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Roter Mond
Teil 1 - Neumond
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Informationen
- Story: Roter Mond
- Autor: Nero
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Fantasy und Mystery, Krimi
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung und Warnung
- Kapitel 1
- Lobbyist
- Schattenwelt
- Lammcurry
- Die Witwe Breitkopf
- Mike
- Raphi
- Verfolgungsjagd
- Frühstück
- August Trollmann
- Flüsternde Schatten
- Rapport
- Lustbekleidung
- Die absolute Wahrheit
- Feuerteufel
Vorbemerkung und Warnung
Mal was anderes: Roter Mond ist in Teilen alles andere als nett. Ein wenig Splatter, etwas Gore, übersinnliches Zeugs und viel harter, aber auch zärtlicher Sex, massenweise Crime, Lack, Leder und Latex, halt all die lustigen Dinge, vor denen euch eure Eltern immer gewarnt haben. Mit anderen Worten: Überlegt euch selbst, ob ihr diesen, meinen Schund lesen wollt und behauptet nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.
Lobbyist
»Fuck!«
Die kleine Projektionsuhr von Feinkost Albrecht zeigte dreiundzwanzig Uhr zweiunddreißig. KK Sonni Lundkvist war gerade damit beschäftigt, in einen ebenso wunderbaren wie erotischen Traum zu gleiten, als sein iPhone meinte, fiepen zu müssen und damit der Nachtruhe ein Ende zu setzen. Konnte der Abend noch schlimmer werden? Nach einem endlos öden Tag mit reiner Aktenschubserei und einem noch öderen Abend in Sonnis Stammladen, bei dem selbst das Bier nicht schmecken wollte, missgönnte ihm der unbekannte Anrufer sogar die Flucht in selige Traumlande.
»Lundkvist«, knurrte der Kriminalkommissar in sein Mobiltelefon, um sofort scheißfreundlich zu werden, »Oh, Chef… Was? Nein, nein, ich habe noch nicht geschlafen. Kein Problem. Ja, ich verstehe. Ja, ich weiß wo das ist. Warum… Oh, Runowsky ist krank? Gut ich kümmer mich drum. Bin schon unterwegs.«
»Fuck! Fuck! Fuck!« knurrte der müde Polizist vor sich hin.
Sie schlug wieder zu, die verfluchte Formel: jung und Single gleich immer verfügbar. Sonni hatte auf ein Neues die Arschkarte gezogen, was hieß, er schob Bereitschaft. Natürlich war es Freitagnacht und Wochenende und natürlich bedeutete dies, dass sich sein Partner und unmittelbarer Vorgesetzter, Kriminalhauptkommissar Felix Bender, zu seiner Frau, seinen zwei Töchtern, dem Hund und dem unvermeidlichen Minivan verabschiedet hatte. Dies tat er jedes Wochenende und führte es auf ein Vorrecht zurück, das er sich nach eigener Überzeugung mit den Dienstjahren redlich verdient hatte. KK Sonni Lundkvist hatte damit an und für sich kein Problem. Als Kriminalkommissar ohne das solderhöhende Wörtchen »Haupt« im Mittelteil, wurde er an sich nicht für Tatortermittlungen herangezogen. Dafür gab es zum Glück genügend andere kompetente Ermittler am LKA Berlin, die für Fälle von Gewalt am Menschen zuständig waren. Wie etwa den im Telefongespräch erwähnten KHK Richard Runowsky. Dumm nur, dass dieser mit neununddreißig Grad Fieber vorzog, sich dienstunfähig schreiben zu lassen und das Bett zu hüten. Und wer blieb übrig? Richtig, der ungebundene, junge Kriminalkommissar Sonni Lundkvist. Mit ihm konnten sie es machen.
Dabei war Sonni wirklich erschöpft, körperlich wie seelisch. Die vergangene Woche hatte die gesamte Abteilung durch eine Hölle auf Erden getrieben. Sie hatten endlich, nach mehreren Monaten fruchtloser Ermittlungsarbeit, einen Serienraubmörder dingfest machen können. Dessen Masche bestand darin, ältere alleinstehende Damen in ihren Wohnungen zu überfallen, auszurauben und schließlich zu töten. Er suchte sich ganz gezielt Opfer, die einsam waren und die niemand vermisste. In allen Fällen wurden die Leichen erst entdeckt, wenn der Verwesungsgeruch aus den Wohnungen drang und die Nachbarn zu stören begann. An verwertbaren Spuren war zu solch späten Fundzeitpunkten nicht mehr zu denken, genauso wenig, wie an Augenzeugen. Wer konnte sich schon nach Wochen oder gar Monaten noch an ein fremdes Gesicht im Treppenhaus erinnern. Dass der Täter dann doch gefasst werden konnte, war Glück im Unglück. Das letzte Opfer hatte sich wenige Tage zuvor ein Notrufsystem installieren lassen und ihm gelang es, dieses noch auszulösen, worauf der Täter Hals über Kopf flüchtete. Im Treppenhaus rannte er dabei eine Nachbarin des Opfers über den Haufen, die sofort ein Verbrechen vermutete und geistesgegenwärtig ein Foto mit ihrem Mobiltelefon schoss. Endlich gab es ein Bild und verwertbare DNA-Spuren. Sofort wurden Fahndungsfotos an allen öffentlichen Gebäuden, aber auch an Supermärkten oder Zeitschriftenläden aufgehängt und sogar im Lokalfernsehen veröffentlich. Dreieinhalb Tage später konnte der Täter gefasst werden, womit die Büchse der Pandora erst geöffnet wurde. Waren der Polizei bisher mit dem letzten Opfer vier Fälle bekannt, gestand der Täter insgesamt sieben.
Am Ende der Woche krochen die Ermittler auf dem Zahnfleisch. Sonni hatte das Gefühl, in den letzten fünf Tagen um Jahre gealtert zu sein. Die menschenverachtende Kaltblütigkeit, die Brutalität und Erbarmungslosigkeit, mit der der Täter vorgegangen war und dann auch noch seine Taten schilderte, ließ jedem im Ermittlungsteam das Blut in den Adern gefrieren. Mehr als einer fragte sich, ob der Mann, ein an sich unauffälliger Mittvierziger, überhaupt ein Mensch war. Sonni und seine Kollegen ertappten sich mehrfach dabei, kurz davor zu sein, die Kontrolle über sich zu verlieren und dem Mörder an die Gurgel zu gehen. Es war eine Erlösung, als der MK-Leiter Freitagmittag den Fall für abgeschlossen erklärte, die Akten schloss und den Fall an die Staatsanwaltschaft übergab.
Erschöpft, aber dann doch innerlich befriedigt, einen eiskalten Killer aus dem Verkehr gezogen zu haben, ging Sonni ins wohlverdiente Wochenende. Auf dem Weg in seine Schöneberger Wohnung kehrte er bei seinem Lieblingsinder ein. Um selbst etwas zu kochen, fühlte er sich zu erschöpft. Ebenso, um sich später noch ein wenig aufzubrezeln und sich für ein Bierchen in die nahe Szene zu stürzen. Wer weiß, vielleicht fand sich sogar ein Mr. Right oder zumindest ein Mann, an den sich Sonni die Nacht über kuscheln konnte. Doch statt die Kneipenszene um den Winterfeldplatz unsicher zu machen, schnappte sich der müde Kriminalkommissar ein Glas Wein und ein gutes Buch. Langsam kehrte etwas Ruhe ein und Sonni begann sich zu erholen. Doch dann kam der Anruf und ließ alle Hoffnungen auf ein Energie spendendes Wochenende zerplatzen.
Luisenstraße überlegte Sonni, das war in Mitte im Regierungsviertel. Ziemlich teures Pflaster. Die meisten Häuser wurden nicht bewohnt, sondern von Verbänden und Lobbygruppen behaust. Wer dort dennoch wohnte, hatte entweder Geld, politischen Einfluss oder beides. Der Fall schien bereits knifflig zu werden, bevor er überhaupt begonnen hatte.
Nach einer Blitzdusche mit kaltem Abschluss fühlte er sich erstaunlicherweise wieder halbwegs frisch und tatsächlich bereit, dem Verbrechen gegenüberzutreten. Was konnte schlimmeres auf ihn warten, als ein Rentnerinnen mordendes Monster?
Keine zehn Minuten später bestieg er sein Motorrad und brauste in Richtung Mitte davon. Einen Vorteil hatte die späte Stunde. Auf den Straßen herrschte relativ wenig Verkehr, sodass Sonni zügig vorankam. Die Straßen glänzten feucht. Gegen Abend hatte die Front einer Luftmassengrenze die bisher herrschende diesig, dunstig kalte Witterung mit einem kräftigen Regenguss fortgewaschen. Zurück blieb eine frische, glasklare und auch deutlich mildere Luft. Ein Hauch von Frühling machte sich breit. Über der Stadt hing ein tief stehender Vollmond und erleuchtete hell und klar die Straßen.
Während der Fahrt ging Sonni im Kopf nochmals alle Informationen durch, die ihm sein oberster Boss und MK Leiter, Kriminaloberrat Dr. Achim Prechtel mit auf den Weg gegeben hatte. Viel war es nicht, was der KOB zu sagen hatte. Vor rund einer Stunde meldete sich jemand anonym auf der Notrufnummer 110, meldete einen Mord und gab noch kurz die Adresse des Tatorts an. Noch bevor die Kollegen nachfragen konnten, war die Leitung tot. Die hinbeorderte Polizeistreife fand eine offenstehende Eingangstür vor, trat vorsichtig ein, erkundete das Terrain und… mehr wollte KOB Prechtel nicht sagen. Sonni sollte sich ein eigenes Urteil bilden. Was das auch immer bedeuten sollte.
Gut eine Viertelstunde nach Abfahrt war die Louisenstraße erreicht. Die blauen Blinklichter der Streifenwagen und Spurensicherung tauchten die mitternächtlich dunkle Straße nicht nur in ein unwirkliches Licht, sondern sorgten auch für reichlich Schaulustige. Ganz so unbewohnt schien die Gegend dann doch nicht zu sein. Einige Gaffer hatten sogar die Fenster ihrer Wohnung geöffnet und es sich auf der Fensterbank gemütlich gemacht. Andere standen mit langen Hälsen an den Absperrungen, oft mit einem Hund an der Leine, der offenbar als Begründung herhalten musste, sich zur nächtlichen Uhrzeit noch auf der Straße herumtreiben zu müssen.
»KK Lundkvist« Sonni hatte seinen Dienstausweis aus seiner Lederjacke gepult und hielt diesen dem am rot-weißen Flatterband Wache schiebenden Schutzpolizisten unter die Nase. Statt eine Antwort zu erhalten, wurde nur der Plastikfolienstreifen angehoben. Sonni nickte kollegial, gab Gas und fuhr weiter.
»Ah, Sonni«, begrüßte KK zur Ausbildung Kevin Bredow den motorradfahrenden Ermittler, »Gut, dass du da bist. Die Sache ist echt heftig.«
»Kev, hat dich also ebenfalls das Schicksal ereilt, dein Wochenende an einem Tatort zu verbringen?«, erwiderte der Angesprochene erfreut darüber, mit dem jungen sympathischen Kollegen zusammenarbeiten zu können. Kevin war der erste Lichtblick an diesem versauten Abend. Die meisten Kollegen hatten die Vierzig bereits hinter sich gelassen, viele sogar schon die Fünfzig, was nicht heißen sollte, dass sie schlecht waren. Ganz im Gegenteil schätzte Sonni den unschätzbaren Erfahrungsschatz der reiferen Semester. Nur auf der zwischenmenschlichen Ebene lief es nicht ganz so optimal. Das fing bereits mit dem Radioprogramm an. Während Sonni mehr auf die härteren aktuellen Sachen stand, bevorzugten die Vierziger Rock und Pop der 80iger und die Fünfziger mehrheitlich deutsche Schlager. Kevin war einer der wenigen mit einem kompatiblen Musikgeschmack, wenn dieser nicht gerade wieder auf einem Gangsta- und Pornoraptrip war.
Die größte Hürde, wie konnte es anders sein, spielte natürlich Sonnis sexuelle Orientierung. Dass er Männer, viel mehr Kerle bevorzugte, war kein Geheimnis, sorgte in seinem beruflichen Umfeld öfters aber für Verunsicherung, gelegentlich aber auch für nicht ganz korrekte Bemerkungen. Dass der bettlägerige Runowsky seinerzeit die Zusammenarbeit mit Sonni mit der Bemerkung »Also mir könne se ja nen nackten Kerl auf'n Bau schnallen, da tut sich bei mir nüscht.« einleitete, zählte zu den eher amüsanteren Kommentaren. Sonni war kurz versucht, mit »Bei mir auch nicht«, zu antworten, sparte sich aber die Replik.
»Hey, du weißt doch, wie das läuft. Wochenendeinsätze sind das Privileg der Jung- und Ausbildungsbullen. Unsere Kollegen meinen es doch nur gut mit uns.«, stichelte Kevin gegen die abwesende Kollegenschaft und ließ Sonni schmunzeln. »Hier, dein Overall. Du wirst ihn brauchen.«
KK Lundkvist stieg von seinem Motorrad, nahm den Helm ab und kletterte in den dargebotenen weißen Zellstoffoverall. Dabei ließ er seinen Blick über die Szene streifen. Mit je einem linker und rechter Hand des Tatorts quer gestellten Streifenwagen hatten die Schutzpolizeikollegen die Straße gesperrt, während ein Wagen der Spurensicherung unmittelbar vor dem Eingang stand. Je drei Polizisten sicherten mit rot-weißem Flatterbank abgegrenzten Bereich und verhinderten, dass die Schaulustigen zum Tatort vordrangen, womit sie gut zu tun hatten, da sich inzwischen eine erkleckliche Zahl an Gaffern versammelt hatte.
»Ich muss dich warnen.«, ergriff KK z.A. Bredow das Wort, als sich die beiden Kriminalkommissare aufmachten, das Haus zu betreten, »Der Anblick ist nichts für schwache Nerven.«
»Okay…«, murmelte Sonni gespannt und registrierte im Vorbeigehen ein poliertes Metallschild nebst der Eingangstür des Hauses. Das Gebäude schien nicht nur eine Wohnung zu beherbergen, sondern auch das Hauptstadtbüro eines Verbandes für Finanzdienstleistungen im Gesundheitswesen. Zufrieden stellte Sonni fest, dass sich sein Verdacht, dass es einen Lobbyisten erwischt haben könnte, zu verdichten schien.
»Das Haus hat vier Stockwerke.«, erläuterte KK Bredow und begann die Vermutung seines Vorgesetzten weiter zu untermauern »Im EG und ersten Stock sind Büros von so einem Lobbyverband. Darüber liegt die Maisonettewohnung des Opfers. Er ist auch der Eigentümer des Gebäudes und gleichzeitig Verbandspräsident des Ladens. Der Mann scheint über ordentlich Kohle zu verfügen. Dabei dachte ich immer, dass Lobbyisten Geld verteilen und nicht einnehmen. Politik will schließlich geschmiert werden.«
»Weißt du, dass du für dein Alter ziemlich abgefuckt bist.«
»Ich? Unterhalt dich mit den Kollegen vom Wirtschaftsdezernat. Dann weißt du, was abgefuckt ist.«
Das Treppenhaus ließ ahnen, dass es an diesem Ort um Geld ging, um viel Geld, legte es doch Zeugnis für eine Altbausanierung ab, die nur mit dem Begriff Perfektion beschrieben werden konnte. Angefangen beim fein gedrechselten Treppengeländer über die ebenso behutsam wie beeindruckenden Wohnungstüren bis hin zum Sisalläufer, dem gleichzeitig blendfreien und trotzdem hellen Halogenlicht und der unaufdringlichen aber angenehmen Farbgestaltung. Hier hatte jemand sehr viel Wert auf Stil und Understatement gelegt.
»Schick, was?«
»Im Vergleich zum abgestoßenen Rauputz und Linoleum im Treppenhaus meines Schuppens allemal.«
Die Stufen bis zum zweiten OG waren schnell genommen. Die einzige kameragesicherte Tür auf diesem Stockwerk stand offen und wurde von einem Schutzpolizisten bewacht, der Bredow und Lundkvist nur müde zunickte, als die beiden Ermittler den Tatort betraten. Wobei von einem Tatort nicht viel zu sehen war. Soweit Sonni erkennen konnte, führte von der Eingangstür ein kleiner Flur mit Garderobenecke zu einer Toilette, einem Arbeitszimmer, einer kleinen Abstellkammer und am Ende in ein gigantisches Wohnzimmer mit Kamin und riesiger offener Tresenküche. Nichts an diesen Räumen deutete auf ein Gewaltverbrechen hin, sondern nur auf einen ebenso teuren, wie erlesenen Geschmack des Bewohners. Dieses Wohnzimmer trug eindeutig die Handschrift eines Innenarchitekten. Alles, wirklich alles war in sich stimmig, selbst die gezielten kontrapunktierenden Stilbrüche. Die Tischlampen nahmen etwa die Textur, Form und Farbe des Stoffs auf, mit dem die Sitzgruppe bespannt war. Die Kaffeetischchen zwischen den zwei Sofas komplementierten sich in ihrer Geometrie gegenseitig. Perfektion wohin Sonni auch schaute.
Aber leblos – die Einrichtung des Wohnzimmers konnte direkt als Motiv für Schöner Wohnen dienen. Die Öl- und Acrylbilder an den Wänden, die kleinen Dekoaccessoires auf Sideboard und Tisch passten sich perfekt in die Szene ein. Selbst die Zeitschriften waren derart lässig auf einem der Kaffeetischchen drapiert, dass Sonni sich fragte, ob er in einer Wohnung oder einem Ausstellungsraum gelandet war. Nichts, rein gar nichts deutete darauf hin, dass diese Wohnung wirklich bewohnt war. Es fehlten einfach die kleinen persönlichen Dinge, die jeder Mensch in seiner Lebensumgebung hinterließ, und wenn es auch nur die Schale mit den abgepulten Weintraubenstielen war.
»260 Quadratmeter Wohnfläche. Da muss eine alte Frau lange für stricken, um sich sowas leisten zu können. Hier lang.«, meinte Kevin und deutete auf eine Wendeltreppe in einer verdeckten Nische der Wohnküche. »Die Sauerei ist im oberen Stockwerk.«
Die mit verdeckten LEDs beleuchtete Wendeltreppe führte in etwas, das sich nicht entscheiden konnte, ob es Flur oder Zimmer sein wollte. Auch hier strotzte alles vor perfekter Ordnung. Von einem Gewaltverbrechen war weiterhin nichts zu entdecken.
»Du bist dir sicher, dass wir hier richtig sind?«, wollte Sonni deswegen wissen.
»Absolut.«, erwiderte der Kriminallehrling und zeigte auf zwei Türen. »Links ist ein Wirtschaftsraum mit Waschmaschine, Trockner und Wäscheschränken. Die rechte Tür führt ins Schlafzimmer.«
Das tat sie tatsächlich, brachte aber auch noch keine Erleuchtung. Das Schlafzimmer war ein stinknormales Schlafzimmer und der erste Raum, in dem erkennbar war, dass hier wirklich jemand wohnte. Über einem stummen Diener hingen mehr oder weniger ordentlich Anzugjacke und -hose. Eine Krawatte war mit fast anarchischer Missachtung darübergeworfen worden. Fast schon revolutionär war das Häufchen aus Slip, T-Shirt und Socken auf dem Boden. Der Rest war wieder langweilig makellos. Ein Doppelbett, Nachttischlampen, ein eingebauter Kleiderschrank und eine Tür, die in ein großes Badezimmer führte, fertig war das Schlafzimmer. Aber weder hier noch im Bad war etwas Ungewöhnliches zu entdecken. Sonni resignierte, bis ihm etwas auffiel.
»Irgendetwas stimmt mit dem Grundriss nicht.«, wandte er sich an Kevin, »Dieses Stockwerk ist zu klein. Hier fehlt mehr als die Hälfte der Fläche gegenüber dem zweiten Stock.«
»Sehr gut beobachtet.«, erwiderte Kevin und führte Sonni zum Kleiderschrank, »Unser Opfer hütete ein kleines schmutziges Geheimnis.«
Mit diesen Worten schob KK z.A. Bredow eine der Schiebetüren des Schranks beiseite und gab den Blick zu einem Durchgang in einen weiteren Raum frei.
»Wow!«, bemerkte Sonni sichtlich beeindruck und setzte seinen Fuß in den Schrank.
Schattenwelt
Der Grundriss des dritten Stockwerks war fehlerfrei. Die fehlenden Quadratmeter nahm ein einziger Raum ein, dessen Einrichtung und Stil den wohl größtmöglichen Kontrast zum Rest der Wohnung darstellte. Und dies tat er nicht nur deswegen, weil Sonni hier endlich das Tatopfer fand.
»Scheiße!«
»Das war mein erster Kommentar.« meinte Kevin vordergründig locker, doch konnte jeder spüren, dass ihm der Anblick an die Nieren ging, was seine nächste Bemerkung unterstrich. »Ich dachte, nach dem Omakiller hätte ich alles gesehen, aber das hier… Was hältst du davon?«
KK Sonni Lundkvist sah sich um. Einen Raum dieser Art hatte er bisher nur in den einschlägigen Ecken den Internets gesehen. Der Hausherr hatte sich tatsächlich einen SM-Playroom der Sonderklasse eingerichtet. Es gab alles, was für eine zünftige Session gut und billig war, angefangen bei einer Streckbank, über einen Fickbock, SM-Bett, Stahlkäfig, gekachelten Sanibereich für Klinikspielchen, bis hin zu einem Andreaskreuz.
»Darf ich vorstellen? Dr. Thorsten Breitkopf, Hausherr, Verbandschef und Mordopfer.«
An letzterer Klassifizierung konnte kein Zweifel bestehen. Sonni bedurfte keines Gerichtsmediziners, um zu erkennen, dass Thorsten Breitkopf zu Tode gefoltert wurde. Der mit Peitschenstriemen übersäte Körper des Mannes hing merkwürdig schlaff und irgendwie verdreht an den Fesseln des Andreaskreuzes. Am Hals klaffte ein tiefes Loch. Der Täter hatte Breitkopf die Kehle aufgerissen. Den restlichen Wunden nach zu urteilen, dürfte dieser finale Akt eine Erlösung für das Opfer gewesen sein.
»Oh, mein Gott, hat man…«, Sonnis Stimme stockte, als sein Blick auf den Bereich fiel, an dem sich eigentlich die Genitalien des Mannes befinden sollten.
»Nein, schlimmer«, erklärte Dr. Reinhardt Marx, der als forensischer Pathologe die Erstbegutachtung vorgenommen hatte, »Penis und Hoden wurden ihm vor seinem Tod abgebissen.«
»Abgebissen?«, fragte Sonni hysterisch nach und stellte dann eine Frage, deren Antwort er eigentlich nicht erfahren wollte, »Wo sind sie?«
»Nicht hier. Die Spurensicherung hat nichts gefunden. Der Täter muss sie mitgenommen haben oder…«, Dr. Marx ließ das Undenkbare unausgesprochen.
»Was ist mit seinen Armen?«, hakte Bredow nach, »Die sind so merkwürdig verdreht.«
»Sie wurden ausgekugelt. Ich vermute, dass das Opfer vorher auf der Streckbank lag. Genaueres kann ich aber erst nach einer Untersuchung im Institut sagen.«
»Und was soll das alles?«, wollte KK z.A. Kevin Bredow von Sonni und Dr. Marx wissen.
Die beiden Männer schüttelten nur den Kopf. Nach dem vorläufigen Bericht der Spusi schien in der Wohnung nichts zu fehlen. Die Geldbörse des Opfers enthielt rund dreihundert Euro. Einen Raubmord schloss Sonni daher vorläufig aus. Aber was war es dann? Eine Session, die außer Kontrolle geraten war? Dafür wirkte die Szene zu brutal. Sonni Lundkvist war ratlos, was er von der Tat halten sollte. Natürlich ließ sich ein Sexualverbrechen vermuten, irgendwie wollte sich der junge Kriminalkommissar mit diesem Gedanken nicht richtig anfreunden. Und dann waren da ja noch die Bissspuren.
»Erstaunlich wenig Blut, oder?«, fragte Sonni und zog sich ein paar sterile Latexhandschuhe über.
»Gut beobachtet, Lundkvist«, stimmte Dr. Marx zu, »Neben Breitkopfs Geschlechtsteilen fehlt ihm auch der größte Teil seines Bluts. Das Loch in der Kehle hat die Halsschlagader zerrissen. Wissen Sie, mit welchem Druck das Blut aus dem Hals schießt? Hier müsste alles voll sein, aber abgesehen von der kleinen Pfütze am Boden ist da nichts. Die Verletzungen wurden dem Opfer aber eindeutig ante mortem zugefügt.«
»Ich seh schon, der Fall wird zum nächsten Albtraum. Wenn das die Presse spitz kriegt, bricht der Teufel los. Ich kann mir die Schlagzeilen schon vorstellen.«, knurrte Sonni und beugte sich zum Opfer herunter, um sich dessen linke Hand anzusehen, »Kann ich?«
»Die Spusi ist durch.«, erklärte Kevin und gab seinem Kollegen damit das Okay, die Leiche berühren zu können. Der griff zu.
»Oh!«, entfuhr es Sonni. In dem Moment, als seine latexbehandschuhten Finger die Hand des Opfers berührten, war ihm, als ob ein heißer Wind über sein Gesicht strich. Für eine Sekunde hatte er den Eindruck, als wenn sich sein Sehvermögen verändert hatte. Die Welt schien nur noch aus rot und schwarz zu bestehen.
»Was?«
Erschöpfung? Müdigkeit? Die letzte Woche hatte Kräfte gefordert, die Sonni nicht in sich vermutet hatte. Er schüttelte seinen Kopf, holte tief Luft und die Welt war wieder normal, sodass er Breitkopfs leblosen Körper untersuchen konnte. Die Leichenstarre hatte noch nicht eingesetzt. Sonni hob die Hand leicht an, um sich einen Siegelring, den er am Opfer entdeckt hatte, genauer anzusehen, »Oh, Shit!«
»Was hast du entdeckt?«, wollte Kevin wissen.
»Unser Freund scheint auf Satanismus zu stehen. Mach mal ein Foto von dem Ring.«
Der KK z.A. griff nach seiner Digitalkamera, schaltete auf Makro und begann den Ring zu fokussieren, den Sonni ihm vor die Linse hielt.
»Ein Pentagramm?«
»Ein Pentagramm!«
Und was für ein Pentagramm. Der Siegelring schien aus Weißgold gefertigt zu sein. Die abgeflachte Oberseite zierte das erwähnte Pentagramm, welches aber nicht einfach eingraviert war, sondern aus feinen weißen Linien bestand, die sich später als eingelegtes Platin erwiesen. Die Spitzen des Pentagramms zierten obendrein kleine Diamanten. Dieser Ring kam definitiv nicht aus einem Kaugummiautomaten.
»Na wenn dett nich' unser Kommissar Lundkvist is«, wurde Sonni von der Seite anberlinert. Der Eigentümer der Stimme war niemand anderes als Horst - Hotte - Mälzer, Chef des Einsatzteams der Spurensicherung. »Na Sonni, det is' doch wat für Vatters Sohn, wa? Ja, juckts dir in die Finger, och mal hier spielen tun?«
»Meinst du, Hotte?«, grinste Sonni den Urberliner tiefgründig an, »Aber was, wenn ich ein Top bin? Meldest du dich freiwillig als mein Sklave?«
Jeder Außenstehende hätte Horsts anzügliche Stichelei um Sonnis sexuelle Orientierung als Beleidigung oder Belästigung empfunden, doch KK Lundkvist wusste es besser. Der Forensiker war einer der liberalsten Menschen die er kannte, der sogar den zwar stockheterosexuellen aber ansonsten für alles offenen Kevin ausstach, woran seine lesbische Tochter vermutlich nicht ganz unschuldig war.
»Ma ehrlich. Magst du dett hier?«, hakte Hotte ersthaft nach, »Unsere Sabine is ja jetze mit dieser Vanessa zusammen. Ick glob mir knutscht 'n Elch. Die is'n Kerl. Loft jedenfalls so rum. Voll in Leder.«
»Modell Kampflesbe, was? Danke, muss nicht sein.«, gestand Sonni, »Aber ob ich SM mag? Keine Ahnung, hab es noch nicht wirklich ausprobiert. Also… ein wenig experimentiert, aber nichts Ernsthaftes. Aber schau dich um, was hier steht kostet Unsummen. Breitkopf hat hier richtig investiert und sich damit seine eigene Todeszelle gebaut. Wie sieht es aus, gibt es Spuren?«
»Einige«, schaltete Hotte auf Hochdeutsch um, was er immer tat, wenn er offiziell wurde, wie er es nannte. »Wir haben Blut und Spermaspuren an der Streckbank gefunden. Weitere Blutspuren gab es an der Peitsche, die auf der Bank lag. Vermutlich ist es Breitkopfs Blut. Die Striemen an seinem Körper passen jedenfalls ganz gut. Genaueres wird die DNS-Analyse bringen. Sonst ist es hier einfach unverschämt sauber. In einem Schrank haben wir Desinfektionsspray und Bleiche gefunden. Breitkopf hat seinen Laden sauber gehalten. Aber das hat auch etwas Gutes. Wir haben zwei verschiedene Fingerabdrücke gefunden. Wir haben eine gute Chance, dass einer davon vom Täter stammt.«
»Danke Hotte, du hältst mich auf dem Laufenden?«
»Na wat? Hab ick dir jemals hängen lasse?«
Der Rest war Routinearbeit. Gegen eins hatten die beiden Ermittler alles gesehen und notiert, was es wichtiges zu sehen und notieren gab. Statt zu fortgeschrittener Stunde noch ins LKA zu fahren, fasste Sonni ihre Ergebnisse in einem Protokoll zusammen, das er gleich vor Ort in sein MacBook Pro tippte. Irgendwie hatten es ihm die Produkte mit dem angebissenen Apfel angetan. Obwohl sie im Vergleich zu anderen Computern eigentlich völlig überteuert waren, kam Sonni wie ein Junkie nicht von den Geräten los. Schuld war sein Ex, der ihn vor etlichen Jahren mit einem iPod als Weihnachtsgeschenk angefixt hatte.
»Okay, was haben wir? Wo fangen wir an?«, fragte KK Lundkvist seinen Kollegen rhetorisch. Sie hatten sich ein Stockwerk tiefer ins Wohnzimmer gesetzt, um die Ergebnisse des Abends zu rekapitulieren und die nächsten Schritte zu planen.
»Wenn wir nach Lehrbuch verfahren, müssen wir den Täter im Umfeld des Opfers suchen. Da wir ihn in seinem Spielzimmer gefunden haben, sollten wir uns auf seine Sexualpartner konzentrieren. Die größten Chancen sehe ich beim Siegelring. Du bist doch auch der Meinung, dass zwischen dem Ring und Breitkopfs sexuellen Präferenzen ein Zusammenhang besteht?«, überlegte Sonni laut, »Wir sollten zweigleisig fahren. Zum einen sollten wir uns mit Bildern des Rings an die berliner Juweliere wenden. Wenn das nichts bringt, können wir den Kreis erweitern. Parallel müssen wir uns in der Szene umhören. Gut möglich, dass Breitkopf seinen Mörder in einem der SM- und Fetischclubs aufgegabelt hat.«
»Schwul oder hetero?«, wechselte Kevin unerwartet das Thema, »Ich meine Breitkopf. Was suchen wir? Eine Domina? Einen Master? Nur weil der Typ tot an seinem Andreaskreuz hing, heißt das noch lange nicht, dass er ein Bottom war, oder?«
»Du hast Recht. Wir dürfen keine vorschnellen Schlüsse ziehen. Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.«, gestand Sonni und dachte einen Moment nach. »Gefühlsmäßig halte ich unser Opfer für schwul. Ein Heteroplayroom sähe anders aus. Verspielter, verschnörkelter, mit diesem weiblichen Touch.«
»Du musst es ja wissen.«, stichelte Kevin.
»Nicht wirklich. Das da oben ist nicht meine Szene. Ich steh zwar auf Kerle, die auch mal handfester zupacken dürfen, aber das? Ich weiß nicht.«
Womit Sonni Lundkvist nicht die volle Wahrheit sagte. Es stimmte schon, dass seine SM-Erfahrungen eher beschränkt waren. Über ein paar Spielereien mit den Diensthandschellen war er nie hinaus gekommen. Allerdings war genau das ein Kick, der ihn richtig heiß gemacht hatte. So heiß, dass er sich vor Angst über möglicherweise tief in ihm lauernde abseitige Bedürfnisse nicht mehr traute, das Thema weiter zu erkunden.
Und dann fiel ihm ausgerechnet dieser Fall vor die Füße. Abgesehen davon, dass der Playroom ein Stockwerk höher Tatort eines bestialischen Gewaltverbrechens war, löste der Raum für sich allein gesehen sehr gemischte, verwirrende und unheimliche Gefühle aus, die Sonni nicht richtig deuten konnte, und auch nicht wollte.
»Also gut«, lenkte Kevin Bredow ein, »Wer kümmert sich um was? Willst du die Juweliere abklappern.«
»Mein lieber Kevin, wenn du glaubst, mich mit inverser Kinderpsychologie auszutricksen, muss ich dich enttäuschen. Ich stell mir das gerade vor, wie du die Ledertucken im Darkroom nach Breitkopf befragst. Nee nee, lass ruhig. Ich mach das schon. Aber du könntest etwas anderes in Erfahrung bringen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass unser Opfer die SM-Möbel in seinem Playroom von der Stange gekauft hat. Die sehen mir sehr nach Individualanfertigungen aus. Die Spusi soll sich die Teile genau ansehen und nach Firmenlogos oder Typenschildern Ausschau halten. Ich könnte mir vorstellen, dass so ein Hersteller von Streckbänken einiges zu erzählen weiß.«
»Es war einen Versuch wert.«
Lammcurry
Bis alle Daten erfasst und das erste Ermittlungsprotokoll geschrieben war, verging noch einige Zeit in der Sonni mehr und mehr die Müdigkeit in seinem Körper spürte. Wie er am Ende den Weg nach Hause gefunden hatte, konnte er nicht sagen. Nur das Bild eines blutigroten Vollmonds, der unheilvoll über der Stadt schien, blieb ihm dunkel in Erinnerung. Erst gegen halb drei erreichte er seine Wohnung. Fix und fertig, ausgepowert und ausgelaugt, gönnte er sich noch ein Glas des angebrochenen Weins und fiel kurze Zeit später völlig alle ins Bett.
Trotz der späten Bettruhe erwachte Sonni, das Gewohnheitstier, das er war, fast zur üblichen Zeit. Immerhin begann seine samstägliche Routine generell etwas später, was sein Körper wusste und wofür der Kriminalkommissar dankbar war. Hatte er zu wenig geschlafen? Irgendwie fühlte sich Sonni alles andere als erholt und immer noch ziemlich matt. Erstaunt stelle er fest, dass sein Bett nicht nur komplett zerwühlt, sondern auch feucht von kaltem Schweiß war. Hinzu kam eine innere Unruhe und Unrastigkeit, die auch nach einer langen und intensiven Dusche nicht völlig verschwinden wollte. Wirre Gedankenfetzen flackerten in seinem Geist auf, ließen sich aber nicht einfangen und festhalten. Alles was blieb war ein Gefühl von Bedrohung, Blut und Gewalt. Irgendwie ließ der Fall Sonni nicht los und sorgte dafür, dass seine Gedanken ständig um den abgeschlachteten Breitkopf kreisten. Es war seltsam. So bestialisch zugerichtet das Opfer auch am Andreaskreuz hing, erzeugte es beiweitem nicht das Entsetzen und die Betroffenheit, wie der Fall des Rentnerinnenmörders. Ganz im Gegenteil empfand Sonni eine innere Distanz und Abgeklärtheit, die er nicht verstand. Noch weniger verstand er, dass ihn der Fall trotzdem nicht loslassen wollte.
Als Konsequenz seines aufgewühlten, unrastigen und seltsamen Gemütszustands hielt es Sonni nicht länger in seiner Wohnung. Statt sich ein paar Brötchen zu kaufen entschied er, in einem der schwulen Szenecafés zu frühstücken und anschließend seine Samstagseinkäufe auf dem Wochenmarkt auf dem Winterfeldplatz zu tätigen. Vielleicht, so hoffte er, lenkte ihn etwas Routine ab.
Die Idee entpuppte sich als gar nicht mal so schlecht. Kaum hatte Sonni einen Fuß vor die Tür gesetzt, fühlte er sich auch schon besser. Mit der Warmfront, die am Abend die kaltfeuchte Winterluft hinweggefegt hatte, war die seit Tagen tief und grau hängende Wolkendecke hinweggefegt worden. Die Berliner wurden mit glasklarer, milder, fast warmer Vorfrühlingsluft verwöhnt. Über der Stadt hing eine strahlende Sonne, die nicht nur die Gesichter der Städter, sondern auch ihre Seelen erwärmte. Dies galt ebenfalls für Sonni, dem die Sonne die Unruhe und Unrastigkeit austrieb. In wesentlich entspannterer Stimmung als er seine Wohnung verlassen hatte, ließ er sich wenig später an einem Fenstertisch seines Lieblingscafés nieder und begann die Frühstückskarte zu studieren. Nach der vergangenen Woche stand dem jungen Kriminalkommissar – Sonni Lundkvist zählte erst sechsundzwanzig Jahre – der Sinn nach etwas handfestem, einem englischen Frühstück mit Spiegelei, gebackenen Bohnen, Grilltomate und Würstchen. Dazu gab es Toast mit Orangenmarmelade, Milchkaffee und frisch gepressten Orangensaft.
Während er auf sein Frühstück wartete, ließ Sonni seinen Blick über die Gäste und das Treiben auf der Straße schweifen. Die Gäste waren das typische Publikum eines schwulen Cafés. Zwei Jungs, bei denen Sonni sich fragte, ob sie denn schon Haare am Sack hatten, saßen sich gegenüber, stopften sich gegenseitig ihr Frühstück in den Mund und zeigten sich auch sonst penetrant verliebt. Trotzdem musste Sonni lächeln. Fast noch jugendliche Verliebtheit war einfach etwas Besonderes. Es war unbeschreiblich, aber doch so flüchtig. Es ließ sich nicht bewahren oder festhalten. Vielleicht war die Suche nach dieser einmaligen, unschuldigen jugendlichen Liebe der Grund dafür, dass so viele Kerle sich später in den Bars und Clubs rumtrieben, reihenweise Typen abschleppten, eine Nacht mit ihnen verbrachten, aber trotzdem unerfüllt blieben. Dieses erste Gefühl, diese Schmetterlinge im Bauch, das Kribbeln, dieses Spiel aus Versuch und Irrtum beim Erkunden des anderen, zeigte sich unwiederbringlich.
Oder, so fragte sich Sonni, sah er die Welt zu negativ? Vielleicht übertrug er nur seine eigene, wenig glückliche Stimmung auf seine Umwelt. Aber nach einer Woche wie der letzten, wer konnte es ihm da verdenken, in trüben Gedanken zu treiben? Manchmal fragte er sich, wie es seine Kollegen schafften, bei all der täglichen Gewalt, von der sie in ihrem Beruf erfuhren, abschalten und sich emotional distanzieren zu können. Konnte es sein, dass er den falschen Beruf ergriffen hatte? Sollte er hinschmeißen und etwas anderes machen? Ja aber was? Er konnte ja nichts anderes?
Ein anderer Tisch, ein anderer Gast. Eine typische Ledertucke in Räuberzivil, also ohne Leder. Schwarze Lederarmbänder, perfekt getrimmter 3-Tage-Bart, Brustmuskeln, die sein T-Shirt mit dem Logo eines in der Nähe gelegenen Fetisch- und Toyshops auf eine grenzwertige Belastungsprobe stellte, G-Star Raw Jeans, Stiefel, halt das ganze Programm. Nur das Glas Prosecco, das er mit Daumen, Zeigerfinger und abgespreiztem kleinen Finger zum Mund führte, brach ein wenig das Bild des harten Kerls.
Zwei Tische weiter hatte es sich eine Gruppe von vier Freunden, sie gingen jedenfalls so mit sich um, gemütlich gemacht und mit munterem Tratschen, Schnattern und Futtern beschäftigt. Es war wirklich ein ganz normaler Samstagmorgen. Das heißt fast. In einer etwas dunkleren Ecke, abseits von der Fensterfront und im Halbschatten gelegen, hockte ein Typ, der Sonni die Nackenhaare aufrichten ließ. Obwohl unauffällig gekleidet, mit Jeans, T-Shirt, Sneaker, halt wie der Allerweltsschwule halt so rum lief, machte er Sonni nervös, wobei er nicht sagen konnte, warum eigentlich. Aber irgendetwas schien an dem Mann anders zu sein. Dabei sah er nicht uneben aus, durchaus attraktiv, und hatte diesen traurig lieben verträumten Blick drauf, der Sonni sonst dahinschmelzen ließ.
Wie auch immer, es war Samstag und Sonni nicht im Dienst, sondern hungrig – und müde. Während er auf sein Frühstück wartete und aus dem Fenster schaute, begann die viel zu kurze Nacht ihren Tribut einzufordern. Sonnis Augen wurden schwer und klappten langsam zu, während sein Bewusstsein in diesen Zwischenzustand aus wach und träumend glitt. Ein heißer Luftzug schien ihm über das Gesicht zu wehen. Durch die halb geschlossenen Augen schien sein Sehvermögen zu schwinden. Nein, nicht zu schwinden, es veränderte sich. Farben veränderten sich. Die Welt wurde rötlich. Wie in Zeitlupe, nur mit seinen Augen und ohne den Kopf zu bewegen, schaute sich Sonni verunsichert um. Die beiden verliebten Jungs strahlten hellgolden, die Ledertucke glühte in dunklen Rottönen, während die Schnattertantentruppe funkelte und flackerte. All dies schien Sonni schon merkwürdig genug und fast unheimlich, hätte er sich nicht in diesem halb wachen Dämmerzustand befunden. Tranceartige wanderte der Blick zum Typen in der hinteren Ecke. Sonni erstarrte. Der Mann schien mitten im Zentrum eines Flammenwirbels zu stehen.
»Einmal englisches Frühstück«, riss die quietschfröhliche Stimme des schnuckeligen Bedienungskerlchens den dämmernden Kriminalkommissar aus seinem Dämmerzustand, dessen Bilder ebenso schnell verblassten, wie Sonni das Wasser im Mund zusammenlief. Sekunden später war nur eine dumpfe Erinnerung zurückgeblieben, insbesondere nachdem die ersten gebackenen Bohnen in Tomatensoße zusammen mit einem Stück Spiegelei in Sonnis Mund gewandert waren.
Der Rest des Vormittags verlief ohne weitere Trancezustände. Der Einkauf auf dem Winterfeldmarkt tat gut, wirkte inspirierend, den Kochlöffel abends zu schwingen. Mit unzähligen Tüten voller Obst, Gemüse, Kräutern, Gewürzen und einem guten Klumpen Lammfleisch, natürlich alles Bio, kehrte Sonni vollbepackt in seine Wohnung zurück, nur, um sie kurze Zeit später wieder für den Einkauf von Getränken und allen anderen Dingen zu verlassen, die er auf dem Wochenmarkt nicht erstehen konnte. Um den Besuch des Supermarktes kam niemand herum.
Supermarktkasse und Mobiltelefone – wieso mussten diese Dinger immer zur Unzeit klingen, so wie jetzt, während Sonni damit beschäftigt war, seine Einkäufe in Rucksack und Tüten zu verstauen, während der junge Kassierer – der Supermarkt befand sich im schwulen Bermudadreieck zwischen Martin-Luther-Straße, Winterfeld- und Nollendorfplatz – ungeduldig darauf wartete, dass Sonni endlich zu Potte kam und zahlte.
»Lundkvist«, meldete sich Sonni, »Ah, Kevin. Du, ich steh hier gerade an der Kasse im Supermarkt und werde mit Blicken bedacht, die geeignet sind, den Tatbestand des Paragrafen 240 StGB zu erfüllen. Können wir später reden? Oder warte, hast du heute schon was vor? Ich will ein Lammcurry machen und für mich alleine… Okay, dann bis heute Abend.«
Die Blicke, die sich in Sonnis Körper bohrten, waren zwischenzeitlich von Nötigung (Paragraf 240 StGB) zu Paragraf 211 eskaliert, weswegen sich das Objekt des Zorns zu einem »Entschuldigung« durchrang, das aber mehr oder weniger in seiner Wirkung verpuffte. Sonni war gedanklich längst bei der Zubereitung seines Lammcurrys und überlegte, ob seine Wohnung sich eigentlich in einem vorzeigbaren, das heißt sauberen Zustand befand und kam zu dem Schluss, dass ein kurzes Durchsaugen von Wohnzimmer, Küche und Flur ausreichen sollte. Gut, das Badezimmer konnte einen nassen Lappen vertragen, aber dies zählte sowieso zu den samstäglichen Routinearbeiten.
Ein paar Stunden später befand sich das Lundkvistsche Domizil in einem Zustand, der den Besuch von Gästen mit gutem Gewissen zuließ. Zufrieden mit sich und der Welt räumte Sonni Staubsauger und Reinigungsutensilien weg und machte sich daran, den erworbenen Klumpen Lammfleisch in ein wohlschmeckendes Curry zu verwandeln. Als alleinstehender schwuler Mann hatte er es sich ganz gut in seinem Leben eingerichtet. Er war zufrieden mit der kleinen Welt, die er sich aufgebaut hatte. Hey, er war ein unkündbarer Beamter. Heutzutage war ein derartiger Status purer Luxus. Gut, seine Besoldungsgruppe erlaubte keine großen Sprünge, dafür waren seine Lebenshaltungskosten relativ gering. Die Eigentumswohnung war ein Geschenk seiner Eltern und kostete ihn nur das Wohngeld. Für sich selbst brauchte Sonni nicht viel. Einzig seine Lust an gutem Essen ließ er sich einiges kosten, beschränkte dies aber primär auf das Wochenende. Im Prinzip fühlte sich Sonni glücklich, hätte es da nicht diese eine Sache gegeben, die ihm wirklich fehlte: Ein knuffiger Mann an seiner Seite.
Kevin Bredow zählte nicht zu den Kandidaten. So sympathisch sein Kollege auch war, erfüllte er ein entscheidendes Ausschlusskriterium: Er war total hetero – aber aufgeschlossen. Kevin, der immer meinte, sein Name wäre ein Zustand, zeigte keinerlei Berührungsängste. Ganz im Gegenteil schätzte er Sonnis Kochkünste über alles, weswegen er pünktlich zur vereinbarten Zeit an der Wohnungstür klingelte.
»Komm rein!«, forderte Sonni seinen Kollegen auf, der als Mitbringsel zwei Flaschen vorzüglichen Rotwein, soweit die Etiketten nicht logen, in seinen Händen hielt.
»Ich war ziemlich überrascht davon«, begann der Gastgeber den Smalltalk, »dass du meine Einladung angenommen hast. Ich dachte, du wolltest mit deiner Liebsten übers Wochenende weg fahren.«
»Falsches Thema, Sonni, ganz falsches Thema. Wie es aussieht, gönnen wir uns eine Auszeit. Meine Angebetete meinte heute Morgen beim Frühstück, dass sie lieber allein fahren möchte, um sich über ein paar grundlegende Aspekte unserer Beziehung klar zu werden. Was immer das auch bedeuten mag, für mich klingt das nach dem Anfang vom Ende. Aber was soll's? Hätte ich sie nicht fahren lassen, wäre sofort Schluss gewesen.«
»Sorry, das tut mir Leid.«, meinte Sonni aufrichtig, »Nun denn, guten Appetit!«
»Ach, egal. So komme ich wenigstens in den Genuss deines legendären Lammcurrys.«, erwiderte Kevin fatalistisch und spießte mit seiner Gabel ein mundgerechtes Stückchen Lamm auf, schob es sich in den Mund und schloss verzückt die Augen. »Köstlich! Mein lieber Herr Lundkvist, wenn du irgendwann auf die Idee kommen solltest, kein Bulle mehr sein zu wollen, könntest du locker als Spitzenkoch durchgehen.«
»Nee, bloß nicht. Kochen ist für mich Spaß und Unterhaltung. Wenn ich damit meine Brötchen verdienen müsste, wär's nicht mehr das Gleiche. Lass uns anstoßen.«
Schon vor einigen Jahren war Sonni aufgefallen, dass sich Gastgeber in zwei Gruppen einteilen ließen. Diejenigen, die vor dem ersten Bissen anstießen und diejenigen, bei denen der Toast erst nach ein oder zwei Happen angestimmt wurde. Sonni zählte zur zweiten Gruppe.
»Worauf sollen wir?«
»Auf dass wir keine Scheiße bauen?«
»Auf dass wir keine Scheiße bauen!«
Der erste Teller Lammcurry war schnell verspeist. Aber beim fast schon obligatorischen Nachschlag ließen sich die beiden Männer mehr Zeit. Kevin hatte sich auf seinem Stuhl ein wenig zurückgelehnt, mampfte ein Stück des von Sonni selbst gemachten Fladenbrots, mit dem er vorher ein wenig von der Soße aufgewischt hatte, und betrachtete seinen Gastgeber mit einer Mischung aus Respekt und Mitleid, was diesem natürlich nicht entging.
»Was?«, wollte dieser dann auch prompt wissen.
»Du weißt, dass du am Arsch bist, oder?«, Kevin richtete sich auf, tunkte sein Brot versonnen in die Soße, »Nachdem meine Holde heute morgen abgedüst war, bin ich ins Büro gefahren. Der Chef war auch da. Du kennst ihn ja, wenn er da ist, muss Sabine ebenfalls antanzen.«
Ihr beider oberster Chef und MK-Leiter, Kriminaloberrat Dr. Achim Prechtel, gehörte noch zur alten Schule, was hieß, dass ihm neumodischer Kram, wie Gleichstellungsgesetze, ziemlich egal waren. Wenn er im Büro war, dann hatte es seine Sekretärin ebenfalls zu sein. Eben jene hörte auf den Namen Sabine und hatte einen Narren an Kevin gefressen, weswegen das Küken der Abteilung meistens extrem gut darüber informiert war, was die obere Etage ausheckte.
»Sie haben dir den Fall überlassen. Runowsky mag zwar unpässlich sein, aber so krank, dass er keine Mordermittlung führen konnte, ist er nicht. Die wollen sich an dem Lobbyisten nicht die Finger verbrennen. Prechtel wusste, dass der Typ tot in seinem SM-Spielzimmer hing, als er dich losschickte. Soll die Schwester sich seinen Hauptkommissar verdienen, war sein Kommentar. Ach ja, wenn du es verbockst, kannst du danach in Steinstücken Strafzettel verteilen.«
»Na super. Noch was, was ich wissen sollte?«
»Yupp. Wo ich schon im Büro war, habe ich mich um den Background unseres Opfers gekümmert. Wusstest du, dass Breitkopf verheiratet war?«
Natürlich wusste Sonni nichts davon, war aber von Kevins Arbeitseinsatz mehr als angetan. Der Mann hatte ein ordentliches Dossier zusammengestellt. Dr. Torsten Breitkopf wurde 1964 in Herdecke, NRW, als Sohn eines mittelständischen Pharmaproduzenten geboren. Über seine Jugend gab es nichts Wissenswertes zu berichten. Interessant wurde es erst, als Breitkopf nach seinem Abitur begann, Pharmazie zu studieren. Kaum immatrikuliert, begann er sich politisch zu betätigen. So schloss er sich diversen liberal-konservativen Kreisen an und betrieb intensives Networking, obwohl dieser Begriff zu jener Zeit noch nicht existierte, das ziemlich schnell erste Früchte trug. Der Mann schien ein Naturtalent darin zu sein, Leute auf Ideen zu begeistern, die primär nicht von ihm selbst stammten. Dass er dabei auch noch zielstrebig und erfolgreich sein Studium vorantrieb und am Ende mit einem Doktortitel abschloss, grenzte schon an ein Wunder.
Wenig verwunderlich gestaltete sich hingegen die Übernahme der Geschäftsleitung des Familienunternehmens, welche er aber nur für kurze Zeit inne hielt. Rund fünf Jahre nachdem er sich im Chefsessel niedergelassen hatte, verkaufte er die Firma an einen US-amerikanischen Pharmariesen. Während Breitkopf damit den Coup seines Lebens landete, hatte der Käufer weniger Glück. Das Präparat, für das die Amis ihre Brieftasche weit geöffnet hatten, um Breitkopfs Unternehmen einschließlich aller Patente zu kaufen, entpuppte sich kurze Zeit als später als wirtschaftlicher und medizinischer Super-GAU. Das als Dauertherapeutikum entwickelte Medikament führte bei längerem Einsatz zu irreparablen Nierenschäden. Das Ende vom Lied war eine Reihe von Schadensersatzklagen und das Ende der Produktion. Die amerikanischen Käufer der Firma vermuteten natürlich, dass Breitkopf bereits vor dem Verkauf seiner Firma von den schädlichen Nebenwirkungen des Präparats gewusst hätte, konnten dies aber im nachfolgend angestrebten Prozess nicht beweisen und verloren. Dass sie ihrem ehemaligen Geschäftspartner trotzdem die Pest an den Hals wünschten, ließ sich aus ihrer Sicht gut verstehen.
»Reicht das für ein Motiv?«, wollte Sonni von Kevin wissen.
»Mehr als das. Ich weiß zwar nicht, wie rachsüchtig amerikanische Investoren sind, doch die Verluste müssen ziemlich wehgetan haben. Es ist ja nicht nur der Kurs der Muttergesellschaft eingebrochen, die mussten auch über hundert Millionen Dollar an Schmerzensgeld blechen. Wir sollten unseren Blick aber gar nicht so sehr auf den wirtschaftlichen Aspekt richten. Viel interessanter dürfte sein, dass die amerikanischen Opfer des Präparats entschädigt wurden, die deutschen wegen des anders gelagerten Schadensersatzrechts aber nicht. Nachdem, was ich in Erfahrung bringen konnte, gab es bei uns zwei Todesfälle, die mutmaßlich mit dem Präparat in Verbindung standen. Bei einem der beiden Fälle hat der Ehemann des Opfers gegen Breitkopf geklagt und behauptet, er hätte von den Nebenwirkungen gewusst. Nachdem er den Fall verlor, soll er ausgerastet sein.«
»Rache ist immer ein gutes Motiv. Wo wohnt der Mann?«
»In München. Ich habe den bayerischen Kollegen eine E-Mail geschickt und auch schon eine Antwort erhalten, dass sie der Sache nachgehen. Also Alibi für die Tatzeit und dergleichen.«
Die Witwe Breitkopf
»Das war aber noch nicht alles, oder?«
Das war es natürlich nicht. Als ob es nie einen Pharmaskandal gegeben hätte, kam Breitkopf völlig unbeschadet aus der Sache raus. Ganz im Gegenteil schoss sich die Presse auf die amerikanischen Heuschrecken alias Investoren ein und stilisierten den ehemaligen Geschäftsführer zum Opfer kapitalistischer Geldgier. Nur in einigen kleinen und unabhängigen Fachpublikationen wurde vorsichtig die Frage gestellt, ob Breitkopf nicht doch etwas von den Nebenwirkungen hätte wissen können, was ihnen ziemlich schnell eine Unterlassungsklage seitens Breitkopfs Anwälten einbrachte. Wie schon zur Universitätszeit stand der Mann erneut als strahlender Sieger da und startete seine zweite Karriere als Lobbyist mittelständischer Pharmaproduzenten. Wer, wenn nicht er, wäre besser geeignet, als ihre Interessen zu vertreten, hätte er nicht am eigenen Unternehmen erlebt, wie stark der Druck aus Übersee sei und wie schnell ein Lebenswerk, wie das seines Vaters, von den Hyänen der Wall-Street verschlungen wurde.
Noch vor dem Medikamentendesaster hatte sich Breitkopf, passend für seine Rolle als seriöser Unternehmer, eine standesgemäße Ehefrau zugelegt. Diese Formulierung stammte dabei nicht etwa von KK z.A. Kevin Bredow, sondern von der nicht wirklich trauernden Witwe, mit der Bredow am frühen Nachmittag ein längeres Telefongespräch geführt hatte. Dr. med. Claudia Breitkopf war Professorin für Nephrologie an der Universität Hamburg-Eppendorf. Als die Hamburger Kollegen ihr die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbrachten, nahm sie diese Information eher kühl auf, was vermutlich daran lag, dass es sich eher um eine Zweckehe gehandelt hatte. Auf Kevins Frage, ob ihr Mann gewisse, spezielle sexuelle Praktiken bevorzugte, erwiderte die Professorin, dass dies unter anderem der Grund für die Trennung gewesen sei. Während ihrer Ehe stellte der Sex seitens ihres Mannes immer so eine Art Pflichtübung dar. Nach der Geburt des gemeinsamen Sohns Tillmann-Hagen, 1993, hätte sich ihr Mann mehr und mehr zurückgezogen und irgendwann durchblicken lassen, dass er eigentlich mehr das andere Ufer bespielte. Ganz aus war es, als Claudia Breitkopf eines Tags mehrere Bildbände homosexueller SM-Erotik in die Hände fielen und ihr klar wurde, dass sie damit nicht konkurrieren konnte.
Wie in diesen Kreisen üblich, fanden beide Seiten zu einem gegenseitig zufriedenstellenden Arrangement, bei dem im Prinzip jeder machen konnte, was er wollte.
»Kommissar Bredow, bitte halten Sie mich nicht für herzlos. Aber die Ehe mit meinem Mann war seit längerem nicht mehr, als ein Blatt Papier. Als ich Thorsten 1992 kennenlernte, war er ein wirklich charmanter, zuvorkommender und sehr einfühlsamer Mann. Außerdem sah er verdammt gut aus. Er war so ein Typ, nach dem sich sowohl Frauen wie Männer umdrehten, erstere aus Verlangen, letztere aus Neid. Warum er mich ansprach, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich seinem Charme sofort erlag. Thorsten hatte diese unheimliche Fähigkeit, Menschen beiderlei Geschlechts für sich zu gewinnen. Ich habe mehrfach eine seiner Reden bei Veranstaltungen seines Verbands miterlebt. Selbst seine schärfsten und erbittertsten Gegner in Politik und Wirtschaft hingen wie betrunken an seinen Lippen und applaudierten ihm zu. Ich weiß nicht, wie er das machte, aber während er sprach, klangen seine Worte immer vollkommen vernünftig und alternativlos, um es mit einem Unwort unserer Kanzlerin zu beschreiben. Erst nach einer Weile schien der Verstand zurückzukommen. Dann setzte der Kater ein und jeder fragte sich, was Thorsten eigentlich wirklich gesagt hatte und warum man das soll toll fand.«
»Können Sie mir etwas über seine Freunde, Geschäfts- oder Verbandspartner sagen?«
»Ich weiß nicht, ob Thorsten wirklich Freunde besaß. Jedenfalls würde ich sie nicht so bezeichnen. Es gab da wohl einen Zirkel von fünf Männern, einschließlich meines Mannes, die sich regelmäßig trafen. Was die fünf miteinander verband, weiß ich nicht mit Bestimmtheit.«
»Aber sie vermuten etwas, oder?«
»Ich glaube, mein Mann hat sich einer Loge oder einem Freimaurerzirkel angeschlossen. Was zu ihm passte, da er der geborene Netzwerker war. Jedenfalls besaß er diesen widerlich protzigen Pentagrammring, der wohl so etwas wie eine Insignie der Mitgliedschaft war.«
»Danke, Frau Breitkopf, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mit mir über diese doch sehr privaten Dinge zu sprechen. Wir werden Sie, soweit dies möglich ist, über unsere Ermittlungen auf dem laufenden halten.«
»Das ist nett, Herr Bredow. Allerdings würde ich gerne noch eines von Ihnen wissen, was Sie mir bisher verschwiegen haben. Wie ist mein Mann gestorben?«
»Ähm, also… Ich weiß nicht, ob ich…«
»Bitte, sagen Sie es mir. Ich bin Ärztin und habe einiges gesehen.«
»Also, ich glaube, dies nicht. Ihr Mann wurde gefoltert und, ähm, verstümmelt. Seine Genitalien wurden…«
»Ich verstehe…«, erwiderte Professorin Breitkopf leise und zögernd, »Ich weiß nicht, ob ich mich mit dem, was ich jetzt sage, zu weit aus dem Fenster hänge, aber seien Sie bei Ihren Ermittlungen vorsichtig. Als ich meinen Mann vor drei Monaten das letzte Mal hier in Hamburg traf, lief es mir kalt den Rücken runter. Äußerlich wirkte er wie immer, halten Sie mich nicht für verrückt, aber ich hatte Angst vor ihm, obwohl ich nicht weiß, wieso. Er war in Begleitung eines anderen Mannes, den er mir als Dr. Fritz Lugner vorstellte. Ich nehme an, dass er dem gleichen Zirkel wie mein Gatte angehört, da er einen identischen Pentagrammring trug. Warum er mir in Erinnerung blieb, war seine Ausstrahlung. Die war ebenso unheimlich, wie die meines Mannes. In jeder Geste, jedem Blick, seinem ganzen Habitus steckte eine latente Drohung. Ich weiß, das klingt absurd und nach einer traumabedingter Überreaktion. Doch sollten Sie den Mitgliedern dieses Zirkels begegnen, seien Sie vorsichtig.«
»Klingt wirklich etwas durchgedreht.«, kommentierte Sonni die Aussage der Witwe Breitkopf.
»Und wird noch durchgedrehter.«, erwiderte Kevin, »Ich habe nach dem Gespräch mit Frau Breitkopf nach Dr. Fritz Lugner gegoogelt und bin unsere Datenbanken durchgegangen. Halt dich fest. Lugner ist Anwalt und hat Breitkopf im Prozess gegen die amerikanischen Investoren und auch gegen die Schadensersatzklagen verteidigt, die er sämtlichst gewann und die zur Initialzündung einer unglaublichen Karriere wurden, ganz wie unser toter Breitkopf. Lugner ist nämlich nicht nur Sozius einer der großen und sehr einflussreichen bundesweit operierenden Anwaltskanzleien, er mischt auch mächtig im Politzirkus mit. Seine Spezialität ist Lobbyisten sehr diskret Kontakte zur Politik zu vermitteln. Während wir ahnungslosen Normalbürger immer noch glauben, die Entscheidungen werden im Parlament getroffen, spielt die eigentliche Musik in den Hinterzimmern der Politclubs.«
»Ich glaube, wir sollten uns mit Herrn Lugner unterhalten.«
»Wenn du auf Selbstmord aus bist, gerne.«, lachte Kevin ziemlich hysterisch, »Der Typ ist brandgefährlich. Ein falsches Wort, eine unglücklich gewählte Formulierung und der verklagt dich und die Abteilung bis wir nicht mehr wissen, wo oben und unten ist. Wenn jemand Macht und Einfluss hat, dann Lugner. Ich habe im Archiv einen Artikel in einer linken Tageszeitung gefunden, in dem der Autor das System Lugner erklärt. Eine Woche nach Erscheinen des Textes bekam die Redaktion Besuch von der Bundesanwaltschaft und des BKA. Begründung: Einzelne Redakteure würden gewaltbereiten linksradikalen Gruppen angehören und für Brandanschläge auf Bundeswehreinrichtungen verantwortlich sein. Diesen Verdacht leitete die Bundesstaatsanwaltschaft daraus ab, dass am Tatort gefundene Bekennerschreiben ähnliche Formulierungen enthielten, wie sie in einigen Artikeln der Zeitung verwendet wurden. Am Ende befand der Bundesgerichtshof, dass das gesamte Ermittlungsverfahren jeglicher Basis entbehrte. Aber das war eigentlich von vorne herein klar. Der eigentliche Zweck der Aktion wurde erfüllt, nämlich die Redaktion nachhaltig einzuschüchtern. Jeder wusste, dass es sich um eine Racheaktion für den Lugnerartikel handelte, der genau dieses Vorgehen detailliert beschrieb: einschüchtern und verklagen. Lugner kann dabei auf ein ganzes Netzwerk von Personen zurückgreifen, die ihn entweder freiwillig oder aus anderen Gründen unterstützen. Der in diesem Fall zuständige Bundesanwalt zählt nämlich – Überraschung – zu Lugners Freundeskreis.«
Sonni schwieg. Der Fall hatte sich, wie er gleich zu Anfang vermutete, zu einem politischen Albtraum entwickelt. Die Ermittlungen entsprachen einem Marsch durch ein Minenfeld ohne Karte oder Minensuchgerät. Es war kein Wunder, dass sich seine älteren Kollegen vornehm zurückhielten und ihm den Vortritt überließen, sich die Finger oder andere Körperteile zu verbrennen. Wer wollte es ihnen verdenken? Sie hatten Familien, mussten ihre Häuschen im Grünen abbezahlen, hatten Kinder, Hund und Minivan, also richtig etwas zu verlieren. Und er? Ein ungebundener Jungbulle am Anfang seiner Karriere. Wie viel hatte er zu verlieren? In den Augen seines Chefs offensichtlich nicht viel.
»Dir ist schon klar, dass du allein stehst?«, mischte sich Kevin in Sonnis Gedanken, »Mit großer Unterstützung und politischer Rückendeckung brauchst du bei diesem Fall nicht zu rechnen. Prechtel möchte die Akte lieber gestern als morgen vom Tisch haben. Am liebsten wäre es ihm, so Sabine, wenn sich der Fall als so ein Schwulending rausstellte. Breitkopf hat einen Stricher aufgegabelt, die beiden haben in seiner Folterkammer miteinander rumgemacht, aber dann ging die Sache leider schief, weil der Stricher keine Ahnung von sicherem SM hat.«
»Und biss ihm die Eier und den Schwanz ab?«, wandte Sonni, wenig begeistert über die Erwartungshaltung seines Kriminaloberrats kritisch ein. »Wie ist es mit dir? Stehst Du hinter mir? Ich kann verstehen, wenn du ebenfalls kalte Füße bekommst.«
»Ich?«, fragte KK z.A. Kevin Bredow, »Sonni, ich bin ein kleines Licht in unserem Verein, auf den niemand wirklich achtet. Außerdem kann ich im Zweifelsfall alles auf dich schieben. Nein, mein lieber Kollege, soweit ich kann, stehe ich hinter dir. Vielleicht schlägt da eine unbekannte morbide Ader bei mir durch, aber ich finde den Fall richtig geil!«
»Junge, du bist krank!«
Mike
Die Informationen, die KK Bredow zusammengetragen hatte, hatten etwas Frustrierendes an sich. Einerseits brachten sie ein wenig Klarheit in das Umfeld des Opfers, anderseits kamen Kevin und Sonni der Identität des Täters nicht wirklich näher. Genaugenommen erhöhte sich sogar die Zahl der möglichen Tätergruppen. Was fehlte, war ein Motiv. Den Wunschtäter ihres Chefs, den Stricher, dem die SM-Session aus dem Ruder gelaufen war, schlossen die beiden Ermittler aus. Zum einen gab es dafür keine Anhaltspunkte am Tatort, zum anderen widersprach die Professionalität, mit der Breitkopf gefoltert wurde einem Unfall. Der Täter wusste ganz genau, was er tat.
Womit zumindest eine andere Hypothese infrage kam. Hatte der Täter sein Opfer vielleicht deswegen gequält, um ihm Informationen zu entlocken? Ganz wollte Sonni diesen Gedanken nicht ausschließen, sein kriminologischer Instinkt sprach dagegen. Die Art, wie Breitkopf am Kreuz hing, seine Verwundungen und der Tathergang, soweit er bisher rekonstruiert werden konnte, all dies deutete auf jemanden hin, dem es um das Quälen an sich ging. Breitkopf sollte leiden. Womit Sonni und Kevin bei ein paar klassischen Mordmotiven angelangt waren: Kränkung, Rache, vielleicht auch eine Mischung beider Motive. Beides passte zu Breitkopf, dessen Lebenslauf mehre Beispiele bereithielt, dass der Mann nicht zimperlich war, wenn es um die Verfolgung seiner Ziele ging. Sie lieferten auch eine gute Erklärung für die Brutalität der Tat. Wenn der Täter ein früheres Opfer Breitkopfs war, konnte es gut sein, dass er seinem früheren Peiniger etwas zurückzahlen wollte.
Fragte sich nur, welche Rolle die Loge spielte, von der Professorin Breitkopf sprach. Mehr scherz- als ernsthaft brachte Kevin die Idee ein, bei Breitkopfs Tod könne es sich auch um eine Strafaktion eines geheimen Freimaurerzirkels handeln. Vielleicht hatte ihr Mitglied gegen bestimmte Regeln verstoßen, die mit dem Tode bestraft wurden. Wenn es nicht so absurd wäre und mehr in einen drittklassigen schwulen SM-Horrorroman eines Hobbyschriftstellers als in das Berlin des 21. Jahrhunderts passte, könnte diese völlig abwegige Idee das Fehlen von Abwehrverletzungen erklären. Was, wenn Breitkopf sein Schicksal kannte und akzeptierte?
»Wo fangen wir an?«, brachte Kevin die Ratlosigkeit auf den Punkt.
»Wir machen weiter wie gehabt. Ich horche mich in der Szene um. Du versuchst den Juwelier ausfindig zu machen, der den Ring angefertigt hat. Schau auch, ob du was über die Firma in Erfahrung bringen kannst, die den Playroom gebaut hat. Zusammen werden wir Lugner einen Besuch abstatten. Ich habe da eine Idee, wie wir ihn befragen können, ohne dass er sich von uns in die Ecke gedrängt oder gar als Verdächtigen betrachtet fühlt. Wir brauchen nur den Gedanken zu folgen, dass Breitkopf einem Racheakt zum Opfer gefallen ist. Da Lugner als sein Anwalt tätig war und ein paar Klagen ziemlich brutal abschmettert hat, ließe sich doch vorstellen, dass der Racheengel mit seinem Werk noch nicht fertig ist, oder?«
»Böse, böse.«
»Und was machen wir jetzt?«, wollte Sonni wissen.
Das Lammcurry war bis auf den letzten Rest aufgegessen. Die Diskussion des Falls hatte seine Zeit in Anspruch genommen, sodass die Uhr inzwischen elf zeigte.
»Ich hatte eigentlich geplant, das Wochenende zu nutzen, um mich ein wenig in der Szene umzuhören.«, überlegte Sonni laut, meinte dann aber, »Aber das eilt nicht. Ich weiß ja nicht, was du geplant hast.«
»Geplant? Gar nichts.«, erwiderte Kevin maulig, »Als meine zukünftige Ex, anders kann ich sie nach ihrer Aktion inzwischen nicht mehr betrachten, heute Morgen mit ihrem Koffer abrauschte, hatte sich meine Wochenendplanung in Wohlgefallen aufgelöst. Wenn es dich nicht stört, eine Hete an deinen Fersen kleben zu haben, hätte ich Bock, dich zu begleiten.«
Etwas überrascht vom Vorschlag seines Kollegen, aber auch nicht abgeneigt, führte Sonni einen kurzen optischen Check seines Kollegen durch, war an und für sich mit dem was er sah zufrieden – die Hete würde ihn nicht blamieren – und meinte: »Gerne. Vielleicht sollten wir dir noch ein etwas anderes Oberteil verpassen, um dich ein wenig aufzupeppen, aber ja, ich freue mich, wenn du mitkommst. Außerdem ist es eine halbprivate Kneipentour. Sag mal, hast du zufällig Bilddateien vom Siegelring, unserem Opfer und seinem Playroom dabei. Wir könnten ein paar Ausdrucke machen und rumzeigen.«
Von Ohr zu Ohr grinsend präsentierte KK z.A. Kevin Bredow einen USB-Stick, der sofort seinen Weg an Sonnis MacBook fand. Ein paar Minuten später hielten die beiden Kriminalpolizisten einen kleinen Stapel Ausdrucke in ihren Händen.
»Das sollte reichen.«, meinte Sonni zufrieden, stutzte dann aber über ein paar Fotos in einem Unterordner des USB-Sticks: »Was ist das?«
»Ach, das habe ich ganz vergessen zu erzählen. Die hat Hotte per E-Mail geschickt und meinte, dass uns das interessieren könnte.«
Die Fotos zeigten den Siegelring Breitkopfs. Dr. med. Horst – Hotte – Mälzer, seines Zeichens der untersuchende Gerichtsmediziner dieses Falls, hatte dem Opfer das Schmuckstück abgenommen und von allen Seiten mit einer hochauflösenden Kamera fotografiert, bevor er ihn zur weiteren Untersuchung an die KTU weiterleitete.
»Hast du gesehen?«, Kevin deutete auf ein Foto, auf dem das Innere des Rings sehr genau abgebildet war, »Da sind Schriftzeichen eingraviert. Ash nazg durbatulûk, ash nazg gimbatul, ash nazg thrakatulûk agh burzum-ishi krimpatul.«
Sonni musste lachen, war aber gleichzeitig auch beeindruckt: »Ich wusste gar nicht, dass Du ein Tolkienfan bist. Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden, ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden? Ich muss dich aber enttäuschen. Das sind keine elbischen Schriftzeichen, sondern aramäische. Ich glaube, da steht: Meinem Herren dem Lichtbringer zu Ehre und Unterpfand.«
»Du kannst Aramäisch?«
»Ähm, nein, eigentlich nicht.«, Sonni kratzte sich verwirrt am Kopf, »Ich habe noch nie ein Wort Aramäisch gesehen. Ich habe nicht den geringsten Schimmer, wieso ich das lesen kann. Ich habe aber keine Ahnung, was es bedeutet.«
Während die Technik ohne Probleme mitspielte, brauchte es ein wenig länger, um Kevins Outfit ein wenig aufzupeppen. Dies lag weniger an Berührungsängsten gegenüber dem Inhalt von Sonnis Kleiderschrank, sondern an der unterschiedlichen Statur der beiden Männer. Aber auch dieses Problem wurde schließlich gelöst und die beiden waren bereit, die Straßen unsicher zu machen.
Der erste Laden war eine einfache schwule Kneipe mit sympathischem Publikum. Vom Stil her dominierten Jeans, Boots und T-Shirts aus der eher kerligen Ecke. Ein paar lederbehoste Kerle sorgten für etwas Salz in der Suppe. Kevin stellte fest, dass im Laden eine sehr familiäre Atmosphäre herrschte. Es wurde gelacht, geflirtet und getratscht. Dies war nicht der Fleischmarkt, den er erwartet hatte, was ihn ärgerte, weil es bedeutete, dass er sich von Vorurteilen hatte leiten lassen.
»Kopf hoch«, lachte Sonni, reichte seinem Kollegen ein Bier und rief zu den Gästen gewandt, »Wir beißen ja nicht, oder Jungs?«
»Eher selten.«, »Nöh.« oder »Warum sollten wir?«, kam es lakonisch von den befragten. Kevin schüttelte nur amüsiert den Kopf und murmelte: »Ihr spinnt doch alle.« Im gleichen Moment spürte er, wie Sonni eine Hand auf sein Schulterblatt legte und ihn sanft, aber nachdrücklich in Richtung des Tresens schob.
»Darf ich dir Mike vorstellen?«, machte Sonni Kevin mit einem lederbehosten, lederbearmbandeten, ziemlich herben, muskulösen Kerl von Mitte fünfzig bekannt, der statt des sonst üblichen Biers ein Glas Rotwein vor sich stehen hatte, »Mike, das ist Kevin, mein Kollege.«
»Es ist mir ein Vergnügen, Kevin.«, sprach die Lederhose den KK z.A. an und reichte ihm die Hand, die sofort ergriffen wurde, »Mir ebenfalls.«
»Unser Mike hier ist ein verdammt guter Kenner der SM-Szene, um nicht zu sagen, dieser Mann ist eine berliner Institution.«, erklärte Sonni, »Wie wird Mann zum Top, zum Ledermeister? Ganz einfach, Mann wird Bottom bei unserem Mike hier. Mike ist ein Vertreter der klassischen alten Schule.«
»Oh bitte, Sonni, bei dir klingt das so melodramatisch. Ich bringe den Burschen einfach bei, gute Tops zu werden. Ich bin dabei bestimmt nicht so selbstlos, wie es bei dir klingt. Du vergisst, dass ich beim Training der Jungs schon darauf achte, auch auf meine Kosten zu kommen. Ach Sonni, es ist wirklich schade, dass du nie auf mein Angebot eingegangen bist. Dabei wüsste ich eine Menge netter Dinge, die ich mit dir in meinem Playroom gerne ausprobieren möchte. Was für eine Verschwendung.«
»Ähm, ja…«, räusperte sich der angesprochene und wurde rot, riss sich zusammen, griff in seine Jacke und schob Mike eines der Fotos von Breitkopfs Playroom zu, »Apropos Playroom, was hältst du davon?«
Mike nahm den Ausdruck auf und schaute sich die Einrichtung eine Weile an. Seine Augen funkelten: »Absolute Studioqualität, scheint aber von einem unausgebildeten Hobbyisten genutzt zu werden. Für einen Profi ist der nicht praxistauglich eingerichtet. Der Strafbock steht rechts an der Wand, die Peitschen und Fesselseile aber quer auf der anderen Seite des Raums und nicht griffbereit. Oh, schau dir an, wie dilettantisch die Seile aufgewickelt wurden. Nichts ist für einen Bottom ungeiler, wenn sich der Top beim Versuch seinen Delinquenten zu fesseln in seinen eigenen Seilen verheddert. Eine solche Schlampigkeit hätten sich meine Trainees niemals erlaubt. Genaugenommen nur einmal.«
»Wo kann man solche Playroommöbel kaufen?«, schaltete Kevin auf Ermittlermodus.
»Oh, da gibt es ein paar Firmen, die die anfertigen und dir deinen Playroom sogar komplett einrichten«, meinte Mike hintersinnig, »Aber dieses Schmuckstück ist von Adult Constructions in Kreuzberg. Jeder SM-Möbelhersteller hat so seinen persönlichen Stil. Ja, eindeutig, das ist Toms Arbeit – schlicht, funktionell, unprätentiös und makellos in der Ausführung. Da hat sich jemand aber richtig was gegönnt.« Mike kratzte sich am Kinn, musterte Sonni und Kevin aus dem Augenwinkel und meinte dann: »Ihr zwei seid nicht zum Spaß hier, oder? Worum geht es?«
Die beiden ertappten Polizisten warfen sich gegenseitig Blick zu, Kevin zuckte mit den Schultern, worauf Sonni ein Foto Breitkopfs hervorholte.
»Dies ist Dr. Thomas Breitkopf, Eigentümer des Playrooms und Mordopfer. Sagt dir der Mann etwas?«
Mike betrachtete das Foto erst gar nicht, sondern schüttelte gleich den Kopf und gab Sonni das Bild zurück.
»Ich weiß, wer das ist. Ein ganz schräges Erlebnis. Es muss etwa eineinhalb Jahre her sein, da ist dieser Typ an mich herangetreten und hat gefragt, ob ich seine Ausbildung zum Sklavenmeister übernehmen könnte. Ich habe abgelehnt, obwohl mir das alles andere als leicht fiel. Der Kerl spricht mit dir und du willst ihm in allem unbedingt zustimmen – total unheimlich. Aber das war nicht der Punkt, warum ich ablehnte. Der Typ war einfach kein Material, aus dem sich ein guter Top schmieden ließ. Er war zwar jemand, der in jeder Sekunde alles kontrollieren wollte, allerdings kenne ich mich mit Kontrolle aus. Breitkopf hatte Angst. Fragt mich nicht, wovor. Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er gleichzeitig dominant war, als auch merkwürdig ängstlich wirkte. Zudem war der Mann aalglatt, ohne wirkliche Persönlichkeit. Alles, was er sagte, bestand aus Floskeln und Phrasen, als wenn hinter der äußeren Fassade einfach nichts existierte. Wenn ich an meine katholische Jugend und an die Predigten unseres Dorfpfarrers zurückdenke, hätte ich behauptet, der Mann hat seine Seele an den Teufel verkauft.«
»Ähm…«, kam es von Kevin mit gekräuselter Stirn und einem Hilfe suchenden Blick zu Sonni. Der zuckte nur mit den Schultern und schaute zu Mike.
»Ich weiß, wie das klingt. Nehmt mich nicht zu ernst. Alles, was ich sagen will ist, dass ich Breitkopf ziemlich merkwürdig fand und lieber die Finger von ihm ließ. Dass er tot ist, überrascht mich nicht. SM ist nichts, was du einfach mal ausprobierst. Das musst du lernen, wenn es nicht im Desaster enden soll. Jetzt, wo ich drüber nachdenke, mache ich mir doch ein paar Vorwürfe. Vielleicht hätte ich ihn doch ausbilden sollen.«
Raphi
Damit hatten sich Mikes Informationen zum Fall Breitkopf fast erschöpft. Erst Kevins Frage, ob das Opfer einen Siegelring trug, was von Mike bestätigt wurde, schloss das Thema ab und leitete zu weniger morbiden Themen über. Ein zweites Bierchen sorgte für eine sehr entspannte und lockere Stimmung, in der der stockheterosexuelle Kevin Bredow die freundlichen und auch nicht wirklich ernsthaften Neckereien Mikes sichtlich genoss und sogar keck erwiderte.
Von Minute zu Minute gefiel Kevin die Kneipe besser und war dabei über sich selbst erstaunt, dass es überhaupt nicht störte, dass manche Gäste quasi auf Tuchfühlung miteinander gegangen waren. So beobachtete er, wie zwei Barhocker weiter zwei Kerle standen, bei dem einer sich mit dem Rücken an den anderen lehnte, während dieser seine Arme um hin geschlungen hatte und leidenschaftlich seinen Nacken küsste.
»Was grübelst du?«, wollte Sonni wissen, dem der nachdenkliche Blick seines Kollegen nicht entgangen war.
»Ich überlege, ob ich neidisch sein soll. Ihr geht hier so locker und unbefangen miteinander um.«
»Hier? Ja, hier ist family. Hier kommst du her, um zu quatschen und in Ruhe dein Bierchen trinken zu können.«, erklärte Mike, »Aber täusch dich nicht. Lass dir von Sonni mal einen unserer Fleischmärkte zeigen. Da geht es ganz anders zur Sache. Da herrscht ein erbarmungsloser Wettbewerb um die geilsten Schnittchen. Ich weiß wirklich nicht, ob es erstrebenswert ist, als halb magersüchtiges zwanzigjähriges Bübchen in eine Existenzkrise zu stürzen, weil so eine achtzehnjährige Designerhusche ihn als Friedhofsgemüse bezeichnet. Geh ins Internet und besuch unser blaues Melderegister und du weißt, worum es den meisten geht: Schwanzlänge, aktiv, passiv, blasen, anal, rot, gelb, schwarz, blau. Sex in jeder Form. Die Leute suchen Schwänze, die sie benutzen können, keine Menschen. Mit denen müssten sie ja reden.«
»Und was ist mit dir?«, wollte Kevin wissen und deutete auf Mikes Lederhose, »Geht es dir nicht um Sex?«
»Klar, Sex ist geil. Aber ich habe mir meine Nische gesucht. Wenn du SM-Sex wie ich betreibst, musst du dich mit dem Typen gegenüber auseinandersetzten. Du musst ihn verstehen, seine Psyche kennenlernen, damit du weißt, auf welche Knöpfe du drücken musst, damit die Post abgeht. Alle Kerle, mit denen ich gearbeitet habe, sind zu sehr engen Freunden geworden. Nur unser Sonni hier ist ein Freund, mit dem ich noch nicht gearbeitet habe, was verdammt schade ist.«
»Du gibst nie auf, was?«, lachte Sonni.
»Aufgeben? Das Wort kenn ich nicht. Aber für heute Abend lass ich dich vom Haken. Ich muss nämlich los, einen neuen Kandidaten begutachten. Sein Profil klang vielversprechend. Mal sehen, ob die Realität mit seinen Worten mithalten kann. Kevin, mein Kleiner, wenn es dich jemals jucken sollte, die Ufer zu wechseln, dann meld dich bei mir. Wenn Sonni nicht weiß, was gut für ihn ist, kann ich es dir ja vielleicht zeigen. Ansonsten hat es mir Spaß gemacht, mich mit euch beiden zu unterhalten. Betrachtet euch als eingeladen.«
Mike zahlte, packte seine Lederjacke, grüßte und verließ die Kneipe.
»Krasser Typ. Was macht er beruflich?«, wollte Kevin wissen.
»Du wirst es kaum glauben, aber er ist Chefarzt für Traumatologie am Klinikum in Buch.«, erklärte Sonni seinem verblüfften Kollegen, »Komm, lass uns auch aufbrechen. Ich will noch einen anderen Laden besuchen. Es ist jetzt halb zwei, da müsste jetzt langsam die Post abgehen.«
Das schöne am Schöneberger Schwulenkiez war seine räumliche Kompaktheit. Vom Verlassen der Kneipe benötigten die beiden Kriminalkommissare kaum fünf Minuten, um ihr nächstes Ziel zu erreichen. Schon einige Meter vor der Tür schlugen ihnen wummernde Bässe entgegen, was unter anderem auch daran lag, dass ständig Leute aus dem Laden kamen, um ihrer Sucht nachzugehen. Das allgemeine Rauchverbot hatte einerseits für deutlich bessere Luft in Kneipen, Clubs und Bars gesorgt, aber andererseits auch zu einigen merkwürdigen Ritualen der Suchtbefriedigung geführt.
»Ein Tipp«, erläuterte Sonni, kurz bevor er nach dem Türgriff angelte, »Die Klos sind im Untergeschoss rechts, der Darkroom links. Nicht verwechseln!«
»Okay!«, erwiderte Kevin mit großen, ungläubigen Augen.
Dieser Club entsprach schon eher Kevins Vorstellungen oder Vorurteilen von einem schwulen Laden. Das Publikum war jünger und präsentierte sich deutlich aufgebrezelter. Mann zeigte, was Mann zu bieten hatte. Auch hier wurde geflirtet, zum Teil sogar auf Teufel komm raus, aber mit einem deutlich anderen Unterton als in der Kneipe davor. Hier ging es eben auch um den eigenen Marktwert. Ganz so dramatisch und sarkastisch, wie es Mike beschrieben hatte, war es in Kevins Augen dann doch nicht, was den Ermittler in ihm vermuten ließ, dass der selbst ernannte Ledermeister nicht die ganze Geschichte erzählt hatte. Aber vielleicht lag es auch daran, dass er zu den Vertretern der »Alten Schule« zählte. Kevin hatte zwar keine Ahnung, was dies konkret bedeutete, konnte sich aber nach der Art und Weise, wie sich Mike gab, wie er auftrat, seinen Teil denken. Dieser Club passte nicht in Mikes Welt. Aber warum sollte es in der schwulen Welt keine Generationskonflikte geben.
Kevin fühlte sich wie ein unvoreingenommener, externer Betrachter. Er maßte sich nicht an, zu beurteilen, welche Welt die bessere war. Beide schienen ihre Berechtigung zu haben, zumal die halb nackten, gut gebauten Jungs auf der Tanzfläche nicht den Eindruck erweckten, sonderlich darunter zu leiden, als Sexobjekt betrachtet zu werden. War es ein Verbrechen, jung zu sein und diese Jugend zu genießen?
»Na, wir gefällt dir dieser Laden?«, wollte Sonni grinsend wissen.
»Anders, definitiv anders.«, entgegnete Kevin, während sein Blick auf zwei nur mit Shorts bekleideten Jungspunten ruhte, die sich wie zwei Aale auf der Tanzfläche aneinander rieben, »Hier geht es schon eher zur Sache.«
»Lass uns zur Bar gehen.« Sonni deutete in den hinteren Teil des Ladens, »Es gibt da jemand, den wir sprechen sollten.«
Der Mann, den KK Lundkvist sprechen wollte, hörte auf den Name Raphi, war der Besitzer des Clubs, der es liebte, sich als genialer Barkeeper in Szene zu setzen, und als Antithese zu Mike durchging. Das Erste, was jedem an Raphi auffiel, war sein wallendes, natürliches platinblondes Haar, das sein ganzes restliches Erscheinungsbild bestimmte, vom gleichzeitig markanten, fast kantigen, aber dann trotzdem warmherzigen Gesicht, den eisblauen strahlenden Augen, über einen langen Hals, eleganten Schultern, einer Männerbrust, bei der Michelangelo mit Dauererektion herumgelaufen wäre und einem Bauch zum Morden. Raphi war ein lebendes Gesamtkunstwerk. Eigentlich fehlten nur ein paar schneeweiße Flügel und der Prototyp eines Engels wäre perfekt verkörpert. Sonni fragte sich immer wieder, ob Raphis Erscheinung wirklich echt oder einfach nur gut inszeniert war. Was es auch war, er mochte den Clubbesitzer.
»Sonni Lundkvist!«, begrüßte Raphi den Kommissar freudig, um plötzlich zu stutzen und Sonni ganz genau zu betrachten. Ein Schatten schien über das sonst so strahlende Gesicht zu huschen. Raphis eisblaue Augen wurden noch ein wenig eisiger, fast schneidend, bohrten sie sich in Sonnis Bewusstsein, das plötzlich wieder in diesen merkwürdigen Trancezustand glitt, den er am Morgen während seines Frühstücks erlebt hatte. Die hämmernde und dröhnende Musik, der stampfende Bass trat in den Hintergrund. Die Welt wurde langsamer, wechselte auf Zeitlupe. Sonnis Sehen veränderte sich und wechselte erneut in diese merkwürdige Welt, die überwiegend von schwarzen und roten Farbtönen bestimmt war. Die Körper auf der Tanzfläche glühten rot, teils orange, einige Gäste glimmten leicht, andere flackerten. Typen, die miteinander am Fummeln waren, strahlten hell. Es war eine seltsame Welt, allerdings befand sich Sonnis Verstand in keinem Betriebsmodus, der ihm schnelles Denken erlaubte. Es erinnerte eher an den Versuch, durch ein Becken voller Götterspeise zu schwimmen. Bis dann der Blick auf Raphi fiel und Sonnis Verstand unmittelbar explodierte, zu schnell, um zu realisieren, was er eigentlich sah. Nur der Eindruck einer silbern strahlenden Gestalt mit weit aufgespeizten…
»Sonni, dich habe ich ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.«, rief Raphi erfreut. Der Moment in der fremden Welt war vergangen und mit ihm die Erinnerung. Zurück blieb nur ein Gefühl von leichter Orientierungslosigkeit und Benommenheit.
»Raphi, du alte Elfe.«, lachte Sonni, »Genau der Mann, den ich suche. Hast du ein paar Minuten für uns?«
»Euch?«, fragte die platinblonde Elfe verwirrt, worauf sich Sonni umdrehte und feststellte, dass ihm sein Kollege abhanden gekommen war. Der hatte sich sein T-Shirt vom Leib gerissen und tanzte wie ein Derwisch inmitten einer Herde schnuckeliger Kerlchen.
»Herr, mach mich geduldig.«, entfuhr Sonni ein Stoßgebet, »Eigentlich sind mein Kollege und ich eher dienstlich unterwegs.«
»Ach, gönn ihm doch seinen Spaß!«, entgegnete Raphi versonnen, wobei es schien, als ob seine Augen kurz blausilbern aufflammten. Doch dann bemerkte er Sonnis besorgten Blick und überlegte. Er hielt seinen Kopf leicht schräg, winkte einen seiner Mitarbeiter, ein ebenfalls blondes Jüngelchen von etwa zwanzig zu sich heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der nickte, grinste und schien ebenfalls den blausilbernen Irisaufflammtrick zu beherrschen. »Gabriel – Gabe, wie er genannt werden will – wird auf deinen Kollegen ein wenig Acht geben.«
»Danke«, meinte der nervöse Kriminalkommissar, deutete mit seinem Kopf in Richtung Kevin, sah dabei aber Raphi an, »Ich möchte nicht, dass er etwas macht, was er oder ich später vielleicht bereuen. Der Junge hat ein wenig Beziehungsstress. Seine Liebste hat sich heute Morgen eine Auszeit genommen und ist allein in ein Wellnesswochenende gefahren, das die beiden zusammen geplant haben. Ich könnte mir vorstellen, dass er nicht ganz weiß, was er tut.«
»Ja, das mag gut sein und es ehrt dich, dass du dich um deinen Kollegen sorgst.« Raphis Augen funkelten unheimlich »Aber habe Vertrauen, er wird schon das Richtige tun. Lass uns lieber einen etwas ruhigeren Ort aufsuchen, an dem wir uns unterhalten können.«
Sprachs und setzte sich in Bewegung. Sonni schaute kurz zu seinem Kollegen, der sich mit Gabe hervorragend zu unterhalten schien, zuckte mit den Schultern und folgte Raphi in unbekannte Gefilde. Links hinter dem Bartresen gab es einen Durchgang, der in einen Flur mit drei Türen führte. Eine war mit einem grünen Notausgangsschild beklebt, eine andere schien zu einem Getränkelager zu führen – ein CO2-Warnschild deutete darauf hin – die letzte war mit Privat beschriftet und besaß ein elektronisches Nummernschloss, in das der Clubbesitzer einen Code eintippte.
»Komm ruhig rein.«, forderte Raphi seinen Gast auf, der daraufhin ebenso vorsichtig wie neugierig einen Fuß nach dem anderen in den anfangs schwach erleuchteten Raum setzte. Allerdings währte die Dunkelheit nicht lange. Mehrere Lampen wurden eingeschaltet und entlockten Sonni eine verblüfftes »Wow!«
»Nicht ganz das, was du vom Büro eines Clubbetreibers erwartet hättest, was?«, lachte Raphi zufrieden, seinen Gast überrumpelt zu haben. Wer hätte auch damit gerechnet, die riesige Bücherwand einer umfangreichen Privatbibliothek in einem schwulen Tanzschuppen zu finden. Die Regale waren so hoch, dass es sogar einer klassischen Rollleiter bedurfte, um an die oberen Reihen zu gelangen. Wie viele Bücher lagerten hier? Sonni zählte eine Reihe, zählte die Reihen eines Schranks und zum Schluss die Schränke. Alles miteinander multipliziert kam er auf überschlägig beeindruckende fünftausend Werke bedruckten Papiers, von denen einige ziemlich alt, wenn nicht sogar antik aussahen.
»Setz dich bitte!«, bot Raphi seinem Gast einen Sitzplatz auf einem modernen rechteckigen Ledersessel einer Sitzgruppe mit quadratischem Glastischchen an. Sonni ließ sich nieder und wurde erneut überrascht. Ganz von der Bibliothekswand gefangen, war ihm die große halbdurchlässige Glaswand entgangen, die einen hervorragenden Blick auf das Geschehen und Treiben im Clubbereich erlaubte.
»Ich bin beeindruckt.«, gestand Sonni und wandte sich seinem Gastgeber zu, »Ich ahnte schon immer, dass mehr hinter dem Mann steckt, der einen der angesagtesten Läden der Stadt betreibt. Aber mit einem Bücherwurm habe ich nicht gerechnet.«
»Es ist mein kleines Laster. Aber du bist ja nicht hier, um mit mir über meine Bibliophilie zu sprechen, oder?«
»Nein, leider nicht. Du weißt, dass ich Kriminalkommissar der Mordkommission bin. Gestern Nacht wurde Dr. Thorsten Breitkopf, ein Finanzlobbyist, tot in seinem privaten und geheimen Playroom aufgefunden. Der Mann, das steht fest, wurde ermordet, und das auf eine ziemlich bestialische Weise. Ehrlich gesagt stochern wir ein wenig im Dunkeln, was den Täter betrifft. Deswegen klappern wir mögliche Orte ab, an denen Breitkopf seinem Mörder begegnet sein könnte. Und dann ist da noch die Frage nach dem Motiv. Es gibt zwar ein paar Theorien, aber so richtig passen, will keine davon.« Sonni zückte ein Foto Breitkopfs und hielt es Raphi hin. »Weißt du, ob er sich irgendwann hier rumgetrieben hat? Und wenn ja, mit wem er sich unterhielt, deinen Keller aufgesucht oder vielleicht sogar zusammen den Laden verlassen hat?«
Und wieder funkelten die Augen des Clubbesitzers. Mit dem Foto in der Hand erhob sich Raphi von seinem Platz, holte eine Bleikristallkaraffe und zwei dazu passende Gläser und goss Sonni und sich etwas von der goldenen Flüssigkeit der Karaffe ein. Sonni nahm einen Schluck und riss erstaunt seine Augen weit auf. Was auch immer es für ein Getränk sein mochte, es hatte es in sich. Es befreite den Geist, vertrieb Müdigkeit und sorgte für Klarheit im Denken. Alkohol schien es nicht zu enthalten.
»Ja, er war hier. Das müsste aber so zwei Jahre her sein. Wenn ich mich richtig erinnere, beschränkte es sich auf eine Hand voll Besuche. Wie soll ich es beschreiben. Seine Bedürfnisse deckten sich nicht mit denen meiner anderen Gäste. Als er begriff, dass er hier nicht fand, was er suchte, kam er nicht wieder, worüber ich alles andere als unglücklich war. Ich möchte nicht schlecht über Tote sprechen, deswegen nur so viel. Er verfügte über eine sehr eigene Persönlichkeit, die für viele eine Herausforderung darstellte.«
»Ja«, Sonni nickte bestätigend, »Dass er wohl nicht ganz einfach war, habe ich inzwischen mehrfach gehört. War er allein hier oder war er in Begleitung eines Freundes oder von Freunden?«
»Ich bezweifle doch arg, dass der Verstorbene zu Freundschaften fähig war. Aber nein, soweit ich mich erinnern kann, kam er immer allein.«
»Okay, vielleicht war es anders. Traf er sich mit jemandem? Warte«, Sonni holte ein Bild des Siegelrings aus seiner Jackentasche, »Breitkopf trug diesen ziemlich auffälligen Ring. Wir haben Anlass zur Vermutung, dass es noch weitere Träger ähnlicher Ringe gibt. Hast du jemanden gesehen, der so einen trug?«
Mit dem zweiten Foto bemerkte Sonni eine Veränderung im Wesen Raphis. Der platinblonde Mann wirkte älter und gleichzeitig auch wieder nicht. Rein körperlich blieb er der etwa siebenundzwanzigjährige Mann, aber seine Ausstrahlung wirkte alt, biblisch alt und sehr weise.
»Es müssten fünf sein, die diese Ringe tragen. Fünf, wie die Zahl der Spitzen des Pentagramms. Aber nur Breitkopf hat es gewagt, die Schwelle meines Hauses zu übertreten.«, dozierte Raphi abwesend, erhob sich erneut und ging zu seiner Bücherwand, »Ich glaube, ich habe hier etwas, das dir weiterhelfen kann.«
Der platinblonde Clubbesitzer schob die Rollleiter an einen bestimmten Punkt des Bücherregals, kletterte hinauf und griff gezielt nach einem ganz bestimmten Buch, das in der allerobersten Reihe stand. Selbst von seinem Sitzplatz aus konnte Sonni erkennen, dass es sich um ein großes, schweres und offenbar auch sehr altes Buch handeln musste. Wenn er es richtig erkannte, bestand der Einband aus dunkelbraunem Leder.
»So, hier ist es.«, stöhnte Raphi und wuchtete den Folianten vor Sonni auf das Tischchen. Das Buch war wirklich alt, sogar antik und entsprechend kostbar. Viel interessanter waren aber die drei soliden Metallklammern, die es verschlossen. Jede Klammer besaß auf der Oberseite des Einbandes einen Schlitz durch den jeweils eine Eisenöse hindurchragte. Durch alle drei Ösen war eine solide Metallstange geschoben worden, die am unteren Ende verdickt war und am oberen ein modernes Vorhängeschloss trug. Ohne passenden Schlüssel ließ sich das Buch nicht öffnen, ohne ihm schweren Schaden zuzufügen.
»Wo hab ich denn?«, überlegte Raphi und begann in seinen Hosentaschen zu kramen, »Ah, hier ist er ja.«
Gemeint war der Schlüssel für das Vorhängeschloss, das auch sofort entfernt wurde. Ein paar Sekunden später hatte Raphi das Buch aufgeschlossen.
»Ist es eigentlich wahr, dass ihr aus ermittlungstaktischen Gründen immer bestimmte Details einer Tat der Öffentlichkeit vorenthaltet? Ich glaube, gelesen zu haben, dass es sich Täterwissen nennt, weil nur ihr und der Täter davon wissen könnt.«
»Ja…«, erwiderte Sonni alarmiert und hellwach, »Du hast recht. Nicht alle Informationen preiszugeben, dient nicht nur dem Schutz der Würde des Opfers, sondern zählt auch zur gängigen Ermittlungstaktik. Viele Täter wurden überführt, weil sie ihren Mund nicht halten konnten. Umgekehrt kommt es gar nicht so selten vor, dass sich jemand einer Tat bezichtigt, die er nicht begangen hat, was dadurch feststellbar wird, dass er bestimmte Sachverhalte nicht benennen kann.«
»Dann möchte ich dich jetzt bitten, mich erst zu verhaften, nachdem ich dir alles erzählt habe.«
Wer war dieser Raphi wirklich? Die Clubware, die er trug, das affektierte platinblonde Haar, seine Show hinter der Bar, all dies erweckte den Eindruck einer oberflächlichen Partyhusche. Doch im Moment präsentierte er sich ganz anders. Sonni stand ein ernsthafter, gebildeter Mann gegenüber. Und auch das platinblonde Haar relativierte sich als Kennzeichen für Oberflächlichkeit, als Sonni bemerkte, dass der Haaransatz ebenfalls weiß war. Raphis Haare waren echt und nicht blondiert. Die Haarwurzeln produzierten keine Pigmente. Dies alles änderte aber nichts daran, dass Sonni seinen Gesprächspartner mit Argusaugen beobachtete. Schließlich waren die beiden Männer allein. Und sollte sich herausstellen, dass sein Gegenüber etwas mit dem Mord zu tun hatte, konnte die Situation ziemlich schnell gefährlich werden.
»Sonni Lundkvist, ich verspreche dir, dass ich nicht der Mörder bin.«, verkündete Raphi, als ob er Sonnis Gedanken lesen konnte, und zog ein Paar dünne weiße Baumwollschutzhandschuhe über, bevor er vorsichtig durch das Buch blätterte. »Dieses Werk stammt aus dem 16. Jahrhundert. Sein Besitz sicherte dem Eigentümer den direkten Weg auf den Scheiterhaufen, reichte es doch als Beweis dafür, ein Hexemeister zu sein. H.P. Lovecraft diente es als Vorbild für sein Necronomicon. Aber dieses Buch, das codex sine nomen, das Buch ohne Namen, ist viel, viel mehr. Der ursprüngliche Autor soll kein Mensch gewesen sein. Wer über den wahren Willen verfügt, das Buch richtig zu lesen, soll in der Lage sein, Dämonen zu beschwören. Du könntest sagen, dass es eine Art Nachschlagewerk für Zaubersprüche und Beschwörungen ist. Ah, hier ist die Stelle, die ich suchte. Schau selbst!«
Unsicher, was ihn erwartete, griff Sonni erst nach den Paar Schutzhandschuhen, die ihm Raphi reichte, dann nach dem Buch. Als erstes sprang ihm eine ebenso kostbare wie kunstvolle Miniaturzeichnung eines Siegelrings ins Auge. Wer auch immer dieses Buch angefertigt hatte, musste ein wahrer Meister voller Leidenschaft gewesen sein. So hatte das Bild über die Jahrhunderte nichts von seinem Glanz und der Strahlkraft seiner Farben verloren. Der Ring bestand aus echtem Goldschnitt. Die Linien des Pentagramms schienen aus feinen Silberfäden gefertigt zu sein, während die Spitzen, die auf dem realen Ring mit Diamanten besetzt waren, kristallartige Sterne trugen.
So beeindruckend sich die Miniatur präsentierte, so unheimlich stellte sich der Text dar. Wenn Sonni richtig verstand, konnten fünf entschlossene Männer einen Bund eingehen, um einen Dämon zu beschwören und an sie zu binden. Dieser Dämon, Guhl genannt, verhalf seinen Meistern zu Wohlstand, Macht und Einfluss. Allerdings besaß dieses Arrangement auch eine Schattenseite. Der Guhl musste sich regelmäßig bei Vollmond, und nur bei Vollmond nähren, verschmähte aber normale Kost. Er benötigte eine ganz spezielle Diät: Menschliche Emotionen, starke Emotionen, wie Furcht, Angst und vor allem Schmerz und Verzweiflung.
»Hm«, meinte Sonni, »Aber was hat das mit meinem Fall zu tun?«
»Du solltest noch etwas weiter lesen.«
So einen Guhl zu beherrschen, der für Macht und Einfluss sorgte, mochte ganz nett sein. Es gab nur ein Problem: So ein Guhl schätzt es nicht sehr, beherrscht zu werden. Mit seiner Beschwörung erwacht auch der Samen seines Hasses auf seine Meister in ihm, der nach einer Weile keimt, austreibt, wächst und irgendwann tödliche Früchte trägt. Um dies zu verhindern, kam es darauf an, den Guhl immer bei Laune zu halten und mit leckeren Emotionen zu versorgen, wollte er nicht, dass sich der Guhl gegen ihn richtete und seinen Meister tötete. Dies löste nämlich eine Kettenreaktion aus, da es stets fünf Meister bedurfte, um den Guhl zu binden.
Die nächste Textstelle ließ Sonni erschaudern, beschrieb sie doch Wort für Wort, wie sich ein Guhl seines Meisters entledigte. Zerbrach die magische Fessel, die den Guhl band, konnte er seinen Meister überwältigen. Im Allgemeinen begann er ihn dann lange und ausdauernd zu foltern, damit sich der Körper seines ehemaligen Meisters mit den begehrten Emotionen anreicherte. Ab diesem Moment kehrte sich die Bindung um. Der Guhl gewann Gewalt über seinen bisherigen Herrn, der zu einem wehrlosen Wesen degenerierte. Und dann, wenn er richtig vollgepumpt war, fiel der Guhl über seinen Meister her, biss ihm die Genitalien ab, trank das heraussprudelnde Blut und beendete alles mit einem finalen Biss in die Kehle. Immerhin war der Guhl danach satt, was seinen verbliebenen Meistern genau achtundzwanzig Tage bis zum nächsten Vollmond Zeit gab, um für Ersatz zu sorgen, wollten sie nicht enden wie ihr Kollege.
»Habe ich also richtig vermutet. Was wurde deinem Opfer angetan? Der Hals?«, fragte Raphi, der Sonnis entsetztes Gesicht richtig interpretierte.
»Nein, alles. Das ganze Programm. Folter, Genitalien, Blut und Kehle.«, stöhnte Sonni, »Das heißt, wir suchen einen Typen, der sich für einen Guhl hält, während Breitkopf und seine Freunde sich für seine Meister halten? Dafür brauchte er also den Playroom. Deswegen fragte er Mike, ob der ihm beibringen kann, ein Top zu werden. Um schwachsinnige Rituale durchzuführen, damit er einen Guhl füttern konnte. Wie krank ist das denn? Mir sind in meiner Ermittlungsarbeit schon einige schräge Nummern untergelaufen, aber das schlägt alles. Da schließen sich fünf Typen zusammen und meinen tatsächlich, einen Dämon beschwören zu können?«
»Du glaubst nicht, wozu entschlossene Menschen fähig sind.«, gab Raphi zu bedenken, »War Breitkopf ein erfolgreicher Mann?«
»Ja, ziemlich, gleichzeitig zeigte er aber auch deutliche Züge eines Soziopathen.«, bestätigte Sonni, »Oh, ich ahne, worauf du hinaus willst. Sein Erfolg beflügelte seinen Glauben, tatsächlich ein Hexenmeister zu sein, der einen Guhl beherrscht. Was vor Jahren vermutlich als Spiel, als fixe Idee oder aus einer Schnapslaune von fünf Freunden geboren wurde, manifestierte sich zu einer kollektiven Persönlichkeitsstörung. Und irgendwann gebar die Fiktion ihre eigene Realität und nährte sie.«
»Vielleicht war es gar keine Schnapslaune. Vielleicht haben Breitkopf und seine Freunde wirklich einen Guhl beschworen, oder glaubten es zumindest.«, gab Raphi zu bedenken, »Die Wirkung wäre die gleiche.«
»Bitte nicht. Ich kann doch unmöglich etwas von schwarzer Hexenmagie in meinen Bericht schreiben. Ich möchte nicht in der Klapse landen.«, erwiderte Sonni.
»Das musst du auch nicht. Ob Magie oder nicht, kannst du als Frage des Blickwinkels betrachten.«
»Oh ich verstehe. Was sich für Breitkopf als Ergebnis seiner Fähigkeiten als Hexer darstellte, lässt sich auch als komplexes psychologisches Beziehungsnetzwerk betrachten. Da sind auf der einen Seite Breitkopf und seine Freunde, ein Club soziopathischer Machtmenschen, die den Rest der Welt danach beurteilen, inwieweit er für ihre eigenen Bedürfnisse nützlich ist. Auf der andere Seite…« Sonni überlegte eine Weile, »Der Täter muss über eine gespaltene Persönlichkeit verfügen. Einerseits nimmt er die Rolle des dienenden Guhls ein, aus dem dann plötzlich ein mordendes Monster hervorbricht. Wir brauchen einen Psychologen, der uns ein Profil erstellt.«
»Wenn ich etwas vermuten darf. Ich glaube, dass du achtundzwanzig Tage Zeit hast, um den Guhl dingfest zu machen.«
»Du hast Recht. Wenn der Guhl, das heißt der Typ, der sich für einen Guhl hält, seine Rolle verinnerlicht hat, wird er beim nächsten Vollmond versuchen, den nächsten Ringträger zu töten. Super, ich bin am Arsch. Ich befürchte, der Fall ist eine Nummer zu groß für mich.«
»Nicht doch, Sonni. Du unterschätzt deine Fähigkeiten. Wann war der Mord?«
»Gestern Nacht.«
»Oh, schön, da habe ich ein wunderbares Alibi, für den Fall, dass du mich für den Täter hältst. Sind es nicht immer die platinblonden Typen, die sich als mordende Psychopaten entpuppen?«, lachte Raphi.
»Du bist morbide.«, meinte Sonni, hakte dann aber doch nach, »Aber wenn wir schon dabei sind, wo warst du gestern Abend?«
»Ich habe mit Kardinal Francesco DaSilva, dem Sondergesandten des Heiligen Stuhls in der Nuntiatur zu Abend gegessen und dann versucht, der römisch-katholischen Kirche bei einem theologischen Problem behilflich zu sein. In dieser Bibliothek hinter dir gibt es Bücher, von denen nur noch dieses eine Exemplar existiert. Außerdem bin ich Historiker. Hier«, Raphi reichte Sonni eine Visitenkarte mit dem Wappen des Heiligen Stuhls, »Kardinal DaSilva wird dir sicher meinen Besuch bestätigen.«
Wer war dieser blonde Mann?
Verfolgungsjagd
»Ich glaube, wir sollten zurückgehen und schauen, was mein Kollege so treibt.«, überlegte Sonni laut und ließ seinen Blick durch die halbdurchlässige Spiegelwand über die tanzende Masse schweifen. Plötzlich blieb sein Blick an einem Gast hängen. Sonni erstarrte. Im gleichen Moment, als ob jemand einen Schalter umgelegt hätte, veränderte sich Sonnis Wahrnehmung und er tauchte ab in jene Welt aus Schwarz und Rot.
Etwas abseits des Trubels und in einer Ecke am Rand der Tanzfläche stand er, der seltsame Typ aus dem Café, in dem Sonni am Morgen sein englisches Frühstück genossen hatte. Und wieder schien der Mann in einem Flammenwirbel zu stehen, doch im Gegensatz zum Morgen, an dem er Sonnis Blick nicht zu bemerken schien, drehte er sich dieses Mal um und schaute den Kriminalkommissar direkt an. Dass er ihn in Anbetracht der trennenden halbdurchlässigen Spiegelscheibe zwischen Club und Arbeitszimmer eigentlich weder bemerken und sehen konnte, schien den Flammenmann überhaupt nicht zu stören.
»Was siehst du?«, wollte Raphi von Sonni wissen, unterhielt sich aber stattdessen nur mit etwas Luft. Sonni war längst losgesprungen und in Richtung Bar geeilt. Raphi nahm sich eine Sekunde Zeit, um zu überlegen, wie er handeln sollte. Dem ahnungslosen Kriminalkommissar hinterhereilen oder sich geeignete Unterstützung holen? Der blonde Mann entschied sich für letzteres, angelte sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und wählte den ersten Kontakt aus seiner Favoritenliste aus.
»Hi, ich bin's. Du erinnerst dich an diesen Bullen über den wir gesprochen haben?«, begann Raphi das Gespräch, während er parallel die Vorgänge im Gastraum beobachtete. Sonni hatte die Tanzfläche erreicht, doch sein Ziel war ihm einen Schritt voraus und verließ im gleichen Moment den Club. Ohne auf seinen tanzwütigen Kollegen zu achten, der gerade dabei war, mit Gabe den Laden aufzumischen, sprang Sonni hinterher. Raphi wirkte besorgt: »Du musst dich beeilen. Ah, du bist schon unterwegs und siehst ihn? Sehr gut. Richtung Eisenacher. Klingt, als ob sein Ziel in Richtung Tiergarten will. Hoffentlich kann unser Freund mithalten. Ich weiß zwar nicht, was er gesehen hat, aber es hat eindeutig seinen Jagdinstinkt geweckt, was bedeutet, dass es gefährlich werden könnte. Ich würde ja ebenfalls… aber dieser wirklich appetitliche Kerl fällt eindeutig in deine Abteilung. Ich wünsch dir jedenfalls viel Erfolg. Wir sehen uns.«
Während Raphi die Verbindung seines Mobiltelefons kappte, rannte Sonni die Eisenacher Straße Richtung Norden hinauf, seinem flüchtigen Verdächtigen dicht auf den Fersen. Allerdings würde er das mörderische Tempo seines Klienten nicht mehr lange durchhalten können. Der Typ rannte als wenn der Teufel persönlich hinter ihm her war. Selbst die breite Bülowstraße konnte ihn nicht aufhalten. Es war zwar etwa drei Uhr morgens, aber auf dieser Hauptverkehrsstraße herrschte selbst zur nachtschlafenden Zeit noch reger Verkehr, insbesondere an einem Wochenende. Der Mann schien davon nicht beeindruckt. Ohne den wütend hupenden Fahrzeugen irgendwelche Beachtung zu schenken, rannte er über die Fahrbahn. Hinter ihm quietschten Reifen und brüllten ihm wütende Stimmen nicht zitierfähige Schimpfworte hinterher, bis denen ein weiterer Selbstmordkandidat vor die Stoßstange lief.
Völlig auf die Verfolgung seines Ziels fixiert, achtete Sonni weder auf wutschnaubende Autofahrer noch bemerkte er, dass er selbst verfolgt wurde. Ihm ging nur eins durch den Kopf: Bloß nicht schlappmachen. Dass er sich dabei weiterhin in seiner eigentümlichen Falschfarbenwelt befand, fiel ihm gar nicht weiter auf.
Die Corbusierstraße lag hinter ihnen, sie hatten die Kurfürstenstraße gekreuzt und rannten nun die Lützowstraße in Richtung Lützowufer hinauf. Sonni keuchte, seine Lunge brannte wie Feuer, die Beine wurden schwer wie Blei, aber aufgeben kam nicht in Frage. Der Typ musste über eine wahnsinnige Kondition verfügen, kam es Sonni fast so vor, als ob der Kerl noch einen Gang zulegte. Aber genau das entpuppte sich als Fehler, denn es wirkte auf Sonni wie die Initialzündung eines Nachbrenners. Ihm bisher völlig unbekannte Kraftreserven mobilisierend, legte er nach und begann, Boden wett zu machen.
Dies war auch bitter notwendig. In einem mörderischen Endspurt jagten die beiden Männer die Klingelhöferstraße hinauf. Noch etwa fünfhundert Meter und Sonnis Verdächtiger hatte den unbeleuchteten und damit dunklen Tiergarten erreicht. Ihn dort zu verfolgen war illusorisch. Selbst das Licht des fast noch vollständigen Vollmonds würde das Parkgelände unter den dichten Bäumen nicht erhellen können.
Verdammt! Er entwischt mir! Fluchte Sonni innerlich. An der Ecke Tiergartenstraße und Hofjägerallee schlüpfte der Typ tatsächlich unter die rettende Baumdecke. Obwohl eigentlich aussichtslos ließ Sonni nicht locker und eilte hinterher. Seltsamerweise wurde es nicht dunkel. Das heißt, es war schon dunkel, sogar richtig finster. Die Bäume des Gartens erschienen als dunkelbraune Schatten, der Boden war schwarz, während die Kronen der Bäume in einem ganz schwachen braungrün glimmten. Umso größer war der Kontrast zum fliehenden Ziel. Wie eine hell lodernde Fackel hatte Sonni nicht die geringsten Schwierigkeiten, ihm zu folgen. Dass es möglicherweise keine gute Idee sein könnte, einen jenseits allen Naturgesetzen brennenden Mann zu verfolgen, auf diesen Gedanken kam Sonni erst, als ihn die kühle Luft des Parks einhüllte, seinen von der Anstrengung des Laufens überhitzten Körper abkühlte und sich sein Hirn wieder einschaltete. Die Einsicht kam zu spät. Plötzlich stoppte der flammende Mann, wirbelte herum und stürmte auf Sonni zu.
»Warum verfolgst du mich?«, brüllte er den Kommissar an, der eine heiße Glut auf seinem Gesicht spürte. Vor Schreck gelähmt, starrte er den in Flammen gehüllten Mann panisch an, unfähig irgendetwas zu entgegnen. »Ich habe doch nichts getan.«, rief der feurige Kerl und klang dabei irritierend ängstlich, als wenn er sich vor Sonni mindestens genauso fürchtete, wie dieser vor ihm.
Furcht zählte noch nie zu den guten Ratgebern. Seine Handlungen von ihr bestimmen zu lassen, galt fast als sicheres Ticket, um eine Situation in einem Desaster enden zu lassen. So auch jetzt. Unbewusst hatte Sonni zu seiner Dienstwaffe gegriffen, sie entsichert und war nun dabei, sie auf den brennenden Typen zu richten, was bei diesem alle Sicherungen durchbrennen ließ und damit eine Kurzschlussreaktion auslöste. Der Typ sprang. Ein gigantischer Feuerball in der Größe eines ausgewachsenen Mannes stürzte auf Sonni zu. Der drückte ab, schoss und verfehlte das nicht verfehlbare Ziel. Eine schwarze Gestalt sprang in die Schusslinie, fing die Kugel ab, stürzte auf Sonni und riss diesen um. Ein unartikuliertes »Ompf!«, mehr brachte der Polizist nicht heraus, als ihn die volle Wucht eines schweren Körpers zu Boden warf.
»Schlaf!«, hörte Sonni ein einziges Wort, dessen Klang es aber in sich hatte. Der war so zwingend, dass er sich dem Befehl nicht widersetzen konnte. Sonnis Welt wurde dunkel. Eine Sekunde später war er eingeschlafen.
»Hey, Sonni, aufwachen!«, hörte der Mann gleichen Namens eine ihm bekannte Stimme rufen und begann zu grunzen, was den Eigentümer der Stimme dazu verleitete, seinen Ruf mit mehr oder weniger sanften Klapsern auf Sonnis Wangen Nachdruck zu verleihen.
»Is' ja gut, Kevin. Ich bin wach!«, stöhnte KK Lundkvist, schlug seine Augen auf, um sie sofort wieder zuzukneifen, als sein Kollege begann, ihm mit einer LED-Taschenlampe in die Augen zu leuchten, »Mach die scheiß Lampe aus!«
»Tschuldigung!«, erwiderte Kevin und richtete den Strahl neben seinen Kollegen.
»Ist er weg?«
»Wer?«
»Der Typ, hinter dem ich her bin. Der…«
»Was?«
»Ich weiß auch nicht mehr. Da war etwas, aber…«, Sonni schüttelte seinen Kopf, was er prompt bereute. »Ich kann mich nicht erinnern. Da war ein Typ im Club, der sich verdächtig verhielt und sofort floh, als er merkte, dass ich ihn beobachtete. Ich habe ihn bis hierher verfolgt und dann… ich weiß nicht. Irgendetwas traf mich und ich verlor das Bewusstsein. Wie bist du hierher gekommen?«
»Mit Gabe«, erläuterte Kevin, »Ich sah dich aus dem Club stürzen und bin dir nach. Junge, hast du eine Kondition. Höhe Bülowstraße wäre mir fast die Puste ausgegangen, wäre nicht Gabe mir gefolgt und hätte mich mitgezogen. Wir konnten dein Tempo zwar nicht halten, blieben dir aber immerhin soweit auf den Fersen, dass wir dich immer noch sehen konnten.«
»Gabe?«, hakte Sonni nach. Sein Verstand war noch mit Hochfahren beschäftigt. Gabe? Der Name sagte ihm etwas. Gabe? Gabriel! Das war der Mann, den Raphi gebeten hatte, ein Auge auf Kevin zu werfen. Wie es aussah, nahm er seine Aufgabe ernst. Neben Kevin stand der junge Mann und hielt eine Taschenlampe.
»Danke Leute«, knurrte Sonni und rappelte sich mühsam auf, »Und habt ihr etwas gesehen?«
»Nein, nicht wirklich.«, gestand Kevin, »An der Hofjäger haben wir dich verloren und sind in den falschen Teil gerannt. Erst als wir einen Schrei und etwas grell aufblitzen sahen, wussten wir, wo du vermutlich bist. Wir sind dann auch sofort hergekommen, haben aber nur dich am Boden liegend gefunden. Sonnst nichts.«
»Shit!« fluchte Sonni, der sich über seinen Filmriss ärgerte. Selbst an die Verfolgung seines Verdächtigen konnte er sich nur schemenhaft erinnern, als ob eine Art Schleier über seinem Gedächtnis lag. Die letzten klaren Bilder stammten aus Raphis Büro, der Rest lag in einem dunklen Nebel.
»Sonni, wen du da auch immer verfolgt hast, er ist lange weg. Und wenn du keine Indizien für ein Verbrechen vorweisen kannst, sollten wir die Spusi tunlichst nicht einschalten. Ich glaube, wir sollten für heute Schluss machen. Gabe, was meinst du?«
»Ich glaube«, erklang eine angenehm warme und wohlklingende Stimme, »dass wir hier nichts ausrichten können. Vielleicht bringt der Morgen neue Erkenntnisse. Ein müder Geist übersieht leicht etwas.«
So sehr es Sonni ärgerte es zuzugeben, aber der blonde Bengel hatte recht. Geschlagen und resigniert nickte er den beiden Männern zu und meinte: »Gut, lasst uns nach Hause gehen. Kevin, wenn du jetzt nicht mehr nach Hause fahren willst, kannst du bei mir pennen. Ich habe ein Gästebett, das ich dir aufziehen kann.«
»Danke, Sonni, das ist nett. Hinterm Steuer würde ich glatt einpennen. Und was ist mit dir, Gabe? Ich habe selten so einen schönen Abend erlebt, wie mit dir. Ich käme mir schäbig vor, dich jetzt einfach hier sitzen zu lassen.«
Auf des blonden Jünglings Gesicht breitete sich ein dankbares und anerkennendes Lächeln aus. Seine Augen blitzten blausilbern als er auf Kevin zuging, ihn umarmte und drückte.
»Mir hat es auch Spaß gemacht. Es hat mir sehr viel Freude bereitet, dich kennenzulernen.«, Gabe zwinkerte verschwörerisch: »Endlich mal jemand, der mir nicht gleich an die Wäsche wollte. Sehen wir uns wieder?«
»Hoffentlich!«, rief Kevin enthusiastisch und drückte Gabe zurück. Die beiden Männer trennten sich voneinander. Gabe zuckte etwas verlegen mit den Schultern, zeigte in Richtung Stülerstraße und meinte, »Ähm, ich muss dann da lang. Man sieht sich… Tschüss Kev und dir auch, Sonni, noch eine gute Nacht.«
»Tschüss Gabe«, murmelte Kevin versonnen und schaute dem blonden Mann hinterher, wie dieser in der Dunkelheit der Bäume verschwand. Sonni betrachtete die Szene eher nachdenklich. Wahrscheinlich lag es an der Müdigkeit, die ihm tief in den Knochen steckte, aber er hätte beschwören können, dass Gabe in der Dunkelheit der Bäume leicht silbrig schimmerte. Aber wahrscheinlich war er einfach nur erschöpft und sein Verstand spielte ihm einen Streich. Zwei Nächte hintereinander bis in die Frühe auf den Beinen zu stehen, ohne ausreichend zu schlafen, konnte nicht ohne Folgen bleiben. Also, warum nicht nach Hause gehen und sich endlich ausschlafen?
»Du und Gabe, ihr scheint euch gut zu verstehen.«, stichelte Sonni auf dem Weg zu seiner Wohnung. Die beiden Kommissare schlenderten gemütlich dahin und ließen die frische Luft ihre Lungen durchspülen.
»Er ist ein lieber Kerl, leidet aber unter dem gleichen Problem wie ich.«
»Du leidest? Worunter?«
»Meinem Vornamen. Kevin? Das ist kein Name, sondern eine Zustandsbeschreibung. Kevin? Da denken doch alle gleich Plattenbau und Hartz 4.«
»Stimmt doch auch«, Sonni grinste breit, »Bis vor zwei Jahren hast du noch im Plattenbau gewohnt.«
»Ja doch«, knurrte Kevin, »Du weißt, was ich meine. Es geht um das Vorurteil. Wie bei Gabe. Du hast ihn doch gesehen. Platinblond, engelhaftes Gesicht. Wie jeder bei mir gleich Dumpfproll denkt, hält ihn jeder für eine Partyschwuppe, die nichts als Mode, Schminktipps und Klatsch im Kopf hat. Dabei hat der Typ echt Tiefgang. Außerdem kann er genauso wenig für seine Haare, wie ich für meinen Vornamen, die sind nämlich Natur.«
»Noch einer.«, murmelte Sonni leise vor sich hin. Ein heller, strahlender Mond schien über den Dächern der Stadt und leuchtete für die zwei müden Wanderer auf dem Weg nach Hause.
Frühstück
Der nächste Tag begann anders. Sonni schlief nicht nur aus, er fühlte sich auch gut erholt. Dass er überhaupt erwachte, lag an dem verlockenden Duft frisch gebrühten Kaffees. Nur mit Shorts und einem T-Shirt bekleidet, schlurfte er in die Küche, in der Kevin ein opulentes Frühstück aufgefahren hatte.
»Wow!«, entfuhr es Sonni.
»Ah, du bist wach! Schön. Komm, setz dich. Die Eier sind auch gleich fertig.«, empfing ihn ein gut gelaunter Kevin.
»Womit habe ich das verdient?«, wollte Sonni wissen.
»Das fragst du? Der Abend gestern war einfach nur geil. Nein, keine Angst, ich werde sicherlich nicht gleich schwul werden, allerdings fühlte ich mich seit langer Zeit richtig wohl. Dieser Mike war schon cool, aber Gabe ist ein richtiger Hammer. Ein Mann, mit dem ich einfach gerne befreundet sein möchte. Meine sogenannte Angebetete mag ja mit der Absicht in ihr Wochenende gefahren sein, sich selbst zu finden. Ich hoffe, sie hatte Erfolg. Bei mir hat es jedenfalls gewirkt. Es mag hart klingen, aber ich glaube nicht, dass unsere Beziehung eine Zukunft hat. Fühle ich mich deswegen traurig? Nein, ich fühle mich befreit.«
»Okay…«, entgegnete Sonni von seinem Kollegen beeindruckt, »Und was wirst du jetzt machen?«
»Ich werde nach dem Frühstück nach Hause fahren, ein wenig aufräumen und auf meine designierte Ex waren. Dann werden wir reden. Ich hoffe, dass keine Tränen fließen. Aber ehrlich gesagt, glaube ich das nicht. Meine Vermutung geht sowieso in die Richtung, dass sie längst einen anderen hat.«
Als ob er die Wirkung von Kevins Äußerungen unterstützen wollte, meldete sich der Eierkocher mit seinem durchdringenden Summton, was die beiden Männer als Startsignal werteten, um über das Frühstück vor ihren Nasen herzufallen. Eine Dreiviertelstunde später, hockten die zwei Männer satt und zufrieden vor einer abschließenden Tasse Kaffee. Sonni hatte zuvor die wenigen Reste des Frühstücks abgeräumt und das Geschirr in den Spüler verfrachtet.
»Nun denn. Werde ich mich wohl langsam auf den Weg machen.«, meinte Kevin zwischen zwei Schlücken Kaffee, »Ein wenig Bammel habe ich jetzt doch.«
»Du packst das. Sei einfach du selbst und sprech dich mit deiner Freundin aus. Wenn ihr noch eine Basis füreinander seht, versucht es. Wenn nicht… Wie heißt es noch so schön: Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Solltest Du Asyl benötigen, steht das Gästebett immer für dich bereit.«
»Danke, Sonni. Du bist nicht nur ein guter Kollege, sondern auch ein echter Freund. Das wollte ich dir schon lange mal sagen.«
Kurze Zeit später machte sich Kevin auf den Weg, um seinem Schicksal gegenüberzutreten, während Sonni in seiner Wohnung hockte und überlegte, was er mit dem restlichen Sonntag anfangen sollte. Eigentlich wartete seine Wohnung darauf, geputzt zu werden. Die Suche nach dem Omamörder und der Fall Breitkopf hatten viel Zeit und Energie gekostet. Und dann abends auch noch den Putzteufel zu geben, war in Sonnis Augen ein wenig zu viel des Guten. Er war zwar hin und wieder mit dem Staubsauger durch die Wohnung gewirbelt, aber eigentlich war die wochenendliche Grundreinigung fällig – eigentlich. Nur waren Sonni, kurz nachdem Kevin nach Hause gefahren war, wieder Gabes Worte eingefallen: »Vielleicht bringt der Morgen neue Erkenntnisse.«
Kurz entschlossen ließ Sonni Putzlappen Putzlappen sein, griff zu Jacke und Haustürschlüssel und verließ seine Wohnung in Richtung Tiergarten. Statt wie in der Nacht zuvor Hals über Kopf wie ein Berserker zu rennen, schlug der Polizeikommissar ein entspanntes Tempo an. Am klaren, wolkenlosen Himmel stand die Frühlingssonne schon ziemlich hoch und sorgte für eine angenehme Temperatur, die Sonni in vollen Zügen genoss. Kurz vor Mittag hatte er die Stadt fast noch für sich alleine. Offenbar erholten sich die meisten Berliner noch von der vergangenen Nacht. Da er aber seine Mitbürger kannte, wusste er, dass spätestens nach dem Mittagessen die sonnenhungrigen Städter über die Parkanlagen wie eine Heuschreckenplage hereinbrechen würden.
Genau an der Ecke Hofjägerallee und Tiergartenstraße war Sonni in der Nacht dem Verdächtigen in den Park gefolgt. Was sich in der Nacht als dunkler und finsterer Ort präsentierte, wirkte am Tage auch nicht viel heller. Die Bäume standen in diesem Bereich des Parks recht dicht und schufen ein geschlossenes Blätterdach. Selbst der Fahrradweg entlang der Hofjägerallee, der immerhin zur Straßenseite offen stand, war ein schummriger Hohlweg. Dabei hatte der Frühling gerade erst begonnen, doch hatten ein paar Tage vor zwei Wochen die Bäume ausschlagen lassen, woran der kurz darauf folgende Wintereinbruch auch nichts mehr ändern konnte. Jetzt, mit dem traumhaften Sonnenschein, hatte Sonni fast den Eindruck, den Bäumen beim Wachsen zusehen zu können.
Nachdem sich Sonni an das Zwielicht unter den Bäumen gewöhnt hatte, konnte er sich dann doch besser orientieren, als er befürchtet hatte. Es dauerte nicht lange und er fand die Stelle wieder, an der ihn Kevin und Gabe besinnungslos vorgefunden hatten. Was war hier nur passiert? Er war diesem Verdächtigen gefolgt, war wie der Teufel gerannt und… Warum kann ich mich nicht erinnern?
Die Stelle war eindeutig. Sonni wusste, dass er sich am richtigen Ort befand. Gab es Spuren? Der Boden war ein wenig vermoost aber ansonsten aus trockenem, hartem Sand und machte es damit schwierig, überhaupt etwas zu entdecken. Aber nicht unmöglich. Da war eine Stelle, an der das Moos endete und der Sand anfing, die bräunlich verfärbt war. Sonni ging in die Hocke, nahm etwas von dem verfärbten Moossandgemisch mit seinen Fingern auf, zerrieb es zwischen ihnen und führte es an seine Nase. Es roch verbrannt und ein wenig nach Schwefel. Wieso war der Boden verbrannt? Gerade in dem Moment als sich Sonni wieder erheben wollte, bemerkte er in den Augenwinkeln etwas aufblitzen. Er wandte sich um, schaute in die Richtung, die seine Aufmerksamkeit erregt hatte und entdeckte einen kleinen, grünen Busch unter dem etwas lag. Von oben hätte es niemand entdecken können, aber in der Hocke reichte der Blickwinkel aus, um unter das Gewächs schauen zu können.
»Ja was haben wir denn da?«, fragte Sonni mangels Zuhörer sich selbst.
Mit drei, vier Schritten stand er neben dem Busch, griff darunter und beförderte etwas zu Tage, das ihn die Stirn kräuseln ließ. Die anfängliche Euphorie über seinen Fund wich leichter Ernüchterung. Was Sonni in den Händen hielt, war ein etwa neun mal sechs Zentimeter großes, schwarzes Lederstück, bei dem es sich offensichtlich um eine Art Visitenkarte handelte. In die Tierhaut eingeprägt war in feinstem Goldschnitt der Name und die Anschrift einer Firma: »Tim Teufel, Fachhandel für Lustbekleidung, Maßanfertigung«. Dass Sonni diese sehr eigene Art der Visitenkarte überhaupt auffiel, lag an dessen Schrift, die von einem inneren Feuer beseelt zu sein schien. Sie glühte… irgendwie.
Die Adresse entbehrte nicht einem gewissen Unterhaltungswert, lag sie gerade einmal drei Straßen von Sonnis Wohnung entfernt am Rande des zentralen Bereichs des Westberliner Kiezes. Warum in die Ferne schweifen, liegt das Gute doch so nah? Tim Teufels Laden genoss einen gewissen Ruf, auch die bizarrsten und ungewöhnlichsten Designs, egal ob aus Leder oder Latex, Realität werden zu lassen. Vielleicht, so überlegte Sonni, wäre es eine gute Idee, den Ruf der Realität gegenüberzustellen und dem Herrn Teufel einen Besuch abzustatten, obwohl ihm dabei ein wenig mulmig war. Kriminalkommissar Lundkvist mochte mindestens so schwul wie der Papst katholisch sein und die gesamte Subkultur direkt vor seiner Wohnungstür haben, doch hatte er noch nie einen der ansässigen SM- und Fetischausstatter besucht. Wozu auch? Doch dies sollte sich jetzt ändern, wenn auch nicht sofort. Sonntags war zu, wie Sonni später zuhause auf der Website des Fachhandels für Lustbekleidung erfuhr. Überhaupt zeichnete sich der Laden durch szenetypische Öffnungszeiten aus. Den Daten auf der Website zufolge öffnete Meister Teufels Etablissement erst gegen halb vier, schloss aber auch erst um zehn Uhr abends, außer Mittwochs, dort öffnete er um acht und schloss um fünf. Seien ihm seine seltsamen Zeiten gegönnt, überlegte Sonni, der sowieso davon ausging, mindestens den Morgen, wenn nicht sogar den Nachmittag im LKA zu verbringen. Mit absoluter Sicherheit würde ihn sein Chef zum Rapport einberufen und dabei nachdringlich auf den heiklen Charakter des Falls hinweisen und dass dieser besonders um- und vorsichtiges Handeln erfordere. Dann würde der Chef betonen, dass er vollstes Vertrauen in Sonnis Fähigkeiten hätte und deswegen die Leitung des Falls bei Sonni gut aufgehoben sähe. Mit anderen Worten: Verbockte er die Sache, war es seine Schuld. Lief die Sache gut, erntete sein Chef die Lorbeeren dafür, seinen Mitarbeitern zu vertrauen und ihnen Verantwortung zu übergeben.
War dieser Teil primär durch geduldiges Zuhören und gelegentliches Nicken bestimmt, von daher eher nervig, war Sonni auf die Ergebnisse der Gerichtsmedizin und KTU wirklich gespannt. Vielleicht gab es ein paar Anhaltspunkte für neue Ermittlungsansätze. Mit diesen Überlegungen und eigentlich ganz zufrieden schnappte sich Kriminalkommissar Sonni Lundkvist sein Putzzeug und rückte damit seinem Badezimmer zu Leibe.
August Trollmann
Der nächste Morgen startete wie vorausgesehen. Kriminaloberrat Dr. Achim Prechtel wartete erst gar nicht ab, dass Sonni ins Büro kam, sondern ließ von seiner Sekretärin ausrichten, dass KK Lundkvist unverzüglich bei ihm antreten sollte. Die Besprechung, die primär aus einem Monolog Prechtels bestand, folgte in etwa dem von Sonni vermuteten Drehbuch, wurde allerdings um Hinweise auf das heikle Terrain der Lobbyarbeit erweitert. Bei allem, was Sonni tat, sollte er immer im Hinterkopf behalten, dass der betreffende Personenkreis über Einfluss verfügte.
Die anschließende Büroarbeit ging dann auch glatt als Erholung durch. KK z.A. Kevin Bredow hatte eine Nachricht hinterlassen, dass er dem Ring auf der Spur sei. Ein Juwelier hatte auf das Bild des Schmuckstücks reagiert, wollte am Telefon aber keine Angaben machen. Der Nachricht folgte der private Zusatz, dass Kevin seit gestern Abend wieder Single sei. Seine designierte Ex wäre jetzt seine reale Ex. Die Trennung sei, so Kevin, in einer völlig irrealen Atmosphäre abgelaufen. Beide wären sie sehr aufmerksam und freundlich miteinander umgegangen und hätten das Ende ihrer Beziehung sachlich miteinander diskutiert. Am Ende seien dann doch Kevin und sein Job schuld am Scheitern gewesen. An dieser Stelle der Nachricht schlug dann doch Kevins Verbitterung durch. Jedenfalls sei seine Exfreundin noch am gleichen Abend bei Kevin aus- und bei ihrem neuen Partner eingezogen.
Damit endete Kevins Nachricht, worauf sich Sonni der nächsten als ungelesen markierten zuwandte. Absender war die KTU, deren Ergebnisse aber recht ernüchternd ausfielen. Mehr als das, was Kevin und Sonni bereits am Tatort vermuteten, hatten die Jungs und Mädels in den Stoffoveralls auch nicht rausbekommen. Die Blutanhaftungen am Streckbrett stammten von Breitkopf, ebenso alle DNS-Spuren und die Spermatropfen vor dem Andreaskreuz. Der Täter hatte keinerlei Spuren hinterlassen, abgesehen von etwas Talkumpuder, was vermuten ließ, dass er Latexhandschuhe getragen hatte. Das wiederum schloss in Sonnis Augen einen Guhl aus. Ein übernatürliches Wesen, wie jenes aus Raphis Buch, dürfte sich einen Dreck um DNS-Spuren scheren. Es täte ihm Leid, ließ Hotte wissen.
Im Gegensatz zur KTU konnte Gerichtsmediziner Dr. Reinhardt Marx mit einem ganzen Strauß an Neuigkeiten aufwarten, wobei eine merkwürdiger als die andere war. So hatte Breitkopf weder Drogen noch Alkohol konsumiert, allerdings zeichnete sich das wenige verbliebene Blut in seinem Körper durch eine astronomisch hohe Konzentration an Endorphinen aus. Dr. Marx formulierte es im informellen Anhang seines Berichts etwas plastischer: Der Typ muss dermaßen high gewesen sein, dass er kaum mitbekommen haben dürfte, was ihm eigentlich widerfuhr. Außer den Endorphinen zirkulierte noch eine andere Substanz durch Breitkopfs Adern, die Dr. Marx aber noch nicht identifizieren konnte. Der Struktur nach schien es sich um ein tierisches Neurotoxin zu handeln, nicht unähnlich dem Gift einiger Kobraarten. Wie es in das Opfer gekommen war und aus welchem Grund, konnte der Gerichtsmediziner allerdings nicht sagen und wollte auch keine Vermutungen anstellen, denn das wäre Sonnis Job.
Anders als in dem von Fernsehkrimis geprägten Bild der Polizeiarbeit bestand die meiste Zeit des Dienstes aus Schreibtischarbeit. Die Berichte von KTU, Spusi und der Gerichtsmedizin wollten gesichtet und etwaige Zeugenaussagen mussten gelesen und bewertet werden. Hinzu kam das Anfertigen von Tatortskizzen, einschließlich des Versuchs, den Ablauf der Tat skizzenhaft nachzuvollziehen. Die Ermittler arbeiteten sich dabei rückwärts vom vorgefundenen Tatbild zum Ausgang vor. Zum Beispiel musste ein Fingerabdruck, der unter einem Blutspritzer lag, vor diesem hinterlassen worden sein. Sonnis Ausbilder beschrieb dieses Vorgehen als umgekehrtes Malen eines Bildes. Statt eine Farbschicht nach der anderen aufzutragen, schälten sie eine nach der anderen ab.
Mindestens so wichtig wie die Tatort- und Tathergangsanalyse war die Untersuchung des Opferumfelds. Der absolut überwiegende Teil aller Gewalttaten waren Beziehungstaten und die Opfer im direkten Umfeld zu suchen. Doch im Endeffekt lief alles auf enervierende Büroarbeit hinaus, wie Sonni gerade leidvoll erlebte.
16:00 Uhr – Es reichte! Sonni schmiss seinen Stift auf die Schreibunterlage, fuhr seinen Rechner runter und schnappte seine Jacke. Für diesen Tag reichte es. Außerdem wartete noch der Besuch des Fachhandels für Lustbekleidung auf Sonni. Von der Keithstraße zum Laden des Herrn Teufel waren es etwa zwanzig Minuten Fußmarsch. Obwohl Sonni leidenschaftlicher Motorradfahrer war, bewegte er sich die meiste Zeit zu Fuß oder mit Bus und Bahn durch die Stadt. Sein Zweirad kam nur dann zum Einsatz, wenn er schnell zu einem Einsatzort musste oder längere Strecken zurückzulegen waren. Doch während er noch gedankenverloren mit der Lederkarte in der Hand spielte und auf den ausgeschalteten Monitor seines Computer starrte, klingelte plötzlich sein Mobiltelefon und riss ihn aus seinem geistigen Leerlauf.
»Lundkvist?«
»Ich bin's, Kevin«, meldete sich eine gehetzt klingende Stimme, »Sonni, die Scheiße ist am Überkochen. Ich bin hier bei Juwelier August Trollmann. Er ist tot und… Scheiße, ich habe so etwas noch nicht gesehen. Bitte komm sofort her, bring Hotte und massenweise Papieranzüge mit. Und bitte beeil dich. Ich weiß nicht, wie lange ich meinen Verstand zusammenhalten kann.«
Selbst bei der bescheidenen Sprachqualität eines Mobilfunkgesprächs war Kevin Bredows Panik klar und deutlich hörbar. Er klang verstört, ängstlich und schien kurz davor, durchzudrehen. Dabei galt der junge Kollege als ein Typ, den nichts erschüttern konnte. Während der Jagd auf den Großmuttermörder wurde die Mordkommission mit mehr als einem schwer verdaulichen Tatort konfrontiert. Während gestandene Polizisten nicht an sich halten konnten und rennen mussten, stand KK z.A. Bredow stoisch und mit kaltem Glanz in den Augen am Schauplatz des Verbrechens und tat seinen Job. Kevin besaß diese seltene Gabe seine Erschütterung, sein Entsetzen und seine Wut in glühenden Ermittlungseifer verwandeln zu können. Wenn er jetzt sprichwörtlich auf dem Zahnfleisch kroch, musste etwas Außergewöhnliches passiert sein.
Nach etwa zwanzig Sekunden, während der Sonni sein Mobiltelefon anstarrte, kam Leben in den Polizisten. Hotte Mälzers Nummer war schnell gewählt, der Mann aber bereits informiert und dabei, sein Team zusammenzustellen und wollte sich danach sofort auf den Weg machen. Dies erinnerte Sonni an sein eigenes Problem. Ohne Motorrad, das vor seiner Wohnung stand, war er auf die Fahrbereitschaft angewiesen. Ein kurzer Anruf in der Leitstelle und ein Streifenwagen stand bereit. Keine fünf Minuten später befand sich Sonni auf dem Weg.
Juwelier August Trollmanns Geschäft residierte im schönen Zehlendorf in der Nähe des Mexikoplatzes am Anfang der Limastraße. Bereits das Äußere des Ladens verkündete eine deutliche Sprache: »Wer nach dem Preis eines Schmuckstücks fragen musste, konnte es sich nicht leisten.« Wie Sonni dank des Internetbrowsers seines iPhones während der Fahrt in Erfahrung brachte, genoss Trollmann einen einzigartigen Ruf als Spezialist für individuell gestaltete Schmuckstücke höchster Goldschmiedekunst. Wer bei Cartier, Tiffany oder Fabergé nicht fündig wurde oder wem deren Kollektionen zu konventionell waren, wandte sich an Trollmann, der neben seiner handwerklichen Perfektion vor allem auch für seine Diskretion berühmt war.
Mit der war es nun vorbei. Vor dem Geschäft parkten nicht nur drei Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht, auch die weiträumige Absperrung mit rot-weißem Flatterband hatte reihenweise Schaulustige angezogen. Kevin Bredow stand neben der Eingangstür und rauchte eine Zigarette. Seine Hand tatterte so sehr, dass es ihm schwer fiel, den Glimmstängel zum Mund zu führen.
»Ich habe vor vier Jahren aufgehört«, begrüßte er Sonni mit nervös zitternden Augen, nahm einen tiefen Zug, begann heftig zu husten und schnippte die Zigarette weg, »Ich hoffe, du hast einen starken Magen. Komm mit!«
Noch nie hatte Sonni seinen jungen Kollegen dermaßen fahrig, nervös, ja fast am Rande eines hysterischen Anfalls erlebt. Er sah, wie widerwillig sich sein Kollege auf den Weg zurück in das Juweliergeschäft begab. Ganz im Gegensatz zu seiner sonst lockeren und amüsant schlaksigen Art, bewegte sich Kevin Bredow ruckartig, fast spastisch und unter lautem Keuchen.
»Ich kann das auch alleine machen.«, meinte Sonni, der sich um seinen Kollegen sorgte.
»Nein, kannst du nicht.«, erwiderte Kevin mit einer Vehemenz in der Stimme, die Sonni zusammenzucken ließ.
Die Verkaufsräume – sie bestanden aus zwei verschließbaren Separees, die von einem Hauptraum abgingen – sahen vollkommen unberührt aus und erinnerten in ihrer Makellosigkeit an die Wohnung des ersten Opfers. Dazu zählte auch die übersichtlich klare und sehr moderne Einrichtung des Juweliergeschäfts. Befremdlich wirkte hingegen die wohl notwendige Sicherheitstechnik. Der Eingang zum Ladengeschäft bestand aus einer Personenschleuse mit zwei Panzerglastüren, die von einem Wachmann im Inneren betätigt wurde. Die Räume selbst wurden flächendeckend von dezenten, aber trotzdem deutlich sichtbaren Domkameras überwacht, die von einer eigenen geschützten Sicherheitszentrale aus bedient wurden. Hier liefen auch die Meldelinien der Einbruchs- und Überfallmeldeanlage, vulgo Alarmanlage, zusammen. Jede Vitrine, jeder Verkaufstresen mit Warenauslage war alarmgesichert. Die Separees ließen sich nur mit PIN und Codekarte betreten. Doch trotz all dieser Technik blieb das Verbrechen anfangs unentdeckt, wie Kevin erklärte. Der Grund dafür war ebenso einfach, wie beeindruckend. Das absolute Heiligtum des Juweliergeschäfts war die Werkstatt, und diese befand sich in nichts geringerem als einem aus mehreren Räumen bestehenden Tresortrakt.
Eine bestimmt sechzig Zentimeter dicke Panzertür bildete den einzigen Zugang. Ihm schloss sich ein Vorraum mit Panzerschränken an, in dem wertvolle und nicht für die Auslage bestimmte Ware gelagert wurde. Von hier aus führte eine Sicherheitstür mit Codeschloss in die Hauptwerkstatt. Auch hier gab es nichts Ungewöhnliches zu sehen. Vier für Goldschmiede übliche Arbeitstische mit einstellbaren Rauchabzügen, Lötlampen, Werkzeughaltern und Bohrfuttern dominierten den Raum. Helle Lichtkästen an der Decke sorgten für sehr gute Lichtverhältnisse, welche bei den filigranen Arbeiten eines Goldschmieds unabdingbar waren. Zusätzlich verfügte jeder Arbeitsplatz noch über Arbeitsleuchten mit superhellen LEDs. Alles in Allem sah der Raum ganz normal aus. Sonni fiel auf, dass die Luft im Raum erstaunlich gut war, obwohl sie sich im Inneren eines Tresors befanden. Wie er von Kevin erfuhr, besaß die Anlage eine ausgeklügelte Versorgungstechnik für Luft, Wasser und Elektrizität.
»Hier!« Kevin deutete auf eine weitere Sicherheitstür. »Trollmanns Privatwerkstatt in der er besondere und vor allem auch geheime Aufträge bearbeitete. Nur vier Personen haben Zutrittsberechtigungen: Trollmann, seine Frau, seine Tochter und sein Prokurist, der so nett war, mich zu Trollmann zu führen, wo ich dann… naja, sieh selbst. Aber ich warne dich. Der Prokurist, Fleischhauer sein Name, ist beim Anblick zusammengeklappt und musste mit Nervenzusammenbruch ins Krankenhaus gebracht werden.«
»Wie bist du überhaupt auf Trollmann gekommen?«, wollte Sonni wissen.
»Hier!«, dankbar, nicht sofort wieder die Tür zum Tatort öffnen zu müssen, holte Kevin eines der Fotos des Siegelrings Breitkopfs hervor und deutete auf eine Stelle am oberen Innenrand, »Siehst du die kleinen Kratzer? Das sind keine, sondern ist Trollmanns Werkzeichen. Ich habe den ganzen Tag damit verbracht, einen Juwelier und Goldschmied nach dem anderen abzuklappern. Alle schüttelten nur den Kopf und meinten, dass es eine sehr gute Arbeit aber ein hässliches Motiv sei. Erst am Nachmittag stieß ich auf einen älteren Goldschmiedemeister, der das Zeichen erkannte und mir Trollmann nannte. Ich bin dann gleich her, wurde an Fleischhauer verwiesen, der mich natürlich abwimmeln wollte. Ich musste dann schon etwas deutlicher werden und darauf hinweisen, dass es sich um eine Mordermittlung handelt und wir uns auch gerne im Präsidium unterhalten könnten. Widerwillig führte mich dann Fleischhauer hierher.«
»Und?«
»Sieh selbst!«
Flüsternde Schatten
Im ersten Moment sah Sonni nichts. Die Leuchtstoffröhren in der Deckenleuchte waren zur einen Hälfte komplett kaputt und zur anderen Hälfte nur so kaputt, dass sie immerhin noch ab und an mit Knurren und Plingen kurz aufflackerten. Gegen das helle Licht der großen Goldschmiedewerkstatt war es in Trollmanns Werkstatt arg düster, obendrein war die LED-Arbeitsleuchte aus ihrer Verankerung am Arbeitstisch gerissen und zu Boden geworfen worden, wo sie so verdreht lag, dass jeder, der den Raum betrat, als erstes geblendet wurde.
»Oh, entschuldige, das habe ich vergessen!«, meinte Kevin und trat vor den Lichtstrahl, was Sonni die Chance gab, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Allerdings hätte er es lieber sein lassen sollen.
»Heilige Scheiße!«, entfuhr es dem Kriminalkommissar. Je mehr er vom Raum sah, desto mehr kroch ihm blankes Entsetzen in die Knochen. Es begann mit dem Boden vor seinen Füßen. Wenn er es richtig erkannte, hatte jemand ein Pentagramm auf den Boden gemalt und bei ihrer Farbe und Konsistenz war davon auszugehen, dass Blut verwendet wurde.
Die aufkeimende Übelkeit ließ Sonni genau in dem Moment schlucken als sein Blick auf einen deformierten Körper fiel, der eigentümlich verdreht über einem Tisch hing und bei dem es sich mutmaßlich um die sterblichen Überreste des Juweliers handelte. Was dem Körper genau widerfahren war, konnte Sonni nicht sagen, dass ihm aber sämtliche Knochen gebrochen wurden, war an den unnatürlich abgeknickten Armen und Beinen selbst einem medizinischen Laien ersichtlich. Um sich aber ein genaueres Bild machen zu können, musste Sonni den Tatort betreten, was dieser auch widerwillig tat.
»Oh Gott!«, stöhnte Sonni und musste deutlich an sich halten, um sich nicht gleich an Ort und Stelle zu entleeren. Vom Eingang aus war nur Trollmanns Seite gut zu erkennen. Erst nach Umrunden des Goldschmiedearbeitsplatzes mit all seinen Werkzeughaltern und Rauchabzügen, die den Blick versperrten, ließ sich das Opfer in Augenschein nehmen – oder das, was von ihm übrig war. Sonni fühlte sich in die Abgründe eines Gorefilms versetzt. Er war zwar kein Gerichtsmediziner, verfügte aber über genug anatomisches Basiswissen, um zu erkennen, dass der Brustkorb Trollmanns aufgebrochen wurde – von innen. Das Brustbein hing noch an ein paar Rippen der rechten Körperhälfte, war aber mit Kraft zur Seite gedrückt worden, während die linken Rippen abgerissen oder abgebrochen waren. Dazwischen klaffte ein riesiges Loch. Mit klammen Fingern tastete Sonni nach einer kleinen LED-Taschenlampe in seiner Jackentasche, bekam sie zu fassen, zog sie heraus und leuchtete in das Loch.
»Das Herz fehlt«, stellte Sonni mit heiserer Stimme fest.
»Dort!«, erwiderte Kevin matt und deutete auf einen großen Blutfleck an einer Wand, der sich bis zum Boden zog. Dort lag ein Klumpen Biomasse, wie es Sonni nannte, um nicht daran denken zu müssen, was es wirklich war.
»Was ist hier passier?«, sprach Sonni laut aus, was er dachte.
»Ich weiß es nicht, und ich bin mir nicht sicher, ob ich es wissen will.«, meinte Kevin, schluckte und deutete auf Trollmann, »Hast du dir schon sein Gesicht angesehen?«
Sonni schüttelte verneinend seinen Kopf und wandte sich erneut dem Opfer zu, was er prompt bereute. Wenn er dachte, dass es keinen schlimmeren Anblick gab, als das Loch in Trollmanns Brust, musste Sonni seine Überzeugung revidieren. Der Kopf war auf den ersten Blick vollkommen unverletzt. Es gab kein Blut, keine Wunden, keine Schnitte, weder Abschürfungen noch Blutergüsse. Es gab nur Trollmann und den Ausdruck unendlichen Entsetzens und Todesangst, die Sonni regelrecht den Hals zuschnürte. Was der hatte dieser Mann gesehen?
Was? Sonni wirbelte herum. Irgendetwas wisperte. Ein heißer, trockener und stickiger Hauch strich über seine Stirn. Eine Stimme… mehrere Stimmen drangen an sein Ohr. Sie flüsterten, wisperten, summten.
»Du hörst sie auch, oder?«, ließ sich Kevin mit flehendem Unterton in der Stimme vernehmen. »Die Stimmen, du hörst sie, oder?«
»Ja und…«, Sonni sah sich um, »Hier ist nichts, oder?«
»Nein. Ich… ich habe alles abgesucht. Sie sind einfach da und… dieses Wispern, es ist eine fremde Sprache.«
»Latein«, erwiderte Sonni leise, »Es ist Latein. Ich…«
Die Augen leicht geschlossen begann Sonni den wispernden Stimmen zu lauschen. Doch je mehr er versuchte ihnen zu folgen, desto unverständlicher wurden sie. Es war, als ob sie leiser wurden, sobald er versuchte, ihnen zuzuhören und lauter, wenn er sich nicht mehr auf sie konzentrierte.
»Wat'n ditte für 'ne Schejße?«, platzte Hottes berlinerndes Organ in die Szene und verkündete das Eintreffen der Spurensicherung. Mit einem weiteren Experten der Spusi, der neben Hotte ebenfalls in die Werkstatt schlüpfen wollte, wurde es langsam eng. Trollmanns exklusiver Arbeitsraum war einfach nicht für vier Mann und eine Leiche konstruiert. Insbesondere die Lüftung schien dem Ansturm nicht gewachsen zu sein, wurde es doch arg warm im Raum.
»Ick glob dett nüch.«, stöhnte Hotte, nachdem er sich einen groben Überblick verschafft hatte. »Drehjn jetza alle durch, odda watt?« fragte er niemanden bestimmtes, um sich dann aber mit strengem Blick an Sonni zu wenden: »So, nu sin wir ja da, nüch? Also nüscht wie raus! Ick muss arbejten.«
Freundlich aber nachdrücklich wurden Kevin und Sonni aus der Werkstatt komplementiert. Wobei sie allerdings auch wenig Gegenwehr zeigten. Genaugenommen waren sie sehr froh, den Ort des Verbrechens verlassen zu dürfen. Obwohl – was war das für ein Verbrechen? Trotz der großen Anzahl an Spuren schien keine direkt auf Fremdverschulden hinzuweisen. Mehr noch ließ die bisherige Faktenlage fast keinen anderen Schluss zu, als dass Trollmann eines zwar bizarren und eigentlich unmöglichen, aber aus kriminologischer Sicht eines natürlichen Todes gestorben war. So abwegig es klang, aber anscheinend schien ihm sein Herz aus der Brust herausexplodiert zu sein. Sonni sah sich mit einem Tatverlauf konfrontiert, den er so unmöglich in seinen Bericht schreiben konnte. Aber wofür gab es Gerichtsmediziner, sollte sich doch Dr. Marx mit dem Wie und Warum herumärgern. Viel unangenehmer dürfte dagegen die Unterhaltung mit seinem Chef ausfallen, die ihm unweigerlich am nächsten Morgen blühte. Was sollte Sonni ihm sagen? Dass sie sich auf der Suche nach einer Herde durchgedrehter Satanisten befanden? Oder etwa, dass ein Club einflussreicher Männer glaubte, einen Guhl beschworen zu haben und dass sich derjenige, der sich dafür hielt nun auf einem Serienmördertrip befand und niemand wisse, wer dieser Mr. X war? Wenn sein Chef eins nicht war, dann geduldig.
»Du hast es auch gehört?« Kevin ließen die wispernden Stimmen nicht los. »Ich hab mir das nicht eingebildet, oder?«
»Nein, hast du nicht«, erwiderte Sonni nachdenklich. Seit Freitagnacht beschlich ihn mehr und mehr das Gefühl, langsam aber sicher den Boden unter seinen Füßen zu verlieren. Erst Breitkopf, dann diese seltsame Sache in Raphis Club und jetzt Trollmann. Diese Häufung seltsamer Vorfälle musste selbst den robustesten Verstand zermürben. »Aber frag mich nicht, was wir da gehört haben. Ich weiß es nicht und ich kann dir auch nicht sagen, wo es herkommt. Ich bin mir aber sicher, dass sich einfach eine plausible Erklärung dafür finden lässt.«
»Das glaubst du doch selbst nicht, oder?«, meinte Kevin unsicher.
Sonni antwortete auf seine Art. Er schüttelte verneinend den Kopf.
»Ich brauch 'ne Fluppe!«
»Ihnen ist schon klar, dass Sie die Dinger irgendwann umbringen werden?«
Kevin Bredows zweiter Versuch, eine Zigarette zu rauchen, wurde von Dr. Mälzer vereitelt. Auf die schädliche Wirkung des Tabakproduktes hingewiesen, schnippte der Jungpolizist auch diesen Glimmstängel in die Landschaft, beachtete den Gerichtsmediziner mit einem undefinierbaren Blick und meinte dann: »Dann weiß ich immerhin, was mich umgebracht hat. Ganz im Gegenteil zu der armen Sau hinten in der Werkstatt. Nur zu, Mälzer, zeigen Sie mal, was Sie drauf haben.«
»Oh, wer wird denn gleich so empfindlich sein?«, stichelte der Angesprochene zurück und beachtete Kevin mit einem provozierenden und Sonni mit einem fragenden Blick.
»Gehen Sie den Kleinen nicht so an. Die Sache ist heftig und geht uns allen an die Substanz.«, nahm Sonni seinen Kriminalazubi in Schutz.
»So schlimm?«, hakte Mälzer überrascht nach, der Sonnis Meinung schätzte und ernst nahm. Wenn KK Lundkvist einen Fall für hart hielt, war er es.
»Schlimmer. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Aber schauen Sie selbst und sagen uns dann, was da passiert ist. Ich habe nämlich nicht die geringste Ahnung, was es sein könnte.«
Mit großen, skeptisch blickenden Augen schob sich der Gerichtsmediziner an Kevin und Sonni vorbei und machte sich auf den Weg zum Tatort, von dem im selben Moment Hotte zurückkehrte. Der Mann war blass wie Kalkstein und zitterte am ganzen Körper.
»Dett is nich normal, normal is det nich.«, lamentierte er, starrte Sonni an, wirkte dabei aber, als ob er durch ihn hindurch sah, »Nee, dett ist nich normal! Da wisperts!«
»Hotte, sieh mich an!« Sonni griff nach Horst Mälzers Schultern, schüttelte den Mann leicht, bis dieser aus seinem Endlosmonolog aufschreckte. »Sonni?«, flüsterte der gestandene Kriminaltechniker, »Ich habe viele unglaubliche Dinge gesehen. Wenn du so lange bei dem Verein bist, wie ich, bleibt das einfach nicht aus. Aber das… Gut, ich werde alles aufnehmen und versuchen, alle Spuren zu sichern. Aber ich glaube nicht, dass es dich weiterbringen wird. Wenn es das Böse als reales Etwas tatsächlich gibt, dann hat es da drin gewütet.«, erklärte Horst Mälzer ohne berlinerisches Idiom in der Stimme.
»Ich begleite dich. Ich glaube, es ist besser, wenn sich niemand allein in der Werkstatt aufhält.«
Erstaunlicherweise schloss sich Kevin den beiden Männern an. Zu dritt kehrten sie an Trollmanns Wirkungsstätte zurück, um gerade rechtzeitig eine weitere Kalkleiste aus dem Raum wanken zu sehen.
»Wenn ich es nicht besser wüsste, müsste ich davon ausgehen, dass ihr mich verarschen wollt.« Dr. Reinhardt Marx rang sichtlich mit seiner Fassung. »Dem ist der Brustkorb explodiert. Das ist wissenschaftlich unmöglich. Ein Brustkorb kann nicht explodieren. Außerdem… haltet mich nicht für verrückt, aber ich hörte Stimmen.«
»Die haben wir alle gehört. Es muss…«, weiter kam Sonni nicht. Mitten im Satz veränderte sich seine Wahrnehmung. Es ähnelte jenem tranceartigen Zustand, den er schon zuvor erlebt hatte, nur war die Erfahrung dieses Mal klarer und weniger nebulös. Sonni hatte auch nicht den Eindruck, in einen Dämmerzustand zu driften, sondern fühlte sich sehr wach und klar. Dazu passte allerdings überhaupt nicht, dass er mehr sah, als ein Mensch sehen sollte. Im mit Blut gemalten Pentagramm schimmerten fein glimmende, glühende Linien auf. Je genauer Sonni hinsah, desto mehr schälte sich eine Struktur aus den Linien, Kreisen und Symbolen heraus, wuchs über das Blut hinaus und erfüllte nach einer Weile den ganzen Raum. Es sah aus, als ob die Werkstatt von einem feinen Gespinst schimmernder, funkelnder und aus sich heraus leuchtender Fäden überzogen war, wobei das Pentagramm und der tote Körper Trollmanns auf zwei Knotenpunkten lagen, auf die sich die Strukturen zu konzentrieren schienen.
»Nicht anfassen!«, schrie Sonni, als er sah, wie ein Schutzpolizist, der dort überhaupt nichts zu suchen hatte, Trollmanns Wirkungsstätte betrat, die Stirn runzelte und sich hinkniete, um ein kleines Objekt aufzuheben, das halb im Blut versunken lag. In Sonnis erweiterem Wahrnehmungsmodus tat das Ding etwas Unmögliches: Es flammte auf. Gleißende Strahlen schossen zwischen den Fingern der linken Hand des Polizisten hindurch. Gleichzeitig schwoll das leise Wispern zu einem Chor unzähliger Kinderstimmen an, die unzweifelhaft lateinische Worte rezitierten. Genau so blitzartig, wie das Objekt aufgeflammt war, erlosch es auch wieder und wurde dunkel, wobei es aber nicht blieb. Auch die Finger des Polizisten wurden dunkel, gefolgt von der Hand und dem Handgelenk. Wie eine fortschreitende Infektion kroch die dunkle Färbung, die bei genauerer Betrachtung aus einem schwarzen Gespinst dicker und dünner aderartiger Fäden bestand, den Arm des Mannes empor. Einen Moment konnte Sonni nicht sehen, was weiter passierte, da die Fäden unter dem Ärmel des Uniformhemdes verschwanden. Doch nach einem kurzen Moment konnte er sie aus dem Halskragen kriechen, Wangen und Kinn empor laufen sehen, um dann in Ohren, Augen und Nasenlöcher einzudringen.
Der Polizist stöhnte auf, erhob sich aus seiner Hocke und verließ wankend und mit vollkommen ausdrucksloser Miene den Raum
»Was ist los?«, wollte Kevin wissen, der wie Dr. Marx und Hotte Mälzer weder etwas aufstrahlen, noch schwarze Gespinste bemerkt hatte. Sonni schaltete instinktiv, doch leider zu spät. Polizeiobermeister Winfred Ott hatte bereits seine Dienstwaffe gezogen, entsichert und in den Mund geschoben. Als er erkannte, was der Streifenkollege beabsichtigte, sprang Sonni auf ihn zu, versuchte, ihm die Waffe zu entreißen oder zumindest in eine ungefährliche Richtung zu lenken, doch er kam zu spät. Noch im Sprung vernahm er den Knall der Waffe. Wie in Trance sah er, wie die Schädeldecke POM Otts explodierte und Teile des Gehirns davon flogen. Im gleichen Moment begann sich massenweise Blut aus Mund und Nase zu ergießen. POM Ott sackte langsam zu Boden und öffnete dabei seine linke Hand. Ein rauchendes Objekt, eine Art Münze oder Medaille, rollte aus der Hand des sterbenden Mannes, flammte kurz rot auf, begann zu rauchen und erlosch.
Und dann wurde es sehr still. Dr. Marx starrte einfach nur ungläubig auf die Leiche des Polizisten, als ob er nicht glauben wollte, was ihm seine Augen zeigten. Hotte reagierte für ihn unerwartet emotional. Er schloss seine Augen, atmete tief ein und schüttelte den Kopf. Am schlimmsten erwischte es Kevin. Er wurde nicht bleich. Eigentlich zeigte er überhaupt keine äußere Reaktion. Er drehte sich nur zur Seite und verließ die Werkstatt.
»Kommt ihr klar?« fragte Sonni die beiden Wissenschafter eilig. Beide nickten schweigend und mit gesenktem Blick, worauf Sonni seinem Teampartner hinterher eilen konnte. Er fand ihn außerhalb des Ladens an die Hauswand gelehnt. Dort stand er und starrte völlig ausdruckslos vor sich hin. Nur wer genau hinsah, entdeckte ein ganz leichtes Vibrieren seines Körpers. Sonni sagte nichts, sondern lehnte sich nur leise neben ihm an die Wand und betrachtete das Pflaster des Fußwegs.
»Du hast etwas gesehen, oder?« Kevin sprach stockend. Seine Stimme klang krächzend und belegt. »Woher wusstest du, dass das, was Ott aufhob, gefährlich war?«
»Ich weiß es nicht… Es war nur so ein Gefühl… Keine Ahnung, aber als sich Ott hinkniete, um etwas aufzuheben, schrillten bei mir alle Alarmglocken. Ich wusste, dass es gefährlich war.«
»Sonni, sag mir, was hier los ist!«, flehte Kevin seinen Kollegen an, »Ein Mann wird gefoltert, ihm anschließend Schwanz und Sack ab- und die Kehle durchgebissen, einem anderem Mann explodiert die Brust und ein dritter steckt sich seine Dienstwaffe in den Mund und drückt ab. Das ist doch Wahnsinn. Das ist doch totaler Wahnsinn. Und überall diese Pentagramme. Wo sind wir hineingeraten?«
Kevins Stimme war in ein leises Wimmern übergegangen. Sonni fühlte, dass sein Kollege kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. Mehr als verständlich, fühlte Sonni doch selbst, wie sich der Boden der Vernunft unter seinen Füßen in Treibsand verwandelte. Und als ob der bisherige Verlauf des Abends nicht reichte, entdeckte KK Lundkvist auch noch eine Person am Rande der Polizeiabsperrung, die er hier als Letztes erwartet hätte.
»Was macht Gabe hier?«
Rapport
»Ach Shit, den hab ich ganz vergessen. Wir waren verabredet«, erklärte Kevin leise und verschnieft, dabei war sein Blick fest vor sich auf den Boden gerichtet. Polizisten weinten nicht. Gefühle zu zeigen, galt als verpönt und ein Zeichen von Schwäche. Die Begründung dafür erschien auf den ersten Blick sogar halbwegs vernünftig. Nach Überzeugung der Polizeiführung minderte fehlende Distanz zum Opfer die Qualität der Ermittlungen, da einem emotional zu sehr engagierten Kriminalisten wichtige Details entgehen könnten. Sonni hielt diese Ansicht für ausgemachten Unsinn. Sein letzter Fall war das beste Beispiel. Eben weil ihm die Opfer des Großmuttermörders nahe gingen, war er überhaupt in der Lage, seine persönlichen Leistungsgrenzen zu überschreiten. Wären ihm die Opfer egal und nur Bilder in einer Akte, hätte es keinen Grund gegeben, dem Fall auch nur eine Minute mehr, als die tägliche Dienstzeit zu widmen.
»Als ich den Hinweis erhielt, dass Trollmann etwas über die Ringe wissen könnte und ich mich zu ihm aufmachte, rief ich Gabe an, um ihn darüber zu informieren, dass es später werden könnte. Er meinte dann, dass er mich ja abholen könnte.« Kevin schaute aus verquollenen Augen auf und musterte Sonnis Gesichtsausdruck »Schau mich nicht so an. Gabe und sind nur Freunde. Er hilft mir, mit meiner Trennung klar zu kommen. Ich hab mir da wohl etwas vorgemacht. Ich steck sie doch nicht so leicht weg, wie ich dachte.«
Das hätte mich auch arg gewundert, Kleiner, ging es Sonni durch den Kopf. Vielleicht tat dieses blonde Kerlchen seinem Kollegen ganz gut. Auf jeden Fall war es in Kevins emotional angeschlagenem Zustand keine schlechte Idee, wenn er den Abend und vielleicht sogar die Nacht nicht allein verbrachte. Während er noch darüber nachdachte, hatte Gabe bemerkt, dass Sonni und Kevin ihn am Flatterband stehend entdeckt hatten und winkte ihnen zu, was von einem Schutzpolizisten missverstanden wurde, der sich ihm etwas rüde in den Weg stellte und mit deutlicher Geste deutete, zurückzutreten.
»Es ist gut, Kollege. Lassen Sie den Mann durch, er gehört zu uns.«, rief Sonni dem Uniformierten zu und deutete Gabe mit einer Winkbewegung, zu ihm zu kommen, was dieser sofort in die Tat umsetzte. Zehn Sekunden später stand der junge Kerl neben Sonni und Kevin.
»Hi«, begann er schüchtern und sah besorgt zu Kevin, »Ist etwas passiert?«
»Ja, etwas sehr Schlimmes.«, erwiderte Sonni. Sein Verstand schaltete auf Turbomodus. Innerhalb weniger Sekundenbruchteile spielte er diverse Möglichkeiten durch und kam zu dem Schluss, dem ihm eigentlich völlig unbekannten Mann einen Vertrauensvorschuss zu gewähren. »Ich möchte dich bitten, das für dich zu behalten. Vor wenigen Minuten hat sich ein wirklich schreckliches Drama ereignet. Während der Ermittlungen im Rahmen eines Todesfalls hat sich eben ein Polizist mit seiner Dienstwaffe vor unseren Augen erschossen. Ich kenne dich zwar eigentlich gar nicht, aber ich habe den Eindruck, dass du Kevin magst und ihm ein guter Freud zu sein scheinst. Wenn es nicht zu viel verlangt ist, könntest du dich dann um ihn kümmern?«
»Natürlich!«
Was war das mit Gabes, Gabriels Augen? Genauso wie bei Raphi waren sie in der Lage, blausilbern zu funkeln. Sonni war sich nie sicher, ob er es sich nur einbildete, es sich um eine optische Täuschung handelte. Egal, ob es eine Besonderheit der eisblauen Augen Raphis und Gabes war, oder obihre Augen tatsächlich leuchteten, auf jeden Fall war es gleichzeitig unheimlich, aber auf seltsame Weise auch wie seelischer Balsam. So wie jetzt auch. Gabes Augen funkelten und Sonni hatte das Gefühl, der junge Blondschopf würde ihn vollkommen verstehen.
»Ich werde mich um ihn kümmern.« versprach Gabe und legte Kevin seine Hand auf dessen Schulter. Der Kriminalazubi zuckte zusammen, dass Sonni schon befürchtete, sein Kollege könnte durchdrehen. Doch dann beruhigte er sich ganz schnell. Gabes Berührung schien Wunder zu bewirken. Kevin begann sich zu entspannen, seine Miene hellte sich auf.
»Gabe?«, fragte Kevin, als ob er Gabe erst jetzt bemerkte. Ein hoffnungsvoller und friedlicher Ausdruck schlich sich in sein Gesicht.
»Komm!«, meinte der blonde Mann leise und sanft, trotzdem wirkte dieses eine Wort wie ein zwingender Befehl, »Lass mich dich nach Hause bringen.«
»Danke Gabe!«, erwiderte Kevin und sah seinen Chef fragend an.
»Geh! Ich komme schon allein klar. Außerdem muss ich sowieso ein anderes Team rufen. Wir sind jetzt Tatzeugen und können nicht selbst ermitteln.«
Der allem Anschein nicht so freie Freitod POM Ott hatte die gesamte Situation deutlich verkompliziert, da ihn ein anderes Team übernehmen musste.
»Und wie steht es mit dir? Stehst du es durch?«, fragte Gabe direkt an Sonni gerichtet. Seine Augen funkelten nicht, sondern strahlten ihn direkt an. Ihr Strahlen war kühl, belebend und erfrischend. Sonni hatte das Gefühl, über eine taugefüllte Wiese eines milden Frühlingsmorgens zu wandern und dabei Energie zu tanken.
»Es geht. Ich stehe das schon durch.«
»Das wirst du, da bin ich mir sicher.«, erwiderte der funkelnde Kerl, nickte und machte sich dann mit Kevin im Schlepptau auf den Weg. Auf halber Strecke wandte er sich plötzlich um. »Wenn du Hilfe brauchst, weißt du, wo du sie finden kannst.«
Noch während Sonni über diesen Satz nachdachte, war Gabe samt Kevin verschwunden. Ein paar Sekunden später traf das herbeigerufene zweite Team ein. KHK Runowsky zeigte sich alles andere als begeistert, dass ein Zeuge den Tatort bereits verlassen hatte, musste sich aber von Dr. Marx und Hotte Mälzer sagen lassen, dass KK z.A. Kevin Bredow auch nichts anderes aussagen konnte, als sie und Sonni Lundkvist, was doch wohl vollkommen ausreichend sei. Oder würde ihm die Aussage zwei erfahrener forensischer Wissenschafter und eines hoch qualifizierten Kriminalkommissars etwa nicht reichen? Er, Runowsky, solle sich nicht so herzlos zeigen und sich fragen, wie er wohl reagiert hätte, müsste er einen Selbstmord tatenlos mitansehen. Auf diese Vorhaltungen hin sagte KHK Runowsky nichts mehr und begann mit der Untersuchung des Vorfalls.
Die Aufnahme beider Fälle zog sich schier endlos hin. Bei allem, was Sonni, Runowsky, die KT und die Gerichtsmediziner taten, mussten sie darauf achten, die Spuren beider Fälle möglichst getrennt zu halten. Als sie dann endlich einen vorläufigen Schlussstrich ziehen konnten, zeigte die Uhr halb Eins in der Nacht. Runowsky und Sonni versiegelten noch den Tatort, dann hieß es abrücken. Der Streifenpolizist, der Sonni Lundkvist nach Hause brachte, hielt zwar seinen Mund, wirkte aber sehr angespannt und nervös.
»Raus mit der Sprache, was bedrückt Sie?«
»Stimmt es, dass sich Ott seine Waffe…«, weiter kam er nicht.
»Ja, es stimmt«, seufzte Sonni, bedachte den Polizisten mit einem mitfühlenden Blick und meinte, »Ich weiß, dass die Sache spätestens Morgen rum ist. Deswegen nur so viel. Was auch immer passiert ist, wir werden es in Erfahrung bringen. Ich glaube nicht, dass Ott ein Selbstmörder ist. Ich war dabei und habe es gesehen. Ott war nicht er selbst. Für mich ist es ein Mordfall und ich werde nicht ruhen, bis ich den Täter ausfindig gemacht habe.«
»Danke Lundkvist«, erwiderte der Polizist dankbar.
Etwa eine halbe Stunde später hatte Sonni seine Wohnung erreicht. Nach einem kurzen Sprung unter die Dusche und einer kleinen Portion Müsli, um den knurrenden Magen zu befriedigen, ging der Kriminalkommissar ins Bett und fiel sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Der nächste Morgen wartete mit zwei mehr oder weniger erwarteten Nachrichten auf. Zum einen hatte sich Kevin Bredow krank gemeldet. Wer wollte es ihm verdenken. Zum anderen lag eine E-Mail von Kriminaloberrat Dr. Achim Prechtel in seinem Postfach, in der er ihn bat, möglichst unmittelbar nach seinem Eintreffen bei ihm im Büro vorbeizusehen. Diese Nachricht war insoweit ungewöhnlich, da sie nicht von Prechtels Sekretärin sondern vom Kriminaloberrat persönlich verfasst wurde und die Bitte nicht wie ein Befehl, sondern tatsächlich wie eine Bitte klang. Trotzdem, vermutete Sonni, war es ratsam, dem Wunsch seines Chefs so schnell wie möglich nachzukommen.
»Ah, Lundkvist, schön, dass Sie gleich kommen konnten.«
Mit diesen für Dr. Prechtel unglaublich freundlichen Worten wurde Sonni von seinem Chef begrüßt, dass sich der junge Kriminalkommissar fragte, ob sein Vorgesetzter vielleicht von Außerirdischen ausgetauscht worden sein könnte und ihm nun eine Marionette gegenüberstand. Allerdings sprachen zwei schlagkräftige Argumente gegen diese Hypothese. Zum einen dürften Außerirdische, die in der Lage waren, unzählige Lichtjahre zurückzulegen, am Ende nicht dabei patzen, auch Dr. Prechtels soziale Defizite zu kopieren. Ein anderer Grund könnte aber auch der Gast sein, der in einem einfachen Ledersessel der kleinen Besprechungsecke saß, sich aber mit Eintreten Sonni Lundkvists höflich erhob, während der Kriminaloberrat sorgsam die schallgedämmte Doppeltür seines Büros schloss.
»Darf ich Ihnen Sonderbotschafter Kardinal Francesco DaSilva vorstellen?« Diese Vorstellung des Gastes erklärte, warum der Mann Soutane mit rotem Zingulum trug. Allerdings ließ Sonni, der sich eines hervorragenden Namensgedächtnisses rühmte, etwas anderes aufhorchen. Und dieser Name, Francesco DaSilva war vor kurzem gefallen. Genaugenommen vor zwei Tagen, während Sonnis Unterhaltung mit Raphi.
»Es ist mir eine Ehre, seine Eminenz, kennenzulernen.« Sonni ging auf den Kardinal zu und reichte ihm die Hand, die unprätentiös ergriffen wurde. »Sonni Lundkvist«
»Francesco DaSilva«, erwiderte der Kardinal und musterte den Kriminalkommissar, »Entschuldigen Sie, wenn ich etwas unhöflich wirken sollte, aber warum haben Sie bei der Nennung meines Namens überrascht ihre Augenbrauen hochgezogen?«
»Sind sich seine Eminenz sicher…«, lächelte Sonni hintersinnig, »…kein Polizist zu sein? Ihre Beobachtungsgabe ist beeindruckend.«
»Ehrlich gesagt könnten Sie mich tatsächlich als eine Art Polizisten betrachten.«, erklärte DaSilva, ohne dabei wirklich etwas zu enthüllen, »Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
»Entschuldigen Sie bitte, aber das ist so eine typische Polizistenmarotte. Ich will ehrlich sein. Ihr Name wurde vor zwei Tagen in einem Gespräch erwähnt, das ich mit einem guten Freund führte.«
»Einem Freund?«, hakte der Kardinal mit überraschender Vehemenz nach, »Sie könnten mir nicht zufällig verraten, wer dieser Freund war?«
»Ähm, ich muss gestehen, dass es mir ein wenig peinlich ist. Mein Freund, oder eher Bekannter ist Betreiber eines Clubs, der… Nun, ich möchte Ihre Gefühle als Mann der Kirche nicht verletzen, aber Sie würden wohl von himmelschreienden Sünden sprechen, die dort angebahnt, wenn nicht sogar praktiziert werden.«
Aus dem Augenwinkel beobachtete Sonni, wie sein Chef zusammenzuckte und hörte dann, wie ihn ein Hustenanfall erfasste. Kardinal DaSilva schüttelte allerdings nur amüsiert den Kopf und meinte dann schmunzelnd: »Kommissar Lundkvist, ich bin überrascht. Ich hätte nicht gedacht, im atheistischen Berlin einen im Katechismus gebildeten Polizisten vorzufinden. Ihre Umsicht ist schmeichelhaft, aber nicht notwendig. Sie werden es kaum glauben, aber auch ein Kardinal ist in der Lage, das Wort schwul auszusprechen.«
»Ähm, nun ja. Mein Bekannter – Raphi, wie er sich nennt – meinte, er hätte mit Ihnen in der Nuntiatur zu Abend gegessen.«
Die Reaktion des Kardinals war überaus interessant. Bisher schien er das Gespräch mit Sonni einfach nur intellektuell zu genießen, doch mit der Erwähnung von Raphi änderte sich dies. So wie er versuchte, seine unfreiwillige Reaktion zu verbergen musste der Kirchenmann in Gesprächstechnik und dem Einsatz von Gestik und Mimik geschult sein. Den meisten Gesprächspartnern wäre der Wechsel in Mimik und Gestik kaum aufgefallen, nur war Sonni eben ein Polizist für den die Interpretation nonverbaler Zeichen zum täglichen Handwerk zählte.
»Der Herr, den Sie Raphi nennen, war tatsächlich mein Gast.«, erwiderte der Kardinal so bedächtig, dass selbst Dr. Prechtel hellhörig wurde und Sonni einen vielsagenden Blick zusandte. Seine Eminenz schien jedes einzelne Wort genau abzuwägen. »Herr Raphael ist ein ausgemachter Experte für Kirchen- und Theologiegeschichte. Wir haben ihn zu einer etwas heiklen Frage um seine Expertise gebeten. Seine Sammlung alter Schriften und Originalwerke ist Legende.«
»Oh ja, das ist sie.«, stimmte Sonni zu, »Ich hatte die Gelegenheit, einen Blick auf die beeindruckende Sammlung zu werfen.«
»Ähm…«, schaltete sich Dr. Prechtel in die Unterhaltung ein und deutete einladend auf die Sitzgruppe. »Wenn wir dann vielleicht zum eigentlichen Thema kommen könnten. Lundkvist, ich möchte mich vorab bei Ihnen entschuldigen. Der Fall Breitkopf hätte niemals bei Ihnen laden dürfen. Und nach dem Desaster von gestern Abend war ich gewillt, Sie von Ihren momentanen Aufgaben zu entbinden. Allerdings wurde ich von Kardinal DaSilva über Hintergründe in Kenntnis gesetzt, die Ihren Fall, wozu auch der Juwelier Trollmann aber insbesondere auch Polizeiobermeister Ott zählen, in einem völlig anderen Licht erscheinen lassen. Der Fall… Die Fälle betreffen wohlmöglich… Vielleicht sollte Sie, Kardinal, das Problem erklären.«
»Kommissar Lundkvist, sind Sie ein gläubiger Mensch?«
»Ähm, wenn ich ehrlich bin, nicht wirklich. Ich wurde getauft. Evangelisch-lutheranisch der damals noch schwedischen Staatskirche.« Kardinal DaSilva verzog das Gesicht, was Sonni natürlich bemerkte. »Es war nicht meine Entscheidung, Kardinal. Meine letzten religiösen Erfahrungen hatte ich mit 14 Jahren während des Konfirmantenunterrichts. Darf ich fragen, warum Sie das wissen wollen?«
»Selbstverständlich und entschuldigen Sie, sollte ich etwas… ähm, voreingenommen reagiert haben. Nennen Sie es eine Berufskrankheit. Wie mir Dr. Prechtel erzählte, scheinen Ihre Fälle einen übernatürlichen Subtext zu entwickeln. Warten Sie bitte!« stoppte der Kardinal Sonnis Versuch, Einspruch zu erheben. »Ich habe nicht gesagt, dass Sie tatsächlich mit übernatürlichen Vorgängen konfrontiert sind, sondern nur, dass es so scheint.«
»Okay…?« Worauf wollte DaSilva hinaus?
»Also gut, ich will nicht länger um den heißen Brei reden. Meine Aufgabe im Vatikan ist mit der Ihren vergleichbar, Kommissar Lundkvist. Auch ich bin ein Ermittler. Und wenn sich mein Auftrag in Details auch von dem Ihren etwas unterscheiden mag, verfolge ich die gleichen Ziele wie Sie. Seit etwa drei Jahren verfolge ich die Spur eines Täters, der mutmaßlich für eine Reihe grausamster Gewalttaten verantwortlich zeichnet. Die Spuren einer dieser Taten führten mich nach Berlin. Meine Behörde und das LKA arbeiten seit längerem in derartigen Fällen zusammen, wobei wir diese Partnerschaft nicht an die große Glocke hängen.«
»Als seine Eminenz, Kardinal DaSilva, mich Montagnachmittag besuchte und seinen Fall schilderte, läuteten bei mir alle Alarmglocken, da er deutliche Parallelen zum Fall Breitkopf besitzt. Was konsequenterweise bedeutet, dass Ihr Fall ganz andere Dimensionen annimmt, als ich anfangs gedacht habe. Ich befürchte, dass ohne meine Fehleinschätzung Trollmann, aber vor allem Polizeiobermeister Ott noch am Leben wären.«
»Das können Sie nicht wissen«, erwiderte Lundkvist. »Ich habe heute Morgen leider noch nicht mit Mälzer oder Dr. Marx gesprochen, bin aber sicher, dass sie uns wichtige Informationen und damit erste Ansatzpunkte für die Ermittlungen liefern können.«
»Verlassen Sie sich nicht zu sehr auf Ihre Wissenschaft.« wandte der Kardinal ein. »Manche Dinge liegen außerhalb dessen, was sich mit Mikroskop und Waage messen lassen. Und wenn das passiert, kommen ich und meine Abteilung ins Spiel. Kommissar, ich will mich auf keinen Fall in Ihre Ermittlungsarbeit einmischen oder Ihnen gar vorschreiben, wie Sie vorzugehen haben. Ich will Ihnen nicht mehr, aber auch nicht weniger als meine Hilfe anbieten. Als Beweis, dass ich es ernst mit Ihnen meine, möchte ich Ihnen dies hier übergeben. Ich möchte Sie allerdings bitten, es auf den Dienstgebrauch zu beschränken. Wenn Sie mit mir darüber diskutieren wollen, finden Sie mich in der Nuntiatur. Und noch etwas: Seien sie aufgeschlossen und unvoreingenommen.«
Mit diesen Worten überreichte Kardinal DaSilva Sonni einen kleinen USB-Speicherstick. Dieser zögerte den Stick anzunehmen und versicherte sich erst durch einen fragenden Blick an seine Chef, ob es okay war, die Daten zu verwenden. Da Dr. Prechtel zustimmend nickte, schien nichts gegen seine Verwendung zu sprechen.
»Ich glaube, dies wäre fürs Erste alles, Lundkvist.«, ergriff Sonnis Chef das Wort und fiel dabei in seinen üblichen, abweisenden Habitus. Als er dies an der Reaktion seines Kommissars merkte, verzog Prechtel sein Gesicht, nickte anerkennend und meinte mit erstaunlich aufrichtiger Stimme, »Bitte, entschuldigen Sie, Lundkvist. Sollten Sie irgendwann auf meinem Stuhl sitzen, wovon ich absolut überzeugt bin, werden Sie mich verstehen. Im Moment möchte ich Sie bitten, vorsichtig zu sein. Otts Tod sollte uns eine Warnung sein, dass mit unseren Gegnern nicht zu spaßen ist. Ich will Sie nicht unnötig unter Druck setzen, aber Sie sollten wissen, dass wir von der Politik beobachtet werden. Gestern Abend wurde ich vom Polizeipräsidenten angerufen, der wiederum vom Justizsenator angerufen wurde. Breitkopf hatte Einfluss, der über seinen Tod hinaus wirkt. Mit anderen Worten balancieren wir mit rohen Eiern. Was Sie auch immer unternehmen, ich stehe hinter Ihnen. Wenn Sie sich einer Maßnahme nicht sicher sind, Ihnen jemand Steine in den Weg legt oder sich ein Zeuge unkooperativ zeigt, kommen Sie sofort zu mir.«
»Danke, Chef… ähm, Doktor Prechtel.«
Der Chef lächelte: »Es ist lange her, dass mich jemand mit Chef angesprochen hat. Aber bedanken Sie sich nicht bei mir. Dieser Fall hat es in sich. Ich beneide Sie nicht darum und könnte verstehen, wenn Sie ihn gerne abgeben möchten. Möchten Sie…«
»Nein!«, fiel Sonni seinem Chef ins Wort, »Ich ziehe das durch. Ich habe gesehen, wie ein guter Polizist wegen dieses Falls starb. Mein Partner in diesem Fall ist deswegen mental angeschlagen. Ich nehme das persönlich.«
»Bewahren Sie innere Distanz, was nicht heißt, dass Sie nicht mitfühlen sollen. Aber lassen Sie nicht zu, dass die Bilder, die wir in unserem Beruf zu sehen bekommen, Ihr Leben bestimmen.«
Vielleicht hatte Sonni seinen Chef bisher falsch eingeschätzt. Er war gar nicht dieser Hartarsch, für den er ihn immer hielt. Sein kaltes und fast abweisendes Auftreten war seine Art sich gegen das Grauen der Gewaltverbrechen abzuschirmen.
»Danke Chef, wenn das dann…« Sonni ließ den Satz unvollendet.
»Oh ja, natürlich. Wir sind soweit durch.« Dr. Prechtel verstand auch so und nickte seinem Kommissar zu, dass dieser gehen durfte.
Zehn Minuten später saß Sonni an seinem Schreibtisch und ließ nachdenklich den USB-Stick wie ein Pokerspieler einen Chip über seiner Finger wandern. Was war auf dem Datenstäbchen? Sollte er ihn an seinen Rechner anschließen? Er zögerte und fragte sich, warum. Warum steckte er ihn nicht einfach in die USB-Buchse? Mit einem Schulterzucken, das das unbestimmte Unbehagen beiseite schieben sollte, näherte sich Sonnis Hand dem Rechner, um dann doch nicht dazu zu kommen, das Speicherstäbchen einzustöpseln, da genau in diesem Moment das Telefon klingelte.
»Lundkvist« meldete sich der Kriminalkommissar. »Ah, Hotte, was gibt's?«
Eine Menge Seltsamkeiten – was Hotte zu berichten wusste, war alles andere als dazu angetan, Licht ins Dunkel zu bringen. So wusste Kriminaltechniker Horst Mälzer zu berichten, dass er das Objekt geborgen hatte, das Ott während seiner ungeklärten Selbsttötung aus der Hand gerollt war. Dabei war er mit äußerster Vorsicht vorgegangen und hatte das Beweisstück nicht mit seinen Händen berührt, sondern mit einer Pinzette aufgehoben, dabei Latexhandschuhe getragen und sich auch bei dessen Untersuchung entsprechend geschützt. Das Objekt selbst schien eine Art Münze oder Medaille zu sein. Es war etwa ein Drittel größer als ein zwei Eurostück, ein wenig dicker und auf beiden Seiten mit unbekannten Symbolen beschriftet. Und damit begannen die Probleme. Hotte hätte Sonni liebend gerne ein paar Fotos von der Münze angefertigt, nur ließ sich das Ding aus unbekannten Gründen nicht fotografieren. Zuerst hatte er es mit seiner üblichen Digitalkamera versucht, die aber immer nur einen weißen Fleck lieferte, was Hotte unmittelbar in Panik versetzte, in der Annahme, das Ding könnte hochgradig radioaktiv sein. Doch der eiligst eingesetzte Szintillationszähler blieb stumm und zeigte keinerlei Ausschläge, worauf Hotte sein Glück mit einer alten Sofortbildkamera versuchte, die aber ebenfalls nichts Sinnvolles zu Papier brachte. Statt eines weißen Flecks zeigte sie Farbwolken, als ob die Emulsion des Fotopapiers einen Defekt hätte. Eine weitere Digitalkamera, die zusätzlich über einen Infrarotmodus verfügte, lieferte überhaupt kein Bild, sondern stürzte erst ab, um dann nicht mehr zu starten.
»Ich wüsste zu gern«, meinte Hotte hörbar irritiert, »Was das für ein Ding ist. Ich sehe es vor mir. Ich kann es anfassen. Und jetzt wird es merkwürdig. Wenn ich es mit einer Pinzette anfasse, dann fühle ich ein Gewicht. Nur zeigen unsere Waagen nichts an. Erst habe ich es auf eine Digitalwaage gelegt. Die drehte völlig durch. Dann habe ich eine Apothekerwaage, eine Balkenwaage verwendet. Es wiegt nichts. Ich dachte schon, die Waage wäre verklemmt. Aber die ist völlig in Ordnung. Ich habe sie mit einem Milligramm getestet und keinen Fehler entdeckt. Die Medaille scheint nichts zu wiegen, dabei fühle ich doch ein Gewicht, wenn ich sie anhebe. Kannst mir das jemand erklären?«
Die Frage war natürlich rein rhetorisch gemeint und sollte nur verdeutlichen, dass Hotte mit seinem Latein am Ende war. Das seltsame Objekt widersetzte sich jeglicher wissenschaftlicher Analyse und formaler Dokumentierbarkeit. Immerhin hatte Hotte sich die Mühe gemacht und die größeren Schriftzeichen abgemalt, anschließend digitalisiert und Sonni als E-Mail-Anhang zugeschickt.
»Sonni, mein Junge, wo sind wir da bloß rein geraten?«, wollte Hotte Mälzer zum Schluss des Gesprächs wissen, erhielt aber nur das sprachliche Äquivalent eines Schulterzuckens – Sonni seufzte, bat den Kriminaltechniker nicht aufzugeben und bedankte sich für die bisher ermittelten Daten.
Nach der Kriminaltechnik stand konsequenterweise ein Anruf bei der Gerichtsmedizin, brachte aber keine Ergebnisse, da Dr. Marx noch mitten in der Obduktion der beiden Leichen stand. Sein Assistent, der das Gespräch annahm, versprach aber, dass der Herr der Leichen sofort zurück riefe, sobald er mit seinen Untersuchungen fertig sei.
Blieb nur noch ein Anruf bei Kevin. Sonni machte sich um seinen Kollegen ernsthaft Sorgen und wollte wissen, wie es ihm ging und ob er sich gefangen hatte. Aber auch bei diesem Anruf ging nicht der Rufnummerninhaber an den Apparat, sondern Gabe.
»Schön, dass du anrufst.«, freute sich der platinblonde Mann am anderen Ende der Leitung. »Kevin schläft jetzt und ich werde über ihn wachen. Es geht ihm inzwischen etwas besser. Wir haben geredet, das heißt, er beginnt zu verarbeiten, was er erleben musste. Dass er jetzt schlafen kann, ist eine gute Sache. Ich werde für alle Fälle vorerst bei ihm bleiben.«
»Gabe, danke. Ich muss gestehen, dass ich nicht so recht wusste, was ich von dir halten sollte.« Dass Sonni ein schlechtes Gewissen hatte, war kaum zu überhören. »Ich muss mich bei dir entschuldigen. Du scheinst ein guter Mensch und Kevin ein noch besser Freund zu sein. Danke!«
»Was ich auch immer sein mag, du musst dich nicht entschuldigen. Du kennst mich nicht und bist einfach nur vorsichtig. Das ist nichts Schlechtes. Ganz im Gegenteil. Aber wenn du mehr über mich wissen willst, frage Raphi.«
»Vielleicht werde ich das tun. Aber im Moment vertraue ich dir. Richte Kevin meine Grüße aus und sag ihm, dass er sich Zeit lassen soll.«
»Okay«, erwiderte Gabe.
Nachdenklich aber vor allem gereizt legte Sonni den Hörer auf die Schale. In ihm köchelte es. Das Gefühl, auf der Stelle zu treten und mit dem Fall nicht voran zu kommen, war einfach unerträglich. Die Besprechung bei Prechtel warf mehr Fragen auf als sie beantwortete. Welche Ziele verfolgte Kardinal DaSilva wirklich? Sonni betrachtete sich zwar nicht als Vatikanexperte und versuchte, den Sondergesandten unvoreingenommen zu betrachten, doch konnte er sich nicht des Gefühls erwehren, dass der Kardinal nicht alles erzählt hatte, was er wusste oder vermutete.
Aber selbst mit den Kollegen, die sonst für harte Fakten bekannt waren, Mälzer und Marx, kam Sonni nicht voran. Was sollte er von einem Beweisstück halten, das sich jeglicher Untersuchung widersetzte? Wonach sich Sonni sehnte, war etwas Konkretes. Etwas, das er anfassen oder jemanden, den er verhören konnte. Genau in diesem Moment fiel der Blick des Kriminalkommissars auf die lederne Visitenkarte. Warum eigentlich nicht? Den Computer heruntergefahren, den USB-Stick in der Jackentasche verstaut und die Lederjacke übergeworfen, machte sich Sonni auf in Richtung der auf der Karte angegebenen Adresse.
Lustbekleidung
Tim Teufels Laden entsprach nicht ganz dem, was Sonni erwartet hatte. Zumindest was das Äußere betraf, denn das bestand aus einer Etage, einem Loft eines Gewerbehofs. Schaufenster, wie bei den anderen Läden dieser Art gab es hier nicht. Ganz im Gegenteil deutete nur ein bescheidenes Blechschild neben einer Durchfahrt zum Innenhof des Gewerbekomplexes auf die Existenz des Ladengeschäfts hin. Dessen Eingang bestand dann auch ganz konsequent aus einer weiß lackierten Stahldoppeltür im Halbdunkel der Durchfahrt. Obwohl der Besuch rein dienstlicher Natur war, breitete sich ein leicht flaues Gefühl in Sonnis Magengegend aus. Warum eigentlich? Sextoys und Fetischkleidung waren nichts Ungewöhnliches. Sonni besaß sogar eine Lederhose, die nicht wie seine Kombi dem Schutz beim Motorradfahren diente.
Was lag hinter der stählernen Feuerschutztür? Seine wirren Gedanken beiseite schiebend, drückte Sonni die Klinke hinunter, stieß die Tür auf und stand in einem Fabrikloft. Ganz im Gegensatz zum spröden Äußeren präsentierte sich das Innere des Ladens angenehm freundlich. Die Wände wurden von markanten Stahlkonstruktionen gesäumt, bei denen Kleiderständer, Regale und Vitrinen ineinander übergingen und von unzähligen Spots effektvoll ausgeleuchtet wurden. Hier hatte ein Innenarchitekt gewütet und dem Laden ein schlüssiges Konzept verpasst, das stringent und ohne sichtbare Brüche umgesetzt schien. Dieser Laden konnte ohne Probleme als Coverthema einer Architekturzeitschrift dienen. Allerdings, so überlegte Sonni, sollten die Redakteure dabei wohl besser auf die Abbildung der Produkte verzichten. Die waren zum Teil ausgesprochen spezieller Natur.
Wer hier etwas suchte, wurde schnell fündig. Alle Waren waren erst nach Material und dann nach Typ sortiert. So hingen auf einer langen Kleiderstange massenweise Lederhosen und Chaps gefolgt von Lederjacken, Hemden und sogar T-Shirts. In den Regalen daneben lagen Hand- und Fußfesseln, Knebel, Peitschen, Unterhosen, Gürtel, Halsbänder, Harnesse, halt alles, was das Herz eines Lederkerls höher schlagen ließ. Richtig spektakulär und auch ein wenig unheimlich präsentierte sich das Warenangebot direkt über der Kleiderstange mit den Hosen und Jacken. Auf dem Regalbrett waren anatomische Glasköpfe positioniert, die jede mit einer anderen Ledermaske, angefangen beim klassischen Henkermodell bis hin zur schweren, verschließbaren Sklavenmaske mit Knebel, Augenklappe und Halsband bezogen und einzeln mit einem Spot ausgeleuchtet waren. Sonni musste schlucken. Das letzte Teil sah richtig heftig aus. Noch mehr schlucken musste er beim Blick auf das Preisschild, das locker 520 Euro forderte.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Lofts wiederholte sich spiegelbildlich die Produktpalette, bestand aber nicht aus Leder sondern aus Latex. Bisher ging Sonni davon aus, dass Latexkleidung grundsätzlich schwarz war, musste seine Meinung aber revidieren. Neben den schwarzen Bekleidungsgegenständen, die mit überschlägig zwei Dritteln die Mehrheit bildeten, wurde dem interessierten Kunden auch knallbuntes und sogar transparentes Latex angeboten.
Zwischen den Wänden unterbrachen Tische und Vitrinen den freien Raum und boten allerlei Spielzeug feil, bei dem Sonni zum Teil nicht die geringste Ahnung hatte, welchem Zweck es dienen könnte. Bei manchem wollte er es auch gar nicht wissen. Mit dieser Einsicht wandte er sich der dritten Wand zu. Statt eines Regalsystems stand er einem Verkaufstresen gegenüber hinter dem sich eine Verkaufskraft langweilte. Sonni wollte kaum glauben, was er sah. Der Typ hinter dem Tresen durfte knapp oder Anfang zwanzig gewesen sein und entsprach überhaupt nicht dem Klischee eines Lederklamottenhändlers. Was ihm da gegenüberstand war ein hageres Jüngelchen, das wie eine verunglückte Mischung aus Emo-Boy, Bobtail und Stricher wirkte. Als Hose trug er einen Zwitter aus Jeans und Leggings die aus einem dünnen, feuchtglänzenden Lackmaterial bestanden. Der Stoff folgte den Konturen seines Trägers, die wenig Spielraum für Imagination ließen. Für sein hageres Äußeres war der Verkäuferjunge ausgesprochen üppig bestückt. Obendrein war das Beinkleid auch noch so tief geschnitten, dass die Schwanzwurzel des Kerlchens deutlich hervor lugte. Der Blick wurde obendrein dadurch verstärkt, dass das bunte langärmlige Tatooshirt, welches das Jüngelchen trug, den flachen Bauch nicht ganz bedeckte und jedes Mal hochrutschte, kaum dass sich der Typ bewegte, was dieser aber selten tat. Viel mehr zeichnete er sich durch einen gelangweilten Blick aus, der aber bei dem vor den Augen hängenden Haarvorhang kaum zu erkennen war.
»Tim Teufel?«, fragte Sonni und hielt dem Bübchen die Ledervisitenkarte vor die Nase. Der schüttelte den Kopf, hob müde einen Arm und deutete kommentarlos mit seinem Daumen auf einen Durchgang neben seinem Verkaufstresen, worauf sich Sonni fragte, um wie viel der Verkaufserfolg Tim Teufels wohl durch diesen Kommunikationskrüppel gemindert wurde. Unter einem engagierten Mitarbeiter stellte sich Sonni etwas anderes vor.
Da mit einem weiterführenden Dialog mit dem Tresenkerlchen nicht zu rechnen war, setzte sich Sonni in Bewegung und folgte dem Daumen in Richtung Durchgang. Jener führte in einen Flur, von dem weitere Verkaufsräume abgingen, in denen weitere Lust steigernde Produkte dargeboten wurden. Sonni beschränkte sich darauf, nur kurz hineinzuschauen. Wie es schien, enthielten sie zumeist größere, ausgefallenere und bizarrere Objekte wie Fesselsäcke oder Slings, die entweder thematisch oder von ihren Ausmaßen nicht in den Hauptraum passten. Viel interessanter war eine Tür, die mit Atelier beschriftet war und Sonni magisch anzog. Ein kurzes höfliches Klopfen, ein von der anderen Seite gerufenes »Herein!« und Sonni drückte die Klinke herunter und trat ein.
»Ah, wenn das nicht Sonni Lundkvist ist. Wie ich sehe, hast du meine Einladung entdeckt. Endlich lernen wir uns kennen. Willkommen in meinem kleinem Reich.«
Was geben einem Eltern idealerweise mit? Mit etwas Glück ein Basissortiment an Verhaltensregeln und Umgangsformen. Sonni Lundkvists Eltern hatten zum Leidwesen ihres Sohnes von Anfang an Wert darauf gelegt, dass sich ihr Filius zu benehmen wusste und nicht weiter peinlich auffiel. Aus diesem Grund fühlte sich Sonni auch etwas überrumpelt, die eigene Vorstellung aus der Hand genommen zu bekommen.
»Ähm, wir kennen uns?«, stammelte der Kriminalpolizist ein wenig von der Rolle.
»Nicht direkt.«, gestand Herr Teufel, »Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Allerdings haben wir einen gemeinsamen Freund, der mir schon viel von dir erzählt hat. Doch möchtest du nicht eintreten?«
Erst jetzt bemerkte Sonni, dass er immer noch mitten im Rahmen der Ateliertür stand und wohl ziemlich dümmlich und orientierungslos drein schaute, was gleich mehrere Gründe hatte. Der erste war das Atelier an und für sich. Natürlich roch der gesamte Laden nach Leder und Gummi, aber dieser Raum war ein olfaktorischer Frontalangriff auf Sonnis Nase. Der Geruch, eine Mischung aus Leder und Lederkleber war nicht unangenehm, aber intensiv und benebelte die Sinne. Den zweiten Grund stellte der Raum als solches dar, der mit unzähligen Schneidertischen, Regalen, Tierhäuten und Maschinen vollgestopft war. Jede Ablagemöglichkeit wurde genutzt – einschließlich des Fußbodens. Was in den Verkaufsräumen an Ordnung herrschte, fand hier seinen chaotischen Ausgleich. Der dritte Grund bestand aus einem riesigen Zuschneidetisch, der die Mitte des Raums einnahm und von einem tief hängenden Lichtkasten in ein helles, neutrales und völlig schattenfreies Arbeitslicht getaucht wurde. Auf dem Tisch war eine ganze schwarze Rinderhaut ausgebreitet. Sonnis Gesprächspartner war gerade damit beschäftigt, mit einem Rändelrad Schnittlinien von einem Musterbogen auf das Leder zu übertragen. Der vierte und letzte Grund war Tim Teufel, von dem nur Teile der muskulösen Arme, eine mit einem schwarzen T-Shirt bespannte Brust und ein Bauch, sowie der obere Teil einer Lederhose zu sehen war. Der Rest wurde entweder vom Lichtkasten oder dem Tisch verdeckt. Doch selbst die sichtbaren Teile reichten aus, um Sonnis Unsicherheit deutlich in die Höhe zu treiben. Die Brust, obwohl von Stoff eingespannt, war brutal geil: muskulös, ohne affig, selbstverliebt, affektiert oder gar – Gott bewahre – prollig zu wirken. Gleiches galt für den flachen und gerippten Bauch und die schmalen Hüften. Der Körper, soweit sichtbar, bildete ein leckeres und vielversprechendes V. Sonni lief das Wasser im Mund zusammen. Inständig hoffend, dass der Rest hielt, was der Torso versprach, begann er mit der Umrundung des Zuschneidetisches.
»Hallo Sonni«, wurde er vom Lederschneiderlein begrüßt, kaum dass sich die beiden Männer vollständig sehen konnten, »Ich bin Tim, Tim Teufel.«
Vor Kriminalkommissar Lundkvist stand kein Mann, sondern ein Kerl. Nahm Sonni alle feuchten Träume, die er jemals geträumt hatte zusammen, ergab deren Quintessenz Tim Teufel. Der Mann war groß, größer als Sonni, aber auch nicht zu groß. Er war gerade richtig, um von ihm in Arme genommen zu werden und um sich dabei an seine Brust schmiegen zu können. Die umschlingenden Arme waren wie der gesamte Rest gut gebaut und kraftstrotzend, wirkten aber weder brutal noch unangenehm hart. Muskulosität konnte auch immer leicht in eine unnatürliche Richtung abdriften, insbesondere wenn deren Erwerb mit regelmäßigen Besuchen eines Sportstudios verbunden war. Aber Tim Teufel schien nicht zu den Leuten zu zählen, die sich viel um ihren Körper kümmern mussten. Ganz im Gegenteil wirkten seine Muskeln vollkommen natürlich, weder vernachlässigt noch antrainiert. Sie befanden sich genau dort, wo sie hingehörten und entsprachen genau dem Maß, das sie haben mussten.
Natürlich wusste Tim Teufel ganz genau, wie er seinen Körper in Szene setzen musste und trug zu seiner berufsbedingt perfekt sitzenden Lederhose passende Armbänder an den Handgelenken, die seine herbe Aura erst richtig abrundeten. Dazu zierte ein sehr gepflegter und makelloser Dreitagebart sein Gesicht. Nötig hatte er es nicht. Niemand hätte ihn mit einem braven Hausmann verwechselt oder für ein Fashionvictim gehalten. Wenn der Begriff Kerl auf jemanden zutraf, dann auf diesen Mann. Wobei sich die typbedingte Rauheit des Äußeren an manchen Stellen auch brach, wobei zwei unerwartete Besonderheiten hervorstachen. Zum einen trug Tim Teufel Dreadlocks, die er zu einem Zopf zusammengebunden hatte und die komischerweise richtig gut zu dem Mann passten. Zum anderen handelte es sich bei Herrn Teufel um einen Brillenträger. Und gerade diese Sehhilfe verwandelte den herben, kerligen und fast schon brutal präsenten Mann in ein gleichzeitig sanftes, freundliches und unendlich gutmütiges Wesen. Sonni verschlug es die Sprache. Die dunkelbraunen Augen Tims schienen von einem inneren Feuer angefacht zu werden, dass es den Eindruck erweckte, als ob sie dunkelrot glühten, wobei sie gleichzeitig tief in die Seele ihres Gegenübers zu blicken schienen.
Und dann dieses Lächeln – Tim Teufels Gesichtsausdruck konnte als männliche Mona Lisa durchgehen. Sein Lächeln war gleichzeitig hintergründig, kryptisch, offen und einladend. Und es verströmte Freude und Freundschaft. Unwillkürlich musste Sonni ebenfalls lächeln.
»Sie scheinen mir ein wenig im Vorteil zu sein und mich zu kennen.«, begann Sonni förmlich, aber mit einem freundlichen Unterton in der Stimme.
»Och bitte, sag Tim.«, flehte der Teufel mit spitzbübischer Miene, die Sonnis Widerstand wie Butter in der Sonne schmelzen ließ.
»Ich bin im Dienst… ein wenig… diese Visitenkarte…?«
»Cool, was?«, fiel Tim Sonni charmant ins Wort, »Eigentlich ist dieses Lederteil total unpraktisch und passt in keine Brieftasche. Aber als Lederschneiderling fand ich es einfach passend. Ich wusste, dass du sie finden würdest.« Der letzte Satz wurde von einem kräftigen, roten Aufglühen in Tims Augen begleitet.
»Ja, aber warum?«, hakte Sonni nach. Obwohl sich sein Gegenüber alle Mühe gab und eine volle Breitseite Sex und Charme versprühte, schaffte er es nicht, den Polizisten in Sonni vollständig zum Schweigen zu bringen. »Was haben Sie… hast du, mit dem Typen zu schaffen, den ich gestern verfolgt habe?«
»Also gut, du willst die Wahrheit wissen.« Und wieder wurde Sonni von dunkelrot glühenden Augen gemustert, die nun aber schmerzhaft heiß brannten, »Ja, ich glaube, du kannst sie vertragen. Die eigentliche Frage ist, ob du sie auch wirklich wissen willst. Willst du die Wahrheit, die absolute und endgültige Wahrheit erfahren?«
War da ein Grollen wie von fernem Gewitterdonner zu hören? Sonni lief ein Schauer über den Rücken und er bekam eine Gänsehaut. Tims Stimme hatte eine Textur und voluminösen Klang angenommen, die weit über normale Stimmen hinausging.
»Ich glaube schon…«, erwiderte er nachdenklich, hörte in sich hinein und fasste einen Entschluss, »Ja, ich will die Wahrheit erfahren.«
»Egal, wo sie dich hinführt? Unwiederbringlich? Wenn du diesen Weg beschreitest, gibt es keine Umkehr, kein Zurück.«
Worum ging es hier? Sonni fühlte, dass seine kleine, heile Welt aus den Fugen geriet und dass er vor etwas Gewaltigem stand, dessen Ausmaße er nicht ansatzweise abschätzen konnte. Trotzdem – da war etwas, das ihn antrieb, das ihn zwang, diesen Weg zu beschreiten. Dieses Etwas war nicht neu. Soweit sich Sonni erinnern konnte, war es da und brachte ihn seit seiner Kindheit dazu, den Dingen auf den Grund zu gehen. Deswegen war er Polizist geworden, deswegen war er ein guter Polizist geworden. Er schien immer instinktiv zu wissen, in welche Richtung ermittelt werden musste, welche Fragen einem Verdächtigen zu stellen waren, damit dieser seinen Widerstand aufgab oder welche Spuren entscheidend waren und welche ignoriert werden konnten.
»Ich muss und ich will.«, erklärte Sonni.
»Sicher?«
»Ganz sicher.«
»Fein!«, freute sich Tim Teufel, klatschte zufrieden in die Hände und deutete in Richtung einer Stahltür mit Glasfenstern, die Sonni nach näherer Betrachtung als Tür eines Lastenaufzugs identifizierte, während sein Gastgeber in Richtung Verkaufsraum rief: »Andi, ich bin oben. Heute bitte keine Anproben mehr, ja?«
»Ist klar, Chef!«, rief es den Gang zurück.
»Der Typ kann sprechen?«, fragte Sonni erstaunt.
»Ach, ist dir mein wortkarger Schlingel von einem Verkäuferchen auch schon aufgefallen? Ja, Andi kann sprechen, das heißt, wenn er Bock drauf hat, was selten der Fall ist. Er mag auch ein wenig mürrisch wirken, doch tut man ihm damit Unrecht. Lernst du ihn erst etwas besser kennen, wirst du schnell feststellen, dass man sich auf ihn hundertprozentig verlassen kann. Hey, hier unten liegt Ware von locker einer viertel Million rum, eher mehr. Versuch auch nur ein blödes Lederarmband für 15 Euro zu mopsen und du wirst einen Andi erleben, der alles andere als wortkarg daherkommt. Aber egal, komm, lass uns lieber einen Tee trinken. Du trinkst doch Tee, oder?«
Womit Sonni in den bereitstehenden Lastenaufzug geführt wurde, der sich nach Schließen der Tür langsam und gemächlich in Bewegung setzte. Tim hatte den obersten, mit einer Vier beschrifteten Knopf gedrückt. Während die Kabine gemütlich empor kroch, wagte Sonni einen Blick durch die Sehschlitze der Glasfenster. Leider lagen die Räume vor den Fahrstuhltüren im Dunkel, sodass sich wenig entdecken ließ.
»Im Vierten ist meine Wohnung. Du brauchst deine Datenbank im LKA übrigens nicht zu bemühen, der Häuserblock gehört mir. Montags ist hier wenig los. Im zweiten Stock sitzen die eigentlichen Experten, die, die die meisten Teile zusammenschneidern. Du hast ja den Laden gesehen und weißt selbst, welche Mengen an Zeug da lagern. Das kann ich unmöglich alles alleine machen und wie Latex verarbeitet wird, wird mir wahrscheinlich für immer ein Rätsel bleiben. Übrigens gehören dritter und vierter Stock zusammen. Außer dem Fahrstuhl gibt es noch eine Wendeltreppe. Oben wohne ich unten können es sich Gäste gemütlich machen.«
Warum erzählt er mir das?, ging es Sonni durch den Kopf. Gleichzeitig wurde ihm in der Nähe dieses vielschichtigen Mannes ziemlich warm. Wer dieser Tim Teufel auch immer sein mochte, seine Präsenz blieb auf Sonni nicht ohne Wirkung. Dabei konnte er nicht sagen, was es war. Die fast schon animalische Körperlichkeit, die unbefangene und offene Art, mit der er jegliche Distanz zwischen sich und Sonni aufheben wollte, oder diese eigentümliche Weise, wie er einen ansah? Glühten seine Augen wirklich? Diesen Mann durfte er auf keinen Fall unterschätzen, vielleicht sollte er ihn sogar fürchten.
»So, da sind wir.«, verkündete Tim fröhlich, öffnete die Fahrstuhltür und hielt sie Sonni auf, dass dieser die Loftwohnung zuerst betreten konnte. Eines musste Sonni seinem Gastgeber lassen, der Mann wusste nicht nur zu leben, er besaß auch Stil und wurde dadurch noch mehr zu einem Rätsel. Wie hatte es Tim Teufel nur geschafft, seiner Wohnung eine warme, wohnliche und einladende, aber auch herbe und subtil martialische Atmosphäre zu verleihen. Natürlich hatte er Leder und Stahl bei den Materialien seiner Möbel verwendet. Es reflektierte den Teil Tims, der vier Stockwerke tiefer Lederhosen schneiderte. Aber genau so, wie dieser Mann mehr war, als ein Lederschneider, erzählte seine Wohnung ebenfalls mehr als eine Geschichte.
Zum Beispiel die Gemälde an den Wänden – einen Teil des Lofts zierten Robert Mapplethorpes Männerakte in ihrer zuweilen erschreckenden Brutalität und Deutlichkeit, um auf der gegenüberliegenden Wand von den sinnlichen Männern Bruce Webers kontrastiert zu werden, während ein anderer Bereich mit einem ebenso überdimensionalen wie verstörend abstrakten Werk in der Art eines Triptychon dominiert wurde. Obwohl nichts Bildliches zu erkennen war wühlte es Sonni viel tiefer und intensiver auf als die mapplethorpschen Gewaltfantasien.
»Der Titel lautet hell revisited. Es ist wirklich sehr intensiv.«, erklärte Tim, »Ich liebe es.«
Mit einer beiläufigen Bewegung sammelte Sonnis Gastgeber einen kleinen Stapel Kataloge von Leder- und Fetischherstellern vom Sofa.
»Ich muss doch wissen, was der Mitbewerb so treibt.«, grinste er hintersinnig, »Mach's dir gemütlich, ich mach uns inzwischen einen Tee. Kekse?«
»Gerne«, erwiderte Sonni und ließ sich auf einem bequemen Designerledersofasessel nieder. Kurze Zeit später brachte Tim eine Schale mit Schokoladenkeksen und ein kleines Teeservice, »Der Tee ist auch gleich fertig. Deckst du inzwischen auf?«
Was trieb er hier? Wieso ließ er sich von einem wildfremden Mann bewirten, als ob sie die ältesten und dicksten Freunde wären? Sonni wurde weder aus sich noch aus dem Lederschneider schlau. Und wieso waren es vier Gedecke?
»Erwarten wir noch jemanden?«, rief der Kriminalkommissar in die offene Tresenküche.
»Ach ja, das habe ich vergessen zu erwähnen. Da du die Wahrheit, die ganze Wahrheit erfahren willst, habe ich mir Verstärkung besorgt. Keine Angst, der eine ist ein Freund von dir und der andere… ich glaube, dass du und er ein paar Missverständnisse klären solltet, aber dazu kommen wir später. Ah, der Tee ist fertig und wenn ich richtig höre, trifft unser gemeinsamer Freund ebenfalls gerade ein.«
Im gleichen Moment, wie Tim mit einer Glasteekanne heißen Tees zurückkehrte, öffnete sich die Fahrstuhltür und Raphi betrat das Loft.
»Raphi?«, rief Sonni verwundert.
»Raphael, so viel Zeit sollte sein.«, korrigierte Tim und begrüßte den Neuankömmling, »Schön, dass du da bist, dann können wir jetzt Tee trinken und unserem Freund hier die absolute und endgültige Wahrheit enthüllen. Das wird lustig.«
»Tim, du bist morbide.«, lachte Raphi und ließ seine Augen silberblau aufflackern, »Aber Tee ist eine hervorragende Idee.«
Die absolute Wahrheit
»Und?«, fragte Sonni nach zwei großen und leckeren Schokoladenhaferkeksen, sowie ein paar Schlucken Tee, »Was ist jetzt mit der Wahrheit?«
Direkt auf das Thema angesprochen, wirkten die beiden sonst so souverän auftretenden Männer unsicher. Sie schauten sich gegenseitig fragend an, zuckten mit den Schultern und nickten. Wie sie sich doch gleichzeitig ähnelten und doch grundverschieden waren, wie Yin und Yang, schwarz und weiß, gut und böse. Nein, nicht gut und böse, weder Raphi noch Tim schien in eines dieser beiden Extreme zu fallen. In allen anderen Dingen mochte der eine das Gegenteil des anderen sein, aber bei diesem Thema wirkten sie neutral. Ansonsten waren sie wirklich komplementär. Der eine platinblond, der andere schwarzhaarig. Des einen Augen glühten dunkelrot, die des anderen blitzen und flackerten blausilbern. Was ging hier ab?
»Dir ist klar, dass es danach kein Zurück mehr gibt?«, wollte Raphi wissen.
»Das hatte mich Tim auch schon gefragt. Ja, ich will, obwohl ich nicht weiß, was so bedeutend sein könnte, dass Nichtwissen erstrebenswerter sein könnte als Wissen.«
»Dann soll es so sein.«, verkündete Raphi und grinste hintersinnig, »Darf ich dir eine Frage stellen? Bist du ein gläubiger Mensch?«
»Öhm…«, erwiderte Sonni, der sich etwas auf dem falschen Fuß erwischt fühlte, »Du bist der Zweite, der mich dies heute fragt. Ehrlich gesagt habe ich seit meiner Konfirmation mit 14 nichts mehr mit der Kirche am Hut gehabt. «
»Ich wollte nicht wissen, ob du ein fleißiger Kirchgänger bist.«, präzisierte Raphi fast ein wenig scharf, »Was meinst du, wie viele Menschen es gibt, die jeden Sonntag in die Kirche gehen und trotzdem kein Wort von dem glauben, was dort gesprochen wird? Hauptsache die Nachbarn halten einen für ein braves Gemeindemitglied. Ich kenne sogar Priester, die von der Auferstehung sprechen, aber kein Wort davon glauben. Also, Sonni Lundkvist, glaubst du?«
Wieso war das wichtig? Sonni überlegte. Glaubte er? Ja und nein. Es war kompliziert. Aber da Raphi und offensichtlich auch Tim viel an einer ehrlichen Antwort lag, wollte er sie nicht enttäuschen.
»Ich weiß es nicht. Früher, als Kind, glaubte ich schon an das, was in der Bibel steht. Glaube ich heute daran? Sicherlich nicht im wörtlichen Sinn. Auferstehung, Ausschüttung des heiligen Geistes, Gottes Sohn? Kann ich daran glauben? Ich glaube nicht, denn dann müsste ich jeden Hindu, Juden, Moslem verdammen. Und was ist mit Buddhisten? Woran ich glaube, ist die Idee des Guten, die sich in vielen Religionen findet. Ich bin ein Bulle, ein Polizist, und habe genug Scheiße gesehen, um zu wissen, dass das Böse tatsächlich existiert. Mir sind Wesen begegnet, bei denen ich mir nicht sicher war, ob sie die Bezeichnung Mensch verdienten. Andererseits bin ich mit Menschen zusammengetroffen, die eine Güte und Selbstlosigkeit an den Tag legten, dass ich mich meines eigenen Egoismus schämte.«
»Habe ich nicht gesagt, dass er der Richtige ist?«, wollte Raphi von Tim wissen.
»Ja, er scheint wirklich nicht auf den Kopf gefallen zu sein.«
»Dann wollen wir mal.« Tim richtete seinen Blick auf Sonni, fing dessen Blick ein und hielt ihn fest. »Schau uns an.«, erklang eine klare und befehlende Stimme, »Lass dich von dem, was du Realität nennst, nicht blenden, durchdringe ihre Struktur! Du kannst es. Du hast es zuvor getan, unbewusst, aber du hast es getan. Versuch es jetzt bewusst. Es ist wie ein Schleier, den du nur hinwegziehen musst. Öffne deine Augen und sieh!«
Was geschah? Da war er wieder, dieser tranceartige Zustand, nur dieses Mal ohne Trance. Im Gegensatz zu seinen bisherigen Erlebnissen, bei denen er in einer Bewusstseinsebene zwischen wach und schlafend abgedriftet war und sich später an nichts mehr erinnern konnte, blieb er hellwach. Raphis, oder Raphaels, wie er wohl wirklich hieß, Metapher traf es ziemlich gut. Im seinem Geist begann Sonni am Bild, das ihm seine Augen übermittelten, zu zupfen, bis es sich kräuselte und wie eine verknitterte, transparente Folie aussah, ähnlich der, mit der sonst Geschenke eingepackt wurden. Sie ließ sich tatsächlich wegziehen. Es fühlte sich zwar seltsam an, aber es funktionierte – irgendwie. Halb erwartete Sonni, dass dahinter eine Welt in Rottönen zu Tage trat, doch dem war überhaupt nicht so. Das Bild der Welt blieb fast gleich, aber eben nur fast. Die Veränderung war anfangs eher subtil und erinnerte an einen Fernseher, an dem jemand den Kontrast- und Farbregler hochgedreht hatte oder an die frische, klare Luft nach einem Platzregen. Alles erschien ein wenig klarer, deutlicher, realer, brillanter bis zu dem Moment, als die Folie auch vor Raphi und Tim verschwand.
»Nein!«, stöhnte Sonni und wollte weder seinen Augen und erst recht nicht seinem Verstand glauben.
»Ich befürchte, doch.«, korrigierte Raphael und erhob sich.
»Ihr seid…?«
»Ja, sind wir.«, bestätigte Tim Teufel, »Dieser Mann mit der beeindruckenden Spannweite ist Raphael, seines Zeichens ein echter Erzengel und Betreiber eines der angesagtesten Schwulenclubs dieser Stadt.«
»Womit klar sein dürfte, dass mein Konterpart nicht nur Teufel heißt, sondern auch einer ist.«, erwiderte Raphael, »Tim Teufel? Wie bist du eigentlich auf diese peinliche Namenswahl gekommen?«
»Hey, Louis Cyphre ist seit diesem blöden Film verbrannt.«
Ob ihn Bonni's Ranch wohl heute Abend noch aufnahm? Sonni fühlte sich definitiv reif für die Klapse und überlegte, ob es eine gute Idee war, wenn er mit dem Motorrad fuhr oder sich lieber ein Taxi kommen ließ, um sich selbst in die Karl-Bonhoefer-Nervenklinik einzuweisen. Oder hatte ihn Tim unter halluzinogene Drogen gesetzt? War da etwas in den Keksen oder im Tee? Vor ihm standen ein Engel und ein Teufel, komplett, mit allem drum und dran. Über dem Engel, Raphael, schimmerte nicht nur einen Heiligenschein, hinter seinen Schulterblättern entsprang auch das wohl schneeweißeste und strahlendste Flügelpaar, das Sonni je gesehen hatte. Die Augen, bei denen der Polizist immer den Eindruck hatte, sie würden blausilbern funkeln, strahlten nun vollkommen unverhüllt in einem überirdischen Glanz. Diese Augen sahen weit mehr, als die eines normalsterblichen Menschen. Der Engel lächelte freundlich, was ein wenig unheimlich, weil unwirklich wirkte.
Neben Raphael lümmelte sich ein gut gelaunter Teufel auf dem Ledersofa. Tim stand seinem geflügelten Freund in nichts nach. Er konnte zwar keine Flügel sein Eigen nennen, oder zeigte sie nicht, besaß dafür aber er ein nettes und beeindruckendes Paar Hörner auf seinem Schädel und einen Schwanz, der einen eigenen Willen zu besitzen schien und sich hin und her ringelte. Über einen Pferdefuß verfügte er zu Sonnis Beruhigung nicht. Während Raphis weiße Haut vollkommen makellos silbern aus sich heraus schimmerte, war Tims blutrot bis braun, glühte und war großflächig mit schwarzen Tribals übersät, die sich um den ganzen Körper wanden.
Verdammt, dieser Teufel sieht einfach nur rattenscharf aus! Was erzähl ich hier? Teufel? Engel? Kacke! Lasst mich hier raus!
War es doch der Tee? Hatte ihm Tim Teufel eine Droge verabreicht? Unwahrscheinlich – Sonnis analytischer Verstand arbeitete mit Lichtgeschwindigkeit. Sowohl er als auch die beiden… ja, was eigentlich? Typen hatten vom Tee getrunken, zeigten aber keine Anzeichen einer Intoxikation. Hinzu kam, dass Sonni nicht das Gefühl hatte, unter Drogen zu stehen. Eher im Gegenteil, fühlte er sich so klar und wach wie noch nie in seinem Leben zuvor. Abgesehen von dem Engel und dem Teufel vor ihm auf dem Sofa wirkte die Welt um ihn herum fast wie immer. Oder doch nicht?
Ganz vorsichtig und die beiden übernatürlichen Wesen nicht aus dem Auge lassend, erhob sich Sonni von seinem Sessel und schaute sich um. Die Welt war schon die Welt, die er kannte, allerdings schien er mehr sehen zu können, als bisher. Das abstrakte Triptychon mit seinen intensiven Farben hatte an Tiefe und Lebendigkeit gewonnen, die sich nur schwer beschreiben ließ. Sonni hatte den Eindruck, als ob sich die Muster bewegten. Vorsichtig tat er einen Schritt zur Seite und stellte dabei überraschend fest, dass im krassen Gegensatz zu anständigen Farbschichten, die auf dem Bild aufgetragenen sich von selbigem zu lösen und wie Vorhangschnüre im Raum zu hängen schienen.
»Es ist ein Portal«, erklärte Tim, der Sonnis Gedanken anhand seines Verhaltens erkannt hatte, »Es führt in eine andere… ähm, Existenzwelt.«
»Bin ich verrückt? Habt ihr mir Drogen gegeben? Oder habe ich einen Hirntumor?«
»Nichts von alledem.«, beantwortete Raphi Sonnis Frage, »Du bist sowohl geistig als auch körperlich vollkommen gesund. Weder der Tee noch die Kekse waren vergiftet oder enthielten Drogen.«
»Und ihr haltet es für normal, dass ich einen Engel und einen Teufel sehe?«, konterte Sonni verärgert, dem die Situation gegen seinen Anspruch auf Vernunft ging.
»Das ist eine Frage des Standpunkts«, gab der Teufel zu bedenken, »Aus Raphis und meiner Perspektive ist es verdammt normal. Aus deiner hingegen verständlicherweise nicht. Es tut mir Leid, aber du wirst dich, ob du es willst oder nicht, mit der Situation anfreunden müssen. Wie gesagt, es gibt kein Zurück. Ich weiß nicht, was mit dir passiert ist, aber wenn ich wetten sollte, würde ich vermuten, dass du berührt wurdest. Irgendein übernatürliches Wesen oder etwas, das mit ihm längere Zeit im Kontakt stand, hat dich aktiviert.«
»Aktiviert?«
»Normalgeborene Menschen sind im Allgemeinen nicht in der Lage, Teufel, Engel und unseren ganzen restlichen Zoo zu sehen. Es bedarf einer Art Präposition.«, erklärte Raphi, während Tim begann, Sonni nachdenklich zu mustern. »Manche Menschen besitzen allerdings von Natur aus die Gabe, gegenüber Übernatürlichem empfänglich zu sein. Bei anderen ist es ein familiäres Erbe, das die Empfänglichkeit schafft. Trotzdem bedarf es immer eines Auslösers, der die schlafende Fähigkeit weckt.«
»Sag mal, Sonni«, ließ sich der rothäutige Teufel verlauten, dessen Augen noch ein wenig feuriger wirkte als bisher, »Sagt dir der Name Gustav Lundkvist etwas?«
»Ähm ja, Gustav Lundkvist war der Name meines Urgroßvaters. Ich kann mich aber kaum an ihn erinnern. Ich glaube, ich war sechs, als er neunzigjährig starb.«
»Was hattest du mit Sonnis Urgroßvater zu tun?«, wollte plötzlich auch der Engel namens Raphael wissen. Sein argwöhnischer Blick traf den Teufel, der sich unwillkürlich duckte.
»Lebte er in Uppsala?«
»Ja, mein Großvater ist erst später nach Malmö gezogen.«
»Er hatte was mit ihm.«, gestand Tim.
»Das kann nicht sein. Soweit ich weiß, war mein Urgroßvater nicht schwul.« Sonni schüttelte heftig seinen Kopf.
»Und er war damals kein Mann.«, erwiderte Tim und erntete von Raphi ein müdes Kopfschütteln. »Dein Bruder kann es einfach nicht lassen, oder?«, wollte der Engel wissen.
»Du kennst Mephisto. Wenn ihm jemand gefällt, ob Männlein oder Weiblein, kann er sich nicht beherrschen. Da könntest du genauso gut versuchen, einer Katze das Jagen abzugewöhnen. Offensichtlich ist er Sonnis Urgroßvater mehr als nur körperlich näher gekommen. Das erklärt zumindest die Präposition. Was ich mich jetzt frage ist, was sie erweckt hat.«
»Das kann ich vielleicht beantworten. Es war der Fall Breitkopf – ich wollte seinen Körper untersuchen. Als ich ihn berührte, war mir, als ob ein heißer Wind über mein Gesicht blies.«
»Bingo – der gute alte Höllenhauch.«, lachte Raphi, während Tim grollend knurrte und meinte: »Du weißt, dass ich diesen Namen nicht schätze. Er ist diskriminierend.«
»Ach, sei nicht so empfindlich.«, lachte der Erzengel fröhlich, während der Teufel vor sich hingrummelte. Doch plötzlich wurde Raphael ernst: »Aber zurück zum Thema. Wenn ein Mensch Opfer eines übernatürlichen Wesens wird, kann sich sein Körper mit etwas, das du etherische Energie nennen könntest, aufladen. Als du ihn dann berührtest, hat sie sich über dich entladen. Das war das, was du als heißen Wind gespürt hast. Heiß deswegen, weil die Energie aus der Domäne meines Hörner tragenden Freundes entstammte. Damit hat sich meine Vermutung bestätigt. Wir haben es tatsächlich mit einem Guhl zu tun.«
»Du meinst das wirklich ernst?«, sprang Sonni an, dem die Unterhaltung in Raphis Arbeitszimmer wieder einfiel. »Wenn ich für einen Moment meine Überzeugung ignoriere, dass ihr zwei mich in Wirklichkeit einfach nur verarscht, dann willst du mir erklären, dass ich nicht etwa einem geisteskranken Psychomörder hinterher jage, sondern einem realen Guhl, einem Wesen, das sich von Angst, Furcht und Leid ernährt und seinen Meistern die Genitalien abreißt, sollten sie ihn nicht ausreichend füttern?«
»Setz dich bitte!«, bat ihn nun der Teufel ernst, aber auch nachdrücklich. Sonni befolgte seinen Wunsch, wenn auch nur widerwillig. Wer weiß, was so ein Höllenfürst tat, sollte er seiner Bitte nicht nachkommen. Im Moment wirkte das behornte, rotäugige Wesen zwar eigentlich ganz friedlich, sogar freundlich, aber ein Teufel blieb schließlich ein Teufel, oder?
»Um den Guhl werde ich mich kümmern, denn das ist unsere Aufgabe. Raphi, ich und noch ein paar andere unserer Art sorgen dafür, dass ihr Menschen in Frieden leben könnt und ihr nichts von der anderen Welt direkt neben euch erfahrt. Und glaube mir, da gäbe es einiges mehr zu entdecken, als so einen dämlichen Guhl. Wir, Raphi und ich, sind wie du. Wir sind Polizisten, die für Recht und Ordnung sorgen. Wir werden wohl bei diesem Fall zusammenarbeiten. Du musst den Guhl nicht jagen. Allerdings wurde er von Menschen beschworen. Menschen, die nicht den blassesten Schimmer hatten, worauf sie sich einließen. Denn erst beschworen, sind Guhle unersättlich. In keiner Welt bekommst du etwas geschenkt. Weder in unserer, noch in deiner. Der Guhl mag seine Meister in der Vergangenheit mit Macht und Einfluss versorgt haben, doch damit ist jetzt Schluss. Jetzt ist Zahltag und der Guhl präsentiert seine Rechnung. Du musst die Männer ausfindig machen, die glaubten, ein derartiges Wesen auf Dauer beherrschen zu können. Du musst sie stoppen oder es wird weitere Opfer wie Breitkopf geben. Von den armen Seelen, mit deren Qualen und Ängsten der Guhl bisher gefüttert wurde, will ich gar nicht erst anfangen.«
»Wir bitten dich nicht um mehr, als was du ohnehin bei deinen Ermittlungen machst.«, präzisierte Raphael.
»Aber?«, irgendeinen Haken musste die Sache doch haben.
»Sind wir ein wenig misstrauisch?«
»Ich bin Polizist.«
»Also gut«, grummelte der Teufel und es klang wieder so, als ob sich ein Gewitter zusammen braute, »Es könnte sein, dass dein Fall nur die Spitze eines Eisberges bildet. Bisher dachten wir, dass Raphaels Exemplar das letzte Buch ohne Namen sei. Doch woher wussten die fünf Männer dann wie sich ein Guhl beschwören lässt? Dieses Wissen hätte niemals in Menschenhand gelangen dürfen. Ich sage dies nicht aus Arroganz oder weil wir euch als dumm und unwissend darstellen wollen, sondern zu unser beider Schutz. Wir müssen verhindern, dass sich ein derartiger Fall wiederholt. Bestimmte Dinge haben in eurer Welt nichts zu suchen.«
»Sonst?«
»Du hast die Bibel gelesen«, nahm Raphael den Faden auf, »Wenn die schützenden Mauern zwischen unseren Welten einstürzen, Himmel, Hölle und Welt miteinander verschmelzen, dann trägt dies einen Namen: die Apokalypse.«
Feuerteufel
»Aber nur, damit ich nachher den netten Männern mit der Zwangsjacke alles richtig erklären kann.«, grummelte nun Sonni vor sich hin, »Ihr zwei wollt mir glauben machen, dass es Engel und Teufel gibt, dass es übernatürliche Wesen gibt, dass eines davon beschworen wurde und jetzt mit einem unersättlichen Hunger auf Emotionen unter uns Menschen sein Unwesen treibt. Ich soll helfen, die Situation zu bereinigen und nebenbei eine sonst drohende Apokalypse verhindern. Ging's nicht eine Nummer kleiner?«
»Leider nicht. Ansonsten hätte ich es nicht besser zusammenfassen können.«, meinte Tim gut gelaunt und auch Raphael wirkte zufrieden. Sonni blinzelte die beiden ungläubig an. Wie sollte er wirklich ernsthaft glauben, was gerade geschah? Er blinzelte erneut und plötzlich stand der Engel neben ihm.
»Siehst du, genau darum geht es. Du weißt nicht, ob das hier real ist. Bin ich wirklich ein Engel, Tim ein Teufel, siehst du wirklich, was du zu sehen meinst, oder stehst du unter Drogen? Oder vielleicht wächst tatsächlich ein Hirntumor in deinem Schädel, der dich halluzinieren lässt? Du kannst natürlich morgen in eine Klinik rennen und deinen Schädel tomografieren oder von deinem Gerichtsmediziner dein Blut auf Drogen untersuchen lassen. Doch was, wenn beide Befunde negativ ausfallen? Wirst du dann einen Psychiater aufsuchen, der dich auf eine schizophrene Psychose untersuchen soll? Unsere Existenz lässt sich nicht beweisen. So wie du uns jetzt siehst, können uns nur wenige Menschen wahrnehmen, oder nur dann, wenn wir es wollen.«
»Ich verstehe, worauf das hinaus läuft.« Das konnte einfach nicht wahr sein. Ausgerecht ihm, einem Kriminalpolizisten, der sich auf Beweise und Tatsachen stützte, dem wissenschaftliches Arbeiten über alles ging, ausgerechnet von ihm, verlangten sie das: »Ich muss es einfach glauben, oder?«
»Wäre das denn so schlimm?«, wollte der Teufel wissen.
»Fragt mich ein Teufel?«, lachte Sonni bitter, »Und überhaupt, wieso vertragt ihr euch eigentlich? Engel und Teufel? Solltet ihr nicht erbitterte Todfeinde sein? Was ist mit Himmel und Hölle, Gut und Böse?«
»Oh bitte, nicht diese alte Leier«, grummelte nun der Engel, teleportierte zurück zum Sofa und lehnte sich demonstrativ freundschaftlich an Tim, den roten Teufel. »Weder ist Tim böse, noch erschafft er das Böse. Ganz nach Faust? Ein Geist, der stets verneint? Du darfst uns nicht mit dem verwechseln, was Religion und Kirche aus uns gemacht haben. Wir sind ebenso wenig Katholiken, wie wir Protestanten, Juden, Hindus, Yogis, Ismaeliten, Rastafari, Zorastristen oder gar Hermetiker sind. Wir sind weder Wicca, noch Druiden oder Konfuzianisten. Unser Wesen könntest du noch am ehesten als physische Manifestation abstrakter Konzepte, die wir Domänen nennen, beschreiben. Tims Konzept ist das Chaos, meines ist die Ordnung. Sind wir deswegen Feinde? Nein, denn ohne Chaos gäbe es keine Evolution, keine Entwicklung, Ideen oder Gedankenblitze. Doch ohne Ordnung gäbe es weder Strukturen noch Naturgesetze. Die Welt braucht beides – Ordnung und Chaos. Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Für gut und böse seid ihr selbst verantwortlich. Dafür braucht ihr uns nicht. Übrigens gibt es keine Hölle.«
»Und keinen Himmel«, fügte der Teufel schmunzelnd hinzu, »Was es gibt, sind eure Seelen und das, was ihr mit ihnen anstellt. Hölle und Himmel wählt ihr euch selbst. Ich komme nicht nach dem Tod, um die arme Sünderseele in die Untiefen meiner Hölle zu schleppen. Wie stellst du dir die Hölle denn vor: Morgens beginnt der Tag mit einem belebenden Lavabad, danach wird fleißig gegeißelt, zum Nachmittag dürfen dann junge Teufelchen die Sünder anknabbern und zu Abend veranstalten wir dann ein Festival aus Leid und Qual, um am nächsten Morgen von Neuem zu beginnen? Auf solch kranke Ideen können nur Priester kommen. Nein nein, so läuft das nicht. Ihr Menschen wisst ganz genau, ob ihr gut oder schlecht seid. Das braucht euch kein jüngstes Gericht erklären. Dabei geht es gar nicht um die großen Dinge wie Mord und Totschlag. Was meinst du, wie das ehrliche Selbstbild einer Unternehmensberaterin aussieht, die gerade in einem mittelständischen Unternehmen dreißig Prozent der Mitarbeiter entsorgt hat und dabei ganz genau weiß, dass sie damit viele Menschen in existenzielle Not bringt und verzweifeln lässt, weil sie nicht wissen, wie es weitergehen soll? Natürlich wird sie sich damit herausreden, nur einen Job zu machen und versuchen sich einzureden, dass ohne die Maßnahmen die Firma in ihrer Existenz gefährdet wäre, selbst dann, wenn es nur um eine Gewinnmaximierung ging. Doch am Ende weiß sie ganz genau, dass sie Böses getan hat und verdammt sich selbst. Dafür braucht sie mich nicht.«
»Und was ist mit mir?«, wollte Sonni wissen.
»Mit dir?«, antwortete Raphael zweideutig schmunzelnd, »Du hast ein kleines Problem. Du hast hinter den Vorhang geschaut und musst aufpassen, dass es sich nicht zum Handicap entwickelt. Andererseits besitzt du einen starken Charakter. Nimm die Welt, wie sie ist, lass dich einfach nicht verbiegen, und vor allem nicht unterkriegen.«
»Hm…«
»Hey, warum so miesepeterig. Du hast einen Engel und einen Teufel als Freunde. Wer kann das schon von sich sagen?«
»Freunde?«, fragte Sonni erstaunt.
»Na was dachtest du denn?«, lachte Raphael, »Du bist ein cooler Typ und ich mag dich richtig gern. Lass dich von meinen Flügeln nicht täuschen, ich bin auch ein Mann, der knackige Kerle zu schätzen weiß. Und wenn die dann auch noch etwas im Kopf haben und so gute Menschen sind wie du, warum sollte ich sie dann nicht meinen Freund nennen?«
»Was ist mit Gabe und Kevin?«, wollte Sonni wissen. »Er ist ein Engel wie du, oder?«
»Ja, Gabriel, wie er eigentlich heißt, ist einer meiner Engel und nein, er ist nicht der Erzengel gleichen Namens. Gabriel ist ein Schutzengel. Allerdings habe ich ein wenig den Eindruck, dass er sich in deinen Kollegen verguckt hat. Aber keine Angst. Gabe wird niemals etwas tun, das Kevin schaden könnte. Er erwartet nicht, dass Kevin seine Zuneigung erwidert. Im Zweifelsfall wird er einfach nur ein guter Freund sein.«
»Noch ein Freund?«
»Yupp!«, stimmte Tim zu und grinste Sonni auf eine Weise an, dass dem ziemlich warm wurde.
»Du flirtest nicht gerade mit mir?«, wollte er vom Teufel wissen.
»Ach, ist es dir aufgefallen?«, erwiderte der rote Kerl schelmisch, griff nach dem Haarband, das seine Dreadlocks zusammen hielt und zog es ab. Mit animalischer Kraft schüttelte er seinen Kopf und ließ die Strähnen herumwirbeln, was ihn mächtig geil aussehen ließ. Doch als er dann auch noch sein T-Shirt auszog, konnte Sonni nur noch schlucken. Bevor er aber etwas sagen konnte, machte sich der Fahrstuhl bemerkbar. »Ah, da kommt ja unser letzter Gast. Sonni, da ist jemand, mit dem du dich unterhalten und bei dem du dich vielleicht auch entschuldigen solltest.«
Dem kleinen Kontrolllämpchen in der Form eines nach unten zeigenden Pfeils unterhalb des Rufknopfs zufolge befand sich dessen Kabine erst auf den Weg nach unten, um den neuen Gast einzusammeln. Warum mussten Lastenaufzüge immer so enervierend langsam sein. Nach etlichen Sekunden monotonen Motorsurrens stoppte das Geräusch, das Kontrolllämpchen erlosch, um kurze Zeit später von einem ähnlichen Pfeillämpchen über dem Rufknopf abgelöst zu werden. Der Motor nahm sein Surren wieder auf, wenn auch in einer etwas anderen Tonlage. Gespannt starrte Sonni auf die Glasfenster der Fahrstuhltür. Bei wem sollte er sich entschuldigen? Die Warterei war einfach nur nervig. Erst nach mindestens einer Minute kündigte Licht hinter den Fenstern das Eintreffen der Kabine an. Zehn Sekunden später wurde die Tür aufgestoßen und Sonni erstarrte.
»Du?«
»Ja, ich«, erwiderte der Neuankömmling, bei dem es sich um niemand anderen handelte, als um den Jungen im Flammenwirbel. Auch jetzt war er vollkommen in Feuer eingehüllt, welches aber ruhig und eher schwach um seinen Körper züngelte. »Hallo Raphi«, grüßte er den Engel freundlich, um sich dann aber vor Tim zu verbeugen, »Meister, ich bin hier, wie Ihr es erwünscht habt.«
Der Meister sprang auf, eilte auf den brennenden jungen Mann zu und nahm ihn in den Arm, was dessen Flammen hell auflodern ließ und ihn und den Teufel komplett einhüllten.
»Felix, mein Junge.«, freute sich Tim und küsste den Feuermann, »Ich habe dir nicht befohlen zu kommen. Ich habe dich gebeten, weil ich dachte, dass es gut wäre, wenn unser Sonni hier erfährt, was und wer du bist.«
»Schlau, dass er vorher sein T-Shirt ausgezogen hast.«, bemerkte Raphael keck. Erst jetzt fiel Sonni auf, dass Tim nur noch seine Lederhose und Armbänder aus dem gleichen Material trug, »Es wäre nicht das erste Mal, dass er seine Klamotten in Asche verwandelt. Nun, ich lasse euch dann allein. Ich glaube, ihr kommt jetzt auch ganz gut ohne mich klar.«
Worauf sich der Engel erhob, breit grinsend in Richtung Fahrstuhl ging und Sonni verschwörerisch zuzwinkerte. Dem wurde ganz heiß, was aber nichts mit dem Flammen des Flammenmanns zu tun hatte, sondern einfach der Tatsache geschuldet war, dass er nicht wusste, ob er mit einem Teufel und einem brennenden Kerl allein sein wollte. Der rekelte sich genüsslich in der Feuersbrust und stöhnte dem Zündelmännchen ein »Mehr!« zu, was diesen veranlasste, den Turbobrenner einzuschalten. Mitten im Loft schoss eine scharf fauchende Feuersäule empor. Während Sonni vor der brennenden Hitze zurückweichen musste, schien sie überhaupt keinen Einfluss auf Möbel, Wand und Decke zu haben, ganz im Gegensatz zu Tim. Der Teufel wuchs. Innerhalb weniger Momente erfüllte ein drei Meter großes Wesen den Raum. Die schwarzen Tattoos, die seinen Körper umschlangen, verwandelten sich in funkelnde Feuerlinien und überstrahlten in ihrem goldroten Glanz sogar die Flammen Felix.
»Danke«, ertönte Tims Stimme donnernd und grollend, aber auch überraschend warmherzig. Felix, der Feuerwichtel, nickte kurz und das Inferno erlosch. Zurück blieben ein sympathischer junger Mann und ein Teufel, der wieder auf Normalgröße geschrumpft war. Seine Tattoos glimmten allerdings immer noch, was Sonni gleichzeitig unheimlich aber auch ausgesprochen erregend fand.
»Felix, dies ist Kriminalkommissar Sonni Lundkvist, ein Mensch. Sonni, dies ist Felix Seifert, ein echter Schöneberger Junge und leibhaftiger Ifrit.«
»Ifrit?«, wollte Sonni wissen, dem der Begriff rein gar nichts sagte.
»Das ist arabisch und vom Wort Staub abgeleitet. Ich bin ein Feuerdämon.«, erklärte Felix. »Ich wusste nicht, dass du mich sehen, richtig sehen kannst.«
»Felix, ich muss mich bei dir entschuldigen. Ich bin hinter dir her, ohne zu wissen, warum. Ich weiß nicht, was dir Tim und Raphi über mich erzählt haben. Ich weiß auch nicht, ob du mich bemerkt hast, aber wir haben beide letzten Samstag im gleichen Laden gefrühstückt. Ich war von meinem Fall noch etwas angeschlagen, als plötzlich – wenn ich tatsächlich glaube, was mir Tim und Raphi erzählten – irgendeine schlafende Fähigkeit in mir eingeschaltet wurde, die mir erlaubt, euch sehen zu können. Du warst der Erste, bei dem es passierte. Ich weiß nicht, ob du mich bemerkt hast. Aber ich… komisch, bis jetzt hatte ich das Erlebnis komplett vergessen. Du hast in einer Ecke gesessen und… plötzlich veränderte sich meine Wahrnehmung. Ich sah alles in Rot- und Brauntönen und du… du standest in Flammen. Ein paar Sekunden später war die Welt wieder normal und diese andere Erfahrungswelt nur noch ein dumpfes Erinnerungsfragment. Aber selbst wenn ich mich nicht mehr an das Erlebte erinnern konnte, blieb ein unbestimmtes Gefühl der Bedrohung. Als ich dich dann in Raphis Club sah und du mich durch den halbdurchlässigen Spiegel sehen konntest, ging der Bulle mit dir durch. Sorry, ich weiß nicht, warum ich hinter dir her bin. Aber wenn wir schon dabei sind, was ist eigentlich passiert. Du bist auf mich los und… von da an habe ich einen Filmriss, der erst endet, nachdem mich Kevin und Gabe später fanden.«
»Ich glaube, das kann ich erklären.«, mischte sich Teufel Tim ein. »Ich habe dich schlafen gelegt. Nachdem du im vollen Jagdfiber aus seinem Club gestürmt bist, hat mich Raphael angerufen, damit ich mich um dich kümmere. Die Sache hätte unschön enden können, wäre ich nicht im letzten Moment zu euch gestoßen. Ich habe dich schlafen gelegt und dir noch den kleinen mentalen Befehl eingepflanzt, nach der Visitenkarte zu suchen.«
»Dann war mein Besuch heute kein Zufall?«
»Nein, war er nicht.«, gestand der Teufel. »Nach der Sache mit Felix waren Raphael und ich uns einig, dass wir dich unmöglich weiter in der Weltgeschichte rumlaufen lassen und unschuldige Dämonen belästigen konnten.«
»Es tut mir ja Leid.«, flehte Sonni, der sich fürchterlich dafür schämte, Felix ohne Grund nachgestellt zu haben. »Ich habe es nicht böse gemeint. Was weiß ich von Engeln, Teufeln und Dämonen?«
»Es ist okay. Dir sei verziehen.«, meinte Felix und zeigte Sonni erstmals ein freundliches Lächeln. »Hand drauf?«
»Ähm…«, kam es vom Sonni, der die ihm gereichte brennende Hand argwöhnisch betrachtete und nicht so recht wusste, ob es eine schlaue Idee war, dem flammenden Junge allzu nahe zu kommen.
»Trau dich!«, bemerkte Tim, dem Sonnis Zweifel nicht entgangen waren, »Felix ist ein Feuerdämon, der muss brennen. Aber vertrau mir, er wird dich nicht verbrennen.«
Hin- und hergerissen zwischen Neugier und Furcht streckte Sonni seine Hand ganz vorsichtig und langsam aus. Je näher er Felix dargereichter Hand kam, desto mehr fühlte er die Hitze der sich um sie ringelnden Flammen. Der Begriff Gluthitze kam Sonni in den Sinn. Doch im krassen Gegensatz zu einem normalen Feuer brannte dieses Feuer nicht, obwohl es mehr als heiß genug schien. Selbst als Sonni allen Mut zusammennahm, Felix Hand ergriff und die Flammen nun auch seine Hand umspielten, fühlte es sich zwar extrem heiß, geradezu glühend heiß an, verbrannte ihn aber nicht. Die Flammen leckten über seinen Handrücken und ringelten sich um sein Handgelenk. Es war höllisch heiß. Eigentlich war es dermaßen heiß, dass Sonni vor Schmerzen brüllend seine Hand zurückziehen müsste. Doch ganz im Gegenteil entfachte dieses spezielle Feuer ganz andere, nämlich sehr erregende Gefühle. Das immaterielle Plasma schien Sonni zu streicheln und zu liebkosen, statt zu verbrennen.
»Wie Tim schon sagte, ich bin ein Ifrit, ein Feuerdämon.«, erläuterte Felix und sah Sonni dabei tief in die Augen, »Was du siehst und fühlst, ist kein normales Feuer. Es ist das Feuer meines dämonischen Wesens. Cool was?«
Cool war nicht direkt der Begriff, der Sonni durch den Kopf ging. Eigentlich war dieser Felix gar kein so unebener Typ. Je mehr Sonni mit der Situation warm wurde, Teufeln, Engeln und Dämonen leibhaftig begegnet zu sein, desto sympathischer wurden ihm sein Gastgeber und dessen nichtmenschlicher brennender Gast. Vielleicht war es an der Zeit, althergebrachtes Wissen zu überdenken. Oder doch nicht? Ein Teufel war schließlich ein Teufel? Und dieser Teufel…war verdammt nett! Sonni fluchte innerlich. Tim und Felix gefielen ihm. Bisher konnte er sich immer auf seine Menschenkenntnis verlassen und die sagte ihm, dass die beiden Potenzial hatten. Stellte sich die Frage, ob in diesem Fall einfache Menschenkenntnis ausreichte oder ob nicht viel mehr Dämonenkenntnisse gefragt waren.
»Oh, das hätte ich fast vergessen«, klopfte sich Tim mit seinen Fingern gegen den Schädel, streifte sich das zuvor entledigte T-Shirt über und sprang in Richtung Lastenaufzug, »Wartet bitte kurz auf mich. Ich bin gleich zurück. Sonni, versuch in der Zwischenzeit auf deine menschliche Sehweise zurückzuschalten.«
Und wie? Sonni sah seinem Gastgeber mit ratlosem Ausdruck im Gesicht nach, was den Feuerwirbel neben ihm zum kichern brachte.
»Lach nicht«, knurrte Sonni, »Hilf mir lieber! Wie schalte ich das wieder ab?«
»Woher soll ich das wissen? Ich bin ein Dämon.«, erwiderte der Ifrit, als ob dies irgendetwas entschuldigen würde. »Aber vielleicht musst du nur umkehren, was du gemacht hast, um unser reales Wesen sehen zu können.«
Der Vorschlag klang gar nicht so dumm. Um Teufel, Engel und Dämon zu sehen, musste Sonni sich vorstellen, eine Folie von seinen inneren Augen fort zu ziehen. Vielleicht musste er sich nun vorstellen, diese Folie wieder über seinen Blick zu ziehen. Und tatsächlich: Mit mentalen Zupfern an den Rändern seines Sichtfeldes gelang es, eine Art Schleier oder Klarsichtfolie zwischen seine Augen und sein Gehirn zu platzieren und schon wurde aus einem munter brennenden Dämon ein eigentlich ganz sympathisches Kerlchen, das frech und provozierend grinste.
»Na Bulle, hats geklappt. Zurück aus dem Märchenland?«
»Scheint so«, erwiderte Sonni, musterte den frechen Felix und meinte dann, »Jedenfalls teilweise. Ich kann immer noch erkennen, dass du kein Mensch bist. Es ist eine Art Aura um dich, die einfach anders ist.«
»Damit wirst du leben müssen, Bulle.« Versuchte der Typ ihn anzumachen?
»Sonni, nicht Bulle.«, meinte der Bulle freundlich.
»Ähm, Sonni… War nicht so gemeint. Ich bin Felix.«, erwiderte Felix, der von provozierend auf verlegen wechselte. Seine Klappe war dann wohl doch nicht so groß, wie es den Anschein erwecken wollte. Sonnis Menschenkenntnis schlug wieder zu und extrapolierte Felix Verhalten ins dämonische. Warum sollte ein Ifrit nicht genauso schüchtern oder unsicher sein und dies mit der gleichen Großmäuligkeit versuchen zu verbergen, wie jeder andere auch.
»Hallo Felix, es freut mich, dich kennenzulernen.« Sonni war ganz in seinem Element: Vertrauen aufbauen und kommunizieren. Seine Polizistengene schlugen zu. Was aber nicht bedeutete, dass er unlautere Absichten verfolgte. Ganz im Gegenteil wollte er nicht mehr, als Felix kennenlernen. »Und Felix, was machst du, wenn du nicht gerade ein Dämon bist?«
»Ich?«, freute sich der junge Mann, dass jemand am Rest von ihm interessiert war und nicht alles auf sein dämonisches Wesen reduzierte, »Ich studiere Chemie an der FU. Momentan sind aber Semesterferien. Tim, mein Meister, finanziert mir das Studium.«
»Meister?«
»Vater, Familienoberhaupt, Schöpfer, Meister, Herr, Fürst… such dir etwas aus. Er hat mich gewissermaßen erschaffen, mich und massenweise andere Typen. Für euch Menschen dürften wir einen ziemlich schrägen Zoo voller merkwürdiger Viecher abgeben. Die meisten Typen treiben sich aber auf der anderen Seite rum und kommen nicht in eure Welt. Mir war drüben langweilig und Tim meinte, ich könnte gerne ein Leben als Mensch verbringen. Jetzt bin ich seit 25 Jahren hier und kann nur sagen: mir gefällts. Ihr habt eine schöne Welt, obwohl ihr euch alle Mühe gebt, sie zu ruinieren.«
»Das heißt, du bist ein echter Mann?«
»Hallo?«, rief Felix entrüstet, »Soll ich dir etwa meinen Schwanz zeigen? Klar bin ich ein Kerl, ein schwuler Mann, um es genau zu nehmen. Was du sehen kannst ist mein Geist, meine Seele, meine Essenz oder wie auch immer du es ausdrücken willst. Körperlich bin ich ein Typ, mit allem drum und dran.«
»Nett«, flirtete Sonni unverbindlich. »Nimm meine Fragen einfach nicht zu ernst, du bist immerhin der erste Chemiestudent, dem ich begegnet bin.«
Diese Antwort brachte Felix völlig aus dem Konzept. Statt sofort etwas zu entgegnen, glotzte er Sonni fassungslos an, runzelte die Stirn und musste dann entspannt und ziemlich erleichtert grinsen: »Ich glaube, ich beginne dich zu mögen, du Mensch!«
»Oh, das beruht auf Gegenseitigkeit, du Dämon.«, frotzelte Sonni gut gelaunt zurück.
»Ah, wie schön«, hörten die beiden Tim, der gerade aus dem Lastenaufzug trat. »Wie ich sehe, kommt ihr zwei ganz gut miteinander aus. Hier Sonni, das ist für dich. Ich war so frei, während deiner Auszeit im Tierpark deine Maße zu nehmen. Probier sie gleich mal an.«
Was mit diesen Worten in Sonnis Händen landete, war nicht weniger als eine meisterhaft gefertigte Lederhose im ganz klassischen Jeansstil ohne Schnürungen oder anderen Kinkerlitzchen. Es war einfach eine ehrliche Hose aus zwar robustem, aber auch feinnarbigem und handschmeichelndem weichem, schwarzem Leder. Tim Teufel hatte für dieses Stück definitiv nicht die letzte Kuhhaut aus der Restekiste verwendet. Von seiner eigenen Hemmungslosigkeit und Mangel an Schamgefühl überrascht, entledigte sich Sonni seiner textilen Beinkleider und schlüpfte in die anfangs kühle Rinderhautvariante. Die Lederhose saß perfekt, was den Mann im Teufel zu einem zufriedenen »Lecker« veranlasste, während er den lederbehosten Polizisten aus diversen Blickwinkeln betrachtete.
»Ich will mich ja nicht selbst loben, aber die Hose sitzt wie angegossen.«, bemerkte der Lederschneider zufrieden. »Wie fühlte sie sich an?«
»Ehrliche Antwort?«, fragte Sonni rhetorisch und gab auch gleich die Antwort. »Geil, richtig geil. Du verstehst dein Handwerk, Tim.«
»Mehr als du denkst.«, erwiderte dieser kryptisch und warf Felix einen auffordernden Blick zu, »Wärst du so nett?«
Der ließ sich nicht zweimal bitten, trat auf Sonni zu und tat etwas, das auch leicht als sexueller Übergriff gewertet werden konnte: Er strich mit festem Griff über die Beine der Hose und sparte den Schritt dabei alles andere als aus, was bei Sonni zur Versteifung unterschiedlichster Glieder führte.
»Hey, so gut kennen wir uns auch noch nicht, dass… oh!«, unterbrach Sonni seine Protestkaskade genau in dem Moment, als sein Blick auf die Bereiche des Leders fiel, über die Felix Dämonenhand gerade gestrichen hatte. Das schwarze Leder glühte. Nein, nicht das Leder. Sonni schaute genau hin und entdeckte hauchdünne Linien im Leder, die sich um die gesamte Hose schlängelten. Zusammengenommen bildeten sie ein Meer dämonisch-teuflischer Symbole und Schriftzeichen.
»Diese Hose ist mehr als ein einfaches Kleidungsstück«, erklärte Tim und brachte mit seiner ernsten Stimme Sonni wieder zurück zum unerfreulichen Thema der grausamen Todesfälle, »Ich sage es nur ungern, aber Raphael und ich sind uns einig und sicher, dass du bei deinen Ermittlungen in gefährliche Situationen geraten wirst. Wenn dies passiert, wird dich die Hose vielleicht schützen können. Sie ist ein Talisman und trägt die Insignien meiner Domäne. Jeder Engel, jede rechtstreue Fee, jeder Vampir, Dämon, Werwolf oder Teufel wird sie sehen und wissen, dass du nicht nur unter meinem Schutz stehst und damit unantastbar bist, sie werden dich auch beschützen und dir zu Hilfe eilen, sollte dies notwendig sein. Ansonsten sollten die Verteidigungszauber, die ich in das Leder gewirkt habe, einen gewissen Schutz gegen Verfluchungen oder Beschwörungen darstellen. Da du aber wohl kaum ständig mit dieser Hose rumlaufen kannst, habe ich hier noch ein paar andere Dinge, die dir hoffentlich helfen können.«
Woraufhin Tim Sonni ein Lederarmband und ein dünnes Lederbändchen mit kleinem Amulett reichte.
»Die Lederhalskette solltest du immer tragen. Sie ist klein genug, um unter deiner normalen Kleidung nicht aufzufallen. Lass dich aber von ihrer Größe nicht täuschen. Das Amulett ist ziemlich potent, wenn auch nicht ganz so sehr, wie die Hose. Gleiches gilt für das Armband, wenn auch auf andere Weise. Ich wollte ich könnte dich auf die Schnelle besser ausstatten, aber das muss bis zu deinem nächsten Besuch warten.«
»Was wird mich erwarten?«
Statt auf Sonnis Frage sofort zu antworten, musterte der Teufel seinen menschlichen Gast nachdenklich und auch ein wenig besorgt. Erst nach einer guten Minute rang er sich zu einer Antwort durch.
»Ich kann es dir nicht sagen, weil ich nicht weiß, wogegen und gegen wen wir kämpfen. Die Talismane werden dich auf jeden Fall vor dem Guhl schützen, sollten sich eure Wege kreuzen. Er wird sich der Macht meiner Worte beugen, die ich in das Leder gewirkt habe und dich nicht anrühren. Dies gilt aber nicht für denjenigen, der ihn beschwor.«
»Ich verstehe«, meinte Sonni nun selbst nachdenklich. Die Wirklichkeit hatte ihn wieder voll in ihrem Bann. »Ich werde vorsichtig sein und versuchen, immer einen der Talismane bei mir zu haben. Aber wenn ich hier schon zwei Profis für derartige Dinge vor mir habe, könntet ihr mir vielleicht erklären, womit wir es bei zwei anderen Todesfällen zu tun haben, die im Zusammenhang mit dem Guhl stehen.«
»Es gibt weitere Todesfälle?« Bei Tim Teufel blitzte Alarmiertheit auf, wenn er sich auch alle Mühe gab, seine Beunruhigung zu verbergen. »Warum hast du mir davon bisher nichts erzählt?«
»Ich bin Kriminalpolizist. Ich kannte dich nicht. Ich will nicht sagen, dass ich dich jetzt kenne, aber immerhin bin ich gewillt, dir ein Stück weit zu vertrauen.«
»Nett von dir«, erwiderte Tim, behielt aber seinen besorgten Unterton bei. »Wir, Felix, Raphael, Gabriel und ich werden alles tun, um uns deines Vertrauens würdig zu erweisen.«
»Du brauchst jetzt nicht melodramatisch werden.« Sonni schmunzelte, doch der teuflische Lederschneider reagierte anders, als gedacht. Statt ebenfalls zu lächeln wurde er noch ein Stückchen ernster.
»Sonni Lundkvist, bitte sei sehr, sehr vorsichtig. Ich mag in meiner Domäne ein mächtiges Wesen sein, so wie Raphael in seiner. Doch in deiner Welt gibt es Regeln, die wir einhalten müssen. Den Guhl, solltest du ihn finden, kann ich mit einem Fingerschnippen, mit einem einzigen Gedanken zurück in mein Reich befördern. Aber wenn es um Menschen geht, ist mein Einfluss gering. Es gibt Ausnahmen, aber drauf solltest du nicht bauen. Sonni, ich mag dich und möchte nicht, dass dir etwas passiert. Deswegen ist es sehr wichtig, dass du mir alles ganz genau erzählst.«
War es der unheimliche Ernst in der Stimme des Höllenfürsten, oder war es das beiläufige Geständnis, Sonni zu mögen? Was es auch immer war, das Sonni veranlasste, den Vorfall mit Trollmann und POM Ott zu schildern, es zeigte Wirkung. Je mehr der Kriminalkommissar erzählte, desto ernster wurde der Teufel und desto nervöser der Ifrit. Als dann auch noch die Sprache auf Hotte Mälzers Schwierigkeiten kam, das Objekt zu analysieren, das mutmaßlich für Polizeiobermeister Otts Freitod verantwortlich war, flammten Tims Augen in einem bedrohenden Dunkelrot auf. Im Teufel brodelte es.
»Du hast etwas gesehen, oder?«, wollte er von Sonni wissen.
Der nickte und schilderte von den wispernden Kinderstimmen und dem dunklen Gespinst, das von Ott Besitz ergriff, kaum dass er das Objekt aufgesammelt hatte.
»Du weißt, worum es sich handelt, oder?«
»Ja, ich weiß es.« Tim Teufels Stimme grollte und donnerte, obwohl er ganz leise sprach. Ein finsterer Schatten breitete sich auf seinem Gesicht aus. Es war zwar schon später Nachmittag, allerdings herrschte ein wolkenloser Himmel, der die Sonne ungehindert in Tims Loft scheinen ließ. Trotzdem hatte Sonni den Eindruck, dass sich das Licht um ihn verfinsterte, was ihm überhaupt nicht gefiel.
»Lalyo«, flüsterte Tim, woraufhin Felix zusammenzuckte.
»Die Nacht?«, fragte Sonni nach.
»Du kannst aramäisch?«, hakte nun wieder Tim nach und ließ Sonni irritiert drein schauen, der verwirrt mit einer Gegenfrage antwortete »Ich spreche kein Aramäisch. Oder doch? Ist Lalyo aramäisch?«
»Ja, ist es. Und es bedeutet nichts Gutes. Lalyo, die Nacht, ist ein Fluch, ein ausgesprochen grausamer und tödlicher Fluch. Er zwingt seine Opfer dazu, sich bei vollem Bewusstsein umzubringen. Dieses dunkle Gespinst… es ist der Fluch. Deine Fähigkeit, übersinnliches wahrnehmen zu können erlaubte dir, ihn zu erkennen und zu sehen, wie er wirkt. Sonni, das ist finstere, grausame und absolut abscheuliche Hexerei – menschliche Hexerei, die sich Dingen aus meiner Welt bedient. Deswegen konnte dein Kriminaltechniker weder die Masse des Trägerobjekts bestimmen, noch ein Foto davon anfertigen. Es gehört nicht in eure Welt.«
»Trägerobjekt? Fluch?«
»Flüche müssen nicht ausgesprochen werden. Ein begabter Hexer kann ihn auch an Objekte binden. Jeder, der sie berührt, den erwischt es. Das funktioniert aber nur mit einfachen Verwünschungen: Schnupfen, ein paar Tage Pech oder auch Glück. Für den Lalyo hingegen sind magische, das heißt übernatürliche Trägerobjekte notwendig, was heißt, dass jemand oder etwas Dinge aus meiner in die deine Welt schmuggelt. Die Sache ist ernster, als wir bisher dachten. Sonni, ich möchte dich bitten, mich zu begleiten.«
»Wohin denn?«
»Wohin? In die Hölle natürlich!«
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