu nichts. Entscheide als was du bist: Als freier Mann mit eigenem Willen. Ich habe den Umschlag präpariert: Öffnest du ihn von links nach rechts, geht der Inhalt in ihm in Flammen auf und das Geheimnis ist mit mir gestorben. Öffnest du ihn hingegen von rechts nach links, gibt es kein Zurück und du wirst Teil der Geschichte. Überlege gut, denn dies ist kein Märchen, an dessen Ende eine schöne Prinzessin, oder in deinem Fall ein knackiger Prinz, und ein unermesslicher Schatz wartet. Dies ist die nackte, grausame und brutale Realität, an dessen Ende sogar schlimmeres als der Tod lauern könnte.

Aber wie du dich auch immer entscheiden magst, Dexter Hunter Jones, es war mir eine Freude und eine Ehre, dich gekannt zu haben. Du warst ein Freund, dein Ed.

PS: Egal wie du dich entscheidest, aber du solltest der Bitte des Vertreters von Caldwells, Humphreys und Jones nachkommen und ihre Kanzlei aufsuchen. Es gibt da ein paar ungefährliche Dinge, die ich dir noch als Zeichen meiner Freundschaft zukommen lassen wollte.


»Ähm, was war das jetzt?«

Im Gegensatz zu Dexter war Sue nicht von Sprachlosigkeit geschlagen. Ihr Kollege hingegen schon, denn der starrte stumm und ungläubig wechselweise auf den Brief und den verklebten Umschlag.

»Du ziehst doch nicht ernsthaft in Erwägung, den Umschlag zu öffnen?«, fragte sie leicht hysterisch und musterte Dexter skeptisch. Sein Gesichtsausdruck gefiel ihr nicht. Sue seufzte und meinte resigniert: »Oh je, du wirst ihn öffnen.«

»Ja!«, fand der Cowboy aus Tennessee seine Stimme wieder, »Ich werde ihn öffnen. Aber nicht jetzt. Nicht in deiner Gegenwart. Edwin sagt, dass sein Inhalt gefährlich ist und ich will dich nicht in Gefahr bringen. Ed hätte es nicht gewollt.«

»Wahrscheinlich nicht, aber das ist mir egal«, entgegnete Sue. »Aber ich habe mit diesem abgerissenen Penner von einem Hobo noch eine Rechnung offen. Er hat mich vorgeführt, mir mit seiner Erscheinung unter die Nase gerieben, dass ich eine von Vorurteilen durchsetzte alte Schachtel geworden bin. Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen. Ich würde mich bis in alle Ewigkeit verachten. Nein, mein lieber Dexter, wenn der Umschlag geöffnet wird, dann nur von uns zusammen! Junge, in dieser Sache sind wir Partner!«

Tabula rasa

»Du?«

»Enttäuscht?«

Natürlich rieten mir sowohl Loren, Nicolas, Orwell als auch Christiano dringend davon ab, mich persönlich um das Thema Darren zu kümmern. Der Jeansverkäufer hätte gesagt, er wolle einen unserer Anführer sprechen. Woher sollte er wissen, auf wen diese Kategorisierung zutraf. Außerdem könnte Christiano als Botschafter des Hauses Breskoff-Varadin durchaus als eine Art Anführer interpretiert werden. Ich bedankte mich für die Sorge meiner Freunde, entschied dann aber doch, mich selbst mit Darren zu treffen. Zum einen hatte ich den Eindruck, dass der Mann aus dem Bekleidungsladen, indem er mich ansprach, ein erhebliches Risiko eingegangen war. Zum anderen wollte ich das attraktive Kerlchen durchaus gerne wiedersehen. Die Entscheidung, selbst zum Treffen zu gehen, war deswegen schnell gefällt. Das sahen meine Familienmitglieder gezwungenermaßen dann auch ein. Natürlich versuchte ich kein ignorantes Arschloch zu sein, der ernsthafte Warnungen leichtfertig ignorierte. Deswegen ging ich nicht allein. Orwell und Pete sicherten mit ein paar Leuten von Varadin International die weitere Umgebung. Constantin unterhielt in New York zwar kein offizielles Haus, verfügte aber über eine größere Niederlassung seines Unternehmens, von der aus alle nordamerikanischen Firmentöchter und Aktivitäten gesteuert wurden. Nicolas und Christiano begleiteten mich, um das Nahfeld abzuchecken, während Jurek uns als einzig Ortskundiger zum Treffpunkt fuhr.

Der für New York unauffällige Kompakt-SUV parkte ein Stück vom südöstlichen Eingang des Chelsea-Park entfernt. Nicolas und Christiano hatten Jurek einmal um den Park fahren lassen und waren an unterschiedlichen Stellen vor mir ausgestiegen. Ich versuchte ihnen durch die getönten Scheiben des Wagens nachzuschauen, doch kaum hatten sie den Schein der Straßenlaternen verlassen, verschmolzen die beiden Männer mit der Dunkelheit der Nacht.

Jurek stellte das Automatikgetriebe auf Parken und schaltete den Motor aus. Ich saß auf dem Beifahrersitz und schaute zu ihm hinüber, unternahm aber keinerlei Bemühungen, auszusteigen. Der sonst so freche Kerl sah vorsichtig zu mir rüber: »Und?«

»Muffensausen«, erwiderte ich leise.

»Du musst das nicht tun«, schlug Jurek in die gleiche Kerbe, wie die anderen zuvor. »Wenn du willst, gehe ich für dich.«

Ich war von der Ernsthaftigkeit in der Stimme meines Fahrers überrascht. So hatte ich Jurek noch nie erlebt. Mehr oder weniger bestand unsere bisherige Kommunikation aus spielerischen Schwanzvergleichen. Draculas Jüngster versuchte sich in lustigen kleinen verbalen Provokationen und ich gab ihm fleißig Kontra. Die scheinbare Respektlosigkeit, die Protokollchef Tomek regelmäßig die Sprache verschlug, war genau das - scheinbar. Es war ein Spiel, bei dem Jurek versuchte, seine Grenzen auszuloten. Ich verstand ihn nur zu gut. Wollte nicht jeder wissen, wo er stand? Doch die Art, seine ganze Gestik und Stimmlage, mit der er sich anbot, die potenziell gefährliche Aufgabe zu übernehmen und sich mit einem Informanten zu treffen, offenbarte einen vollkommen anderen Jurek. Da saß kein junger Bengel neben mir, sondern ein erwachsener Mann, durch den jedes einzelne seiner neunzig Jahre Erfahrung als Vampir sprach.

»Ich weiß«, erwiderte ich ebenso ernsthaft. Unsere Stimmen transportierten mehr, als die gesprochenen Worte ausdrückten.

»Aber du wirst selbst gehen« Keine Frage - eine Feststellung.

»Ich muss!«

Ich griff nach dem Türöffner und stieg aus.

»Viel Glück!«

Selbst hier, in einem Wohngebiet, machte New York seinem Ruf als „Stadt, die niemals schläft“ alle Ehre. Natürlich waren die Straßen ruhiger, als auf dem Broadway oder der 5th Avenue. Leer waren sie aber nicht. Es tummelten sich immer noch einzelne späte Spaziergänger auf den Fußwegen. Ich sah Hundehalter, die ihre Vierbeiner mehr oder weniger erfolgreich zur Blasen- und Darmentleerung animierten und als vorbildliche New Yorker die festen Hinterlassenschaften mit kleinen Plastiktüten aufsammelten. Ein ganz schnuckeliges, aber leider total straightes Collegekid hatte offensichtlich eine Party in seinem Appartement am laufen, doch waren ihm wohl die Alkoholika ausgegangen. Jedenfalls rief ihm ein anderer Typ aus einem Fenster nach, unbedingt an diesen geilen deutschen Kräuterschnaps zu denken, sonst könnten sie es gleich vergessen, die Mädels klar zu machen. Diese Bemerkungen sorgten bei einer Passantin für verärgertes Kopfschütteln. Aus einem anderen Fenster schallte das Geschrei eines Babys. Und dann war da noch der Soundtrack: Wenn auch leise, drang von überall Musik. Die Nacht war warm, weswegen viele Bewohner ihre Fenster zumindest ein wenig geöffnet hatten. Von nächtlicher Ruhe war jedenfalls wenig zu spüren.

Nach etwas unter zwei Minuten erreichte ich den Park. Hier war es tatsächlich ein wenig ruhiger und auch dunkler. Ich näherte mich von Südosten, lief die äußere Umzäunung ab und suchte einen Eingang. Es war schon interessant, was die Amis als Park bezeichneten. Dieses spezielle Exemplar schien primär aus Sportanlagen zu bestehen. Ich fragte mich schon, ob ich wirklich den richtigen Park erwischt hatte, als dann doch noch ein Eingang auftauchte. Der parkartige Teil des Parks war wirklich nicht groß und die Statue unmöglich zu verfehlen. Das gleiche galt für Darren, der mit einem Basketball in der Hand und in dazu passenden Klamotten auf einer Bank hockte und mich mit einem verwunderten »Du?« begrüßte.

»Enttäuscht?«

»Ja, nein... Ich weiß nicht. Kannst du denn für euch sprechen?«

»Die einen sagen so, die andern so. Im Prinzip aber schon.«

Darren ließ den Ball vor sich ein paar Mal aufdippen und schien zu überlegen, ob und was er sagen sollte. Ich konnte spüren, dass er Angst hatte.

»Ich habe da etwas mitbekommen...«, begann er vorsichtig, »Es gibt Typen, die wissen, wer ihr seid.«

»Das weißt du auch«, entgegnete ich.

»Ja, aber die sind anders. Ich...«, Darren seufzte. Der fröhlich enthusiastische Verkäuferbengel war verschwunden. Stattdessen saß ein spürbar verzweifelter und trauriger junger Mann neben mir. »Ich war mit einem von euch zusammen. Er war mein Freund. Ich hab ihn in einem Club kennengelernt. Naja, zuerst betrachtete er mich wohl nur als leckeren Snack, aber dann machte irgendetwas bei ihm Klick. Wir kamen uns näher, und das nicht nur körperlich. Nate war einfach nur fantastisch, ein traumhafter Liebhaber, aber noch besserer Freund. Wir... Wir wollten zusammenziehen, ein Paar werden. Er wollte mich, verstehst du? Aber...« Darren begann zu zittern. Der Mann hatte Angst, Todesangst.

»Was?«

»Sie haben ihn umgebracht!«, flüsterte Darren und sah sich furchtsam um. »Sie wissen, dass ich wusste, wer er war. Sie zwingen mich...«

»Waffe!«, zerriss plötzlich Nicolas Stimme die Stille der Nacht. Auf Darrens Brust war ein kleiner roter Punkt eines Laserzielfernrohrs aufgetaucht. Schneller als für einen Menschen möglich, war ich aufgesprungen und hatte Darren zu Boden gerissen. Ohne mir Gedanken über das Risiko zu machen, verwendete ich meinen Körper als Schutzschild. Ein Schuss fiel. Wer da auch immer hinter dem Abzug des Scharfschützengewehrs hockte, besaß einen nervösen Finger. Das Projektil schlug in die Bank an genau der Stelle ein, an der eben noch Darren gesessen hatte. Die Kugel hätte ihn direkt an der Brust getroffen und sein Herz zerfetzt.

Der Knall des Schusses war noch nicht verhallt, da waren Nicolas und Christiano zur Stelle. Die beiden packten uns wie Profibodyguards und gingen dabei alles andere als zimperlich vor. Sie agierten wie Maschinen, die nur eine Aufgabe zu kennen schienen: Ihre Zielperson um jeden Preis zu schützen. In diesen Fall Darren und mich. Die beiden hatten uns fest im Griff und rannten in Richtung unseres SUV. Ein weiterer Schuss fiel und traf Nicolas in den Rücken. Der Exnosferatu fauchte und grollte: »Fuck!« Zum Glück war der Park klein, geradezu winzig, dass meine Freunde nur ein paar Meter zurücklegen mussten, um die Straße zu erreichen, wo Jurek mit knatterndem ABS den Wagen direkt am Ausgang zum Stehen brachte. Die Schiebetür stand offen. Darren und ich wurden einfach hineingeschoben. Nicolas sprang als nächster hinterher und drückte unsere Köpfe tief in die Rückbank. Als letztes folgte Christiano. Während er noch dabei war, die Tür zu schließen, gab Jurek bereits Gas und brauste davon.

»Ins Haus!«, grollte ich wütend.

»Nein!«, widersprach niemand anderes als Jurek und schlug einen für mich völlig unbekannten, harten Tonfall an. »Ich bringe uns in eine sichere Unterkunft. Bevor wir deinen Typen durchgecheckt haben, kommt der mir nicht ins Haus.« Noch bevor irgendeiner von uns etwas entgegnen konnte, hatte Jurek die Freisprecheinrichtung des ins Auto eingebauten Mobiltelefons aktiviert: »Loren, die Sache ging ein wenig schief. Ich brauche Sofia in der Fabrik, jetzt. Bevor sie uns kein okay gibt, bleiben wir dort.«

»Respekt Kleiner«, ließ sich Christiano verlauten. »Ich nehme an, Sofia ist...«

»Sagen wir, sie ist mental begabt.« Jurek grinste frech, drehte sich kurz zu Darren um und meinte: »Sorry Kleiner, aber ich kann kein Risiko eingehen. Das vorhin könnte tatsächlich der Versuch gewesen sein, dich umzubringen. Es könnte sich aber auch um eine effektvolle kleine Inszenierung handeln, um unser Vertrauen zu gewinnen.«

Wer hätte das gedacht? In Jurek steckte mehr, als er gemeinhin durchblicken ließ. Diese fast schon kaltblütige, aber auf jeden Fall äußerst professionelle Ader, die er während unserer kleinen Krise an den Tag legte, enthüllte einen ganz anderen Jurek. Der Mann gefiel mir. Ihm fehlte die Unsicherheit, die Draculas Regime hinterlassen hatte. Er begann sich vom Schatten seines ehemaligen Stammvaters zu emanzipieren, wahrscheinlich sogar mehr, als er selbst ahnte.

Ganz anders erging es dem Verkäuferkerlchen. Darren lag mit mir auf der Rückbank des SUV und zitterte wie Espenlaub. Ich verstand ihn ganz gut. Ihm dämmerte langsam, dass es jemand auf sein Leben abgesehen hatte. Eine durchaus verstörende Erkenntnis.

»Geht es dir gut?«, wollte ich von Darren wissen. Der sah mich aus großen Glubschaugen an, aus denen pure Panik sprach. Ich grinste: »Hey, wir sind nicht die Bösen. Niemand wird dir etwas tun.«

»Dein Kumpel...«, stammelte der Verkäuferschlingel, »Er wurde angeschossen.«

»Alles halb so wild. Aber danke für deine Sorge«, wandte sich Nicolas freundlich lächelnd Darren zu, was diesen zusammenzucken ließ. »Wieso reagieren alle panisch, wenn ich versuche nett zu sein?«, bemerkte Nicolas resigniert amüsiert.

»Dein Charme spricht halt nicht jeden an«, stichelte Christiano kumpelhaft. Die zwei waren in den letzten fünf Jahren zu ziemlich guten Freunden geworden. Wobei Nicolas zu Christiano aufsah. Für ihn war der wilde Portugiese eine Quelle schier unerschöpflicher Erfahrungen. Christiano wusste, dass Nicolas ihn wie Schwerkampfmeister Bruder Markus als Lehrer betrachtete und versuchte, der damit einhergehenden Verantwortung halbwegs gerecht zu werden. »Hier, trink etwas!«, forderte Christiano meinen Marschall auf und drückte ihm sein Handgelenk in den Mund. Nicolas biss zu und nahm einen kräftigen Zug.

»Danke, Sensei«

»Nikki, hör auf damit!«, knurrte Christiano und verwendete ganz gezielt den von Nicolas wenig geliebten Spitznamen. »Ich bin kein Japaner. Außerdem, wer trägt hier den Meistertitel?«

Während die zwei sich noch keppelten, wandte ich mich wieder unserem unplanmäßigen Gast zu. Der war ein wenig ruhiger geworden, aber nicht weniger ängstlich, was seine nächste Frage bestätigte: »Was habt ihr mit mir vor?«

»Ist das nicht offensichtlich?«, erlaubte ich mir, ihn zu verwirren. »Dich vor den Leuten schützen, die dich umbringen wollen.«

»Aber ihr traut mir nicht. Diese Sofia, wird sie...«

»Du weißt, was wir sind«, begann ich zu erklären. »Du warst mit einem von uns zusammen und dürftest nur zu gut verstehen, dass wir vorsichtig sein und uns schützen müssen. Wir kennen dich nicht. Du bist zwar ein niedliches Kerlchen, das einen ehrlichen und anständigen Charakter zu haben scheint, aber das könnte auch ein Trick sein. Es wäre nicht das erste Mal.«

»Ich könnte ein Köder sein und das Attentat auf mich inszeniert?«, fragte Darren nachdenklich.

»Wäre das so unwahrscheinlich?«, hakte ich nach.

»Vermutlich nicht«, gab der Mann leise zu. »Ich glaube, dass die Typen, vor denen ich euch warnen wollte, weitaus krassere Aktionen am laufen haben.«

»Deswegen Sofia«, schaltete sich Jurek ein, der aufmerksam zugehört hatte, während er uns mit atemberaubender Geschwindigkeit, aber gleichzeitig vollkommender Souveränität durch den New Yorker Verkehr lenkte. »Sie wird überprüfen, ob du es ehrlich mit uns meinst.«

Einen Gedanken ließ Jurek unausgesprochen. Ich konnte es von seinen Augen ablesen. Er hegte den gleichen Verdacht, der mich ebenfalls quälte. Was, wenn Darren gar nicht wusste, dass er ein U-Boot war. Ich fragte mich, über welche außersinnliche Begabung Sofia wohl verfügte. Sie konnte keine einfache Telepathin sein, denn die hätten wir nicht gebraucht. Christiano war ein sehr potenter Telepath, dem keine Lüge entgangen wäre. Selbst ein implantierter, unterbewusster Befehl wäre ihm aufgefallen. Das wusste auch Jurek.

»Wir sind da!«, verkündete unser Fahrer.

Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, wo dieses »Da« genau war. Aus meiner bisherigen Deckung ein wenig vorgekrochen, sah ich mich um. Die Gegend erinnerte an die unzähligen amerikanischen Krimi- und Actionserien, die ich mir früher als Kind und Jugendlicher reingezogen hatte: Straßen in erbärmlichem Zustand, die zwischen mehr oder weniger heruntergekommenen Lagerhallen hindurchführten. An einer dieser Hallen öffnete sich ein elektrisch betriebenes Rolltor, durch das Jurek den Wagen steuerte. Kaum in Inneren der Halle, schloss sich das Tor wieder. Dafür flammten ein paar Reihen Deckenleuchten auf, die die Halle zwar nicht in gleißende Helligkeit tauchten, aber immerhin die Dunkelheit vertrieben.

Mein TV-Serien geprägtes Wesen erwartete ein den gängigen Klischees entsprechendes leeres Setting, vielleicht mit einer dekorativen Öllache auf dem Boden oder einem Stuhl in der Mitte, an dem noch ein paar Fesselseile hingen und die von einer Pendelleuchte direkt darüber dramatisch in Szene gesetzt wurden. Nichts davon war vorhanden. Ganz im Gegenteil präsentierte sich die sichere Unterkunft eher beengt. Direkt hinter dem Rolltor war ein kleiner Bereich freigehalten worden, der als Parkplatz für ungefähr zwei Fahrzeuge diente. Der Rest bildete quasi ein Gebäude im Gebäude. Wer diese Anlage auch immer konstruiert hatte - wobei ich eine gewisse Vermutung hegte, wer dies gewesen sein könnte - hatte mit den üblichen Fertigteilen amerikanischer Häuslebauer etwas wohnungsähnliches in der Halle aufgebaut. Es gab Wände, ein Flachdach, Fenster, Türen, und als Sahnehäubchen sogar eine Fußmatte vor dem Eingang.

»Was sagst du?«, wollte Jurek mit stolz geschwellter Brust wissen.

»Nett, wirklich nett« Der Mann hatte mich redlich beeindruckt, und wenn ich Nicolas und Christianos Gesichter sah, waren diese beiden Profis ebenfalls ziemlich platt.

»Junge, in dir lagern ja erstaunliche Fähigkeiten«, brachte es Nicolas auf den Punkt. »Aber eins musst du mir trotzdem verraten. Wo hast du so gut fahren gelernt?«

»Dracula alias Bronkovic mag ein Arschloch gewesen sein, aber auch Arschlöcher benötigen hin und wieder einen Fahrer.« Jurek grinste breit.

»Oh Shit, sorry Bruder, wie konnte ich das vergessen?«, rief Nicolas verlegen. Ihm war es sichtbar unangenehm, vergessen zu haben, welche Tätigkeit Jurek vor seiner Vereinigung mit meinem Haus innehielt.

»Weil wir uns eine Weile nicht gesehen haben?«, schlug Jurek kumpelhaft vor und tat etwas ausgesprochen überraschendes. Er ging auf Nicolas zu und umarmte ihn total ernst aber gleichzeitig total freundlich, wenn nicht sogar liebevoll: »Wir sind Familie. Was du vorhin getan hast, war der absolute Wahnsinn. Fuck, du hast eine Kugel abgefangen.«

Es passierte. Wir wuchsen zusammen. Wir wurden Margaux. Wir wuchsen zu einer echten Familie zusammen, weil wir zusammenarbeiteten. Apropos Familie: Etwas unerwartet öffnete sich die Tür der Unterkunft und gab den Blick auf einen breit grinsenden Basti frei: »Wenn ihr denn mit den Rührseligkeiten durch seid, wäre es nett, wenn ihr ins Haus kommt.«

Genau dies taten wir. Nicolas ging voran, gefolgt von unserem Gast, mir und Christiano. Jurek war noch kurz mit einem elektronischen Gerät beschäftigt, um uns dann ebenfalls zu folgen. Was sich von außen bereits abzeichnete, bestätigte der innere Aufbau. Das Gebäude im Gebäude war fast ein richtiges Haus. Es gab Schlafräume, WC und Dusche, eine kleine Küche mit einem gut bestückten Kühlschrank und einem großen Wohn- und Besprechungsraum, mit Anrichte, Sitzgelegenheiten, Flatscreen, Wohnzimmertisch und einer Schale mit frischen Äpfeln.

»Willkommen in der Hütte!«, begrüßte uns eine junge Frau, die fast noch ein Mädchen war - Sofia.

Ich nahm es jedenfalls an, denn persönlich begegnet war sie mir noch nie. Bei ihr handelte es sich um einen Neuzugang. Loren hatte mir bei einem unserer Telefongespräche ihre Geschichte erzählt, die, wie so oft in unserer Welt, als alles andere als erbaulich bezeichnet werden konnte. Der Anfang konnte kaum klischeehafter sein. Sie war Mitglied einer Gruppe osteuropäischer junger Frauen, die mit haltlosen Versprechungen in die Vereinigten Staaten geschleust wurden, um dort dann als Sexsklavinnen arbeiten zu müssen. Die Frauen wurden von ihren Zuhältern auf verschiedene Wohnungen verteilt, wo sie zu dritt oder viert ihrer wenig erfreulichen Tätigkeit nachgehen mussten. Die skrupellosen Betreiber dieses Menschenhändlerrings wussten sehr genau, wie sich das Maximum aus ihren Investitionen herausholen ließ, ohne dabei Gefahr zu laufen, mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen. So hatten sie den Frauen unter anderem die Pässe weggenommen. Außerdem hielten sie sich illegal in den USA auf und mit Illegalen verstand das immigration office keinen Spaß. Die Zuhälter brachten das System dazu, für sie zu arbeiten. Und wo das nicht ausreichte, wurde mit klassischen Mitteln nachgeholfen: Entweder mit grünen Scheinen oder, wenn nichts anderes funktionierte, auch mit handfesten Argumenten. Außerdem stand mehr als ein Cop auf ihren Lohnlisten. Soweit handelte es sich um das ebenso alte, wie bekannte, aber immer noch grausam effizient funktionierende Ausbeutungssystem.

Doch dann kam Sand ins Getriebe, Sand in Form einer jungen Frau. Eigentlich handelte es sich bei ihr um eine absolute Schönheit, weswegen sich ihre Zuhälter hohe Renditen von ihr versprachen und sie vorzugsweise zahlungskräftigeren Kunden als dem durchschnittlichen Freier vermitteln wollten. Nur funktionierte das nicht. Sofia machte zwar ihren unfreiwilligen Job und brachte die von ihr bedienten Männer auch zum Abschuss, doch irgendetwas schien mit ihr nicht zu stimmen. Kaum ein Freier wollte mehr als drei oder vier Mal mit ihr zusammen sein. Sie empfanden Sofia als „irgendwie unheimlich“, obwohl keiner sagen konnte, was denn an ihr unheimlich war. Auf jeden Fall schien sich der Eindruck mit jedem Besuch zu verstärken. Es wurde aus Sicht der Zuhälter sogar noch schlimmer. Der Effekt übertrug sich allem Anschein nach auf die anderen Mädchen, sobald diese Kontakt mit Sofia hatten.

Bekannterweise sind Kriminelle eigentlich nichts anderes als Kapitalisten in Reinstform. Jede Aktivität wird einer erbarmungslosen Kosten-/Nutzenrechnung unterworfen. Auf der einen Seite standen die Kosten, wozu auch das Risiko erwischt zu werden zählte, auf der anderen die erwarteten und erzielten Profite. In dieser Hinsicht musste Sofia als Totalausfall betrachtet werden. Im Gegensatz zu einem normalen Arbeitgeber, der in solchen Fällen eine Kündigung aussprach, griff das halbseidene Gewerbe zuweilen auch zu sehr endgültigen Formen der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses. Sofias Sklavenhalter gingen davon aus, dass sie nicht nur ihre Freier mit Vorsatz verstörte, sondern ihre Kolleginnen anstachelte, ähnliches zu tun. Anders konnte sie sich die ganze Sache nicht erklären. Wichtig war daher, ein Exempel zu statuieren, das den anderen Frauen als Lehre dafür dienen sollte, was passiert, wenn sie nicht spurten.

Doch dann kreuzten sich Jureks und Sofias Wege. Wie wir später erfuhren, befand er sich auf der Suche nach einer Lagerhalle, die als eine unserer sicheren Notunterkünfte dienen sollte. Als Vampir betrieb er seine Suche vornehmlich zu nächtlichen Zeiten, in denen aber auch die nicht allzu ehrenwerte Gesellschaft ihrem gesetzlosen Treiben nachging. Der Zufall wollte es, dass Jurek ausgerechnet mitbekam, wie sämtliche Mädchen des Sexsklavenrings in einer Lagerhalle zusammengetrieben wurden. Zuerst wollte er sich nicht einmischen. Es bestand immer die Gefahr, als Hämophage enttarnt zu werden, weswegen die meisten unserer Art Begegnungen mit Menschen aus dem Weg gingen, selbst dann, wenn sie Zeugen eines Verbrechens wurden oder dieses sogar verhindern konnten. Jurek trieb der gleiche Impuls an: »Dies ist eine Sache von Menschen und geht mich nichts an.« Doch dann bemerkte er die fürchterliche Angst der Frauen, von denen viele noch wie Mädchen aussahen, und konnte sie einfach nicht mehr ignorieren. Er sprang in die Schatten der dunklen Gänge zwischen den Hallen, verschmolz mit ihnen und schlich sich an den Ort des Geschehens heran. Er schwang sich auf das Dach der Lagerhalle, in der die Frauen zusammengetrieben wurden, entdeckte dort eine Lüftungsklappe und schlüpfte hinein. Geräuschlos, wie nur ein Vampir schleichen konnte, kletterte er auf den Stahlträgern der Dachunterkonstruktion und konnte so die Vorgänge sicher und durch Dunkelheit geschützt von oben betrachten.

»Hier«, meinte einer der Zuhälter und drückte zwei New Yorker Cops je einen Briefumschlag in die Hände. »Es ist dieses Mal ein wenig mehr, dafür bleibt ihr hier. Ihr könnt ja die Augen schließen, wenn euch unsere kleine Show nicht zusagt.«

Und dort entdeckte er sie - Sofia. Jurek wusste sofort, dass diese junge Frau anders war. Er begriff aber auch, welches Schicksal für sie geplant war. Irgendeiner ihrer Zuhälter hatte sie bereits massiv misshandelt. Nun hockte sie schlapp und voller Hämatome auf einem Stuhl in der Mitte der Halle. Die Typen wollten sie töten und die anderen Sexsklavinnen sollten dabei zusehen. Die Formel war einfach: Terror führte zu Angst und Angst zu Schweigen. Je größer der Terror, desto größer die Angst, desto eiserner das Schweigen. Dazu diente auch die Anwesenheit der Cops. Im Bewusstsein der Frauen sollte sich das Wissen einbrennen, sich niemandem anvertrauen zu können, selbst den Cops nicht, denn die standen im Zweifelsfall auf der Gehaltsliste ihrer Peiniger. Einer der Zuhältertypen, ein bulliger Muskelberg, der sein brutales Auftreten liebevoll kultivierte, schwang einen Baseballschläger. Er übte, und Jurek wusste auch, wofür. Jurek schloss kurz die Augen, holte tief Luft und handelte.

Die Sklavenhalter wussten nicht, was mit ihnen geschah. Von einer Sekunde auf die andere erlosch das Licht in der Halle, die zusammengetrieben Frauen kreischten, es kam zu ein paar erstickten Schreien und dem dumpfen Geräusch zu Boden fallender Körper. Dann herrschte Stille. Erst etliche Minuten später verkündeten Sirenentöne und rot-blaue Blinklichter das Eintreffen etlicher Polizei- und FBI-Kräfte. Den anonym alarmierten Strafverfolgern eröffnete sich ein überraschendes Bild: Eine Halle mit acht besinnungslos am Boden liegenden, schwer bewaffneten Zuhältern, zwei ebenfalls besinnungslosen Cops, in deren Jacken noch die Umschläge mit Bestechungsgeldern steckten und über vierzig verängstigten Frauen, die ganz offensichtlich ein längeres Martyrium als Sexsklavinnen gefristet hatten. Für die Ermittler völlig überraschend waren alle Frauen begierig darauf, auszusagen. Etwas, was ihnen bisher noch nie untergekommen war. Aber dieses Mal warteten die Frauen mit Namen auf, benannten Adressen von Privatbordellen und Freiern. Nur zu einem konnten sie nichts sagen, dem Verbleib einer ihrer Leidensgenossen namens Sofia.

Der wurde zur gleichen Zeit von einem Vampir namens Jurek Margaux die wohl wichtigste Frage ihres Lebens gestellt, nämlich die, ob sie sich frei und ohne Zwang unserem Haus anschließen und ein Leben frei von Furcht, Leid und Angst führen möchte.

»Du bist etwas Besonderes«, stellte Jurek fest, während er Sofia ebenso fest im Blick behielt. »Du kannst es in dir fühlen, oder?«

»Ja«, antwortete die junge Frau. »Seit ich klein war, wusste ich Dinge, die ich nicht wissen durfte. Ich wusste, wann meine Mitschüler logen und was sie wirklich dachten oder vor anderen geheim halten wollten. Alle mieden mich. Ich hatte noch nie Freunde.«

»Jetzt schon!«, meinte Jurek lächelnd.

»Indem ich ein Vampir werde?«

»Du weißt, was ich bin?«, stellte Jurek erschrocken fest und musste dann wieder lächeln. »Natürlich weißt du es«

Sofia zuckte mit den Schultern, lächelte ebenfalls und meinte schlicht: »Okay! Beiß mich!«

»Und du musst Florian sein«, stellte Sofia schnörkellos fest.

»Schuldig im Sinne der Anklage«, bestätigte ich ihre Vermutung. Ich verstand, warum Menschen diese Frau fürchteten. Sie war anders. Sogar als Vampirin war sie anders. Ich musste wieder an ihre Geschichte denken und begann zu zweifeln, ob ihre Peiniger sie wirklich hätten ermorden können. Vielleicht wäre der Baseballschläger, mit dem sie erschlagen werden sollte, viel mehr zum Zündfunken geworden, der ihre damals schon latenten Fähigkeiten entfacht hätte. Nur dass dies alles andere als in einer kontrollierten Situation geschehen wäre. In Rückblick dürfte Jurek weit mehr getan haben, als eine unschuldige junge Frau aus der Sklaverei befreit zu haben.

»Er hat das Jüngste Gericht verhindert«, bestätigte Sofia meine Überlegung.

»Dir ist schon bekannt, dass es unhöflich ist, in fremden Gedanken zu stöbern?«

»Ist es das?«, erwiderte Sofia keck. Himmel, die Frau war ja immer noch eine entsicherte Handgranate. Ich konnte verstehen, warum sie es tat. Sie lotete ihren Spielraum aus. Vielleicht wollte sie mich auch beeindrucken. Immerhin war ich der Stammvater unseres Hauses.

»Es kann auch gefährlich sein. Du weißt nie, was du vielleicht entdeckst«, erwiderte ich breit grinsend und ließ ein klein wenig, und auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, etwas von meinem inneren Löwen, dem brutalen, wilden und gewaltigen Urwesen frei.

Sofia wurde schlagartig kreidebleich, starrte mich entsetzt an, um danach beschämt zu Boden zu schauen.

»Entschuldigt, mein Fürst!«, flüsterte Sofia.

Shit, das ging daneben! Ich wollte die junge Frau, die so viel erlebt hatte, nicht einschüchtern. Es ging auch nicht darum, meine Dominanz zu demonstrieren. Ich wollte ihr nur zeigen, dass ihre Gabe auch Gefahren barg. Du kannst ein noch so großes Raubtier sein, doch irgendwo lauert eines, das noch größer ist. Diese Erfahrung musste Sofia machen.

»Nein, keine Entschuldigung«, erwiderte ich und kniete mich vor Sofia hin, die immer noch auf den Boden vor mir starrte. Sanft griff ich nach ihrem Kinn und hob ihren Kopf an. »Ich möchte dich bitten, vorsichtig zu sein. Du weißt nicht, wem du vielleicht begegnest. Manche Dinge willst du nicht in deinem Kopf haben. Da fällt mir noch etwas wichtiges ein.« Ich griff zärtlich nach Sofias Händen und nahm sie in die meinen. Sie sah mich verstört an. Doch ich lächelte: »Willkommen im Haus Margaux!«

»Ähm, danke«, hauchte Sofia und sah plötzlich entspannt, gelöst und glücklich aus.

»Ich sagte doch, dass du vor Flo keine Angst haben musst«, bemerkte Jurek freundlich.

»Ich will ja kein Spielverderber sein«, bemerkte Phillip, der gerade den Raum betrat, »aber ich glaube nicht, dass Jurek uns nur zum Spaß hergerufen hat.«

»Hat er auch nicht«, meldete sich Basti, der einen vollkommen verunsicherten Darren ins Zimmer führte. »Nicolas und Christiano sind draußen und passen auf, dass wir ungestört bleiben.«

»Das ist Darren. Wir haben ihn...«, begann Jurek Sofia zu erklären, doch die legte ihre Hand sanft auf dessen Arm und stoppte so seine Erklärungen.

»Ich weiß«, meinte sie leise und erntete ein »Natürlich« von Jurek.

»Entschuldige«, entgegnete die junge, unheimliche Frau aufrichtig und sah Jurek sehnsüchtig und entschuldigend an. »Es ging so einfach schneller.«

Mit diesen Worten erhob sich Sofia und ging auf den im Raum stehenden Darren zu. Der zitterte wie Espenlaub und war auch ziemlich blass. Offensichtlich hatte er sich sein Date mit einem Vampirclan etwas anders vorgestellt.

»Keine Angst«, sprach Sofia den jungen Kerl an, der sich scheinbar unter dem Einfluss ihrer Stimme und den darin eingewobenen hypnotischen Befehl tatsächlich etwas beruhigte. »Ich will dir nichts tun. Ich weiß, dass du nichts Böses im Schilde führst. Das heißt aber nicht, dass du keine Gefahr für uns bist.«

Die letzte Bemerkung stellte sich als strategisch unklug heraus, da sie genau das Gegenteil von dem bewirkte, was Sofia beabsichtigte. Statt sich vor uns zu fürchten, schien Darren nun seinem eigenen Körper zu misstrauen. Das hielt Sofia aber nicht auf, ihre Untersuchung zu beginnen. Fasziniert sah nicht nur ich, sondern die ganze Rasselbande ihrem Wirken zu. Wir konnten erkennen, wie sich Sofia konzentrierte. Statt aber nur ihre Stirn in Falten zu werfen, veränderte sie sich. Ihre Augen färbten sich schwarz und vertrieben alles Weiß. Gleichzeitig begann sie, Darren langsam zu umrunden. Vorsichtig strich sie sanft mit ihren Händen über seinen Körper. Hände, Arme, Hals und Kopf, Brust und Bauch. Als sie zu seinem Schritt kam, meinte sich frech: »Keine Angst, ich war eine Professionelle«

Ihr Humor gefiel mir.

»Bingo, der Kandidat ist ein Volltreffer«, rief Sofia plötzlich. »In der Rückseite seines linken Oberschenkels trägt er einen Sender mit GPS-Tracker unter der Haut. Er weiß davon nichts.« Sie wandte sich Darren zu: »Es tut mir leid, Kleiner, aber du bist verwanzt. Die Typen, mit denen du dich eingelassen hast, haben dich unter Drogen gesetzt. GHB, um genau zu sein. Soweit ich es noch erkennen kann, warst du vor ein paar Wochen auf einer Party. Die war wohl etwas wilder.«

»Was haben die mit mir gemacht?«, rief Darren und wurde noch ein wenig blasser, soweit dies physisch möglich war.

»Nichts, was sich nicht fixen ließe«, verkündete Jurek und klappte ein Klappmesser aus. Darren begann zu hyperventilieren. Seine Augen nahmen die Größe von Pfannkuchen an... Jedenfalls im übertragenen Sinne. Jurek grinste breit, griff nach einem Apfel, schnitt ihn in Spalten und hielt Darren eine vor die Nase: »Möchtest du?«

Ich glaube, der arme Klamottenverkäufer war kurz davor, in Ohnmacht zu fallen. Jureks Humor hatte wirklich etwas sehr subversives. Wo hatte er das nur her? Dieser Mann war nicht mehr der Bengel aus Bronkovics Haus, der mit frechen Sprüchen seine Unsicherheit überspielte. Jurek war definitiv gewachsen und zu einem selbstbewussten Mitglied unseres gemeinsamen Hauses gereift. Die Unsicherheit, die er vor ein paar Stunden gezeigt hatte, musste ich wohl auf die einschüchternde Wirkung der Anwesenheit seines Stammvaters buchen. Shit, was mach ich nur falsch? War ich denn kein knuffiger, lieber und kuschliger Typ?

»Hose runter!«, bat Jurek in einem Tonfall, der eigentlich keinen Widerspruch erlaubt. Mein nettes Verkäuferkerlchen zuckte zusammen und sah mich ängstlich fragend an. Ich nickte aufmunternd und hoffentlich mit einem Gesichtsausdruck, der Vertrauen vermittelte. Jedenfalls strippte Darren. Ich weiß, es war nicht der richtige Ort, an so etwas zu denken, aber der Mann sah lecker aus. Der körperbetont geschnittene, weiße Slip saß perfekt und brachte sein Päckchen und den knackigen Arsch richtig gut zur Geltung. Als er sich dann auch noch seines T-Shirts entledigte, stand ein wirklich attraktiver Mann vor uns. Die Betreiber der Modekette wussten ziemlich genau, mit welcher Art von optischem Anreiz sich ihre Kleidung am besten verkaufte.

Oder wie sich schwule Vampire anlocken ließen?

Die Frage drängte sich zwangsläufig auf und führte ebenso zwangsläufig zu weiteren Fragen: Gab es mehr von seiner Sorte? Deckten diese Vampirfallen auf zwei Beinen das gesamte Spektrum an Geschlechtern und Orientierungen ab? Und wenn es sie gab, wo lauerten die anderen Köder? Und zum Schluss die Frage aller Fragen: Zu welchem Zweck legte jemand Lockvögel für Vampire aus?

»Die Unterhose auch?«, fragte Darren, der bis auf eben jenes Kleidungsstück entblättert im Raum stand, und riss mich aus meinen unzüchtigen Gedanken.

Ich schaute fragend zu Sofia, aber die schüttelte nur den Kopf: »Nein, das ist nicht nötig.« Mit diesen Worten näherte sie sich wieder ihrem Ziel, umrundete es und hockte sich hinter ihm hin.

»Das wird sich jetzt gleich ein wenig merkwürdig anfühlen.«

Was um Himmels willen war Sofia? Die Fähigkeiten dieser Frau waren beeindruckend. Aber vor allem waren sie unheimlich. Sie legte eine Hand auf die Rückseite von Darrens linkem Oberschenkel, schloss ihre Augen und begann sich zu konzentrieren. Was sie da auch immer trieb, es strengte sie an. Ich hatte so etwas noch nie vorher gesehen. Die Adern an Hals, Schläfen und Stirn traten unnatürlich stark hervor. Sie pulsierten und wurden dunkel, fast schwarz. Sofia presste ihre Augen zusammen. Aus den inneren Augenwinkeln und aus ihrem linken Nasenloch quoll dunkelrotes Blut. Ihre freie Hand verkrampfte sie. Ein leiser, aber sehr enervierender Ton erfüllte den Raum. Ich begann mir Sorgen zu machen, dass Sofia zu weit ging, ihre Grenzen überschritt und sich damit in Gefahr brachte. Ich wollte schon etwas sagen und die ganze Aktion abbrechen, als mir Jurek seine Hand auf die Schulter legte: »Sie weiß, was sie tut.«

»Yes!«, rief Sofia, während gleichzeitig von Darren ein »Ihh! Ürrgg!« zu hören war. Letzterer zuckte zusammen und sprang ein Stückchen von Sofia weg. Die erhob sich triumphierend, grinste zufrieden, streckte ihre rechte, zur Faust geballte Hand aus und öffnete sie. In der Innenfläche lag eine kleine Glaskapsel, der Trackingsender.

»Ich glaube, den sollte sich Christiano ansehen«, schlug ich vor. Der Mann war ein erfahrener Spion. Er galt sogar als einer der Besten unter uns Vampiren. Wenn sich jemand mit solchen technischen Spielereien auskannte, dann er.

»Schon da!«, rief der wilde Portugiese. Er sah meine Überraschung und zeigte erklärend auf Sofia: »Sie hat mich gerufen... mental.«

»Okay...«, erwiderte ich und überließ es meinem ersten und besten Freund, wie er die Glaskapsel untersuchte.

»Militärqualität der neuesten Generation. Keine Seriennummer, über die man das Teil zurückverfolgen könnte. Hochverschlüsselte Datenübertragung. Aber wir könnten versuchen, die Sendefrequenz zu ermitteln. Natürlich nur, wenn das Teil kein Breitbandsignal mit pseudozufälligem Channelhopping verwendet.«

»Was auch immer«, entgegnete ich, »Hast du einen passenden Scanner?«

»Aber Flo«, tat Christiano gespielt entrüstet und holte ein kleines Gerät aus seiner Jackentasche, »Allzeit bereit. Ich hatte mit so etwas in der Art schon gerechnet.«

Es dauerte nicht lange, da hatte Christiano die Sendefrequenz ermittelt und auch eine Aufzeichnung des Signals vorgenommen. Vielleicht hatten wir Glück und es gelang uns, die Sendedaten doch zu entschlüsseln. Blieb für uns eigentlich nur noch eins zu tun.

»Ist Darren jetzt clean?«, wollte ich von allen meinen Freunden und Familienmitgliedern wissen. Jeder, der etwas dazu zu sagen hatte, nickte und meinte, dass von ihm weder körperlich noch geistig eine Gefahr ausging. Selbst seine Kleidung hatten Christiano und Nicolas eingehend untersucht.

»Gut, dann gib mir bitte den Tracker«, forderte ich Christiano auf. Der reichte mir das Teil. Ich ließ es auf den Boden fallen und trat mit voller Wucht mit dem Absatz meines Schuhs darauf, dass die Kapsel zersplitterte und die Elektronik zerbrach.

»Protokoll Tabula rasa«, verkündete ich in meiner besten Tony Stark Imitation.

Atli

»Ich kann das!«, sprach sich Bjarni selbst Mut zu. Der wenige Tage alte Nosferatu hockte auf einem Häuserdach und schaute in die von noch vereinzelt vorhandenen Laternen spärlich erleuchteten Straßenzüge hinab. Die Aufgabe war überschaubar: Ziel ausmachen, hinabgleiten, Ruf aktivieren, zubeißen, trinken, versiegeln, Gedächtnis löschen und schnell wieder weg - schnörkellos und professionell. So sagte die Theorie. Gab es eigentlich ein Lehrbuch für die Jagd auf Blutspender?

Es war früher Abend. Zu dieser Jahreszeit ging die Sonne nicht sonderlich früh, aber auch noch nicht wirklich spät unter. Diese Indifferenz passte zum Klima: Der Winter hatte sich zwar verabschiedet, der Frühling aber noch nicht sehen lassen. Wenn es auch nicht mehr fror, warm war etwas anderes. Obwohl, spielte die Umgebungstemperatur überhaupt noch eine Rolle? Zufrieden stellte Bjarni fest, dass seinem verwandelten Körper die Zahlenwerte der Thermometerskala weidlich egal waren. Umso erstaunter registrierte der Isländer das rege Treiben in den Straßen. Weitaus mehr als in den Wochen zuvor, bevölkerten die Bewohner der Stadt ihre Umgebung. Dabei gab es keine Meldungen über Waffenstillstände oder besondere Aktionen der Konfliktparteien.

Was auch immer der Grund sein mochte, Bjarni nahm es als vielversprechendes Zeichen. Systematisch ließ er seinen Blick die Straßen entlang wandern, um ein passendes Ziel auszumachen - Opfer wollte er seine Spender nicht nennen. Doch was er auch sah, so richtig anfreunden wollte er sich mit dem Angebot nicht.

»Junge, reiß dich zusammen«, grummelte er vor sich hin, »Such dir irgendjemanden aus! Es ist nur Blut!«

Leichter gesagt als getan. Bjarni stellte überrascht fest, dass er einfach keinen Appetit verspürte, ein altes Mütterchen zu beißen, obwohl es sich in optimaler Jagdposition befand. Sie war alleine und die Straße düster. Trotzdem hatte der Gedanke an das Blut der Frau die gleiche Wirkung, wie der Versuch von Bjarnis Mutter, ihrem Sprössling in Kindertagen die Vorzüge von Kohlrabi nahezubringen: Es verursachte Übelkeit.

»Was für ein Glück, dass ich was gegessen habe«, knurrte Bjarni mangels Publikums zu sich selbst und musste über seinen eigenen dummen Witz grinsen. Die Tüten mit Trockenblut konnte niemand ernsthaft als Mahlzeit betrachten. Das Zeug machte satt und damit hatte es sich. Torf dürfte ähnlich delikat schmecken.

»Hey!« Bjarnis Nase hatte eine Witterung aufgenommen, bevor seine Augen das potenzielle Ziel ausmachten. Es waren mehrere Ziele, genaugenommen deren drei. Drei junge Kerlchen, alle etwa Anfang zwanzig, lümmelten am Ende einer Sackgasse herum. Zwei hockten auf der Motorhaube eines Autowracks, einer stand vor seinen Kumpeln und war wild am gestikulieren.

Drei - überlegte Bjarni und begann still und leise vor sich hin zu grinsen. Drei sind doch besser als einer, oder? Entweder gehörten die Typen zu einer der miteinander kämpfenden Bürgerkriegsparteien oder sie wollten sich im Zweifelsfall verteidigen können, denn jeder hatte eine AK47, sprich Awtomat Kalaschnikowa, obrasza 47 oder einfach nur Kalaschnikow lässig über den Arm geschultert. Es sah total männlich und mindestens so denkbefreit hirnlos aus. Bjarni überlegte. Alle seiner Sinne raunten ihm, dass die drei Jungs absolut lecker waren. Er konnte ihre Appetitlichkeit regelrecht sehen und sogar an seinem Standort von weit oben auf dem Dach riechen. Auf der anderen Seite waren es drei erwachsene Männer, und die auch noch bewaffnet, denen er gegenübertreten wollte - aber eben drei sehr leckere Männer. Bjarni leckte sich unwillkürlich über die Lippen und stellte fest, dass seine Zähne ebenso unwillkürlich ausgefahren waren. So what?

Der junge hämophagische Isländer schwang sich über die Brüstung des Flachdachs und flog auf die Gruppe zu. Während er sich noch fragte, auf welche wahnwitzige Idee er da eigentlich gekommen war, übernahmen seine vampirischen Instinkte die Kontrolle. Noch bevor seine Füße wieder Bodenkontakt erhielten, feuerte sein Unterbewusstsein eine mentale Bombe konzentrierten Vampirrufs in die Dreiergruppe ab. Die Typen, deren muskulöse Staturen erst aus der Nähe richtig erkennbar wurden, betrachteten Bjarni mit der üblichen debil entrückten Verzückung, wie sie für Menschen unter dem Einfluss eines Blutsaugers typisch war. Um erst gar kein Risiko einzugehen, packte sich Bjarni den nächstgelegenen Kerl und biss zu.

Du musst dich beherrschen! Du musst dich beherrschen! Du musst dich beherrschen!

Der viskose rote Saft schoss Bjarni in den Mund, gelangte auf seine Zunge und zündete dort ein Feuerwerk an Geschmackseindrücken, das ihn fast überwältigte. Immerhin war es das erste Mal, dass er direkt von der Quelle und nicht indirekt von Tavin zuzelte. Einzelne Moleküle wanderten mit dem Luftstrom beim eigentlich für Vampire überflüssigen Atmen in Richtung Nase und blieben an den Geruchsrezeptoren hängen. Frisches, junges, würziges, nahrhaftes Blut. Wie konnte er nur einem derart köstlichen Saft widerstehen?

Du musst dich beherrschen! Du musst dich beherrschen! Du musst dich beherrschen!

Kontrolle! Du bist der Herr deines Körpers! Bjarni riss sich zusammen und zwang sich, den Aderlass zu stoppen. Mit einem mentalen Ruck stoppte er das Saugen, zog seine Zähne aus dem Hals des Spenders und versiegelte die Wunde, als ob er nie etwas anderes gemacht hätte. Gestärkt vom ersten Happen verstärkte er die mentale Kontrolle über die Gruppe und schnappte sich den zweiten Kerl. Dieser schmeckte nicht ganz so gut. Bjarnis Nase wusste auch, warum: Der Mann war ein starker Raucher, was in seinem Körper deutliche Spuren hinterlassen hatte. Umso leichter fiel es, sich von diesem Typen wieder zu trennen und dem dritten Spenderkandidaten zuzuwenden.

Wow! Die ersten zwei hatten schon gut geschmeckt, aber das dritte Kerlchen war einfach der Hammer. Er schmeckte nicht nur wirklich gut, sondern fühlte sich auch gut an, als ihn Bjarni zwecks Aderlass in seine Arme nahm. Noch während sich der wenige Tage alte Nosferatu fragte, wie sich die Unterschiede bei der Nahrungsaufnahme wohl erklären ließen, erschien eine mögliche Antwort vor Bjarnis innerem Auge. Für ihn vollkommen unerwartet konnte er die Gedanken seiner drei Blutspender klar und deutlich hören. Die ersten beiden Snacks dachten das, was wohl junge Kerle in einem von Bürgerkrieg geplagten Land so allgemein denken dürften: Wie sie aus der ganzen Scheiße mit heiler Haut rauskommen könnten, dass das natürlich alles die Schuld der anderen Seite sei und ob sie sich nicht doch den Kämpfern anschließen sollten. Wenn schon jemand ins Gras beißen musste, dann doch lieber die anderen. Außerdem, und das war ihr mit Abstand intensivster Gedanke, vermissten sie Sex, richtig guten, geilen Sex. Dabei flammten Bilder von dicken Brüsten, roten Lippen, die sich um übergroße Schwänze legten, sowie anderen primären Geschlechtsorganen beiderlei Geschlechts in unterschiedlichen Zuständen der Interaktion in seinem Kopf auf und hätten extrem abtörnend gewirkt. Heterosex war einfach nicht Bjarnis Ding, weder als Mensch noch als Nosferatu. Zum Glück spielte sich im Schädel seines dritten Abendessens ein ganz anderes Kopfkino ab. Der Typ war ein echter Träumer. Auch seine Gedanken drehten sich vornehmlich um Sex, doch während es bei seinen Kumpeln mehr handfest zur Sache ging, schwelgte dieser in sehr sinnlichen, ebenfalls recht handfesten, aber rein männlich geprägten Sphären.

In Bjarnis Kopf machte es Klick. Die Menschen, von denen er sich ernährte, schmeckten umso besser, je näher sie dem Ideal seines Wunschmannes kamen. Der da gerade in seinen Armen lag, entsprach, das musste sich Bjarni eingestehen, ziemlich genau seinem Beuteraster, was in diesem Fall nicht kulinarisch gemeint war.

Die Erkenntnis hatte nur einen Schönheitsfehler: Sie brachte ihn in seiner momentanen Situation keinen Millimeter weiter. Mit einem stillen Seufzer des Bedauerns, den Moment nicht länger auskosten zu können, riss sich Bjarni vom letzten Blutspender los und versiegelte auch seine Bisswunde. Alle drei Männer stattete er mit passenden Ersatzerinnerungen aus. Dabei konnte er es sich aber nicht verkneifen, ihnen noch ein paar unterbewusste Befehle in den Verstand einzupflanzen: Sie sollten sich nicht vor irgendwelche ideologische oder rassistische Karren spannen lassen. Bürgerkrieg schuf keine Gewinner, nur massenweise Verlierer. Das beste wäre, wenn sie sich absetzten, oder noch besser untertauchten und den Opfern halfen. Dem dritten Typen gab er noch den zusätzlichen Befehl mit, seine Träume nicht nur zu träumen, sondern Wirklichkeit werden zu lassen und sich einen netten Partner zu suchen.


»Schon zurück?«, wollte Tavin wissen, der damit gerechnet hatte, dass Bjarni für seine erste Jagd allein wesentlich länger brauchen würde. »Wie ich sehe, warst du erfolgreich. Lief alles glatt?«

»Besser als das. Ich habe eine Gruppe von drei Typen angezapft. Hier trink!« Stolz wie Oskar drückte der Isländer seinem schottischen Partner das Handgelenk in den Mund, was dieser sofort nutze, um seinen Hunger zu stillen.

»Hmm, wie ich sehe, waren die drei jung, kräftig und gesund«, stellte Tavin gesättigt fest. »Das hast du wirklich gut gemacht. Gib mir noch paar Minuten und wir können aufbrechen.«

Um Verwundungen, wie die Schussverletzung Tavins, zu heilen, benötigten Vampire wie Nosferatu ausschließlich frisches Blut, sei es direkt von der Quelle oder indirekt von einem anderen Hämophagen, der sinnvollerweise vorher getrunken hatte. Die Formel für Heilungen war einfach: Kleine Verletzungen erforderten wenig Blut, große Verletzungen viel Blut. Bei der Kugel, die Tavin getroffen hatte, handelte sich um eine relativ kleinkalibrige Patrone vom Format 5,56 x 45 mm, die zum Glück während ihres Fluges nicht zerplatzt war, was ihre Wirkung drastisch erhöht und wesentlich mehr Blut zur Heilung erfordert hätte. So reichten ein paar Schlucke von Bjarni, um sich von der für Menschen durchaus ernsten, wenn nicht sogar tödlichen Verletzung rasend schnell zu erholen.

»Gut«, verkündete Tavin kraftstrotzend, »besuchen wir deinen Freund.«

»Was?« Bjarni musste schlucken. Atli wiedersehen? Einerseits freute er sich darauf, seinen Kumpel, seinen ersten und besten Freund wiederzusehen und ihm zu sagen, dass er, Bjarni, nicht gestorben sei und noch lebe. Aber das wäre dann doch nicht ganz korrekt. Er war ja gestorben und leben tat er auch nicht wirklich. Das war das andererseits. Was würde Atli sagen, wenn er die Nosferatufratze sah, die ihn jetzt zierte und was, dass er ein Vampir war, ein Schrecken der Nacht, der sich vom Blut unschuldiger Menschen ernährte? Und wenn diese Fragen nicht reichten, dann gab es da immer noch Bjarnis Brief und Testament. Das konnte alles nur peinlich enden.

»Ich glaube, ich kann das nicht«, haderte Bjarni, während Tavin losstiefeln und über die Leiter aus dem Kellerloch herausklettern wollte. »Er wird meinen Brief gelesen haben.«

Tavin drehte sich auf der Ferse um, trat einen Schritt an Bjarni heran und konnte ein schadenfrohes Grinsen kaum unterdrücken: »Muffensausen?«

»Pure Panik!«, gestand der Isländer. »Tavin, du hast während der Erweckung meine Gedanken gelesen. Du weißt, was ich Atli geschrieben habe.«

»Stimmt«, erwiderte Tavin vergnügt und ultrabreit grinsend. »Niemand kann behaupten, du hättest dich zurückgehalten. Alles wunderschön plastisch und definitiv nicht jugendfrei. Manch einer könnte es für einen handfesten Porno halten.«

»Ist es das nicht?«, wollte Bjarni selbstzweiflerisch wissen.

»Verkauf dich nicht unter Wert. Klar warst du deutlich. Ich bin zwar heterosexuell, aber so wie du das beschrieben hast, bekam selbst ich eine Erektion. Dein Brief ist sinnlich, voller Sehnsucht und Liebe. Atli ist doch nicht doof. Der wird ganz genau verstanden haben, was du eigentlich sagen wolltest, nämlich dass du ihn aus tiefstem Herzen liebst. Er wird aus einem ganz anderen Grund stocksauer sein.«

»Ähm, ja?« Die Panik war wieder da.

»Dass du in all den Jahren nicht den Arsch in der Hose hattest, ihm gegenüberzutreten und zu sagen, was du für ihn empfindest.«

»Und jetzt trittst du mir in den selbigen. Verbindlichsten Dank!«, grummelte Bjarni und setzte sich in Bewegung. »Also gut, gehen wir.«


Der Wechsel in Tavins Prioritäten konnte radikaler kaum ausfallen. Statt sich weiter mit ihrer Flucht aus Sarajevo zu beschäftigen, stand nun ein Besuch Atlis auf dem Plan. Bewegten sich die beiden Nosferatu bisher heimlich und leise durch die Stadt, ließ Tavin mehr oder weniger alle Vorsicht fallen und hielt direkt auf den Standort der NATO-Einsatzzentrale zu. Deren Hauptquartier wirkte zwar improvisiert, wurde aber gut bewacht. Insbesondere hatten die Streitkräfte den gesamten Perimeter mit NATO-Draht und einem hohen Zaun abgesperrt und hell ausgeleuchtet. Einfach auf Nosferatuart mit dem Schatten zu verschmelzen und hineinzuschlüpfen funktionierte hier nicht. Oder doch? Mit Bjarni im Schlepptau lief Tavin die gesamte Außengrenze des Areals ab. Um den patrouillierenden Wachen keinen Anlass zu geben, Verdacht zu schöpfen, irgendjemand plante, in den Standort einzudringen, blieben die zwei in Deckung. Zusammen mit Bjarni umrundete Tavin gut zweieinhalb Mal den gesamten Komplex, bis er stehen blieb.

»Hier könnte es gehen«, meinte der Schotte und spähte in Richtung des Lagers. Genaugenommen schaute er in Richtung eines Scheinwerfers, der den Grenzstreifen in gleißendes Licht tauchte. Und genau diese Lampe machte plötzlich Puff. Es gab ein Rauchwölkchen und ein Teil wurde dunkel.

»Jetzt!«

Noch bevor die Wachen reagierten und den nicht mehr vom Scheinwerfer ausgeleuchteten Bereich sicherten, sprangen die zwei Hämophagen im entstandenen Halbdunkel unbemerkt über den Zaun. Das Lager war ziemlich groß. Haupt- und Nebenwege, sowie Arbeitsflächen waren beleuchtet, aber zwischen den Baracken, Hallen und Unterständen herrschte Finsternis. Es wäre weder ökonomisch noch sonderlich nett gegenüber den Bewohnern, die schlafen wollten, das gesamte Lager in gleißende Helligkeit zu tauchen.

»Jetzt bist du dran«, flüsterte Tavin Bjarni zu. »Wo steckt Atli?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Vielleicht, weil dies deine Unterkunft war?«, schlug Tavin trocken vor und ließ Bjarni vor Schreck zusammenzucken. Wie konnte er vergessen, dass Atli zusammen mit ihm in diesem Lager stationiert war? Sie teilten sich sogar ein gemeinsames Zelt. Trotzdem lag das alles gefühlsmäßig Jahre zurück, dabei waren in Wirklichkeit nur ein paar Tage vergangen. Hatte er sich mit seiner Verwandlung so stark verändert, dass ihm die gemeinsame Zeit mit seinem Freund wie eine ferne Erinnerung aus einem anderen Leben vorkam?

Vielleicht war es aber auch anders. Kaum, dass ihn Tavin an sein altes Leben erinnert hatte, war alles wieder da.

»Hier lang!«, verkündete Bjarni und übernahm die Führung. Um im Schutz der Dunkelheit zu bleiben, wählten sie nicht den direkten Weg, sondern schlichen zwischen den Zelten umher und mussten auch den einen und anderen Umweg in Kauf nehmen. Es brauchte daher etwas länger, um ans Ziel zu gelangen. Am Ende standen sie dann aber doch neben Atlis und Bjarnis ehemaliger gemeinsamer Unterkunft.

»Und jetzt?«, wollte Bjarni wissen. Er hatte keine Ahnung, wie er Atli gegenübertreten sollte, geschweige denn, was er ihm sagen sollte. Dass sein alter Kumpel sich im Zelt aufhielt, konnte er fühlen.

Statt sofort zu antworten, legte Tavin seine Hand auf die Zeltplane, schloss seine Augen und lauschte in sich hinein.

»Er ist allein«, verkündete der Schotte nach einer Weile. »Ich weiß, dass das nicht einfach ist. Sei einfach du selbst. Euch verbindet eine Freundschaft, die von so Nebensächlichkeiten wie dem Tod doch nicht gefährdet werden könnte.«

»Witzbold!« Bjarni schüttelte den Kopf. Doch er musste zugeben, dass sein Nosferatupartner ein Argument hatte. Die Beziehung zu Atli ging tiefer als eine einfache Freundschaft. Also, was blieb ihm übrig? Mit einem flauen Gefühl im Magen und gesenktem Haupt, über das er seine Kapuze schlug, umrundete er das Zelt und trat unsicher hinein.

Feldlager zählten grundsätzlich nicht zu den Orten, an denen mit sonderlich hohem Komfort zu rechnen wäre. Dies galt auch für die Unterkunft der IFOR-Truppe. Bjarni und Atli profitierten vom Umstand, dass der isländische Beitrag nur aus wenigen Personen bestand. Statt in einem der großen Gemeinschaftszelte untergebracht zu werden, wurde ihnen ein kleines Biwak zugewiesen, das sie nur zu zweit bewohnen mussten. Luxus sah trotzdem anders aus. Neben zwei Feldbetten beschränkte sich die Ausstattung auf zwei Spinde und einen kleinen Schreibtisch zwischen den Betten am hinteren Ende des Zelts.

An diesem saß Atli und war mit seinem Notebook beschäftigt. Tief in seiner Tätigkeit versunken und mit dem Rücken zum Eingang, bemerkte er nicht, wie Bjarni das Zelt betrat. Der wiederum stand jetzt zwar am Eingang des Zeltes, wusste aber nicht weiter. Sollte er sich räuspern? Sollte er flüstern? Auf Atli zustürmen und ihn umarmen? Wieder gehen? Wie konnte er nur auf die absurde Idee kommen, in seinem jetzigen Zustand mit Atli reden zu können? Als Nosferatu? Als wandelnde Totenfratze? Ich muss hier raus!

Genau in dem Moment, als Bjarni den Entschluss fasste, das Zelt wieder zu verlassen, richtete sich Atli auf seinem Stuhl etwas auf, streckte und dehnte seinen Hals und ließ ein paar Knochen knacken.

»Weißt du«, begann Atli, ohne sich umzudrehen, »eigentlich sollte ich richtig angepisst sein, dass du erst jetzt vorbeikommst. Du hättest uns sagen können, dass du überlebt hast.«

»Das habe ich nicht«, flüsterte Bjarni ängstlich. »Die Kugel des Scharfschützen hat mein Herz zerfetzt.«

»Dann ist es also, wie ich befürchtet habe. Du bist...«

»Ein Vampir«, beeilte sich Bjarni, »ein Untoter, der sich von Menschenblut ernährt. Genaugenommen bin ich ein Nosferatu. Aber, Moment mal, Atli wieso...«

»mich das nicht überrascht?«, vervollständigte Atli und drehte sich um. Bjarni senkte den Kopf und zog seine Kapuze tiefer, damit Atli seine Fratze nicht sehen konnte.

»So schlimm?«, wollte der fröhlich wissen.

»Ziemlich gewöhnungsbedürftig«, erwiderte Bjarni.

»Scheiß drauf! Nimm die Kapuze ab!«

»Atli, bitte nicht!«

»Hey«, rief Atli in einem diabolischen Tonfall, »Ich habe deinen Brief gelesen.«

»Ähm... also... ich... ähm...«

»Ach, Bjarni...«, Atli lachte amüsiert auf, »Glaubst du wirklich, dass mich deine kleine Beichte überrascht hat? Dass du für die andere Liga spielst, weiß ich länger als du selbst. Aber ich muss sagen, was du dir da ausgemalt hast, was wir miteinander machen könnten... Respekt! Da wurd sogar ich rot. Und jetzt nimm die alberne Kapuze ab! Ich will dich sehen, wie du jetzt bist.«

Unschlüssig, ob das wirklich eine so gute Idee war, der Bitte seines Freundes nachzukommen, zog sich Bjarni ganz langsam die gewünschte Kleidungskomponente vom Schädel.

»Ich war halt tot«, erläuterte der Blutsauger schüchtern seinen momentanen Zustand, »Wir Nosferatu sehen alle ein wenig unheimlich aus.«

Ängstlich und die Reaktion Atlis fürchtend, hob Bjarni zögerlich seinen Blick, schaute seinem Freund in die Augen und harrte der unvermeidlich angewiderten Reaktion. Doch die kam nicht. Atli zeigte weder Erschrecken, Ablehnung oder gar Ekel. Ganz im Gegenteil konnte Bjarni nur Freude und Freundschaft in den Augen seines besten Kumpels erkennen.

»Es ist mir egal, wie du aussiehst«, rief Atli, sprang auf und nahm Bjarni in eine Umarmung, die jeder Schraubzwinge zur Ehre gereicht hätte. »Ich bin froh, dass du noch lebst oder untot bist oder was du auch immer jetzt sein magst. Junge, du verrückter Kerl hast mir das Leben gerettet, und das nicht nur einmal. Heute Morgen, du warst da, oder?«

»Ich war dabei. Ihr seit heute Morgen knapp einem Hinterhalt entgangen. Wir, das heißt eigentlich war es nur Tavin, hat dafür gesorgt, dass eure Angreifer aufflogen.«

»Der erste Schuss!« Atli nickte wissend. »Der Squadleader meinte, ein echter Heckenschütze hätte nicht daneben geschossen. Wir sollten in Deckung gehen. Schlau. Wer ist Tavin?«

»Das bin ich«, verkündete eben jener. Tavin hatte sich in das Zelt geschlichen und stand am Eingang. »Ich bin der Nosferatu, der Bjarni gefunden und verwandelt hat. Mein Name ist Bruder Tavin vom Orden der Ghosts of the Higher Lands.«

»Dann seid ihr es, dem ich danken muss, diesen leichtsinnigen Idioten gerettet zu haben.« Atli verströmte nicht nur aufrechte Dankbarkeit, er ging auch auf den gruseligen Nosferatu zu und umarmte ihn. Damit schaffte er etwas, das Bjarni für unmöglich gehalten hatte: Tavin zeigte sich verlegen. Seine bisherigen Begegnungen mit Menschen sahen meistens anders aus: Entweder kreischten sie panisch und rannten fluchtartig davon, oder griffen zur nächstgelegenen Waffe. Atli war anders. Es schien ihn weder das nosferatische Aussehen zu stören noch die Tatsache, dass er sich mit zwei Blutsaugern in einem Zelt befand. Irgendetwas stimmte hier nicht. So viel war Tavin klar und versetzte sich deswegen in einen Zustand erhöhter Wachsamkeit. Was ihn davon abhielt, mit Bjarni den Besuch sofort abzubrechen und so schnell wie möglich zu verschwinden, lag an Tavins Ehrlichkeit. Wie sehr viele Hämophagen verfügte auch Tavin über eine Mischung als Telepathie und Empathie. Er hätte gewusst, wenn dieser junge Mann etwas Böses im Schilde führte. Tavin musste innerlich schmunzeln, wie er Atli und Bjarni zusammen sah. Die Freundschaft dieser beiden konnte nichts erschüttern - nicht einmal der Tod.

»Es tut mir Leid den Miesepeter spielen und ein wenig die Wiedersehensstimmung trüben zu müssen«, begann Tavin. »Atli, wieso bist du so entspannt? Die meisten Menschen rennen vor uns weg.«

»Weil ihr zwei nicht die ersten Nosferatu sind, denen ich in den letzten Tagen begegnet bin.«


»Was?«, schrie Bjarni, »Sag das nochmal!«

»Ihr seid nicht die ersten zwei Vampire, denen ich in den letzten Tagen begegnet bin«, begann Atli zu erklären. »Vampire - ich hätte nie gedacht, dass es die wirklich gibt. Und jetzt ist mein bester Freund einer. Besteht die Hoffnung, dass ich morgen aufwache und alles nur ein schräger Traum war?«

»Nope!«, meinte Bjarni.

»Dacht ich's mir«, bemerkte Atli mit leichter Resignation in der Stimme. »Am besten, ich erzähl euch die ganze Geschichte.«

Die begann wenige Tage nach Bjarnis mutmaßlichem Tod. Atli war gerade damit beschäftigt, dass sein bester und ältester Freund, der fast ein Bruder für ihn war, der Mann, dem er von allen Menschen am nächsten stand, nicht mehr da war - ermordet von einem namenlosen Heckenschützen. Ausschließlich Atlis robustes isländisches Wesen verhinderte, dass er in eine tiefe Depression abstürzte. Mit Trübsal konnte er nichts anfangen. Insbesondere nicht, nachdem er Bjarnis Brief gelesen hatte, den dieser für den Fall seines Todes zurückgelassen hatte. An der einen oder anderen Stelle musste Atli schmunzeln, an ein paar anderen sogar laut lachen. Primär überwog aber eine versonnene Traurigkeit. Natürlich wusste Atli, dass sein bester Freund schwul war, genauso wie er wusste, dass Bjarni in ihn ziemlich verschossen war. Die sehr explizite Darstellung dessen, was er mit Atli gerne angestellt hätte, kam dann für den isländischen SAR-Spezialisten doch etwas überraschend. Dabei war es weniger das konkret physische - auch Atli wusste, wie sich Pornos aus dem Internet laden ließen - sondern die tiefe Zuneigung und brüderliche Liebe, die zwischen den handfesten Sexszenen hindurchschimmerte.

Atli war nicht schwul. Allerdings musste er sich eingestehen, dass der Gedanke, mit Bjarni ein wenig zu experimentieren, etwas erregendes hatte. Ob es tatsächlich dazu gekommen wäre, konnte er nicht sagen, aber die Möglichkeit bestand. Verdammt, warum hast du verrückter Kerl nie etwas gesagt? Verdammt, verdammt, verdammt, Bjarni, warum musstest du sterben?

Krieg war Scheiße. Wer etwas anderes behauptete, oder gar versuchte, ihm eine tiefere oder höhere Bedeutung anzudichten, an Pflicht und Ehre appellierte, war ein gottverdammter Lügner. Krieg brachte nur Leid und Schmerz. Er raubte Müttern ihre Söhne, Schwestern ihre Brüder, Kindern ihre Väter, Frauen ihre Männer und zuweilen auch Liebhabern ihre Partner. Krieg blieb eben einfach nur Scheiße.

In dieser Stimmung wurde Atli von seinem Vorgesetzten aufgefordert, sich in einem Zelt der amerikanischen Streitkräfte einzufinden und bedingungslos zu kooperieren. Es war vier Tage nach Bjarnis Tod, dass er sich mürrisch und mit keiner wirklich kooperativen Einstellung am angegebenen Zelt meldete und über die erste Merkwürdigkeit stolperte. Das Zelt war bewacht. Am Eingang stand ein Marine und kontrollierte Atlis Personalien - gründlich, sogar sehr gründlich.

Im Zelt war es dunkel. Atli hatte Schwierigkeiten, seinen Gesprächspartner zu erkennen. Dieser hatte sich hinter einen Schreibtisch gesetzt und dessen Lampe gegen Atli gerichtet. So abgegriffen dieser Trick auch war, er funktionierte richtig gut. Eine gute Minute stand Atli mitten im Zelt und wartete auf eine Reaktion des Typen hinter dem Schreibtisch. Doch der rührte sich nicht. Erst als es Atli zu bunt wurde und er sich bewegte, sprach ihn der Mann an.

»Mr. Jarlson, nehmen Sie doch bitte Platz.«

Mit diesen Worten begann ein Interview, auf das sich Atli keinen Reim machen konnte. Die Fragen schienen überhaupt keinen Sinn zu haben. Der Typ, der sich nie vorstellte, sprang von einem Thema zu nächsten, ohne dass dabei auch nur ansatzweise ein Zusammenhang zu erkennen war. So ließ sich der Mann einerseits haarklein den Vorfall mit dem Heckenschützen erklären, um plötzlich zu fragen, ob in seiner oder Bjarnis Familie jemals ein Fall von Lichtallergie aufgetreten sei.

Nach zwei Stunden intensivster Befragung, bei der Atli mehrfach das Gefühl hatte, sich gegen einzelne Fragen nicht wehren zu können und sie beantwortete, obwohl er es nicht wollte, wurde er von einer Sekunde auf die nächste mit den Worten »Danke für Ihre Unterstützung und Offenheit, Mr. Jarlson« entlassen.

Als wenn die ganze Aktion nicht schon schräg genug gewesen wäre, schien sie am nächsten Tag überhaupt nicht stattgefunden zu haben. Als Atli seinen Vorgesetzten fragte, von wem er eigentlich befragt wurde, wusste dieser überhaupt nicht, wovon Atli sprach, noch konnte er sich daran erinnern, ihm je einen Befehl gegeben zu haben, sich für eine Befragung bei den amerikanischen Streitkräften einzufinden. Da war es dann nur konsequent, dass der Marine vor dem bewussten Zelt verschwunden war. Das Innere war leer und wirkte verlassen.

»Ich hatte mir die Befragung doch nicht eingebildet?«, artikulierte Atli seine damals empfundenen Selbstzweifel. »Okay, von einem Sniper beschossen zu werden und mitansehen zu müssen, wie der beste Freund getroffen wird und man ihn zurücklassen muss, war traumatisch. Aber deswegen fange ich doch nicht an, wildes Zeug zusammenzufantasieren. Oder doch?«

Während sich Atli noch umschaute, trat ein Offizier der US-Streitkräfte ein und fragte, ob er helfen könne. Auf Atlis Frage, wer ihn am Vortag in dieser Unterkunft befragt hätte, entgegnete der Offizier, dass dies niemand sein könne, da das Zelt seit Wochen ungenutzt sei. Er wisse von seiner letzten Mission und seinem Verlust. Vielleicht hätte ihm der emotionale Stress einen Streich gespielt. Derartiges käme häufiger vor, als die meisten Menschen ahnen würden. Aber die hätten eh keine Ahnung, was es bedeutet, Mann gegen Mann kämpfen zu müssen. Auf jeden Fall solle Atli es ruhig angehen lassen, sich Zeit nehmen, das Erlebte zu verarbeiten und den Rest vergessen.

Mit einem abschließenden Gruß verließ der Offizier das Zelt und ließ Atli verwirrter als vorher zurück. Hatte er sich die Befragung vielleicht eingebildet? Wer wusste das schon? Emotionaler Stress? Davon hatte er reichlich. Genug für einen ganzen Trupp. Konnte es sein, dass der Mann recht hatte. Atli war kurz davor, der Empfehlung zu folgen und die Sache zu vergessen, als ihm ein Stück Kunststoff auffiel, das in einer Ecke unter die Zeltplane gerutscht war. Es wäre ihm auch gar nicht weiter aufgefallen, hätte sich nicht ein Lichtstrahl ins Zelt verirrt, als der Offizier das Tuch des Eingangs zurückschlug. Neugierig, was sich da verkrochen hatte, kniete sich Atli hin und nahm den Kunststofffetzten an sich. Warum er es in die Innentasche seiner Einsatzkleidung steckte und vor fremden Augen verbarg, konnte er nicht sagen. Erst im Schutz seines eigenen Zelts zog er es hervor und betrachtete es im Licht seiner Schreibtischlampe.

Zu seiner größten Überraschung stellte er fest, dass es sich um einen Fetzen einer Blutkonserve handelte. Die meisten Leute hätten mit dem Stück Kunststoff, auf dem noch ein Teil eines Etiketts klebte, nichts anfangen können. Nicht so Atli. Als SAR-Experte und ausgebildeter Sanitäter erkannte er die Beutel, in denen lebenspendende Saft gelagert wurde, mit verschlossenen Augen. Das Etikett, obwohl nicht vollständig, tat sein übriges und identifizierte das Fundstück als ehemalige NATO-standardkonforme Vollblutkonserve. Reflexartig roch Atli am Beutel. Frisch, keine vierundzwanzig Stunden alt. Also war das Zelt doch genutzt worden. Irgendjemand hatte sich an diesem Ort aufgehalten, was nahe legte, dass Atlis Befragung keine Einbildung war.

Blutkonserven? Als Teil des Sanitäts- und SAR-Kontingents waren Atli alle Standorte, an denen medizinische Maßnahmen durchgeführt wurden, bekannt. Niemals würde man einen Verwundeten einfach in ein beliebiges Zelt verlegen, insbesondere wenn er eine Infusion erhielt. Diese Tätigkeiten waren strikt auf den Sanitätsbereich beschränkt. Gedankenverloren strichen Atlis Finger über das Stück Kunststoff. Moment, was ist das? Die Folie enthielt zwei Einstichstellen. Einstichstellen?

»Okay, das mag alles verdächtig klingen«, unterbrach Tavin Atlis Schilderung, »Du vermutest, dass der Typ, der dich befragte, ein Vampir war. Er hat sich aber nicht als solcher zu erkennen gegeben, oder?«

»Nein, nicht zu dem Zeitpunkt. Während der Befragung hat er peinlichst darauf geachtet, dass ich ihn nicht erkennen konnte. Das hat sich erst heute geändert. Alles begann mit dem Einsatz heute Morgen. Wir erhielten den Auftrag, nach angeblichen Geiseln zu suchen, die eine Splittergruppe der Konfliktparteien genommen haben sollten.«

Im Briefing für den Einsatz wurden Atlis Trupp Informationen vorgetragen, wonach die Geiseln sich in einem der Häuser ausgerechnet neben dem Trafobunker mit der Notunterkunft Bjarnis und Tavins aufhalten sollten. Von irgendwelchen Gefangenen gab es vor Ort keinerlei Spur, stattdessen rannte das Einsatzteam ahnungslos in einen Hinterhalt und wäre diesem auch in die Falle gegangen, hätte Tavin nicht interveniert.

»Interessant wurde es erst, als wir die Meldung über unseren Angriff durchgaben«, schilderte Atli, wie er den Vorfall erlebt hatte. »Von einer Sekunde zur nächsten wimmelte es vor Einsatzkräften. Ich habe noch nie erlebt, dass Unterstützung so schnell vor Ort war, wie in unserem Fall. Die Black Hawks waren keine Minute nach unserer Meldung bei uns. Wisst ihr, eigentlich bin ich kein Typ, der an Verschwörungen glaubt, aber so wie das ganze ablief, könnte man auf die Idee kommen, dass wir nur Köder waren. Die Typen, die uns zu Hilfe kamen, waren von einer Spezialtruppe der Amerikaner, die ich vorher nie gesehen habe und meines Wissens hier auch nicht stationiert ist. Ich nehme an, dass ihr mitbekommen habt, was die für einen Aufriss gemacht haben?«

»Einer eurer Gefangenen hat eine Giftkapsel geschluckt«, meinte Tavin knapp.

»Krass, was?« Atli war völlig aufgeregt: »Ich dachte, das gibt es nur in Agentenfilmen. War wohl ein beschissener Tod. Der Typ hat sich ziemlich gequält, bis er hin war.«

»Atli!«, rief Bjarni von der ungewohnten Kaltblütigkeit seines Kumpels entsetzt.

»Was denn?«, entgegnete der, »Die Typen wollten uns umbringen. Entschuldige, wenn sich mein Mitleid in Grenzen hält. Du solltest am besten wissen, wie beschissen das ist, tot zu sein.«

»Untot, und sooo schlimm ist es gar nicht.«

»Touché!«, gab Atli zu. »Wie dem auch sei. Jedenfalls tauchte plötzlich diese Spezialtruppe auf und sackte alles ein: Die Leichen, deren Waffen und selbst deren Equipment, obwohl sich das in Rauch aufgelöst hat. Selbstzerstörungssysteme? Ich sag ja, wie im Agentenfilm.«

»Und was war mit dem Vampir?«, wollte Tavin wissen.

»Das kam später. Nachdem unsere Einheit hier ins Hauptquartier zurückgekehrt war, wurden wir einzeln zum Vorfall befragt. Ich weiß nicht, mit wem die anderen sprachen, ich wurde jedenfalls wieder in das angeblich ungenutzte Zelt beordert. Zuerst war alles wie beim ersten Mal: blendende Lampe und Interviewer unsichtbar im Schatten. Ich schilderte den Vorfall, wie ich ihn erlebt hatte, als der Typ hinter der Lampe plötzlich meinte, ich bräuchte nicht weiter erzählen und solle mich stattdessen entspannen. Ich muss gestehen, dass ich gerade an Bjarni dachte. Kurz bevor wir aufbrachen, hatte ich das Gefühl, dass Bjarni nicht nur ganz in der Nähe war, sondern mich beobachtete. Bjarni, das war ein schönes Gefühl. Als ob ein persönlicher Schutzengel über mir wachte.«

»Wenn ich kann, werde ich immer über dir wachen«, verkündete Bjarni leise.

»Und dann?«, wollte Tavin wissen.

»Dann?« Atli nickte und betonte das »dann« dramatisch. »Dann wurde meine Weltanschauung erschüttert. Der Typ sprach mit mir. Er sprach nicht mit seiner Stimme, sondern mit seinen Gedanken. Ich hörte ihn direkt in meinem Kopf. Er meinte nur, ich solle entspannt bleiben. Ich wollte noch etwas entgegnen, doch dann begann etwas, das ich nur als Druckbetankung bezeichnen kann. Statt sich mehrere Stunden Zeit zu nehmen, vermittelte er mir alles wissenswerte über Vampire und Nosferatu direkt von Kopf zu Kopf. Er meinte, dass ich dieses Wissen in der nächsten Zeit gut gebrauchen könnte. Ansonsten hätte ich ja schon seinen Snackbeutel entdeckt und wisse, was er sei. Dann zeigte er sich mir. Er ist ein Nosferatu, so wie ihr. Ich soll euch schön grüßen und euch sagen, dass ihr nicht nach ihm suchen sollt. Er wäre nicht mehr hier.«

»Frech!«, meinte Tavin. »Noch etwas?«

»Ja, aber das hat wohl nichts mit eurem Nosferatu zu tun. Ich habe eine neue Aufgabe angenommen. Der Vorschlag kam direkt vom Büro der Ministerpräsidentin. Ich werde nach New York gehen und deine Schwester begleiten.«

»Frejya?«, wollte Bjarni wissen. »Wurde sie tatsächlich berufen?«

»Ja. Island ist jetzt temporäres Mitglied des UN-Sicherheitsrats und deine Schwester unsere Vertretung. Tja, und ich wurde zu ihrem Attaché ernannt.«

»Nett!«, freute sich Bjarni.

»Und mehr als berechtigt«, pflichtete Atli bei.

»Oh ja, sie ist gut. Sie ist wirklich gut.«

»Ich sage dir, wenn sie so weiter macht, wird sie irgendwann noch Generalsekretärin.«

Entscheidungen

Als das NYFD mit seinen Löschfahrzeugen am Ort des mutmaßlichen Großbrands eintraf, gab es nicht wirklich etwas zu löschen. Aus einer Lagerhalle des New Yorker Stadtbezirks Brooklyn, genaugenommen in einer von Brachen und verlassenen Firmengeländen gezeichneten Ecke von East Williamsburg, wurde ein Brand gemeldet. Dieser konnte im Prinzip von den Einsatzkräften vor Ort bestätigt werden... Oder auch nicht. Der Abschlussbericht der Brandermittler strotze nur so vor Diagrammen und Analysen, versuchte damit aber nur die peinliche Wahrheit zu verdecken, dass niemand so recht wusste, was in der Halle eigentlich passiert war. Denn als die toughen fire fighter sich mit ihren Äxten Zugang in die Halle verschafft hatten, fanden sie nur einen Haufen leicht qualmender, aber ansonsten überwiegend ausgeglühter Asche vor. Was da auch immer gebrannt haben mochte, es hatte sich selbst gelöscht. Nach der Menge der zurückgebliebenen Asche musste es massiv gebrannt haben, nur warum dieses Inferno keinen Einfluss auf die Halle gehabt hatte, war selbst den besten Experten ein Rätsel. Als ein eben solches stellte sich auch der Versuch heraus, einen Geschädigten zu ermitteln. Die Halle gehörte einer Immobilienfirma, die diese an Unternehmen wochen-, monats- oder auch jahresweise vermietete. Als Mieter agierte eine Blue Night Storage LLC aus dem Bundesstaat Delaware. Delaware verfügt im Gegensatz zu den restlichen Vereinigten Staaten über ein sehr liberales Gesellschaftsrecht, das den dort ansässigen Firmen nur minimale Publizitätspflichten auferlegt. Wer sich nicht in die Karten gucken lassen wollte, siedelte sein Unternehmen in diesem Staat an.

Nun lassen sich Ermittlungsbehörden ungerne aufhalten, wenn möglicherweise eine Straftat im Raum stand. Mit entsprechenden richterlichen Anordnungen in der Hand versuchten die Behörden, an den Mieter der Lagerhalle heranzukommen. Aber auch der Versuch verlief im Sande. Die Night Storage LLC hatte ihre Geschäftstätigkeit einen Tag nach dem Brand eingestellt. Sämtliche Steuern, Abgaben und Gebühren, soweit sie bei einer Briefkastenfirma überhaupt anfielen, waren beglichen. Die Eigentümerschaft der Night Storage LLC selbst verlief sich irgendwo in einer weiteren dubiosen Firma in einem Steuerparadies in Übersee. Der Vermieter der Halle erhielt ein vorgefertigtes Schreiben, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass eine weitere Nutzung der Halle nicht mehr benötigt würde und er sie weitervermieten könne. Der vorab entrichtete Mietzins für die Vertragslaufzeit würde selbstverständlich, da es sich ja um eine einseitige Kündigung handle, nicht zurückgefordert werden.

Am Ende blieb nur ein Brand übrig, der keiner war, sowie eine Reihe ratloser Ermittler. Da aber eigentlich niemand wirklich geschädigt wurde und alle finanziellen Belange geregelt waren, entschieden die Behörden, sich lieber um wichtige Fälle zu kümmern, als irgendwelchen Phantomen hinterherzujagen.

Ich gebe unumwunden zu, dass ich fasziniert war, wie einfach sich das sogenannte „System“ für uns nutzen ließ. Außerdem überraschten mich Marco und mein Vater. Die beiden legten ein geradezu diebisches Vergnügen an den Tag, sich möglichst krude und verschachtelte Firmenkonstruktionen auszudenken, an denen sich selbst die hartnäckigsten Ermittler von Polizei und Nachrichtendiensten die Zähne ausbissen. Mal versumpfte eine Spur auf den Caymans, dann wieder in Shanghai. Wir unterhielten sogar eine Briefkastenfirma in der norddeutschen Pampa – Itzehoe - oder in einem Nudelsuppenladen in Kawasaki. Die ganze Versteckspielerei betrieben wir natürlich nicht, um arglose Menschen um ihr bitter Erspartes zu bringen, wie es andere Unternehmen praktizierten, sondern einzig und allein, um unsere Identität zu schützen. Unsere Firmen zahlten alle Steuern, hielten sich so weit wie möglich an Gesetze und Vorschriften und waren auch sonst vorbildliche Bürger. Nur dass wir eben gerne an Hälsen zuzelten.

Was das Feuer in der Lagerhalle betraf, da half tatsächlich Sofia nach. Die Tabula rasa Anweisung bedeutete nicht weniger, als sämtliche Spuren zu unserer Existenz und Anwesenheit in der Notunterkunft zu vernichten. Der GPS-Tracker in Darren bedeutete Probleme. Christiano ging davon aus, dass wir weniger als fünfzehn Minuten hatten, um das Feld zu räumen. Wer auch immer Darren überwachte, wusste durch das Lokalisierungsgerät zum einen, wo er sich aufhielt, dass der Tracker entdeckt wurde und wir nun von ihrer Existenz wussten. Spätestens, nachdem ich das Teil zertreten hatte, tickte die Uhr. Es ging um Eindämmung. Wer auch immer die Köder ausgelegt hatte, dürfte alles andere als von ihrer Entdeckung begeistert sein und deswegen versuchen, das Leck mit allen Mitteln einzudämmen.

Die sicheren Häuser, erklärte Jurek, waren alle so konstruiert, dass sie sich innerhalb weniger Minuten vollständig auflösen ließen. Auflösen sollte wörtlich genommen werden. Wenn wir einen Standort abbrechen mussten, dann ohne verwertbare Spuren zu hinterlassen. Auf die Idee der pyrolytischen Reinigung war ich gekommen, als mich mein Vater bat, ihm bei der Reinigung seines Backofens zu helfen. Man muss sich das wirklich bildlich vorstellen: Da bewohnte dieser Mann das Gästehaus Charlottenhofs und konnte auf die dienstbaren Geister meines Hauses zurückgreifen und was macht er? Will von mir wissen, welchen Backofenreiniger er verwenden soll. Ich weiß, mein Papa war nie guter Hausmann. Um die Reinigung unserer Wohnung, Kochen und Wäsche, durfte ich mich damals in meiner vorvampirischen Phase kümmern. Jedenfalls war er ziemlich erstaunt, als ich ihn in das Geheimnis des selbstreinigenden Backofens einweihte.

Es gab auch andere Methoden, einen Standort zu räumen, aber ihn einfach in Feuer aufgehen zu lassen, war mit Abstand am effektivsten. Sofia kam dabei eine Schlüsselrolle bei. Ihre besonderen Fähigkeiten sorgten dafür, dass das Feuer beschränkt blieb. Es sollte schließlich niemand gefährdet werden.

»Sind wir soweit?«

Fünf Minuten nach dem Aufräumbefehl bestand das Häuschen in der Lagerhalle nur noch aus einem Haufen Asche und unsere Automobile waren chemisch gereinigt. Deren Zulassungen führten genauso in eine Sackgasse, wie der Versuch, den Mieter der Gewerbeimmobilie zu ermitteln. Wer auch immer versuchte, über Darren an uns heranzukommen, sollte zumindest hier nicht weiterkommen.

»Yupp!«, meinte Jurek. »Fliegen wir heim?«

»Fliegen wir heim!«, bestätigte ich. »Christiano, kannst du unseren Gast mitnehmen?«

»Sicher. Die halbe Portion ist kein Problem.«

»Wer ist hier eine halbe Person?«, wollte Darren wissen, der nicht so recht wusste, ob er sauer oder amüsiert sein sollte. Immerhin betrachtete er sich als gut gebauter Kerl. Bei den Stunden, die er im Fitnessstudio zugebracht hatte, war „halbe Person“ eine Beleidigung. Auf der anderen Seite war dieser Vampir, der da vor ihm stand, ziemlich nett und bedachte ihn mit einem unverschämt frechen Grinsen.

»Du natürlich«, lachte Christiano. »Schon mal mit einem Vampir geflogen?«

»Äh, nee.«

»Tja, Pech für dich!«, amüsierte sich Christiano, packte Darren und hob ab.

Einer nach dem anderen sprangen wir in die Luft und flogen davon. Jurek war der Letzte, der sprang. Er schwebte eine Weile hoch über der Lagerhalle und beobachtete, was sich nach unserer Flucht noch tat. Mit unserem Aufbruch schienen wir gerade noch rechtzeitig dran gewesen zu sein. Keine zwei Minuten später kamen zwei schwarze SUVs angebraust. Ein Trupp Männer in dunklen Kampfanzügen und bis an die Zähne bewaffnet sprang heraus, rannte in das Lagerhaus, kam aber ziemlich schnell und wenig erfreut wieder heraus. Die Typen tobten vor Wut. Ich wertete deren Verärgerung als ein gutes Zeichen. Mit ein bisschen Glück bedeutete es, dass sie Darrens Spur verloren hatten.


»Wow! Das ist euer Haus?«

Nachdem sowohl Christiano als auch Sofia grünes Licht für Darren gegeben hatten, sprach nichts dagegen, das Kerlchen mit zu uns ins Haus zu nehmen. Ganz im Gegenteil ließ sich durchaus der Standpunkt vertreten, dass wir moralisch verpflichtet waren, dem nun wohl ehemaligen Kleidungsverkäufer unter die Arme zu greifen. Wobei hier wohl noch nicht das letzte Wort gesprochen war. Wahrscheinlich ahnte Darren gar nicht, wie viel er wirklich bei seiner Aktion, uns zu kontaktieren, riskiert hatte. Er durfte es wohl noch nicht realisiert haben, aber sein bisheriges Leben war faktisch »im Arsch«, wie es Simon treffend formulierte. Spätestens, nachdem wir ihm den Tracker aus seinem Oberschenkel herausoperiert hatten, gab es für Darren wahrscheinlich keinen Weg zurück in sein bisheriges Leben. Oder vielleicht doch?

»Es ist unsere New Yorker Niederlassung«, erklärte Jurek stolz. Wir hockten in der wirklich gemütlichen Küche. Manch einer mag sich fragen, wofür eine Herde Blutsauger eine Küche benötigte. Die Antwort war banal: Aus dem gleichen Grund, warum ich in Charlottenhof und Constantin in seinen diversen Häusern ebenfalls welche unterhielt. Die Breskoffsche Küche galt sogar als so gut, dass sie locker mit den besten und nobelsten Sternerestaurants mithalten konnte. Und das alles nur, weil unsere Häuser selten nur von Blutsaugern bevölkert wurden. In Constantins tummelten sich sogar meist mehr Menschen als Vampire. Und selbst in meiner New Yorker Niederlassung zählten außer dem Butler Clifford noch ein paar weitere Menschen zu den Mitgliedern unserer kleinen Familie, die selbstverständlich auch versorgt werden wollten. Beim Catering ließ sich Loren definitiv nicht Lumpen. Die Lebensmittel waren ausnahmslos von erstklassiger Qualität, absolut frisch und wurden soweit möglich von Produzenten bezogen, die sich auf ökologischen Anbau spezialisiert hatten. Mit Darren in unserer Küche und unzähligen auf ihn gerichteten Augen, entsann ich mich meiner Gastgeberpflichten und bastelte ein paar Pastramisandwiches, bei denen nicht nur unser menschlicher Gast zugriff.

»Hmmm, lecker!«, kommentierte dann auch Basti und griff ein zweites Mal zu. »Bastelst du uns noch ein paar?«

»Ich dachte, ihr seid Vampire?«, wunderte sich Darren, der sein Sandwich mit einem Bier, oder dem, was Amerikaner für Bier hielten, hinunterspülte.

»Sind wir«, erwiderte Phillip und fuhr demonstrativ seine Zähne aus. Darren schluckte, und das nicht, weil ihm ein Stück Pastrami im Mund steckte. Mit einem Vampir auf halböffentlichem Terrain wie der Anprobekabine eines Klamottenladens auf Tuchfühlung zu gehen, war eine Sache. Als einziger Mensch umringt von einer ganzen Herde Hämophagen in deren Heim zu hocken, dann doch eine ganz andere. Darren begann langsam zu dämmern, dass sich sein Leben gerade grundlegend änderte.

»Und wie geht es jetzt mit mir weiter?«, wollte er dann konsequenterweise wissen und schaute fragend in die Runde.

Der Ball lag bei mir. Ich war der Chef und fühlte mich plötzlich an meine eigene Geschichte erinnert. Es war direkt nach meinem zum Glück vereitelten Versuch, mich umzubringen, als mein Retter und Held, mein über alles geliebter Constantin, mir die Möglichkeiten meines neuen Lebens darlegte.

»Ich glaube, wir müssen uns bei dir entschuldigen«, begann ich mich dem Thema umständlich und vorsichtig zu nähern.

»Weswegen?«

»Na, das hier. Deine ganze Situation. Dir ist schon klar, dass du wahrscheinlich nicht mehr zurück kannst?«

»Oh, das meinst du« Darren wirkte etwas abwesend. So ganz schien die Beschissenheit seiner Lage noch nicht bis zu seinem Verstand durchgedrungen zu sein. Seinem Gesichtsausdruck nach begann sich dies aber gerade zu ändern. Er starrte vor sich hin, tagträumte und seufzte. Ich ahnte, wie er sich fühlte, und schämte mich deswegen für meine unzüchtigen Gedanken. Doch so, wie Darren vor uns hockte, sah er einfach nur fürchterlich süß aus. Nach einer Weile schaute er auf und sah in die Runde. »Wie schlimm ist es?«, wollte er wissen.

»Totalschaden«, erwiderte Jurek kurz und schmerzhaft. »Mit wem du dich da auch immer eingelassen hast, will dich tot sehen. Die Typen dürften ziemlich sauer sein, dass du ihnen in die Suppe gespuckt hast. Du hast uns einen Teil ihrer Pläne enthüllt. Sie wissen jetzt, dass wir wissen, dass es sie gibt. Es besteht die reelle Gefahr, dass sie sich deinen Arsch holen wollen, einfach weil sie stinksauer sein dürften und nach Rache schreien.«

»Eigentlich war ich nur auf einen geilen, blonden Vampir scharf«, konterte Darren gleichzeitig verlegen und frustriert, warf mir aber auch einen ebenso verstohlenen wie lüsternen Blick zu. Nicht nur ich musste kichern. Der Typ hatte es faustdick hinter den Ohren. Obwohl er seine Bemerkung scherzhaft meinte, kribbelte für einen Moment die Luft, bis Darren zur Seite schaute, auf einen fiktiven Punkt im Raum starrte, einen Augenblick nachdachte und dann seufzend den Kopf schüttelte. »Ja, ich wollte euch helfen. Ich weiß nicht, was mich geritten hat. Vielleicht ein überentwickelter Gerechtigkeitssinn. Vielleicht bin ich auch nur ein Vampirgroupie. Oder ich bin einfach selbstzerstörerisch veranlagt. Was es auch immer sein mag, ich konnte nicht wegsehen. Mit den Typen, die mir diesen Chip eingepflanzt haben und hinter euch her sind, ist nicht zu spaßen. Die setzten Menschen wie mich als Köder ein.«

Es bedurfte keiner dramaturgischen Pause, um die Tragweite seiner letzten Bemerkung zu unterstreichen. Jeder in der Küche wusste, ahnte oder befürchtete, worauf die Sache hinauslief.

»Ich bin nicht der einzige, mit dem die das gemacht haben. Vom Tracker wusste ich nichts, habe aber erlebt, wie sie andere instruiert haben. Diese Leute haben einen ganzen Trupp zusammengestellt. Sie wissen, wie ihr jagt und dass ihr euch hauptsächlich von jungen, kräftigen und gesunden Menschen ernährt, die ihr attraktiv findet. Auch dass ihr euch dabei nach deren sexueller Orientierung richtet, ist bekannt. Das klingt jetzt vermutlich total arrogant und eingebildet, aber mir ist schon klar, warum die mich ausgewählt haben und ich verrate euch kein Geheimnis: Mein IQ spielte dabei eine eher untergeordnete Rolle.«

»Ihr Verlust«, kommentierte Basti. Wo er recht hat, hat er recht.

»Wie viele Köder gibt es?«, wollte Loren wenig einfühlend wissen. Sie meinte es nicht böse. Sie wollte einfach nur klare Antworten. Die Frau hatte sich zu einer perfekten Hauschefin entwickelt. New York war zu ihrer Stadt geworden. Darren wies auf eine Bedrohung hin. Damit waren ihre Prioritäten klar: identifizieren, analysieren und nötigenfalls eindämmen.

»Das weiß ich nicht genau«, beantwortete Darren die Frage nach der Anzahl der Köder. »Mir sind fünf begegnet. Allerdings glaube ich nicht, dass die anderen wissen, dass sie Köder sind.«

»Wieso das nicht?«, sprang Loren sofort an und auch ich wurde hellhörig. So langsam wurde es interessant.

»Ihr könnt Erinnerungen löschen und gegen andere ersetzen?«, fragte Darren, obwohl es mehr wie eine Feststellung klang, und katapultierte unser Interesse in ganz andere Dimensionen. Er kannte die Antwort. Warum stellte er dann diese Frage?

»Bei mir funktioniert das nicht«, kam prompt die Antwort, die aber weitere Fragen aufwarf. »Ich konnte mich immer an alles erinnern, wenn mich einer von euch biss. Ich hörte zwar eine Stimme in meinem Kopf, die auch zwingend und befehlend klang, hatte aber komischerweise nie das Bedürfnis, ihren Befehl befolgen zu müssen.«

»Oh, das ist interessant. Probieren wir es aus«, meinte Christiano und bedachte Darren mit dem gewinnendsten Lächeln, das dieser Blutsauger auf Lager hatte: Komm her!

Wenn jemand über einen potenten Ruf verfügte, dann Christiano. Ich kannte keinen Vampir, dessen mentale Befehle zwingender wären, als die des wilden Portugiesen. Mit seiner mentalen Kraft ließ sich eine Großstadt mit Energie versorgen. Ich hatte es am eigenen Leib erlebt. Obwohl er mir vorher sagte, dass er seinen Ruf einsetzte, ich darauf vorbereitet war und in mir ein latenter gebürtiger Vampir lauerte, war ich nicht in der Lage, seinem Ruf zu widerstehen - jedenfalls nicht lange.

Und was tat Darren? Der sagte einfach »Nö!«, grinste und griff stattdessen nach einem weiteren Pastramisandwich, in das er genüsslich hineinbiss.

»Moment, ich ahne, worauf das hinausläuft. Die Leute, die dich als Köder nutzten, das waren... Vampire?«

»Das kann man so nicht sagen«, erwiderte Darren unschlüssig. »Ich weiß nur, dass einer der Typen über eure Fähigkeiten verfügt. Er hat mich aber nie gebissen oder ich seine Zähne gesehen. Ich bin mir aber trotzdem ziemlich sicher, dass er ein Vampir war. Nehmt es mir nicht übel, aber euch umgibt eine Aura von Unnahbarkeit, die zuweilen an Arroganz reicht.«

»Okay... Weißt du, wo wir die anderen Köder finden?«, wollte Loren wissen, ohne auf Darrens wenig schmeichelhafte Charakterisierung einzugehen. Sie hatte andere Prioritäten und ich verstand, warum sie diese Frage stellte. Im Gegensatz zu mir lebte sie in New York und musste sich von dessen Bewohnern ernähren. Dass sie dabei keine Lust hatte, ausgespäht und als Hämophage identifiziert zu werden, konnte ich gut verstehen. Hinzu kam, dass uns die Motive unserer neuen Gegner bisher vollkommen unbekannt waren. Der Mordanschlag auf Darren legte aber nahe, dass ihre Intentionen mutmaßlich nicht freundlich waren.

»Nicht von allen«, beantwortete Darren Lorenes Frage. Er wirkte verstört und erregt. »Ich weiß, dass eine im gleichen Klamottenladen arbeitet. Sie heißt Lindsay. Aber was wollt ihr mit den Leuten machen, wenn ihr sie gefunden habt? Ihr wollt ihnen doch nichts antun? Die können doch nichts dafür. Die wissen doch nicht, dass sie Köder sind. Das...«

»Darren!«, sprach ich unseren Gast an und griff nach seinen Händen, um ihn zu beruhigen. »Keiner von uns wird ihnen irgendetwas antun. Ganz im Gegenteil. Wir könnten versuchen, diese Menschen zu befreien.«

»Wird deine Chefin dem zustimmen?«, wollte Darren geflüstert von mir wissen und bedachte Loren mit einem argwöhnischen und auch ängstlichen Blick. Die Frau schüchterte ihn ein.

»Fragen wir sie«, schlug ich schmunzelnd vor. »Liebste Loren, unser Freund hier meint, ich sollte dich als meine Chefin fragen, ob wir die anderen menschlichen Köder befreien dürfen.«

»Flo«, entgegnete die New Yorker Hauschefin nüchtern und auch ein wenig kalt, »diese Entscheidung überlasse ich ganz und gar deinem untrüglichen Urteilsvermögen. Und wenn ihr mich jetzt entschuldigt. Im Gegensatz zu euch muss ich noch ein Haus managen.«

Auch wenn es auf Außenstehende so klingen mag, war mir Loren nicht böse. Darren hatte einen wunden Punkt getroffen, einfach, indem er eine verwundbare Flanke aufzeigte. So weit Loren es auch gebracht hatte, in ihr lauerte immer noch ein Rest der von Dracula verursachten Unsicherheit, die nur auf den geeigneten Moment wartete, um an die Oberfläche zu gelangen. Dabei hatte sie überhaupt keinen Grund zu Selbstkasteiung. Niemand, nicht einmal die Agenten Constantins wussten von den Leuten, die uns ausspionierten. Wie dem auch sei, mir war klar, dass ich noch mit Loren sprechen musste, um ihr Selbstvertrauen wieder aufzubauen. Denn das war mein Job.


Halb zwei Uhr nachts entsprach in unserer Welt dem frühen Nachmittag. Loren hatte quasi noch einen halben Arbeitstag vor sich. Ich kannte das. Meine Arbeitstage in Charlottenhof unterschieden sich nicht wesentlich von ihren. Wenn ich mich abends aus meinem Bett gewühlt, geduscht und gefrühstückt hatte, stand Nicolas die meisten Tage schon bereit, um mit mir den Arbeitsplan der Nacht durchzugehen. Im Endeffekt war ich getaktet wie ein Firmenboss und genau so fremdbestimmt. Der Ausflug nach New York hatte daher etwas von Urlaub, obwohl wir Hals über Kopf in eine Verschwörung gestolpert waren.

»Und was habt ihr nun mit mir vor?«, wollte Darren wissen, nachdem Loren und noch ein paar andere Mitglieder meines Hauses die Küche verlassen hatten. Ihnen war aufgefallen, dass sich unser Gast ein klein wenig unwohl zu fühlen schien. Wer wollte es ihm verdenken. Ich hätte mich ebenfalls unwohl in meiner Haut gefühlt, würde mich als einziger Mensch eine ganze Schar Vampire belauern, die ich kaum kannte. Außer mir blieben nur Basti und Phillip bei uns in der Küche. Jurek, Christiano, Marco, Nicolas, Sofia, Orwell und Simon folgten Loren und gaben uns ein wenig Raum, um mit Darren in Ruhe plaudern zu können.

»Noch ein Bierchen?«, wollte ich von unserem Menschen wissen.

»Nein danke!« Darren schüttelte verneinend den Kopf. »Aber wenn ich ein Wasser haben könnte...?«

»Klar«, erwiderte ich und ging zum Kühlschrank, um eine Flasche Mineralwasser zu holen. Das heißt, ich beabsichtigte, ihm eine Flasche zu holen. Irgendjemand in diesem Haus frönte einem kleinen Luxustick. Statt einer oder bestenfalls zwei Sorten Wasser – nämlich still und sprudelnd - gab es deren dreizehn, von denen keine Flasche unter drei Dollar zu bekommen war.

»Still oder blubbernd?«, hakte ich nach.

»Medium«, kam es als Antwort, was die Auswahl ein wenig einschränkte. Auf gut Glück wählte ich leicht kohlengesäuertes Gletschereis aus Grönland aus, reichte die Flasche Darren und setzte mich ihm gegenüber an den Küchentisch. »Du musst dir keine Sorgen um deine Zukunft machen. Du hast uns geholfen und Leute, die uns helfen, lassen wir nicht hängen. Du entscheidest, was du machen möchtest. Du kannst dich unserem Haus anschließen, das heißt, ein Freund unserer Familie, unseres Clans werden. Oder wir sorgen dafür, dass du irgendwo anders neu anfangen kannst. Du wählst selbst, wo du leben möchtest. Und dann gäbe es da noch die große Lösung: Du wirst einer von uns.«

»Ich soll ein Vampir werden?« Im ersten Moment war Darren platt, woraus sich eine gewisse Begeisterung entwickelte, die sich dann aber mit Niedergeschlagenheit eintrübte: »Ich finde es total anständig, dass ihr euch um mich kümmern wollt. Dein Angebot ist wirklich verlockend. Aber leider funktioniert das alles nicht. Ich kann nicht einfach von der Bildschirmfläche verschwinden und will das auch nicht. Ich studiere Journalismus an der Columbia. Meine Eltern und mein kleiner Bruder leben in Jersey. Mein großer Bruder ist Anwalt für eine große Kanzlei und wohnt wie ich in Manhattan. Kein Staranwalt oder Partner, aber auch nicht das kleinste Licht im Stall. Ich kann die nicht einfach allein zurücklassen. So sehr ich eines eurer Angebote gerne annehmen möchte, ich kann das nicht. Ich bin zwar in keiner Beziehung, habe aber ein paar gute Freunde. Tut mir leid, aber ich will und kann das alles nicht aufgeben. Ja, vielleicht wollen sich die Typen an mir rächen, aber wie? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die eine Enttarnung riskieren. Vielleicht muss ich mir einen neuen Job suchen, aber mein Gott, wo ist das Problem?«

»Der Junge hat da einen Punkt«, meinte Basti mit amüsiert ironischer Stimme.

»Vielleicht«, räumte ich widerwillig ein, »aber mir gefällt es nicht, ihn schutzlos da draußen zu wissen. Die Typen haben schon einmal versucht, ihn kalt zu machen. Wenn die sich nicht morgen an ihm rächen, dann eben übermorgen, in einer Woche, einem Monat oder einem Jahr. Darren, ich weiß, was dir durch den Kopf geht. Du hast ein Leben und willst es nicht aufgeben. Das verstehe ich nur zu gut. Ich stand vor ein paar Jahren vor der gleichen Entscheidung. Aber ich kann nicht ignorieren, dass du unseretwegen in Gefahr bist.«

»Ihr seid so vollkommen anders, als ich mir euch vorgestellt habe.« Darren sah von Basti über Phillip zu mir. »Ihr kennt mich nicht. Nur weil ich zufällig einer eurer Snacks sein durfte und in diese dumme Geschichte geraten bin, kümmert ihr euch um mich, als ob ich einer eurer ältesten und besten Kumpel wäre. Hey, ich könnte der totale Arsch sein. Ich könnte ein richtiger Wichser, ein total selbstsüchtiger Typ mit einem richtig fiesen Charakter sein.«

»Das bist du aber nicht«, erwiderte ich amüsiert und wurde dann etwas ernster. »Du hast mich von dir trinken lassen.«

»Ja, und? Macht ihr das nicht so? Ihr trinkt Blut, oder?«

»Ja klar, das machen wir so. Wir tragen Frack und rote Capes und saugen jungen, unschuldigen, blonden Jungfrauen das Blut aus den Adern.« Ich musste lachen. Darrens unschuldige Naivität war niedlich. »Du hast recht, wir trinken Blut. Genaugenommen sind wir dazu verdammt, Blut zu trinken. Es ist der einzige Stoff, der uns am Leben hält. Du kannst dir also denken, dass das Zeug für uns nicht ganz unwichtig ist.«

»Öhm, klar. Wie Alk für einen Alki.«

»Ähm, nein. Mehr wie Wasser für einen Verdurstenden.« Sein Vergleich hinkte zwar etwas, weswegen ich eine alternative Arbeitsthese wählte. »Der Punkt, auf den ich hinaus will, ist aber ein ganz anderer. Das mag jetzt brutal klingen, aber eines muss dir klar sein: Wir sind Jäger. Wir fragen nicht. Wir nehmen uns, was wir brauchen. Dabei sind wir allerdings ziemlich diskret. Ihr Menschen merkt unsere Bisse nicht. Im Gegensatz zum Filmvampir wirst du keine roten Bissstellen am Hals unserer Opfer finden. Es bleibt nicht einmal eine juckende Quaddel wie bei einer Mücke zurück. Wir leben im Geheimen, in den Schatten und der Dunkelheit der Nacht. Du kannst dir vorstellen, dass wir den Kontakt zu Menschen auf ein Minimum beschränken oder dafür sorgen, dass ihr uns gleich wieder vergesst, sollten sich unsere Wege kreuzen. Du ahnst, warum wir uns so verhalten?«

»Oh ja. Hier laufen genügend Spinner rum, die sofort die Jagdsaison auf euch eröffnen würden«, gab Darren zu, überlegte sich seine Antwort dann aber und meinte einschränkend: »Aber Leute, wir sind im Big Apple. New York hat tausendmal Schrägeres gesehen, als ein paar Blutsauger.«

»Täusch dich nicht. Ihr Menschen stellt euch ziemlich pingelig an, wenn es um den roten Saft geht. Niemand von uns möchte mit einem Pflock im Herz aufwachen. Aber ich gebe dir recht. Vielleicht sind wir zu vorsichtig. Vielleicht stellen unsere Ernährungsgewohnheiten heutzutage im einundzwanzigsten Jahrhundert gar kein Problem mehr dar. Ich könnte mir vorstellen, dass sich bestimmt genug Menschen finden ließen, die uns freiwillig an ihren Hälsen knabbern ließen. Das Problem ist ein anderes.«

»Eure übermenschlichen Fähigkeiten«, schlug Darren nachdenklich vor und bewies, dass er mehr in der Birne hatte, als sein Erscheinungsbild vermuten ließ. Er schien sich auch zu fragen, worauf ich eigentlich hinaus wollte.

»Ich sehe, du verstehst, warum wir etwas kontaktscheu sind und noch seltener unsere Existenz preisgeben. Es ist ein Selbstschutz. Würde die Öffentlichkeit von unserer Existenz erfahren, könnte dies für beide Seiten unschön enden. Ich will dir keine Angst machen, aber es gibt genug Menschen, die uns lieber tot als untot sehen würden. Umgekehrt würden wir aber auf keinen Fall einen Genozid an uns zulassen. Wir würden uns wehren. Und um ganz ehrlich zu sein: Ich habe keinen Bock auf einen Krieg zwischen Menschen und Vampiren, den niemand gewinnen könnte. Deswegen bleiben wir lieber unerkannt und meiden die Menschen. Manchmal allerdings«, ich legte eine dramatische Pause ein, »manchmal treffen wir auf Leute, die uns freundschaftlich begegnen und uns so akzeptieren, wie wir sind. Darren«, sprach ich unseren Gast direkt mit seinem Namen an, »du hättest mich dich nicht beißen lassen müssen. Du wusstest, was ich bin. Meine Jagd war damit zu Ende. Von da an lag die Entscheidung, mir etwas von deinem Blut zu schenken, welches nebenbei bemerkt ausgesprochen gut schmeckt, einzig bei dir. Du gabst es mir. Aus freien Stücken.«

»Äh«, stammelte Darren und wurde rot. »Die Nummer war ebenso schräg, wie sie geil war.«

Basti kicherte albern: »Gib's zu, dir ist einer abgegangen!«

Darren legte noch ein paar Schattierungen rot nach und hauchte ein schuldbewusstes »Ähm...«

»Passiert immer und ging mir früher genauso«, beruhigte Phillip und schob gleich noch eine Erklärung nach: »Wir, Basti und ich, sind erst seit fünf Jahren Vampire. Davor haben wir ein paar blutsaugenden Freunden als nachhaltiges Lebensmittel gedient. Uns ist jedes Mal heftigst einer abgegangen. Worauf Florian aber eigentlich hinaus will, wenn er nicht die ganze Zeit um den heißen Brei reden würde, ist etwas anderes: Du hast ihm Leben geschenkt und bist deswegen ein Freund.«

»Wie jetzt?« Darren wirkte verwirrt. »Ein Freund? Und wenn ich eigentlich ein Arschloch bin?«

»Du bist kein Arschloch. A beweist bereits deine Frage, dass du keins bist und B hätte es Flo beim Biss gemerkt. Das gehört zum Handwerkszeug eines Vampirs. Wir wissen, an was für Typen wir zuzeln«, erklärte Basti.

»Du hast meine Gedanken gelesen?«, ging mich Darren schärfer an, als er wohl eigentlich beabsichtigt hatte.

»Nö, ich bin nicht gut im Gedanken lesen. Im Gegensatz zu wirklich begabten Leuten wie Christiano muss ich mich sehr konzentrieren, um Gedanken lesen zu können. Bei mir ist es mehr so ein Empathieding. Ich kann sagen, ob du arrogant, ein Sensibelchen, aufgeschlossen, introvertiert oder aggressiv bist, ob du Minderwertigkeitskomplexe oder ein Ego für zwei hast. Solche Dinge.«

»Und was bin ich?«

»Ein wirklich intelligenter, offener und ehrlicher Typ. Du hast dir eine jugendliche Unschuldigkeit bewahrt, die andere als Naivität missinterpretierten und sie zuweilen wohl auch missbrauchen. Du bist recht selbstlos. Dir bedeutet Freundschaft sehr viel und verfügst über einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, der dir aber auch schon das eine oder andere Problem bereitet hat, weil du aus deinem Herzen keine Mördergrube machst.«

»Super!«, knurrte Darren, »Die Geschichte meines Lebens. Und was bedeutet das jetzt konkret?«

»Dass du uns am Hacken hängen hast«, wortspielte Basti. Phillip verdrehte die Augen. Ich grunzte. Darren war hingegen viel zu aufgeregt, um müde Kalauer angemessen würdigen zu können. »Unser Flo hier«, fuhr Basti fort, »hat dich in sein großes Herz geschlossen. Und weil wir Vampire Familienwesen sind, hast du es nicht allein mit ihm zu tun, sondern gleich mit dem ganzen Clan. In deinem konkreten Fall heißt dies, dass wir dich nicht hängen lassen werden, egal wie vertrackt die Lage auch sein sollte.«

»Klingt toll, bringt mich aber kein Stück weiter«, grummelte unser menschlicher Gast. Er hatte recht. In der letzten Stunde hatten wir allerlei Nettigkeiten ausgetauscht und Darrens Situation in ihrer gänzlichen Beschissenheit ausanalysiert, nur eine Lösung, die waren wir ihm bisher schuldig geblieben. Oder lag sie vielleicht näher, als ich dachte? Es wäre nicht das erste Mal, dass ich den Wald vor lauter Bäumen nicht sah. Gut, dieser Wald bestand nur aus zwei Bäumen, dafür saßen mir diese zwei speziellen Gewächse direkt gegenüber. Taten nicht Basti und Phillip genau das, was sich Darren wünschte? Sie studierten, hatten menschliche Freunde und gingen einer Arbeit nach. Gut, bei ihrem Arbeitgeber handelte es sich um Varadin International, die sie regelmäßig zu „Fortbildungen“ schickte, bei denen es sich dann um Besuche in einem ebenso dunklen wie vampirischen Kloster handelte, doch das war gar nicht der Punkt. Der Punkt war, dass sie die menschliche Seite ihres Leben nicht aufgegeben hatten. Sie lebten in beiden Welten, oder versuchten es zumindest. Warum sollte, was bei ihnen funktionierte, nicht auch bei Darren funktionieren?

»Journalistik an der Columbia?«, fragte ich nach.

»Ja, wieso?«

»Basti?«, leitete ich meine Idee in Form einer Frage an einen meiner zwei Agentenschlingel weiter, der sofort verstand, worauf ich hinaus wollte und zum iPad griff.

»Treffer«, verkündete der Mann seinen Fund, »Varadin International sponsert ein Stipendiatenprogramm und vermittelt auch Volontariate. Wir könnten ihn ziemlich schnell bei Constantin unterbringen. An was dachtest du genau?«

»Das hängt von ihm ab. Entweder er bleibt einfach ein Freund unserer Familie, dann könnten wir ein Auge auf ihn haben und dafür sorgen, dass er aus der Schusslinie bleibt. Oder er wird einer von uns und wird sich an Sonnenmilch gewöhnen müssen.«

»Moment, Moment, Moment«, bremste Darren meine Überlegungen aus. »Ich verstehe gar nichts mehr?«

Wir erklärten es ihm und er hörte zu. Stück für Stück schien ihm zu dämmern, dass sein Leben vor einem Kreuzungspunkt stand, bei dem sich ihm mehrere diametral unterschiedliche Wege anboten, die er einschlagen konnte. Wobei es keine Frage eines besser oder schlechter war. Es war einfach nur anders. Ich gebe aber zu, dass wir ihm schon ein wenig den roten Teppich ausrollten. Der Mann hatte keine Ahnung, was er mit seiner kleinen Enthüllung losgetreten hatte und wie tief wir in seiner Schuld standen. Wir ahnten es ja selbst nicht, dass bisher nur die Spitze des Eisbergs zu sehen war. Ich gebe zu, dass meine Motive nicht ganz uneigennützig waren. Ich mochte Darren. Hey, der Typ war gleichzeitig attraktiv, intelligent und nett. Wo fand man so etwas heute noch? Mit jeder weiteren Minute, die er mit uns zusammen war, wurde mir immer mehr deutlich, wie gut er in unsere Familie passte. Allerdings war dies keine Entscheidung, die ich für ihn treffen konnte. Die musste er ganz für sich selbst treffen. Und so wie es aussah, zögerte er. Irgendetwas schien ihm am Gedanken, zum Vampir zu werden, nicht zu gefallen. Die üblichen Vorbehalte und objektiven Nachteile schienen es allerdings nicht zu sein. Ihn schien weder der Gedanke zu schrecken, ein Nachtwesen zu werden, noch sich von Blut zu ernähren. Ich hatte sogar den Eindruck, dass ihm der Gedanke gefiel, mehr Zeit mit Basti, Phillip und mir zu verbringen.

»Okay«, meinte Phillip, dem Darrens Zögern ebenfalls aufgefallen war, »Wo klemmts?«

»Wie meinst du das?«, wollte unser Mensch wissen und klang dabei so, als ob wir ihn mit der Hand in der Keksdose erwischt hätten.

»Irgendetwas stört dich oder ist dir unangenehm. Oder hast du vor irgendetwas Angst?«, brachte es Basti auf den Punkt. »Raus mit der Sprache. Wir sind dir gegenüber vollkommen offen und werden dir alle Fragen beantworten. Nur musst du sie auch stellen.«

»Seid mir aber nicht böse.«

»Nö, sind wir nicht.«

»Diese beiden Frauen... Sofia und diese Eleane oder Loren... Die machen mir Angst. Bei Sofia läuft es mir eiskalt den Rücken runter und bei der anderen habe ich den Eindruck, ich wäre ein Steak. Ich habe schon mitbekommen, dass sie eure Chefin ist. Ehrlich gesagt habe ich Angst, die Alte zieht mir die Haut vom lebendigen Leib, wenn ich sie auch nur falsch ansehe. Außerdem scheint sie mich nicht zu mögen.«

»Yupp, das mit dem Hautabziehen bringt sie locker fertig«, meinte Basti trocken und behielt dabei einen so dermaßen abgefuckt coolen Gesichtsausdruck, dass es selbst mir die Sprache verschlug.

»Die lässt sich deine Haut zum Frühstück servieren«, setzt Phillip noch einen drauf. Ich verschluckte mich zwischenzeitlich an meiner Spucke. Darren begann zu röcheln.

»Ich glaube, es ist besser, wenn ich euer wirklich geiles Angebot ablehne. Aber mit Verlaub, mit dieser Frau als Chef komme ich definitiv nicht klar. Sorry, nichts für ungut. Ich bin kein Sexist und habe nichts gegen einen weiblichen Chef. Ganz im Gegenteil waren sogar alle meine Chefs bisher Frauen. Aber diese ist mir ein paar Nummern zu heiß.«

»Sie wird betrübt sein, dies zu hören«, erlaubte ich mir zu bemerken und löste unbeabsichtigt bei Darren eine Panikattacke aus.

»Nein, Flo, bitte, ich flehe dich an. Sag ihr nicht, dass ich das gesagt habe! Die bringt mich um! Saugt mich komplett aus. Bitte verrate mich nicht. Auch wenn sie dein Boss ist.«

»Junge, entspann dich«, meinte Basti fröhlich und legte unserem Gast seine Hand auf dessen Schulter. »Loren ist heiß, keine Frage. Und ja, sie ist eine Chefin... eine Hauschefin. Sie leitet das New Yorker Haus unseres Stammvaters, dem Herzog Margaux, König aller Vampire und letzter der Hati.«

»Oh Shit! Wenn das die Typen wüssten, die mich auf euch angesetzt haben. Ich bin ein toter Mann. Echt, ihr seid vom Clan des Königs? Shit, Shit, Shit... Ich bin ja sowas von im Arsch. Habt ihr eine Ahnung, was euer König mit mir macht, wenn er erfährt, dass ich euch ausspionieren sollte?«

»Oh, er weiß es schon«, meinte nun wieder Phillip trocken und wandte sich an mich: »Flo, was meinst du, wie unser Stammvater reagiert?«

»Oh, er würde auf sein Privileg bestehen, Darrens Verwandlung höchstpersönlich übernehmen zu wollen, sollte sich unser Gast dafür entscheiden, ein Geschöpf der Nacht zu werden. So wie ich ihn kenne, freut er sich schon darauf, sich mit unserem knackigen Kerlchen hier zu vergnügen.«

»Oh, Darren, du bist ja sowas von zu beneiden... Und zu bedauern...«

»Okay, das war's! Ich bin draußen! Ich hau ab. Ich verspreche hoch und heilig, die Klappe über euch zu halten. Wenn ihr mich aufhalten wollt, müsst ihr mich schon umbringen. Aber ich werde meinen Arsch bestimmt nicht für irgendeinen alten sabbernden notgeilen Sack hinhalten. Ich habe ja nichts gegen gepflegtes Ficken einzuwenden. Ganz im Gegenteil. Aber sorry, wenn euer Boss auf junge Typen steht, soll er sich einen kaufen.«

»Och Darren«, versuchte Phillip den panischen Kerl wieder einzufangen. »Vertrau mir, unser Chef wird dir gefallen. Ach was, er gefällt dir!«

»Woher willst du wissen, dass mir der Typ gefällt?«, knurrte Darren.

»Weil ich es bin«, gab ich kleinlaut zu. »Ich bin Herzog Florian Margaux, Stammvater dieses Hauses und König der Vampire. Zu deinen Diensten!«

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