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Cev, der türkische Austauschstudent

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Mit einem Plastikbecher Rotwein schlängelte ich mich durch die menschenüberfüllte Wohnung, stellte mich hier und da zu den Leuten, wechselte ein paar unbedeutende Worte. Laute Musik und Stimmengewirr füllten die engen Räume, Lichterketten blinkten in schrillen Farben. Die WG-Party von Enno und Dennis war im vollen Gange. Aber noch hatte ich meinen Platz hier nicht gefunden. Meinen Platz, an dem ich die nächsten Stunden verbringen wollte – mit netten Leuten, Chips und dem einen oder anderen Getränk. Umso glücklicher war ich, als ich im Menschengetümmel in der Küche meine Lieblingskassiererin aus dem Supermarkt um die Ecke entdeckte. Ja, auch vereinzelte Frauen fanden sich auf dieser Party, manche von ihnen waren sogar hetero. Ich sprach sie einfach an. Sie entpuppte sich als Physikstudentin kurz vor dem Diplom und als äußerst fröhlicher Mensch. Ihr Name war Kerstin. Auch ich war ihr schon als treuer Kunde im Supermarkt aufgefallen. Immer wenn ich zu ihr an die Kasse ging, lächelten wir uns an. Wahrscheinlich hat sie mein Lächeln mehr als nur einmal als heimlichen Flirtversuch interpretiert. Nur gut, dass sie mich jetzt auf dieser Party traf. Nun konnte sie – hoffentlich – eins und eins zusammenzählen und sich denken, dass ich an Frauen nicht interessiert war, zumindest nicht was die Liebe anging.

Seit über einem halben Jahr war ich nun wieder Single. Mit 28 Jahren sollte man langsam mal einen Partner fürs Leben gefunden haben. Doch gilt das auch für Schwule? Eigentlich war ich in dieser Frage immer recht zuversichtlich. Von meinem Erscheinungsbild fand ich mich zumindest ganz akzeptabel: Student der Biologie, 1,81m groß, schlank, grüne Augen, kurze blonde Haare, ein kleines Bärtchen am Kinn, ein nettes Lächeln. Ich war eine treue Seele und konnte äußerst gut küssen. Das wurde mir schon mehrfach bestätigt.

Plötzlich klingelte es unten an der Eingangstür. Kerstin und ich zuckten zusammen, da wir direkt unter der altertümlichen Klingelglocke standen, die an der Küchenwand befestigt war. Nachdem wir auf den Schreck erst einmal lachen mussten, streckte Kerstin ihre Hand durch die Küchentür und betätigte den elektrischen Türöffner im Flur. Wenig später wurde von anderen Partygästen die Wohnungstür auf unserer Etage geöffnet. Durch die offene Küchentür konnte ich gut verfolgen, dass ein paar neue Partybesucher hereinströmten. Unter ihnen befand sich ein Austauschstudent aus Griechenland, der auch schwul war und den ich schon manchmal auf dem Campus gesehen hatte. Und er hatte jemanden mitgebracht. Seine Begleitung schien ebenfalls ein Austauschstudent zu sein, vom Aussehen her allerdings eher aus der Türkei. Er war mir bisher noch nirgendwo aufgefallen. Das sollte sich nun ändern, denn etwas Unerwartetes geschah. Als hätte er meinen Blick gespürt, schaute er plötzlich in meine Richtung. Unsere Blicke zogen sich an, trafen sich und ließen sich seltsamerweise für einige Momente nicht mehr los – für einige Momente länger, als sich üblicherweise zwei unbekannte Menschen in die Augen sehen. Dieser Augenblick währte solange, bis er und die anderen neuen Gäste von Enno und Dennis entdeckt wurden, denn nun wurden sie überschwänglich begrüßt, umarmt und schließlich ins Wohnzimmer gezerrt. Ich stand noch immer in der Küche und versuchte mich in die Wirklichkeit zurückzuholen. Ich richtete meine Aufmerksamkeit nun wieder voll und ganz auf Kerstin, die immer noch begeistert erzählte. Sie hatte von dem geheimnisvollen Augenblick gerade eben nichts bemerkt.

Es wurde später und der Wein entfaltete zunehmend seine Wirkung. Kerstin war bereits gegangen und ich fuhr mich mit Roland, einem diskussionsversessenen Bekannten, in einem erhitzten Gespräch über die Wehrpflicht und unsere Erfahrungen mit der Verweigerung fest. Weiß der Rotwein, wie wir auf dieses Thema kamen! Er erzählte mir, dass Homosexualität für junge Männer in der Türkei angeblich als Grund anerkannt werde, vom Militärdienst befreit zu werden. Allerdings sei der Verweigernde in der Beweispflicht. Er müsse zur Musterung ein Beweisfoto mitbringen, auf dem er in passiver Rolle beim männlichen Geschlechtsverkehr eindeutig zu identifizieren sei! Ich ließ mich von dieser Geschichte ganz und gar nicht überzeugen und machte dies mehr als deutlich.

Wie durch ein Zufall kam genau zu diesem Zeitpunkt der Austauschstudent, mit dem ich vorhin diesen geheimnisvollen Blickkontakt hatte, zu uns in die Küche. Roland kannte den gutaussehenden Unbekannten anscheinend schon, denn er zog ihn kurzerhand am Ärmel zu uns heran und forderte ihn auf, mir sofort zu bestätigen, was über die Verweigerungspraxis in der Türkei erzählt wird. Und zu meiner Überraschung tat dieser das auch, indem er mich mit treuen Augen anschaute und nickte. Dann fragte er mich, ob er auch auf Englisch reden könnte, was ich bejahte, und fing gleich darauf an, Roland und vor allem mir ausführlich zu berichten, welche einfallsreichen Fotografiertechniken einige türkische Männer entwickelten, um dem Militärdienst zu entgehen. Er unterstrich seine Erzählungen mit einer temperamentvollen, aber dennoch gewählten Gestik. Ich konnte das soeben Gehörte immer noch nicht glauben. Roland und der Austauschstudent – er kam also tatsächlich aus der Türkei – redeten immer stärker auf mich ein und versuchten mich zu überzeugen.

Was sie aber nicht wussten war, dass ich die Gelegenheit dazu nutzte, mir meinen neuen Bekannten einmal genauer anzusehen. Er war in etwa so groß wie ich, schlank und sportlich, seine mit Gel gestylten Haare waren so schwarz wie die Nacht. Er trug einen Dreitagebart, hatte ein Piercing an der rechten Augenbraue und sehr schöne, geschwungene Lippen. Seine Haut hatte diese gleichmäßige Naturbräune, wie Südländer sie haben. Dazu hatte er grüne Augen, die allerdings von tiefschwarzen, dichten Wimpern umgeben wurden. Dieser Kontrast übte eine unerklärliche Magie auf mich aus. Kein Zweifel, hinter diesen frühlingsgrünen Augen versteckte sich orientalisches Feuer. Er trug eine dunkle Hose und einen schwarzen Gürtel mit Silbernieten. Dazu ein enges dunkles Hemd, dessen obere Knöpfe nicht geschlossen waren. Ich konnte seine starke Brustbehaarung erkennen, die er sorgfältig auf einige Millimeter gestutzt hatte. Darüber hing der Anhänger seiner Halskette. Es war eine dieser „ID Dog-Tags“, also eine dieser silbernen Plaketten mit eingravierten Nummern und Buchstaben, wie sie von Soldaten im Bodenkrieg getragen werden. Der Anblick dieser Kriegsplakette holte mich schlagartig in unser Gespräch zurück – es ging schließlich immer noch um Kriegsdienstverweigerung!

„What’s your name?“, frage ich meinen neuen türkischen Bekannten.

„Cevat. But you can say Cev. And your’s?“

„Lars, only Lars.“

„Okay, Lars.“

Er gab mir die Hand und lächelte mich an.

Zu diesem Zeitpunkt war mir nicht klar, dass Cev sich bereits in mich verknallt hatte. Ich fand ihn zwar sehr gutaussehend – fast zu gutaussehend – aber er entsprach eigentlich gar nicht meinem gewohnten Typen. Trotzdem übte er nach wie vor eine unerklärliche Magie auf mich aus. Lag es an seinen geheimnisvollen Augen? An seiner tiefen Stimme? Oder lag es daran, dass er mich darin herausforderte, mich auch im angetrunkenen Zustand noch in der englischen Unterhaltung zu beweisen? Woran es auch immer lag, es änderte nichts daran, dass das Thema Kriegsdienstverweigerung irgendwann ausdiskutiert war. Und da ich mich vor meinem neuen Bekannten nicht länger mit meinen rotweingetränkten Vokabelkenntnissen blamieren wollte, klinkte ich mich höflich aus dem Gespräch aus und schlich ins Wohnzimmer.

Dort war leider nicht mehr viel los. Meine Gesprächspartner kamen mir bald aufgrund von nicht zu übersehender Müdigkeit abhanden. Ich blieb zurück, steckte mir ab und an einen Kartoffelchip in den Mund und grinste unsicher durch die Gegend. Vermutlich raubte der doch schon spürbare Alkoholpegel meiner Gestik und Mimik mittlerweile jegliche Attraktivität. Ich sollte nach Hause gehen. Plötzlich kam Cev ins Wohnzimmer. Er schaute sich um, entdeckte mich und kam zu mir. Er glaubte, ich habe mich vorhin aus unserem Gespräch ausgeklinkt, weil mich das Thema gelangweilt habe. Er entschuldigte sich dafür:

„Sorry, jetzt haben wir die ganze Zeit nur über Politik gesprochen.“ Er klang wie ein getretener Hund.

„Nein, nicht doch!“, entgegnete ich. „Ich unterhalte mich gerne über Politik!“ Ich fragte ihn, was genau er machen würde. Cev studierte an der Uni Molekularbiologie. Seit zwei Monaten war er nun in Deutschland und seit knapp einem Monat 27 Jahre jung. Stille. Was sollte ich nun fragen? Mir fiel sein Begleiter ein. „Dieser griechische Austauschstudent...“, begann ich. Cev schaute sich unauffällig zu ihm um und wusste sofort, von wem ich sprach. „...ist das dein Freund?“

„Wieso?“, frage Cev, „möchtest du ein Date mit ihm haben? Er ist leider vergeben. Hat seit vielen Jahren einen Freund in Griechenland. Und er ist treu.“

„Nein nein...“, stammelte ich, „ich dachte nur, dass ihr zusammen seid.“ Zu meiner Überraschung erzählte er mir, dass er im Moment solo sei. „Hattest du schon mal einen Freund in der Türkei?“, fragte ich ihn.

„Ja.“, sagte er.

Stille.

Ich fing an, nervös zu werden. Er ergriff beherzt das Wort und erzählte, dass er darauf hoffe, ein Stipendium für ein Medizinstudium in Berlin zu bekommen. In der Türkei hatte er Medizin studiert und in einem Krankenhaus gearbeitet. Während er mir das erzählte, fiel mir wirklich nichts mehr ein, was ich ihn noch hätte fragen können. Mein Kopf war leer. Und ich spürte den Wein. Ich drohte mich ganz schrecklich zu blamieren, wenn ich entweder gar nichts sagen würde, ihn nur ratlos anstarren oder doch noch versuchen würde, mich weiter mit ihm zu unterhalten. Denn das konnte nur nach hinten losgehen.

„Ich glaube ich muss jetzt nach Hause.“, sagte ich.

Aber was war das? Konnte ich da gerade Enttäuschung in Cevs Gesicht erkennen? Das muss ich mir wohl eingebildet haben. Ich versuchte mich von ihm zu verabschieden, indem ich ihm unbeholfen die Hand reichte. Zu meiner Überraschung nahm er mich aber ganz instinktiv in den Arm und drückte dabei seinen Kopf an meine Schulter. Ganz sanft konnte ich seinen Atem in Nacken spüren. Hmm, das fühlte sich jetzt aber gut an.

Auf dem Weg nach Hause musste ich natürlich über meinen neuen türkischen Bekannten nachdenken. Cevat. Ein schöner Name. Wie der eines antiken Romanhelden mit einem großen Schwert. Bei dieser kitschigen Vorstellung musste ich grinsen. Und wie fühlte sich die Vorstellung an, dass wir uns küssen? Die Vorstellung fühlte sich gut an! Und dass wir ein Paar werden? Das konnte ich mir nicht so richtig vorstellen, obwohl mir der Gedanke irgendwie gefiel. Zudem war die Vorstellung abwegig, denn Cev hätte nun wirklich mit jedem zusammen sein können.

Schon am nächsten Morgen durchsuchte ich zu Hause am Notebook das Studiverzeichnis. Ich fand Cev unter Ennos Freunden. Viel tat sich auf seinem Profil nicht. Die Pinnwand war bis auf wenige türkisch verfasste Grüße von ein paar Freundinnen fast leer. Unter seinen wenigen Kontakten fand ich besagte Freundinnen aus der Türkei, einige gemeinsame Bekannte wie Enno und Dennis und ein paar aufgemotzte junge Gaytypen aus der Münsteraner Gegend. Gegen die fühlte ich mich wie ein Mauerblümchen. Auf seinem Profilbild schaute Cev den Betrachter ziemlich arrogant an, nämlich mit böser Miene, seitlich und von oben herab. Das weckte natürlich meinen Ehrgeiz. Na warte, dich krieg’ ich schon!, dachte ich mir. Schon bald stellte sich heraus, dass es in Wahrheit genau umgekehrt sein sollte. Aber das war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst. Ich schrieb ihm eine Nachricht: Es sei schön gewesen, ihn kennengelernt zu haben. Schon wenige Tage später kam eine Antwort, für deren Formulierung in meiner Muttersprache Deutsch er sich offenkundig viel Mühe gegeben hatte, was ich sehr süß fand. Er fand es auch schön, mich kennengelernt zu haben und er fügte hinzu: „ich würde mich freuen auf dich wieder zu sehen.“ Gleichzeitig hatte er sich ein neues Profilbild zugelegt. Das arrogante flog raus, ein freundliches erschien, auf dem er ein kleines Kind auf seinen Armen hielt. Seine nächste Nachricht ließ nicht lange auf sich warten. Mit dieser schickte er mir unaufgefordert seine Handynummer und fragte, ob wir uns nicht heute oder morgen noch sehen könnten. Puh, das sollte aber schnell gehen. Ich musste mich da gedanklich doch erst noch mit befassen! Na gut. Ganz spontan schrieb ich ihm eine SMS und wartete, was er wohl antworten würde. Wenige Sekunden später fing auch schon mein Handy an zu klingeln! Es ertönte „Leila“ von Derek & The Dominos. Aber halt! Das war nicht mein SMS-Ton, sondern der Anruf-Ton! Cev! Ich nahm das Gespräch mit klopfendem Herzen an, gab mich aber ganz cool. Er erzählte mir auf englisch, was bei ihm so los war und fragte mich anschließend, ob wir uns nicht sehen könnten. „Okay.“, antwortete ich immer noch ganz cool und fing innerlich zu hüpfen an. Wir vereinbarten, dass ich ihn im Studentenwohnheim besuchen kommen sollte. Ich machte mich zurecht und fuhr gleich los.

Angekommen am Wohnheim stellte ich mein Fahrrad im Hinterhof ab und legte auf den letzten Schritten zum Gebäude einen sicheren und selbstbewussten Gang ein. Es konnte ja schließlich sein, dass er mich aus einem der vielen hundert Fenster schon beobachtete! Vor der Haustür holte ich mein Handy heraus und rief ihn an, statt in der Armee der Klingelknöpfe endlos nach dem richtigen zu suchen. Er ging ran und ahnte schon, was zu tun war, denn ich hörte, dass der Summer betätigt wurde. Mit seiner Stimme am Ohr ging ich durch die langen Flure, bis ich ihn schließlich entdeckte. Er stand angelehnt in der Wohnungstür, hielt das Handy am Ohr und lächelte mich an. Nun begrüßte er mich. Ich konnte die Worte gleichzeitig durch den Flur und durch das Telefon hören. Er trug eine kurze schwarze Hose und ein ärmelloses weißes Shirt. Wir umarmten uns. Er roch gut. Er roch, wie ich mir die Türkei vorstellte. Nun war ich in seiner WG, in der er mit fünf anderen Studenten zusammenlebte. Der Flur stand voll mit Gerümpel, aus irgendeinem der Zimmer ertönte laute Musik. Cev führte mich weiter in die Wohnung, bis zu einem Zimmer, dessen Tür offen stand. Drinnen am Schreibtisch saß seine Mitbewohnerin, deren Namen ich sofort nach der Bekanntmachung wieder vergaß. Sie hatte eine große Nase und blonde Haare.

„Ich war auch auf der WG-Party von Enno und Dennis.“, sagte sie.

„Wirklich? Ich kann mich gar nicht mehr an dich erinnern.“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Oh Gott, Fettnapf! Schon signalisierte mir ihr Blick, dass sie diese Antwort nicht gerne gehört hatte. Ehrlich, das war nun nicht die eleganteste Art, jemanden kennen zu lernen. In der Tat sollte ich diese Worte später noch bereuen.

Cev führte mich weiter durch die Wohnung, vorbei an der Küche in sein Zimmer. Der Raum war klein, aber nicht rechteckig. An den schrägen Wänden standen weiße Regale, die mit Büchern und Gegenständen des täglichen Lebens gefüllt waren. Poster oder Bilder waren nur spärlich vorhanden. Der Boden war aus Linoleum, in der Mitte lag ein Teppich und an den Seiten standen Kisten mit Kleidungsstücken, teilweise schon getragen. Dazu fanden sich Hanteln, Kabel, Bücher und ein Paar Hausschuhe aus Leder und Fell. Obwohl es draußen hell war – es war Ende Juni und damit Sommer – herrschte im Zimmer gedämpftes Licht. Das lag an den beigen Vorhängen, die sich vor den geöffneten Fenstern mit diesem typischen Geräusch von wehendem Stoff gegenseitig umschlangen, sich im folgenden Moment wieder entwanden, nur um sich danach erneut zu vereinen. Es roch gut nach Räucherstäbchen. So ähnlich roch auch Cev, als er mich vorhin an der Tür begrüßte. Hier in diesem Zimmer wehte ein anderer Wind – ein orientalischer. Wir unterhielten uns. Und er schien ein wenig aufgeregt. Er bot mir seinen Schreibtischstuhl an und setzte sich neben mich auf einen Klappstuhl. Vor uns stand sein Notebook. Wir fingen an, uns gegenseitig von unserem Leben zu erzählen. Er erklärte mir, was sein Name bedeutet, dann tat ich das gleiche. Er zeigte mir Videos von seiner Lieblingssängerin Eylem auf YouTube, ich zeigte ihm Videos von den Helden und Natalie Imbruglia. Er zeigte mir Ausschnitte aus seiner Lieblingsserie Absolutely Fabulous, ich zeigte ihm welche aus Kalkofes Mattscheibe. Das nennt man wohl kulturellen Austausch.

Ich fragte ihn, wo genau aus der Türkei er herkommen würde. Dazu öffnete er Google Earth. Gemeinsam flogen wir virtuell von Münster aus in die Türkei und landeten punktgenau auf Cevs letzter Wohnung – nur wenige Straßen vom Mittelmeer entfernt. Ich wollte wissen, warum er dort weg und nach Deutschland wollte. Daraufhin erklärte er mir, dass er dort zum Militär eingezogen würde, wenn er zurückkehrte und dass er das um alles in Welt verhindern wolle. Offenbar, so schoss es mir in den Kopf, hatte er zur Musterung kein Beweisfoto parat halten können, das ihn vor dem Kriegsdienst bewahrt hätte. Auf meine Frage, ob er denn gar nicht seine Familie und Freunde vermissen würde, drehte er sich wortlos zu seinem Notebook und zeigte mir Fotos: von seinem Bruder, seinen Freunden, seiner kleinen Nichte, seiner Mutter und seinem Vater, die getrennt lebten. Ich schaute mir alle Fotos genau an. Eines zeigte ihn mit seiner besten Freundin auf einer Absolventenfeier, im Hintergrund schimmerte die Abendsonne auf dem Mittelmeer. Cev trug einen Diplomanden-Hut und strahlte glücklich in die Kamera. Seine beste Freundin, die er im Arm hielt, tat das gleiche. Beide sahen sehr schön aus. Ein anderes zeigte seinen besten Freund, der vor einem Jahr in der Türkei erschossen wurde. Cev wurde wütend und traurig. Dann erzählte er mir von seinem Onkel, der vor vielen Jahren ebenfalls ermordet wurde. Ich hörte schockiert zu. Kein Wunder, dass Cev sich geschworen hatte, niemals den Dienst an der Waffe zu leisten. Mir wurde schlagartig bewusst, wie behütet ich in Deutschland bei meiner Familie aufgewachsen bin. Er erzählte von Intrigen und von der politischen Ungerechtigkeit in der Türkei. Nach einiger Zeit öffnete er die Homepage seiner favorisierten Partei, der CHP, und erzählte mir Hintergründe über die wirtschaftliche und demographische Situation in seinem Heimatland. Cev entpuppte sich als echter Sozialist, der sich erstaunlich gut im politischen Geschehen auskannte. Alles das beeindruckte mich, aber ich bemerkte gleichzeitig, dass ich mich mit zunehmendem Respekt ihm gegenüber langsam von ihm zu entfernen begann. Dieser junge Mann da neben mir hatte in seinem Leben schon so viel Scheiße erleben und Verantwortung tragen müssen. Ich allerdings lebte mit meinen 28 Jahren immer noch gerne in Luftschlössern und scheute mich insgeheim davor, Verantwortung jeglicher Art zu übernehmen.

Cev wurde still. Er schaute mich erwartungsvoll an. Nun war ich an der Reihe. Auch ich erzählte ihm ein wenig über meine Herkunft und meine Familie, blieb aber insgesamt recht vage. Neben dem Aspekt, dass ich mir neben ihm furchtbar uninteressant vorkam, lag das auch daran, dass wir uns die ganze Zeit auf englisch unterhielten und ich mir eingestehen musste, dass ich zwar das meiste gut verstehen konnte, mich aber nur mühsam so ausdrücken konnte, wie ich es wollte. Vor allem fehlte mir oft dann das passende Vokabular, wenn es speziell wurde. Um meinen Erzählungen über mich mehr Leben zu verleihen, bekam ich die Idee, ihm im Internet nun auch meine favorisierte Partei zu zeigen. Dazu bewegte ich meine Hand zu seiner PC-Maus, wobei sich unsere Hände kurz berührten. Ich öffnete die Homepage. Beide schauten wir auf den Monitor. Auch er schaute sich mit großem Interesse alles an und kannte sogar einige Politiker. Plötzlich klingelte eines seiner beiden Handys, die auf dem Schreibtisch lagen. „Eine Freundin“, erklärte Cev. Das klang seltsam für mich, bis mir auffiel, dass er gerade vom Englischen ins Deutsche gewechselt hatte. Nun wechselte er für das Telefonat ins Türkische. Ich verstand kein Wort von dem, was er mit seiner Freundin besprach. Ich hörte nur ihre laute Stimme durchs Telefon schallen. Wir saßen immer noch nebeneinander. Ich ließ meinen Blick durch die Gegend schweifen, bis er schließlich auf Cevs Körper zur Ruhe kam. Ich beobachtete das Heer von schwarzen kurzen Härchen, das sich über seine Beine und über seine Arme zog. Es wirkte fast so, als ob sie gestylt wären, so geordnet und makellos bedeckten sie seinen Körper. Das linke Bein hielt Cev über das rechte geschlagen, der linke Arm ruhte auf seinen Beinen, mit der rechten Hand hielt er sich das Handy ans Ohr. Zu meiner Verwunderung fiel mir auf, dass sich in seinem Dreitagebart neben den tiefschwarzen viele eichhörnchenrote Stoppeln einreihten. Das also war der Grund für den bereits von mir bemerkten Effekt, dass sein Gesicht manchmal irgendwie zu funkeln und zu glitzern schien.

Dann passierte etwas, das ich nicht wirklich erklären konnte. Es passierte einfach. Wie ein Magneteffekt oder etwas ähnliches. Ohne, dass Cev und ich uns merklich bewegt hätten, berührten sich plötzlich unsere Beine. Meine rechte Hand fand sich auf einmal in seiner linken wieder. Ich hatte keine Ahnung, wie sie dahin gekommen ist. Meine linke Hand streichelte plötzlich über seinen Arm. Cev beendete das Telefongespräch und legte das Handy beiseite. Dann wandte er sich mir zu, sah mir in die Augen, lächelte. Ich lächelte zurück. Mit seinen Händen begann er, vorsichtig mein Gesicht zu streicheln. Seine Geste wurde bestimmter, aber nicht weniger zärtlich. Schließlich umschloss er mit seinen Händen meine Wangen, neigte sich langsam zu mir heran und küsste mich. Ich küsste zurück und ließ tausend Sinneseindrücke auf mich wirken. Neben dem Gefühl war es vor allem der Geschmack, der mir im Gedächtnis bleiben sollte. Ich weiß nicht, was Einbildung und was Realität war, aber er schmeckte so, wie er war – orientalisch und geheimnisvoll.

Wir kamen wieder zu uns. Als wäre nichts gewesen, unterhielten wir uns nun weiter. Ich beobachtete Cev, wie er sich in aller Ruhe und mit großer Liebe fürs Detail eine Zigarette drehte. Dabei hörte ich ihm zu, wie er mir aus der Türkei erzählte. Ich mochte diesen Augenblick, ihm wohnte eine unendliche Ruhe inne. Als Cev die Zigarette fertig gedreht hatte, fragte er mich, ob ich mit auf den Balkon zum Rauchen kommen wollte. Ich nickte zustimmend.

Cev nahm mich an die Hand und führte mich zum Fenster. Er schob die beigen Vorhänge zur Seite und öffnete einen der beiden Fensterflügel, obwohl er gar nicht bis zum Boden reichte und ebenso wenig als Durchgang gedacht war. Dann kletterte er durch das geöffnete Fenster auf den seitlich davor liegenden Balkon der Wohnung. Ich folgte ihm und machte mich ebenfalls kletternd auf den Weg an die frische Luft. Vom Balkon aus hatte man einen Blick auf den Innenhof des Wohnheims. Zwei Studentengrüppchen hatten sich zum spätnachmittäglichen Grillen zusammengefunden. Sie saßen auf Klapp- oder Schreibtischstühlen um einen Grill herum, unterhielten sich, lachten und tranken Bier. Musik und entferntes Stimmengewirr war zu hören, es roch nach Grillgut. Manche der Leute kannte ich vom Sehen aus der Uni. Lustig, sie mal aus dieser Perspektive zu sehen. Derweil genoss Cev seine Zigarette. „Mit dir ist es sehr schön!“, sagte er ganz unerwartet zu mir – auf deutsch. Er sagte, dass er schon einige Typen in Deutschland kennengelernt habe, aber mit den meisten könne er sich überhaupt nicht unterhalten. Mit mir allerdings könne er das total gut, weil ich zuhören und meine Meinung sagen würde. „Du bist süß!“, sagte er und grinste mich an. „Du bist auch süß!“, antwortete ich und grinste zurück. Dann kletterten wir wieder zurück durch das geöffnete Fenster in sein Zimmer. Dort angekommen küssten wir uns erst einmal.

„Ich muss dir was sagen.“, sagte er betont traurig.

Ich bekam schlagartig ein taubes Gefühl im Magen. Das war es, wovor ich mich fürchtete: Probleme. Cev erzählte mir von einem Typen hier in Münster, der in ihn verliebt sei und der gern mit ihm zusammen sein möchte: Fabian. Cev allerdings teilte dessen Gefühle zwar nicht, habe es aber bisher noch nicht geschafft, ihm das klar zu machen. Es gab da also noch jemanden! Einen, von dem ich wusste. Und von wie vielen weiteren wusste ich nicht? Mir war klar, dass es so einem Typen wie Cev wahrlich nicht an Verehrern fehlte. Und warum sollte es ausgerechnet mit mir etwas Festes und Treues werden? Ich hatte meine Zweifel – und nicht erst seit diesem Moment. Dieser Moment bestätigte meine Zweifel eher. Oder suchte ich insgeheim nur nach einer Bestätigung meiner Ängste? Von sich aus versprach er mir, dass er sich nun mit dem Typen treffen und Schluss machen werde. Mir kam die unausgesprochene Aufforderung, nun erst einmal meinen eigenen Weg zu gehen, nicht unrecht. So konnte ich über das Erlebte erstmal in Ruhe nachdenken und mir klar darüber werden, was mein Herz eigentlich wollte. Wir verabschiedeten uns, indem wir uns ganz eng in den Arm nahmen und küssten. Sein Körper fühlte sich sehr gut an, meine Hände erforschten seinen Rücken und seine Seiten, seine taten das gleiche bei mir. Durch sein Shirt spürte ich, wie muskulös er gebaut war. Habe ich schon erwähnt, dass sich das gut anfühlte?

Ich verließ das Studentenwohnheim und fuhr auf dem Rad durch Münster nach Hause in meine WG. Das, was ich da gerade erlebte, war aufregend: beglückend und beängstigend zugleich. Oder besser gesagt: mein Herz war beglückt, mein Kopf war beängstigt. Und ich steckte mitten dazwischen. Aber der Reiz war stark, ich wollte mehr erleben. Erleben, das war es, was ich wollte. Ich war jung und verliebt in das Leben. Warum nicht auch mal etwas wagen, das einfach auf mich zukommen sollte. Aber die Zweifel blieben. Was ist, wenn mir die Geschichte am Ende mehr wehtun als guttun würde? Und weh wurde mir schon so manches Mal getan. Jedes Mal hinterließ der Schmerz tiefe Narben in meiner Seele, die immer wieder und an jedem Ort schmerzten, auch Jahre später.

Cev ließ mir kaum Zeit, mich tiefgehender diesen Gedanken hinzugeben. Schon wenige Stunden später rief er mich wieder an und fragte, ob wir uns jetzt sehen könnten. Ich schlug vor, dass ich wieder zu ihm fahren könnte. Denn wenn ich ihn besuchen würde, hatte ich es auch in der Hand, wann ich wieder fahren wollte.

Bei ihm angekommen, schenkte er mir und sich selbst Rotwein ein, nahm einen Schluck und stellte sein Weinglas neben seinem Bett ab. Auch ich nahm einen Schluck. Sein Gesichtsausdruck ließ nichts Gutes erwarten.

„Ich habe es einfach nicht geschafft.“, winselte er und nahm mich in den Arm. Ich wusste sofort, was er meinte und ahnte, dass es Probleme geben würde. Es ging um den Typen, Fabian, mit dem er gerade Schluss machen wollte, obwohl da ja offiziell nie etwas gewesen war. „Er hat so traurig geguckt. Da konnte ich ihm einfach nicht die Wahrheit sagen. Aber ich habe ihm von dir erzählt. Und dass du süß bist und mich heute Abend besuchen kommst.“ Er strahlte mich hoffnungsvoll an.

Aha, dachte ich, interessant. Er hat zwar nicht mit dem Typen Schluss gemacht, aber dafür weiß dieser jetzt, dass ich süß bin und seinen Angebeteten heute Abend besuche. Ich konnte mir schon jetzt lebhaft vorstellen, wie gern mich dieser Fabian haben musste. Ich erwiderte Cevs Umarmung, sagte ihm aber auch, dass ich keine anderen Typen neben mir dulden wolle, wenn er mit mir zusammen sein wollte.

„Yeah, that’s okay.“, sagte Cev. Er schaute mir in die Augen, küsste mich schnell auf den Mund und warf sich dann rückwärts auf sein Bett. Mein Blick folgte ihm. Vom Bett aus streckte er seine Arme in meine Richtung und bettelte auf deutsch: „Komm kuscheln, das ist so schön.“ Dabei sah er mich herzzerreißend durch seine grünen Augen an. Ich schlich – sehnsüchtig und widerwillig zugleich – an sein Bett und ließ mich auf die Matratze sinken, bis ich schließlich auf dem Rücken neben ihm lag. Sofort wandte er sich mir zu, küsste mich. Seine Hände begannen vorsichtig meinen Körper zu erforschen. Er streichelte mich zärtlich an den Armen, am Hals. Dann fuhr er mit seiner Hand unter mein T-Shirt, streichelte meinen Bauch, meine Brust. Plötzlich umfasste er meine Arme mit unerwarteter Energie und schmiegte seinen Körper zielsicher, aber dennoch sanft an meinen Körper heran, bis er schließlich auf mir lag. Seine Küsse wurden heftiger, fordernder. Er küsste meinen Hals, zog mir das T-Shirt aus. Doch ich konnte meine Gedanken einfach nicht abschalten! Einerseits war dies ein überwältigender Moment, andererseits ging mir das alles viel zu schnell. Ich verstand die Sprache, die er gerade sprach. Aber war das auch die Sprache, die ich sprechen wollte? Einmal mehr zeigte sich, dass wir generell unterschiedliche Sprachen verwendeten. Cev ahnte von meinen Gedanken nichts und machte siegessicher weiter. Er setze sich rittlings auf mich und zog sich langsam vor mir sein ärmelloses Shirt aus. Dieses Schauspiel erzielte seinen gewünschten Effekt. Ich ließ den Moment auf mich wirken und verfolgte sein Tun nun ganz still und ruhig. Doch in mir bäumte sich schon bald wieder das Gefühl auf, wieder die Oberhand bekommen zu müssen. Ich stieß Cev schlagartig von mir runter, um mich im nächsten Moment nun rittlings auf ihn draufzusetzen. Ich packte seine Arme, drückte sie über seinen Kopf ans Kissen und schaute ihm direkt in die Augen. Das Spiel war nun im vollen Gange. Und so spielte ich auch nur, dass ich die Kontrolle behielt. In Wahrheit hatte ich sie längst verloren. Und das wusste Cev ganz genau. „Küss mich!“, bettelte er, und ich tat’s. Seine Beine umschlangen meine, seine dunkle Haut schmiegte sich an meine helle. Ich hielt einen Moment inne und sagte: „Hey, mir geht das alles zu schnell. Step by step, okay? Ich bin nicht der Typ, der sofort beim ersten Date und nach dem ersten Kuss mit einem Typen ins Bett steigt. Ich brauche Zeit. Ich muss dich erst mal richtig kennenlernen.“

„Okay, no problem. Wie du willst.“, antwortete Cev.

Puuh, das wär geschafft, dachte ich mir. Ich legte mich neben Cev und schaute ihm zufrieden in die Augen in der Erwartung, nun Zeit gewonnen zu haben. Doch dieser Zustand dauerte schätzungsweise nur zwei Sekunden, dann küsste mich Cev erneut und intensivierte seinen Eroberungszug über meinen Körper. Er verwickelte mich in einen Zungenkuss und öffnete mir dabei die Gürtelschnalle, hoffend, dass ich es nicht bemerke. Doch ich bemerkte es. Ich schwang mich erneut auf ihn drauf und drückte mich eng an ihn, um mir selbst das Gefühl von Kontrolle vorzugaukeln. Doch ausgerechnet diese Reaktion schien ihm besonders zu gefallen. Was ich auch tat, ich konnte ihn nicht mehr aufhalten. Er verrenkte sich nun, um sich endlich von seiner Hose zu trennen – und der Shorts darunter gleich mit. Nun lag er nackt unter mir und atmete tief ein und aus. Sein behaarter Brustkorb hob und senkte sich in gleichmäßigen Abständen. Einerseits ein unbeschreiblich schöner Anblick, ein unbeschreiblich schöner Körper. Doch andererseits wollten meine Zweifel nicht verschwinden. Mir wurde immer deutlicher, dass ich völlig die Kontrolle verloren hatte. Und ich bezweifelte, dass ich noch länger die Kontrolle über mich selbst behalten könnte. Und so geschah es auch. Ich gab meinen Widerstand auf und es dauerte nur wenige Augenblicke, bis Cev mich aus meiner kurzen Hose befreit hatte. Es dauerte nur wenige weitere Augenblicke, bis er nach wenigen Berührungen erschöpft auf mir zusammensackte.

Was war passiert? Ist das wirklich gerade geschehen, obwohl ich es nicht eingeplant hatte? Im Zimmer war es drückend warm, mir war unerträglich heiß. Ich setzte mich an die Bettkante und kratze mich am Kopf. Cev lag zufrieden im Bett.

„Ich muss jetzt gehen“, sagte ich.

„Nein bleib!“, stieß Cev hervor. „Wir können noch schauen eine DVD, und kuscheln, zusammen einschlafen!“

Ich sah ihn an, seufzte und wollte gerade aufstehen, als ich mit meinem Kleinen Zeh an einem auf dem Boden stehenden Rotweinglas hängen blieb und das Glas umriss, so dass sich der gesamte Rotwein über das helle Linoleum ergoss. „Scheiße!“, fluchte ich und sprang auf. Cev stand ganz ruhig aus seinem Bett auf, zog sich eine Shorts an und verließ das Zimmer. Er kam wieder mit einer Sprühflasche mit Badreiniger und Küchentüchern und kümmerte sich um die Beseitigung der Rotweinpfütze. Der Geruch von beißendem Essig machte sich in dem viel zu heißen Zimmer breit.

„Leg dich bitte wieder hin“, bat mich Cev ,„ - bitte.“

Ich legte mich also wieder ein sein Bett, Cev folgte wenig später. Er kuschelte sich an mich, machte ein zufriedenes Geräusch und legte seinen Arm um meine Brust. Cev und ich klebten vor Schweiß und Anstrengung. Mein Herz pochte, ich fühlte ich beengt, mir war immer noch unerträglich heiß. Zudem roch es nach dem beißenden Essigreiniger. Ich konnte nicht anders. Ich musste mich befreien.

„Ich muss jetzt gehen.“, sagte ich.

„Wenn du jetzt gehst, then I feel like a bitch!“, platzte es aus Cev offen und ehrlich heraus.

Das wollte ich nicht. Ich wollte nicht, dass er sich wie eine Bitch fühlte, doch gleichzeitig fühlte ich mich auch wie eine. Es war wie eine innere Kraft, ich musste hier raus. Ich befreite mich aus Cevs Armen und stand auf, um mich anzuziehen. Cev lag im Bett und schaute mich verwirrt und traurig an. Ich fühlte mich schäbig.

„See us again?“, fragte er mich.

„Klar, auf jeden Fall.“, antwortete ich. Ich küsste ihn zum Abschied und ging langsam aus dem Zimmer, um danach so schnell wie möglich aus dem Wohnheim zu stürmen. Draußen angekommen, rang ich nach Luft und atmete tief durch. Die frische Sommernachtsluft durchströmte meine Lungen, ich fühlte mich der Enge entkommen. Ich fuhr nach Hause, ging schnell ins Bett, dachte über das Geschehene nach und konnte nur schwer einschlafen.

Am nächsten Morgen wachte ich auf und schaute auf mein Handy. Nanu! Eine SMS von Cev. Sie war total lieb formuliert. Er fragte mich, wie ich geschlafen habe und lud mich zu sich auf ein türkisches Frühstück ein. Angetrieben von Sehnsucht, Neugier und schlechtem Gewissen sprang ich erst unter die Dusche, dann aufs Fahrrad und stand wenig später vor Cevs Wohnungstür. Cev öffnete, zog mich an meinem T-Shirt in die Wohnung und umarmte mich sehnsüchtig. In der Wohnung war es ganz still. Entweder schliefen seine Mitbewohner noch oder wir waren ganz allein. Ich folgte Cev in die Küche, wo es schon nach verschiedenen Gewürzen roch. Er hatte schon begonnen, das versprochene türkische Frühstück vorzubereiten, was auch immer dies bedeutete. Ich packte mit an und so hantierten wir beide an der Küchenanrichte. Dort fing er an, mir von seiner vergangenen großen Liebe aus der Türkei zu erzählen. Es war ein Junge, etwa in seinem Alter. Er gehörte einer anderen Glaubensrichtung des Islam an, was für beide bedeutete, dass sie Vorurteile überwinden und mit den Glaubensritualen des anderen umzugehen lernen mussten. Sie verliebten sich ineinander, waren heimlich ein Paar und blieben sehr lange zusammen – bis zu jenem Tag, an dem Cev ihn mit seinem besten Freund alleine in der Wohnung ließ. Als Cev später zurückkam, erwischte er die beiden im Bett. Ich wusste nicht, was Realität oder Übertreibung war, aber Cev erzählte, er habe aus Wut einen Küchenstuhl ergriffen und schließlich über seinem Freund zertrümmert. Dann sei er schreiend zusammengebrochen und habe beide aus der Wohnung hinausgeworfen. Seitdem sei sein Herz gebrochen. Kein anderer Mann habe die Leere je wieder füllen können, die sein Freund hinterlassen hat. Wieder machten mich Cevs Geschichten über sein Leben sprachlos. Was hatte dieser junge Türke schon alles erlebt? Gleichzeitig machte mir die Vorstellung Angst, dass er den Zorn besaß, einen Stuhl über einem anderen – geliebten – Menschen zu zertrümmern. Eine unberechenbare Energie schlummerte in dem Menschen, der gerade neben mir stand und so liebevoll Paprika über ein Frühstücksomelett streute.

Das Frühstück bestand aus schwarzem Ostfriesentee und türkischem Omelett, das für meinen Geschmack viel zu scharf gewürzt war. Ich bekam nicht viel davon hinunter, da ich nervös war und ich so viel Schärfe am frühen Morgen nicht gewohnt war, im wahrsten Sinne des Wortes. Cev machte sie allerdings gar nichts aus. Er schaffte es, doppelt so viel von dem Omelett zu verschlingen und gleichzeitig die ganze Zeit zu reden. Doch plötzlich unterbrach er seinen Erzählfluss. Er betrachtete wortlos seinen rechten Arm. Verwundert über die plötzliche Stille verfolgte ich nun sein Tun ganz genau. Er beugte seinen Arm, spannte ihn an, so dass sich seine Muskeln abzuzeichnen begannen. Dann bewegte er seinen Oberarm zu seinem Mund, schloss die Augen und küsste einmal zärtlich seinen Bizeps. Er kam wieder zu sich und meinte: „Entschuldige, but I love myself!“ Dann, als wäre nichts gewesen, führte er seine unterbrochene Erzählung fort. Ich allerdings musste aufgrund dieses skurrilen Schauspiels laut loslachen, woraufhin auch er anfing zu lachen und schließlich beschämt dreinzuschauen.

Wenig später fanden wir uns in seinem Zimmer wieder. Im Hintergrund lief leise Musik von Natalie Imbruglia, die er extra für mich ausgesucht hatte. Wir legten uns aufs Bett und fingen an, wie ein junges Liebespaar zu kuscheln. Dann klopfte es an der Tür. Wir waren also doch nicht alleine. Die Tür ging einen Spaltbreit auf. Ich konnte nicht sehen, wer dahinter stand. Ich konnte nur eine Frauenstimme hören, die ihrem Tonfall nach zu urteilen eine Bitte formulierte. Cev antwortete auf die Bitte mit einem „Okay.“ Dann sah ich, wie zwei Arme eine Ratte durch die Tür hereinreichten. Cev nahm sie entgegen und nahm sie mit ins Bett. Hier ließ er sie frei. Das Tier lief aufgeregt zwischen Cev und mir hin und her und schnupperte nervös an allen Stellen. Sie war grau und sah ganz weich aus. „Sie ist so süß!“, meinte Cev, während er die Ratte streichelte. Ich war davon noch nicht überzeugt, versuchte aber auch, sie zu streicheln. Die Hektik, die das Tier verbreitete, zerstörte allerdings die kuschelige Atmosphäre. Und so nahm Cev die Ratte vorsichtig und brachte sie seiner Mitbewohnerin zurück – es war die mit den blonden Haaren und der großen Nase. Wie ich später erfuhr, war der Auftritt der armen Ratte wohl dem Umstand geschuldet, dass mich die Mitbewohnerin wegen meiner verpatzten Begrüßung vom Vortag nicht mochte und daher verhindern wollte, dass Cev und ich unsere Zweisamkeit genossen.

Doch weder die Mitbewohnerin noch die Ratte konnten ihr Ziel umsetzen. Als Cev ins Zimmer zurückkam, warf er sich zu mir aufs Bett, küsste mich und begann siegessicher mit seinem Liebesspiel, dessen Regeln ich tags zuvor schnell begriffen hatte. Heute versuchte ich gar nicht erst, mich gegen diese Regeln zu wehren. Im Gegenteil. Ich spielte blendend mit und zeigte ihm, dass ich schnell und gut dazugelernt hatte. Genau im richtigen Moment spielte das Radio die Glockenklänge in Natalie Imbruglias „Counting down the days“* – sicher der Höhepunkt des Titels. Als ich die Klänge hörte, noch schwer atmend und Cev fest umklammernd, musste ich unwillkürlich in mich hinein grinsen. Heute waren wir beide die Gewinner.

„Komm mit, we’ll take a shower!“ Cev reichte mir seine schwarze Boxershort und zog sich selbst auch eine an. Dann nahm er mich fest an die Hand und rannte mit mir über den Flur der WG – hinein ins Bad. Schnell schloss er hinter uns die Tür und drehte den Schlüssel um. Hier mussten wir erst einmal lachen. Wir zogen uns die Boxershorts wieder aus und betraten die Dusche. Cev benutzte zum Einseifen einen riesigen weißen Schwamm und erklärte mir, dass solche Schwämme in der Türkei in Badehäusern verwendet werden. Nachdem wir den Schaum von unseren Körpern mit klarem Wasser abgewaschen hatten, bat Cev mich, aus der Dusche hinauszutreten. Er müsse sich nun noch mal waschen - „in a muslim way.“ Ich sollte mir das lieber nicht mit anschauen müssen. Okay. Was jetzt wohl geschehen sollte? Ich hörte schon bald seltsame Schmatz- und Rotzgeräusche. Ich konnte mir denken, was er da tat. Und wieder lernte ich etwas über seine Kultur hinzu. Tatsächlich gehört das Spülen der Nasenhöhle zu einem muslimischen Ritual und wird normalerweise vor dem Gebet verrichtet.

Frisch geduscht liefen wir zurück in sein Zimmer – gut gelaunt, Hand in Hand. Dort warfen wir uns wieder auf das Bett und fingen zu knutschen an. Ein schöner Tag! Ich fühlte, wie ich mich mehr und mehr auf die Situation und auf Cev einließ.

„Ich werde morgen die Stadt verlassen.“

Seine Worte kamen genauso plötzlich wie der dumpfe Schmerz, den sie erzeugten und der sich nun in meiner Magengegend breit machte. Dass er in deutsch sprach, unterstrich die Wirkung der Worte noch zusätzlich.

„Ich muss Geld verdienen, um mir das teure Studium in Deutschland leisten zu können. Ich habe über meinen Cousin einen Job in einer Stahlfabrik bei Osnabrück bekommen. Dort werde ich arbeiten gehen.“

„Und wo wirst du wohnen?“

„In einer Pension.“

„Und wann musst du los?“

„Heute Abend fährt der Zug.“

Ich drehte meinen Kopf zur Seite und schaute ins Leere. Mir war dieses Gefühl bereits bekannt. Jedes mal, wenn ich es geschafft hatte, mich auf eine Situation einzulassen, für die ich mein Herz geöffnet hatte, wurde ich prompt mit einem Schlag in die Magengrube belohnt. Und obwohl ich dieses Gefühl schon kannte, wurde es nicht weniger schmerzhaft.

„Aber in vier Wochen komme ich wieder. Dann bin ich für dich da. Und bis dahin werde ich jeden Tag anrufen.“

‚Und wen wird er noch außer mir anrufen?‘, fragte ich mich im Stillen. ‚Fabian? Oder doch die anderen Verehrer, von denen ich nichts weiss? Und wie oft wird er mich in den vier Wochen betrügen? Und vor allen Dingen: Warum arbeitet er ausgerechnet in einer Stahlfabrik!?‘

Cev machte seine Ankündigung tatsächlich wahr. In der ersten Woche rief er mich jeden Abend an. Die Arbeit in der Fabrik, einem Autozulieferer, war sehr hart. Wenn er abends in die Pension zurückkam, wollte er nur noch zu Abend essen und ausruhen. Manchmal war er so erschöpft, dass ihm unsere Unterhaltung in der englischen oder deutschen Sprache schwer fiel. Dann sollte ich ihm einfach nur von meinem Tag erzählen. Er klagte über Blasen an den Händen, über ein ständiges Dröhnen in den Ohren und über Muskelkater. Doch schon nach wenigen Tagen erzählte er mir stolz, wie dick seine Oberarme geworden waren. So schlimm konnte es also nicht sein.

Die Woche, in der er nicht da war, nutzte ich dazu, nachzudenken. Ich versuchte, mir meiner Gefühle Cev gegenüber klar zu werden. Meine Freunde redeten mir gut zu: Ich solle nicht so viel grübeln und einfach eine schöne Zeit mit dem süßen, lieben und dazu noch äußerst gut aussehenden Cev verbringen, so lange er noch in Deutschland sei. Alles andere werde die Zeit zeigen. Manchmal konnte ich ein leichtes Kribbeln in der Magengegend spüren, wenn ich an Cev dachte. Und dann freute ich mich auf seinen allabendlichen Anruf. Aber meistens wurde ich dieses Gefühl nicht los, dass mir das alles zu schnell ging. Ich konnte ihn noch nicht einschätzen, es noch nicht einordnen, was er wirklich von mir wollte. Suchte er wirklich einen festen Freund, wie er es mir gegenüber immer beteuerte? Oder war ich nur einer von vielen, mit dem er ein paar schöne Stunden verbrachte? Grundsätzlich hatte ich Cev in der kurzen Zeit unbeschreiblich gern gewonnen. Er faszinierte mich: durch seine Geschichten, die er oft in drei Sprachen gleichzeitig erzählte, seine magischen Augen, seine Berührungen, seine Küsse, seine ganze Art. Daher wollte ich ihn auch auf keinen Fall verletzen, im Gegenteil. Ich wollte ihn erst einmal richtig kennenlernen und dann weiterschauen. Und als ich diese Gewissheit hatte, war mir klar, was ich wollte: Zeit. Daher nahm ich mir vor, mit ihm zu reden, wenn er am Wochenende nach Münster kam.

Schon am Freitagmittag bekam ich von Cev eine SMS. Er konnte es nicht mehr abwarten, mich zu sehen, mich in seine Arme zu nehmen und zu küssen. Er würde sich beeilen, um nach der Arbeit in der Fabrik so schnell wie möglich nach Münster zu kommen. Wir verabredeten, dass ich dann wieder zu ihm ins Wohnheim kommen sollte. Unter Berücksichtigung dessen, war ich mir vorgenommen hatte, war mir das ganz recht.

An diesem Freitagnachmittag hing die schwüle Sommerluft wie ein Zauberfluch über der Stadt. Die meisten Menschen vermieden große Anstrengungen so gut es eben ging. Es fuhren nur wenige Autos auf den Straßen und die für Münster so typischen Radfahrer blieben heute lieber daheim oder verbrachten den Tag am Aasee. Mit kurzer Hose, T-Shirt und Sneakers war ich einer der wenigen Radfahrer, die sich heute in die Hitze trauten. Ich war auf dem Weg ins Wohnheim, auf dem Weg zu Cev.

Als Cev mir die Tür öffnete, nahmen wir uns erst einmal in den Arm. Wir hielten uns fest umschlungen. Meine Hände streichelten seinen Rücken, seine taten bei mir das gleiche. Er war durch die Arbeit in der Fabrik tatsächlich kräftiger geworden, was sich sehr gut anfühlte. Er schaute mir in die Augen, dann auf den Mund und küsste mich. Mitten im Kuss bewegte er sich langsam, aber sicher rückwärts in Richtung seines Zimmers und führte mich dabei mit. Als wir dort ankamen, küssten wir uns immer noch. Ohne dass ich etwas davon bemerkte, gelang es ihm, hinter mir die Zimmertür zu schließen. Er steuerte uns zielsicher zum Bett, ließ sich rücklings hineinfallen und zog mich vorsichtig mit, so dass ich auf ihm drauflag. Der Kuss dauerte noch immer an und ich spürte deutlich, dass Cev bereits sehr erregt war. Ich wusste mittlerweile ganz genau, dass er ab einem bestimmten Punkt nicht mehr zu bremsen war. Und da wir noch nicht einmal mehr als fünf Worte gewechselt hatten und ich mir vorgenommen hatte, mit ihm an diesem Wochenende zu reden, unterbrach ich den Kuss und schaute ihn an. Mir war schmerzlich bewusst, dass ich gleich mit meinen Worten diesen Moment zerstören würde.

„Ich möchte mit dir reden.“, meinte ich.

Stille.

„Okay“, sagte Cev und schaute mich erwartungsvoll an.

„Während du weg warst, hatte ich Zeit zum Nachdenken.“

Stille.

„Ich mag dich unglaublich gern,“, begann ich erneut, „aber mir geht das alles einfach viel zu schnell.“ Cev fing an zu grinsen, was mich sehr irritierte. „Ich habe dir letzte Woche schon erklärt, dass ich Zeit brauche, um dich kennen zu lernen. Daran siehst du, wie viel mir daran liegt, Zeit mit dir zu verbringen.“ Cev grinste immer noch. „Warum grinst du?“, frage ich ungeduldig.

„Ach, nichts.“, entgegnete Cev und schaute mich irgendwie bemitleidend an. Das machte mich rasend wütend, so dass ich lauter wurde:

„Mit wie vielen Typen warst du eigentlich schon vor mir im Bett?“

„Weiß ich nicht. Hundert?“

„Hundert!? Und was ist mit einem HIV-Test? Wann hast du das letzte Mal einen machen lassen?“

Cev ließ sich nicht provozieren und blieb sachlich, doch seine Antwort verblüffte mich sehr. Sie erweckte nicht gerade großes Vertrauen in mir:

„Als ich noch in der Türkei im Krankenhaus gearbeitet habe, habe ich mich selber auf HIV getestet. Da war alles okay.“

„Du hast selber an dir einen Test durchgeführt?“

„Ja, und er war negativ! Außerdem gibt es Krankheiten, die genauso schlimm wie HIV und Aids sind. Zum Beispiel Hepatitis. Du musst dir also keine Gedanken machen. Ich bin gesund. Ich habe in der Türkei Medizin studiert!“

Die Atmosphäre war angespannt, der Moment war, wie erwartet, unwiederbringlich zerstört.

„Ich möchte einfach mit dir zusammen sein, ohne mir Gedanken machen zu müssen! Aber vielleicht ist das nicht möglich.“, sagte ich. In meiner Stimme lag Resignation. Cev schaute mich nur hilflos an und schwieg. Da ich immer noch auf ihm drauf lag, ließ ich mich nun neben ihm auf die Matratze fallen. Wir neigten unsere Köpfe und sahen einander an. Sein Blick zeigte nun eine Facette, die ich noch nicht an ihm kannte. Es war wahre Enttäuschung.

„Können wir gleich ein bisschen an die frische Luft gehen?“, fragte ich ihn.

„Ja, ich muss sowieso noch rüber zum Waschhaus, eine Ladung Wäsche waschen.“

Das kleine Gebäude lag am anderen Ende des Wohnheimgeländes. Schweigend gingen wir über den Hof. Cev schleppte einen riesigen Korb mit dreckiger Wäsche. Im Gegensatz zum Hof herrschte im Waschhaus eine angenehme Kühle, es duftete frisch. Cev presste seine Wäsche bis zum Anschlag in die Trommel einer unbelegten Waschmaschine, knallte das Bullauge zu und füllte Pulver in den dafür vorgesehenen Schuber. Das Display des Münzeinwurfs zeigte seine Bereitschaft an und wartete geduldig auf eine Münze.

„Möchtest du wissen, wie man diese Maschinen zum Laufen bringt, ohne eine Münze einzuwerfen?“, fragte Cev eher rhetorisch. Denn ohne meine Antwort abzuwarten, drehte er das Rad für das Waschprogramm auf eine bestimmte Stelle und drückte gleichzeitig mit den Fingern der anderen Hand bestimmte Sondertasten. Dann trat er einmal mit voller Kraft mit dem Fuß gegen das Gehäuse. Der plötzliche Knall ließ mich zusammenzucken. Zu meinem Erstaunen sprang die Maschine widerstandslos an und startete ihr Waschprogramm. Selbst das Display zeigte nun das gewählte Programm an, ohne jemals eine Münze als Gegenleistung erhalten zu haben.

„Weißt du, warum ich vorhin grinsen musste, als du mit mir geredet hast?“ Cev hielt seine Hände immer noch gegen die Maschine gelehnt.

„Nein, aber ich würde es gerne wissen.“, antwortete ich.

„Ich musste daran denken, dass ich gleich noch die Waschmaschine anschmeißen muss.“

Ich ließ mir nichts anmerken, aber innerlich traf mich diese Antwort wie ein Schwertstich. Als wir wieder über den Hof zurück zum Wohnheim gingen, schwiegen wir wieder. Ich war verwirrt. Was wollte er mit dieser Aussage bezwecken? Wollte er mir mitteilen, wie lächerlich er meine vorhin geäußerten Bedenken fand? Oder hatte er realisiert, dass es mit mir nicht so einfach werden würde wie erhofft? Oder aber entsprach die Aussage einfach der Wahrheit und er musste vorhin so grinsen, weil er selber bemerkte, wie unpassend sein Gedanke in dem Moment war? Die Frage war also, ob seine Aussage eine Entschuldigung war oder aber eine Verletzung. Oder beides?

„Sehen wir uns einen Film an und kuscheln ein bisschen?“, fragte mich Cev, diesmal mit einer sanften und versöhnlichen Stimme.

„Okay.“, meinte ich. Ich konnte ihm nicht mehr in die Augen sehen.

Wir legten uns zusammen auf sein Bett und sahen uns „V wie Vendetta“ an, seinen Lieblingsfilm. Trotz der angespannten Situation von vorhin legten wir uns eng aneinander und schliefen zwischendurch immer mal wieder ein. Wenn wir aufwachten, versuchte Cev es jedes mal auf Neue, mich doch noch rumzukriegen. Dann fuhr er entweder streichelnd mit einer Hand fast unbemerkt vom Bauch aus in meine kurze Hose und versuchte gleichzeitig, mit seiner anderen Hand meinen Gürtel zu öffnen. Oder er versuchte mich abzulenken, indem er meinen Bauch küsste und sich dabei an meiner Gürtelschnalle zu schaffen machte.

Nachdem er wiederholt keinen Erfolg hatte, reckte er sich schließlich irgendwann auf, schlich zum Schreibtisch und drehte sich dort in aller Ruhe eine Zigarette. Dann ging er rüber zum Fenster, öffnete es und setzte sich, nur mit Shorts und Unterhemd bekleidet, auf die Fensterbank. Ich lag noch im Bett und beobachte ihn heimlich. Er erinnerte mich an eine Katze. Jede seiner Bewegungen wirkte elegant und ruhig. Er blickte abwechselnd nach draußen und auf seinen Körper. Seine Augen entdeckten sofort, wenn irgendwo ein Haar zu lang oder eine Hautpore zu groß war. Sah er solch einen Makel, schärfte er seinen Blick und fuhr sich mit den Fingern seiner Hand, mit der er auch die Zigarette hielt, über die Stelle, aber immer ganz zärtlich. Dann nahm er wieder einen Zug aus der Zigarette und atmete den Rauch durch seine Nase nach draußen hin aus. Dabei war er ganz still. Hätte er schnurren können, so hätte er es in diesem Augenblick getan.

Ich lag derweil noch im Bett. Den Film schaute ich nicht mehr, denn mein Blick richtete sich nun durch das Fenster vorbei an Cev nach draußen, wo er sich schließlich im leeren Sommerhimmel verlor.

Als ich an diesem Abend nach Hause fuhr, fühlte ich mich schäbig und leer. Ich hatte in den letzten Wochen so viel erlebt und war einfach nicht in der Lage gewesen, das Erlebte vorbehaltlos zuzulassen. Ich hatte auf Abwehr gestellt und nicht den Mut besessen, dagegen ankämpfen. Meine Ängste haben gesiegt, Cev ließ ich mit enttäuschter Seele zurück. Nur aus Furcht, von ihm verletzt zu werden, verletzte ich mich vorsichtshalber selbst – und Cev gleich mit. Ich konnte in dieser Nacht nicht einschlafen.

Wenige Tage später bekam ich eine vorerst letzte SMS von ihm, die in gebrochenem Deutsch formuliert war:

„Hi Lars, ich möchte dir sagen, dass du hast recht. Als du gegangen bist, habe ich lange nachgedacht und erkannt, dass ich nicht sein kann der für dich, der ich gerne möchte sein. Es würde schwierig sein auch, eine beziehung zu haben, wenn ich bald wieder zurückgehen muss in die türkei. Ich schätze, ich habe geglaubt an ein Märchen, aber nun ich tue das nicht mehr. Ich hoffe wir bleiben freunde. Und bevor ich es vergesse: es war nur eine kurze Zeit, aber es war wunderschön. Thank you 4 that and take care of yourself. Cev.“



* Natalie Imbruglia – Counting down the days
Komponist und Textdichter: Matt Prime, Natalie Imbruglia
Originalverleger: Brightside Recordings, Sony BMG Music Entertainment

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