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London Stars
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Informationen
- Story: London Stars
- Autor: Noresund
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Lovestory
Inhaltsverzeichnis
KAPITEL 1
Er hatte ein Problem.
Jeder sagte ihm ständig, er habe ein Problem. Doch genau benennen konnte es niemand. Vielmehr hatte er noch nie jemanden gefragt, was denn genau sein Problem sei. Er selbst wusste es nicht so genau.
EIN Problem. Wenn er so darüber nachdachte, gab es mehrere. Man konnte sie unmöglich in einem Wort oder einem Satz zusammenfassen. War es, weil er Parties haßte? Weil er Dummheit verabscheute? Früh zu Bett ging, keinen besonderen Hobbys frönte? Die Erörterung über die Notwendigkeit von Hobbys hatte er längst aufgegeben, denn sobald er zu der Erkenntnis gekommen war, dass er sich eines zulegen sollte, war die nächste quälende und nicht minder einfache Frage aufgekommen: Welches Hobby? Es war sinnlos. Es gab nichts auf Gottes Erdball, zu dem sich David hätte aufraffen können. Weder Sport noch Kunst noch sonst eine beliebte Freizeitbeschäftigung des jungen Menschen von heute war verführerisch genug, als dass sie ihn hätte Wochenenden damit verbringen lassen.
Kurzum, sein Leben war langweilig. Besonders jetzt, in der besinnlichen Zeit vor Weihnachten. David hätte die Wände anschreien können, wenn er abends von seiner nicht gerade aufregenden und erfüllenden, geschweige denn anstrengenden Arbeit als Angestellter einer Versicherungsanstalt nach Hause kam und den nicht blinkenden Anrufbeantworter vorfand.
Das tat er gelegentlich sogar. Die Wände anschreien. Es waren nicht wirklich die Wände, die er anbrüllte, sondern vielmehr die Nachbarn, die zum siebzigsten mal in diesem Monat offenbar direkt hinter seiner Wohnzimmerwand ihren ehelichen Pflichten lautstark nachgingen.
Es war demütigend. Demütigend zu wissen, dass der häßliche Fred von nebenan mit seinem Bauchansatz und dem strähnigen Haar ein erfüllteres Sexleben als er führte. Nein, er FÜHRTE ein Sexleben, im Gegensatz zu David. Manchmal während dieser endlosen Phase des Vorspiels mit allen Varianten menschlichen Seufzens, Hechelns und Stöhnens, dachte David darüber nach, ihn einfach zu fragen, ob er nicht mal zuschauen dürfte. Die Idee hatte er jedesmal wieder zerschlagen, denn der Fakt, dass er nicht unbedingt auf Hetensex stand, machte die Sache nicht wirklich einfacher.
Dann zog er kurzfristig mit seinem Laptop in die Küche, die noch einigermaßen ruhig war und begab sich ins Internet, dem einzigen Kontinuierlichem in seinem Leben, neben der Arbeit.
Es war an einem dieser Feierabende, als es mal wieder unerträglich wurde mit dem rammelnden Pärchen von nebenan, dass sich sein Leben ändern solle.
„TUN SIE'S MAL WIEDER?“
„LEIDER. HALLO, CHRIS! WIE GEHT'S DIR?“
„BESTENS! WAS IST MIT DIR?“
„DAS ÜBLICHE. SCHEISS ARBEIT.“
„SCHADE. WAS HAST DU HEUTE ABEND VOR?“
„WAHRSCHEINLICH WERDE ICH MIR NOCH EIN PAAR PERVERSE BILDER IM NET ANSCHAUEN.“
„DEINE SPEZIALITÄT, ICH WEISS!“
„DU KENNST MICH. DAS IST BERUHIGEND!“
„ICH HAB‘ EINE VIEL BESSERE IDEE! LASS‘ UNS IRGENDWO TREFFEN!“
„TREFFEN???“
„IM DÔME UM ACHT?“
„IN DER KING'S ROAD?“
„GENAU! DU WEISST; WO DAS IST?“
„JA; ICH BIN MIR NUR NICHT SICHER, OB DAS SO TOLL WÄRE!“
„WIESO HAST DU ZWEIFEL?“
„ICH WEISS SELBST NICHT.“
„ALSO GUT; DANN UM ACHT IM DÔME! ICH FREU‘ MICH!!! BIS DANN!!!“
Schon hatte sich Chris abgemeldet. Beinahe ungläubig starrte David auf den Bildschirm seines Laptops.
Er wollte ihn treffen. Eine Sensation?
Sie trafen sich regelmäßig online, redeten über viele Dinge. Oft genug hatte sich David bei ihm ausgeheult, wenn es mal wieder besonders schlimm war. Getroffen im wahren Leben hatten sie sich bisher nie. Es hatte sich einfach nicht ergeben. Abgesehen davon hatte David in dieser Beziehung so seine Bedenken, denn Chris genoß einen gewissen Status. Er war recht erfolgreich in seinem Job als Musiker. Sprich er war prominent. Sie hatten sich über Umwege kennengelernt, die im Nachhinein sehr verwirrend waren. David verbrachte manchmal Nächte damit, herauszufinden, warum Chris sich gerade mit ihm unterhielt. Und das sogar in diesem Umfang. Oftmals verging kein Tag, ohne dass sie sich wenn auch nur eine winzige Email schrieben. Sie hatten schon eine eigenartige Beziehung. David hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, ernst genommen zu werden, obwohl er noch nicht einmal seine Stimme vom Telefon kannte. Bilder hatten sie wohl ausgetauscht, aber es waren die Worte, die sie wechselten, die David so sicher machten. Wieso er zögerte, ihn zu treffen, konnte er noch nicht richtig einordnen. Er war sicher nicht geblendet von Chris´ Reichtum und Bekanntheitsgrad. Nein, damit konnte er umgehen. Dafür kannte er Chris zu gut, als dass er deshalb vor Ehrfurcht erstarren würde. Es war etwas anderes, nicht Greifbares. Es sollte sich herausstellen.
Die Kälte war eingebrochen, mit Pauken und Trompeten. Rechtzeitig zu Beginn des Weihnachtsgeschäftes. Die Straßen waren wie jedes Jahr prachtvoll geschmückt. Die Atmosphäre war richtig heimelig, obwohl David als eingefleischter Single diese Zeit abgrundtief verabscheute.
Er schlang den Schal fest um den Hals, zog die Mütze tief ins Gesicht und vergrub seine Hände tief in den Taschen seines dunkelgrauen Mantels, als er die U-Bahn-Station Sloane Square verliess. Es war zehn vor acht. Er musste sich beeilen, um rechtzeitig im Café zu sein. Mit schnellen Schritten machte sich David auf den Weg.
The Dôme war ein gemütliches Café am Ende der King's Road.Früher war David öfter dort gewesen. Damals hatte er noch in der Nähe gearbeitet. In der Mittagspause waren er und seine Kollegen Stammgäste gewesen. Aber das war lange her.
Der eisige Wind schnitt sein Gesicht. Der erste Schnee sollte bald kommen. Alle Anzeichen deuteten darauf hin. Weiße Weihnacht. Das hatte es lange nicht gegeben. Nicht dass David besonderen Wert darauf legte, aber es paßte doch sehr gut zu dieser Jahreszeit. Schliesslich lag London nicht in der Wüste. Die Geschäfte hatten durchweg Weihnachten in ihre Schaufenster dekoriert. Manche sogar recht geschmackvoll. David nahm es jedoch nur am Rande wahr, waren seine Gedanken doch schon einige Minuten voraus.
Da war es, das Schild des Cafés. Noch wenige Schritte. Er wurde merklich langsamer. Noch konnte er zurück. Aber wie würde das aussehen? Es wäre in erster Linie feige. Kurz bevor er das Lokal betrat atmete er noch einmal tief durch. Es war voll, doch nicht überfüllt. Suchend sah sich David um, nahm dabei seine Mütze ab. Er spürte, wie die Hitze in seinen Kopf stieg. Da erspähte er ihn, jedoch erkannte er ihn erst auf den zweiten Blick, und weil er ihm zuwinkte. Chris. Er lächelte und prostete ihm mit einem Bier zu. David hob ebenfalls die Hand zum Gruße und ging in seine Richtung. Chris hatte einen Tisch direkt am grossen Panoramafenster ergattern können.
»Guten Abend. Ist der noch frei?« fragte David in coolster Manier, obwohl er sich bewusst war, dass er soeben rot angelaufen war.
»Bitte sehr!«
Chris machte eine Handbewegung, die andeutete, dass dieser Stuhl tatsächlich noch unbesetzt war. David musste unwillkürlich lachen. Er zog seinen Mantel aus und hängte ihn über die Stuhllehne. Dann reichte er Chris die Hand.
»Hi, Chris! Du mußt meine Gesichtsfarbe entschuldigen! Aber ich bin wahnsinnig aufgeregt!«
Ehrlichkeit währte am längsten. Das wusste David. Also machte er keinen Hehl aus seiner Unsicherheit.
»Das macht nichts! Ich war schon dreimal auf der Toilette! Hallo, David! Schön Dich zu sehen!«
Er nahm ihm gegenüber Platz. Sie sahen sich an. David kam aus dem Grinsen nicht heraus. Auch Chris konnte es sich nicht verkneifen. Er legte seinen Kopf in eine Hand und sah ihn von der Seite an.
»Wieso haben wir eigentlich so lange gewartet?« wollte er dann wissen.
David zuckte die Achseln.
»Ich habe keine Ahnung!«
Sie lachten.
»Und, mußtest du schon viele Autogramme schreiben?« fragte David dann.
»Unzählige! Nein, ich habe mein grimmigstes Gesicht aufgesetzt. Niemand wagt sich, mich anzusprechen! Was möchtest Du trinken?«
Eine Bedienung war inzwischen an ihren Tisch gekommen.
»Oh, ähm, erstmal etwas Warmes für mich! Eine heiße Schokolade, bitte!«
Dann wandte er sich wieder Chris zu.
»Also, was war so beschissen auf der Arbeit heute, David?«
»Puhh, da müßte ich ausholen!«
»Tu‘ dir keinen Zwang an!«
»Ach, es ist die Routine, weißt du. Manchmal ist das ja in Ordnung, aber wenn man immer das gleiche tut... Das deprimiert! Ausserdem ist Wochenende, und da langweile ich mich erfahrungsgemäß zu Tode!«
Chris sah ihn erstaunt an.
»Du scherzt!?«
»Nicht wirklich, nein. Ich hasse Wochenenden.«
»Das sollten wir ändern!«
»Wir?«
»Naja, ich für meinen Teil werde jetzt erstmal dafür sorgen, dass du dich nicht mehr langweilst. Zumindest heute nicht! Ich nehme an, du hast schon gegessen!?«
»Ja.«
»Okay, was hältst du dann von Tanzen?«
David rümpfte die Nase.
»Ach, nicht viel. Ich hab‘ die letzten Klamotten an! Ausserdem..., ach, nein, nicht tanzen heute!«
»Okay, okay, dann eben nicht. Aber die Location wechseln wir noch. Ich will nicht den ganzen Abend in dieser Räucherkammer verbringen. Kennst du das Mezzo?«
»Wardour Street, klar!«
»Gut, die haben heute ganz gute Musik. Wenn du Lust hast?«
David nickte. »Gerne!«
Sie verbrachten noch eine kleine Weile im Café, bis sich David einigermaßen wieder aufgewärmt hatte. Dann verließen sie unter neidischen Blicken das Lokal. Chris hielt ein Taxi an, und sie stiegen ein.
»Was hättest du heute abend gemacht, wenn wir uns nicht getroffen hätten?« wollte Chris wissen, während das schwarze Taxi mitten auf der Strasse wendete.
»Nichts. Ich würde wahrscheinlich schon schlafen.«
Chris schüttelte den Kopf.
»Weißt du, das hört sich für mich lebensmüde an.«
»Tja, ist halt so.«
David schien dieses Thema zu reizen. Er schaute aus dem Fenster den vorüberfliegenden Schaufenstern nach. Chris hatte es gemerkt.
»David?«
»Ja?«
»Entschuldige bitte. Ich wollte nicht indiskret sein.«
David nickte. Den Rest der Fahrt schwiegen sie. Es war ein sehr unangenehmes Schweigen.
Vor der Bar angekommen, stiegen sie aus.
»Hör‘ mal, wir müssen nicht unter Leute, wenn du nicht magst. Ich..., meine Wohnung ist direkt darüber. Wir könnten uns einen ruhigen Abend machen.« schlug Chris dann vor.
David kratzte sich am Hinterkopf. »Wärst du sehr böse?«
Fast strafend sah Chris ihn an.
Dann ging er zu einer sehr unauffälligen Tür unmittelbar neben dem Restaurant.
»Ich dachte, du wohnst auf dem Land!« stellte David fest, als sie den Aufzug mit Marmorboden betraten.
»In der letzten Zeit verbringe ich sehr viel Zeit in Durham, das stimmt. Aber vor Weihnachten bin ich öfter in London. Wir haben im Moment auch noch einige Termine. Da ist es immer lästig, vom Norden hierher zu fahren.« erklärte Chris.
Mit einem sanften Ruck hielt der Lift an, und die Türen öffneten sich. Sofort stand man in einem dezent ausgeleuchtetem Raum. Es gab zwei Türen, beide aus schwerem Metall. Chris steuerte auf eine der beiden zu und öffnete sie, nachdem er noch einen Code in den Zahlenblock eingegeben hatte.
»Willkommen in meinem Reich!«
Die Wohnung war gross. Das fiel David als erstes auf. Gross und übersichtlich und dezent eingerichtet. Es gab viel Glas. Er war sehr beeindruckt.
»Gib mir deinen Mantel!«
Während Chris in der Garderobe verschwand, machte sich David auf Erkundungstour. Trotz der modernen Einrichtung gab es einen Kamin im Wohnbereich.
»Darf ich dir etwas anbieten?« fragte Chris.
»Ach, nein, im Moment nicht. Danke!«
»Okay, dann mach's dir bequem!«
David ließ sich auf dem weißen Sessel nieder, der direkt neben einem der grossen Fenster stand. Man konnte über Soho schauen. Es war erstaunlich. David war fasziniert. Alles stimmte bis ins Detail. Trotzdem war die persönliche Komponente enthalten. Auf dem Couchtisch lagen zum Beispiel CDs und Magazine, auf dem Sofa ein Pullover, in dem Chris wahrscheinlich den Nachmittag verbracht hatte.
Als Chris kam, war David gerade vertieft in die Galerie auf dem Kaminsims.
»Meine Ahnen!« bemerkte Chris und ließ sich auf dem Sofa nieder.
Er hatte sich ein Glas Milch mitgebracht.
»Du hast es nett hier!« meinte David und setzte sich zu ihm.
»Ja, ich fühl‘ mich auch wohl, aber manchmal ist es doch ein bißchen einsam.«
David nickte.
»Es gibt also niemanden an deiner Seite?!« stellte er vorsichtig fest.
»Hab‘ ich dir das nicht geschrieben?«
»Ich weiß nicht. Ich... es hätte ja sein können!«
Chris merkte, wie aufgeregt er wurde.
»Nein, ich habe keinen Partner. Es gab da mal eine etwas unschöne Episode übers Internet, aber das war ein Reinfall.«
»Inwiefern?«
»Ach, es war einfach unmöglich! Er lebte in Deutschland, hatte Angst, mich kennenzulernen und viele, viele Komplexe. Obwohl ich dachte, ich sei verliebt. Aber es hat nicht lange gedauert, bis ich die Sache vergessen hatte. Es tat nicht so weh, wie bei richtigen Gefühlen. Also war ich am Ende froh, dass wir uns nicht getroffen haben.«
»Übers Internet, hm!?«
Chris schmunzelte. »Du meinst, ich hätte genug von solchen Bekanntschaften, was?!«
David zuckte die Achseln.
»Könnte man annehmen, ja!«
»Wir haben uns vielleicht sechs Wochen geschrieben. Das war nichts, verglichen mit unserer fast einjährigen Internetbeziehung!« erklärte Chris lächelnd.
David senkte den Blick. Er sagte nichts.
»Was denkst du?« fragte Chris.
»Was?«
»Ich mag dich sehr gern.«
Damit hätte David nicht gerechnet. Er spürte, wie sein Herz anfing schneller zu schlagen. Wieder die Röte in seinem Gesicht. Sie sagten beide lange nichts.
»Ich kenn‘ mich da nicht so aus, weißt du!« begann David schließlich.
»Auskennen? Worin?«
David kämpfte mit sich selbst und um Worte. »Ich bin halt allein.«
Keine Reaktion.
»Ich weiß nichts über diese Sachen, und ich... ich... Gefühle... ich kann das nicht einordnen.«
Nervös knetete David seine Hände.
»Wenn ich in jemanden ... wenn ich mich in jemanden verlieben würde, dann würde ich es gar nicht merken, weil ich nicht weiß, wie das ist. Ich weiß nicht, wie sich das anfühlt. Natürlich bekomme ich Herzrasen, wenn wir online sind. Ich unterhalte mich sehr gerne mit dir und... jetzt kommt auch nur Mist aus meinem Mund... ist es das?«
David war ganz aufgeregt. Seine Atemfrequenz war hoch, und er schwitzte aus jeder Pore seines Körpers. Chris sagte immer noch nichts.
»Ich weiß, ich muss es selbst herausfinden! Mein Gott, das ist so schwer, wenn man es noch nie mitgemacht hat! Ich meine, ich bin 26! Da sollte man eigentlich über ein gewisses Maß an Erfahrung verfügen. Deshalb bin ich wahrscheinlich so irritiert. Es macht mich ziemlich verrückt. Du...!«
Jetzt erst sah David ihn an. Die ganze Zeit hatte er ihn nicht angeschaut. Jetzt sah er, wie Chris‘s Augen leuchteten.
»Mein Gott, tu‘ was!« sagte David nur noch.
Er war vollkommen aufgelöst. Das war es, wieso er ihn nie hatte treffen wollen. Er hatte gewußt, dass er sich so verhalten würde. Nein, er hatte es nicht genau so vorausgesehen, doch das Gefühl kam ihm bekannt vor. Es war eingemottet in den letzten Jahren, und David spürte, wie es sich entfaltete. Noch nicht ganz klar war es, doch es war definitiv da. Das komische Gefühl in der Magengrube.
So ähnlich fühlte es sich an, wenn man sich in einem landenden Flugzeug befand. Noch intensiver. Heiße und kalte Schauer, die den ganzen Körper überfielen. Er wünschte sich, die Erde würde sich auftun. Er wünschte sich, er könnte mit einer gewissen Gelassenheit an diese Sache herangehen. Doch Pragmatismus kam ihm im Moment in keinster Weise in den Sinn. Ihm war schwindelig. Es war etwas anderes, als vor dem Bildschirm nette Texte zu formen. Sein Körper reagierte so anders. Er spürte, wie seine Haut ganz warm wurde, seine Knie ganz weich, obwohl er saß. Die Innenfläche seiner Hände waren feucht, das Gesicht glühte. Sein Atem war flach. Seine Augen hingen an Chris‘s. Dieser reagierte irgendwann; es kam David wie eine Ewigkeit vor. Chris stellte das Glas ab und beugte sich nach vorn. Ihre Knie berührten sich beinahe.
.
»Was würdest du jetzt gerne tun?« fragte Chris schließlich.
Eine Frage? Musste er tatsächlich eine Frage beantworten?
David atmete tief ein; beim Ausatmen hörte man seine Anspannung.
Ohne eine Antwort abzuwarten, stand Chris auf und ging zur versteckten Hifi-Anlage. Er drückte einige Knöpfe und schon bald erklang sehr entspannende Musik, Ambient der ruhigen Art. Dann näherte er sich David, legte eine Hand um seinen Nacken und streichelte ihn.
»Komm‘!« bat er und zog ihn sanft an der Hand nach oben.
Ganz automatisch umarmten sie sich. David hatte das Gefühl, die Besinnung zu verlieren. Sein Herz raste. Chris merkte es.
Beruhigend strich er ihm über den Rücken. Kein Wort fiel. Irgendwann schloss David nur noch die Augen und ließ sich treiben in dem rundum guten Gefühl. Es war heilend. Mit jedem Atemzug kamen sie sich näher. Chris erhöhte den Druck seiner Umarmung. David konnte seinen Duft einatmen. Er war süß und herb zugleich. Menschlich. Er konnte die salzige Nuance erkennen, den Rest des Parfums. Es war SEIN Geruch. Chris. Er konnte ihn endlich mit allen Sinnen wahrnehmen. Er wurde mutiger, streichelte seinerseits über seinen Rücken. Unter dem kurzärmeligen Hemd trug er offensichtlich nichts, denn er konnte die Konturen seiner Wirbelsäule ganz deutlich spüren. Es war eine sehr angenehme Wärme, die er ausströmte. David wollte nichts anderes tun, als so zu bleiben. Einfach so, in seinen Armen. Die Welt draußen. Nur sie beide. Er war ganz betrunken von Chris‘ Nähe.
David zuckte fürchterlich zusammen, als ein Telefon klingelte. Mit einem mal ließ er von Chris ab. Der wiederum war ebenfalls ganz erschreckt. Er fuhr sich durchs Haar. Auch seine Wangen waren errötet.
»Entschuldige!« murmelte er und nahm das Telefon vom Tisch.
Während er telefonierte, verliess er den Raum. Zeit für David, sich zu sammeln.
Er faßte sich an die Stirn. Was tat er hier? Er kannte Chris gar nicht. Oder doch? Es fühlte sich sehr vertraut an und doch so neu.
Er setzte sich auf das Sofa, denn seine Knie konnten ihn kaum noch tragen. Sein Kopf war voller Gedanken. Er schien zu explodieren. Was hatte das zu bedeuten? Wieso geschah das? Warum jetzt? Er hatte nicht damit gerechnet. Er hätte im Traum nicht gewagt, das in Betracht zu ziehen. Schon lange nicht mehr. War die Überraschung deshalb so groß? David versuchte mit seinen Augen, einen Gegenstand zu fixieren, doch es gelang ihm nicht. Er schweifte immer wieder ab. Er war nervös. Was sollte jetzt geschehen?
»Entschuldige! Ich dachte, ich hätte das Telefon ausgeschaltet.«
Chris schloss leise die Glastür. David drehte sich zu ihm um. Chris lächelte leicht. Er setzte sich neben ihn. Doch er behielt eine gewisse Distanz.
»Ähm...« begann David. Er suchte nach Worten.
»Das...hm, das passiert mir nicht so oft, weißt du!«
Er lachte nervös. Seine Hände versuchten sich ineinander zu verknoten. Er war vollkommen verunsichert.
»Das ist okay!« versicherte Chris leise.
Ganz unvermittelt nahm er Davids Hände in seine. Er hielt sie nur fest, sah dabei fest in seine Augen.
»Ich mach‘ das auch nicht jeden Tag. Ich bin mindestens genauso nervös wie du. Und ich ... es fällt mir nicht leicht, das zu sagen...«
Chris hauchte einen Kuß in seine Hände.
»Ich habe mich sehr in dich verliebt, David.«
Die Ohnmacht war nah.
»Oh!«
Davids Atem ging schnell. Chris bemerkte es. Er drückte seine Hände fester.
»Ich weiß, du bist vielleicht etwas überfordert jetzt. Ich möchte nicht, dass du jetzt voreilig handelst. Ich wollte, dass du es weißt. Ich war mir schon ziemlich sicher vor einiger Zeit, als du mir dieses Gedicht schriebst. Ich glaube, spätestens da wusste ich es.«
Die Situation war fragil. Jede Geste hätte eine Wende in dem bringen können, was als nächstes geschah. David war gelähmt. Er schluckte, doch seine Kehle war wie zugeschnürt.
»Das kommt überraschend, nehme ich an!?« lachte Chris, um die Lage etwas zu lockern, denn er merkte, wie sehr David kämpfte.
»Kannst du denn etwas damit anfangen?« fragte Chris dann.
Er streichelte seine Handgelenke. David sah zu Boden.
»Ich,...ähm, um ehrlich zu sein, nein! Ich... es ist... schon eine Weile her, seit ich... das heisst, eigentlich war ich noch nie... das hat mir noch nie jemand gesagt. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Doch, ich weiß das schon. Ich weiß nur nicht, was ich tun soll!«
Er lachte nervös.
»Was denkst du denn?« wollte Chris wissen.
»Nun, ich denke, ich empfinde schon etwas. Ich fühle mich sehr wohl bei dir. Und das hier gefällt mir auch. Es ist ungewohnt. Ich weiß nicht, wohin ich das stecken soll!«
»Wir können probieren, wohin es führt. Wenn du willst!«
David nickte.
»Ja. Ich... ja, ich möchte das wirklich!«
Sie umarmten sich. Diesmal ging die Initiative von David aus. Etwas unbeholfen zwar, doch zielstrebig legte er seine Arme um Chris.
David hatte Probleme, das Schlüsselloch zu finden. Seine Hände zitterten. Nicht unbedingt vor Kälte. Auch kam es nicht vom Alkohol. Er war in einem Zustand, den man ohne weiteres als Ausnahme bezeichnen konnte. Er war hellwach, obwohl es kurz nach drei Uhr am Morgen war.
Das Taxi hatte ihn gerade vor seiner Haustüre abgesetzt. Es war bitterkalt. Es hatte sich sogar schon eine dünne Eisschicht auf den Scheiben der Autos gebildet.
David fand sich in der Küche wieder. Noch im Mantel und ohne Licht. Er starrte aus dem Fenster in die Nacht.
Was war geschehen?
Seine Gedanken waren nicht mehr wie noch vor wenigen Stunden. Sein Leben hatte sich geändert. Alles hatte sich geändert. Alles hatte eine anderen Sinn. Welchen, darüber war sich David noch nicht bewußt. Aber er wußte, etwas war anders.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis er schließlich zu Bett ging. Doch auch dort fand er nicht die Ruhe, die vielleicht gebraucht hätte nach einer Woche Arbeit. Doch das, was er heute abend erlebt hatte, relativierte alles. In der Morgendämmerung fielen ihm schließlich die Augen zu.
Doch lange dauerte sein Schlaf, der zudem noch sehr unruhig war, nicht.
Es war die Türglocke, die ihn weckte. Um neun Uhr, nach vielleicht drei Stunden Dämmerschlaf.
David, noch vollkommen übernächtigt, schlurfte in Shorts und Pullover zur Tür und öffnete diese.
»Verschlafen! Hab‘ ich's mir doch gedacht! Hallo, Sohn!«
Seine Mutter.
David faßte sich an den Kopf.
»Mom!«
»Ich hab‘ dir doch gesagt, lass‘ uns um zehn Uhr treffen! Aber du mußtest ja unbedingt so früh raus!«
»Oh, Mom! Das hab‘ ich total vergessen! Gib mir zehn Minuten!«
»Laß dir Zeit! Es ist noch früh genug!«
»Oh, Mom! Entschuldige bitte!«
Die recht jung aussehende Frau mit nettem Bob und einem bezaubernden Lächeln ging an ihm vorbei in die Wohnung.
»Es hat geschneit heute nacht! Hast du schon hinausgeschaut?«
Sie hängte ihren Mantel an der Garderobe auf. David rieb sich die Augen und sah aus dem Küchenfenster. Tatsächlich. Eine gleichmäßige Schneedecke hatte sich auf den Dächern und in den Gärten niedergelassen, und es schneite noch immer leicht.
»So, jetzt dusch‘ dich! Ich mach‘ uns Frühstück.«
Seine Mutter, Claire, machte sich in der Küche zu schaffen.
Claire. David hatte immer ein sehr inniges Verhältnis zu ihr gehabt. Auch zu seinem Vater. Zwar war er vor vier Jahren von zu Hause ausgezogen, doch er besuchte seine Eltern so oft wie möglich. Er hing sehr an ihnen, waren sie doch das einzig Stete in seinem Leben.
Claire arbeitete als Lektorin in einem großen Londoner Verlag. Sie war recht erfolgreich in ihren Job und hatte ihn nur sehr kurz an den Nagel gehängt, nämlich für einige Monate nach Davids Geburt. Doch trotz ihres Ehrgeizes hatte sie die Familie nie vernachlässigt. Im Gegenteil. Sie hatte sich immer Zeit genommen. Das Wochenende war strikt privat gewesen, und auch den Urlaub hatte sie immer so geschickt ausgewählt, daß alle zusammen waren. Claire, Pete, Davids Vater, und David. Eine richtige Bilderbuchfamilie.
Auch mit seinem Vater kam er blendend aus.
Pete war Rechtsanwalt und hatte zusammen mit einem Partner eine Kanzlei. Auch ein Job, der viel Zeit in Anspruch nahm, doch David hatte das nie negativ zu spüren bekommen.
Als er ihnen vor einigen Jahren mitgeteilt hatte, daß er sich tendenziell zu Männern hingezogen fühlte, hatten sie sehr cool reagiert. Keine Panik, Vorwürfe oder ähnliche Attacken. Sie hatten es sehr nüchtern gesehen, waren trotzdem sehr interessiert an dem, was David ihnen erzählte. Leider hatte er ihnen bisher nie einen potentiellen Partner präsentieren können. Das bedauerte besonders Claire immer sehr. Sie konnte nicht verstehen, wieso David keinen Freund fand. Doch sie drängte ihren Sohn nicht, denn sie war sensibel genug zu ahnen, daß es ein wunder Punkt in seinem Leben war, unter dem er selbst sehr litt.
Als David zurückkam, diesmal frisch und mit etwas größeren Augen, war der Tisch gedeckt. Der Tee zog und es gab sein Lieblingsfrühstück, Weetabix mit Honig.
»Na, lange Nacht?« schmunzelte Claire und nippte an ihrem Tee.
»Kann man so sagen!«
David ließ sich geschafft auf einem Stuhl nieder.
»Oh, Mom!«
Er ließ den Kopf auf den Tisch fallen.
»Hey, ein Gespenst gesehen? Oder hast du schon genug von Weihnachten?«
Sie streichelte sein Haar. Er hob den Kopf.
»Weißt du was?!«
Sie sah ihn gespannt an.
»Wenn man nicht mehr klar denken kann. Wenn einem der Kopf zu platzen scheint. Wenn einem das Herz ständig bis zum Halse schlägt. Scheiße, ich bin verliebt!«
David rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht.
»Das ist schön!«
Claire versuchte, nicht zu überschwänglich zu sein, denn noch wußte sie nicht, daß seine Verliebtheit erwidert wurde.
»Mom, ich habe Angst! Kannst du das verstehen?«
Sie sah ihn an.
»Wovor?«
»Vor dem, was als nächstes passiert. Ich... ich merke, wie ich mich verkrampfe, wenn wir uns umarmen...«
Sie lächelte.
»Es kommt von selbst.« erwiderte sie.
»Mach‘ dir keine Gedanken, was du tun mußt, sollst oder darfst. Es kommt von ganz allein. Die Zeit bringt es.«
David atmete tief durch.
»Er ist toll!«
»So? Erzähl‘!«
»Oh, Gott! Wo soll ich anfangen? Er hat... er lacht so schön! Und seine Hände! Sie sind so schön und ganz ... wenn er mich hier berührt...«
David faßte sich an den Nacken.
»Er streichelt mich, und ich könnte heulen! Seine Augen sind so warm und dunkel, und er sieht mich an, und ich habe das Gefühl, er sieht in mich. Er hat mir diese Sache mit seiner Schwester erzählt, als sie ihn mit 17 mit einem Jungen erwischt hat in der Schule. Gott...!«
David schloß sie Augen für einen Moment.
»Er ist 31 und in einer Popband. Chris Baker.«
Claire sah ihn an.
»Du machst Witze?!«
»Nein, ich... wir haben uns übers Internet kennengelernt. Gestern haben wir uns getroffen. Wir kennen uns sozusagen seit fast einem Jahr.«
»Wow!«
Claire war beeindruckt.
»Das ist toll! Wann seht ihr euch wieder?«
»Er kommt heute abend hierher. Falls ich ihn nicht zu sehr vergrault habe.«
»Wieso solltest du?« fragte Claire.
David sagte nichts.
David saß auf dem Sofa im Wohnzimmer.
Er war sehr angespannt. Gerade geduscht, und er fühlte sich bereits wieder verschwitzt. Er hatte einige Kerzen angezündet.
Würde er kommen? Einerseits war sich David ziemlich sicher, andererseits hatte er Zweifel.
Was bedeutete er ihm? Klar, er hatte ihm gestern gesagt, dass er in ihn verliebt war. Doch das konnte man leicht sagen. Oder nicht? Sie kannten sich kaum. Wie konnte man sagen, dass man in jemanden verliebt war, wenn man sich nur geschrieben hatte. Oder konnte man es gerade deshalb sagen? War das ehrlicher als auf dem herkömmlichen Weg? Denn sie hatten sich geöffnet. Sie waren sich sympathisch gewesen. Das Treffen war die logische Konsequenz gewesen. Es wäre keine Enttäuschung gewesen. Es war, als ob sie sich schon ewig kannten. Den ganzen Tag hatte sich David Gedanken gemacht. Es war so anders. Die Situation. Alles war neu. Seine Gedanken spielten verrückt. Vor allen Dingen war er glücklich. Doch das Glücklichsein war nicht so eindeutig, denn es wurde durch die vielen neuen Eindrücke etwas verwischt.
Die Türglocke riß ihn aus seinen Gedanken. Halb neun. Das musste er sein. Mit zitternden Knien ging David zur Tür und öffnete.
»Hallo!«
Chris sah ihn mit breitem Grinsen an. David lächelte.
»Hallo!«
Er trat einen Schritt zur Seite.
»Willkommen! Schön, dass du da bist!«
Als Chris eintrat, drückte er kurz seinen Arm.
»Darf ich dir etwas anbieten?« fragte David, während er ihn ins Wohnzimmer führte.
»Im Moment nicht. Danke! Schön hast du es!«
»Gefällt es dir?« fragte David ungläubig.
»Ja, es ist sehr schön!«
Er nahm auf der Couch platz. David zögerte, doch dann setzte er sich auf den Sessel ihm gegenüber.
Er war nervöser als gestern.
»Was hast du heute so getrieben?« wollte Chris wissen.
»Oh, ich war mit meiner Mutter Weihnachtsgeschenke kaufen. Ich hatte es ganz vergessen. Und da stand sie um zehn vor der Tür. Aber wir hatten einen schönen Tag in der Stadt.«
»Kann ich mir vorstellen. Das Wetter war phantastisch! Ich bin spazierengegangen. Und ich war shoppen. Ich bin sehr spät dieses Jahr, was die Geschenke betrifft.«
»Ach, das ist in Ordnung! Letztes Jahr bin ich einen Tag vor Weihnachten losgezogen. Das war purer Streß. Ich hatte beinahe einen Nervenzusammenbruch. Heute war es ganz relaxed. Obwohl sehr viel loswar.«
»Was verschenkst du so?«
»Oh, ich bin nicht der wahnsinnige Geschenkekäufer. Ich erkundige mich vorher, was die Leute brauchen und kaufe dann doch ganz andere Dinge. Darüber freuen sie sich meistens mehr, als über die praktischen Dinge, die sie mir vorher genannt haben. Ich suche meistens hübsche Sachen aus. Bilder, Bücher, Farbe und so.«
»Farbe?«
»Mein Vater malt sehr gerne. Letztes Jahr hat er einen Satz neuer Pinsel bekommen. Diesmal ist es ein Koffer für seine Malutensilien. Und meine Mutter bekommt einen Spiegel. Ich habe einen wunderschönen alten Spiegel in Fulham entdeckt. Er wird nächste Woche geliefert. Sie ahnt nichts!«
»Wow, das hört sich an, als würdest du dir Gedanken machen!«
David zuckte die Schultern.
»Ich weiß nicht, ich gehe durch die Geschäfte, und dann sehe ich, das ist es!«
»Was machst du an Weihnachten?«
»Ich bin Heiligabend bei meinen Eltern. Meine Großeltern kommen auch. Sie wohnen in Schottland, und ich sehe sie das ganze Jahr kaum. Wahrscheinlich werde ich auch die Nacht dort verbringen. Und morgens werden die Geschenke ausgeteilt.«
Chris lächelte.
»Das hört sich richtig gut an! Ich werde auch mit meiner Familie feiern. Sie wohnen im Norden. Aber am Dienstag bin ich wieder in London. Ich treffe Freunde zum Essen. Es wird sehr gemütlich werden dieses Jahr. Das muss auch sein, denn ich bin ausgepowert. Das Jahr war hart.«
David nickte.
»Wenn du willst, können wir uns sehen, wenn ich wieder da bin.« schlug Chris vor.
David sah ihn an.
»Hm, willst du..., wollen wir noch irgendwo hin? Oder...«
David knibbelte an seinen Fingernägeln.
»Ich dachte, wir bleiben heute abend bei dir!?«
Chris sah ihn fragend an.
»Ja, okay. Kein Problem!« entgegnete David hastig.
»Wenn du ´was anderes geplant hast...«
»Nein, es ist in Ordnung. Ich dachte nur, es könnte dir zu langweilig sein.«
Chris legte den Kopf zur Seite.
»Ich nehme an, du fühlst dich unbehaglich?!«
David zuckte die Achseln.
»Ein bißchen, ja.«
»Ist okay.«
»Weißt du, es ist schwieriger, wenn man älter ist. Ich meine älter im Sinne von... du weißt schon! Ich bin 26 und habe null Erfahrung. Wenn man jünger ist macht man sich keinen Kopf darüber. Es passiert einfach. Und ich..., ich war nie der Draufgänger. In keiner Beziehung. Ich hätte nie gedacht, daß mir sowas noch passiert!«
David lachte nervös.
»Du tust fast so, als seist du aussätzig!«
»In dieser Sache schon. Ich meine, wenn dich nie jemand so angeschaut hat. Da macht man sich ja seine Gedanken und zieht Rückschlüsse. Es ist nicht so, daß ich es nie gewollt hätte. Die anderen wollten nicht. Ich war offen. Ich habe mir Mühe gegeben. Ich war nett. Naja, es ist ja ...«
David fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht.
»Das tut mir sehr leid, daß du ... ich versteh´ das zwar nicht, aber es war wohl so. Das soll aber nicht heißen, daß du daran schuld bist. Ich sehe dich als Mann, der unheimlich viel in sich trägt, das gerne nach draußen will. Du bist sehr attraktiv und intellektuell und einfühlsam, was ich aus den Gesprächen entnehmen konnte. In dir stecken so viele Dinge. Du bist jemand..., ich habe noch nie jemanden wie dich getroffen. Ich habe gemerkt, daß du sehr wütend bist und sehr zerrissen. Du kannst deine Wut nur nicht zeigen. Das solltest du. Das ist gut. Du hast mich sehr berührt. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, weil ich daran denken mußte, wie du ... bist. Ich glaube, ich ... Das klingt jetzt wahrscheinlich ziemlich suspekt, aber... Ich weiß nicht, ob ich dem gewachsen bin!«
David war verwirrt. Gerührt und verwirrt. Er sah zur Seite.
»Da haben wir es wieder. Eine sehr originelle Abfuhr diesmal.«
Er stand auf.
»Ich verstehe das jetzt auch nicht. Ich weiß nur, wenn das jetzt ein Versehen von dir war, dann sag es jetzt und geh!«
Er war aufgeregt.
»Nein, das... so habe ich das nicht gemeint. Ich kann nicht hellsehen. Ich weiß nicht, ob das zum Scheitern verurteilt ist. Ich weiß nur, daß ich unheimlich viel für dich empfinde und daß ich deine Gegenwart genieße.«
Schweigen. David sah ihn nicht an. Er überlegte.
»Weißt du, ich will auch nicht mehr verarscht werden.«
Seine Kehle war wie zugeschnürt. Chris stand auf und ging zu ihm.
»Ich bin ehrlich zu dir.«
Etwas unbeholfen umarmten sie sich. Es war, als ob eine zentnerschwere Last von Davids Herzen fiel. Seine Anspannung löste sich mit einem mal, und er fühlte, wie sich seine Augen füllten mit heißen Tränen, die ihn die ganze Zeit überflutet hatten.
Er weinte.
KAPITEL 2
Claudia hatte ihn gewarnt.
Zurecht, denn sie hatte eine wage Ahnung dessen, was passieren würde. Sie kannte Chris. Sie kannte auch Torsten. Beide hatten starke Charaktere, und waren doch so sensibel. Torsten hatte sich etwas in den Kopf gesetzt. Ihn davon abzubringen war eine Lebensaufgabe. Claudia hatte es versucht. Mit fast allen Mitteln. Nun standen sie auf dem Flughafen. Torsten hatte seine Tasche bereits eingecheckt. Für einen Rückzug war es jedoch noch nicht zu spät.
»Was ist, wenn er nicht da ist?«
Claudia versuchte die profansten Ausreden.
»Du hast doch noch mit ihm gesprochen. Er ist zu Hause. Ich werde ihn anrufen. Ich denke schon, daß er da ist.«
Torsten nahm seine Bordkarte aus der Innentasche seines Mantels.
»Ich denke, ich gehe jetzt. Ich wünsch‘ dir was!«
»Bist du sicher?«
Torsten verdrehte die Augen.
»Ich war mir noch nie so sicher. Kann ich jetzt gehen?«
»Du mußt es wissen. Ich habe dich gewarnt!«
»Was soll den großartig passieren? Er wird mich schon nicht ignorieren oder irgendwas in der Richtung.«
Claudia hob die Augenbrauen.
»Dann geh‘ in Gottes Namen!«
Torsten hob die Hand zum Gruße, dann verschwand er in der Abflughalle hinter der großen Schiebetür aus Milchglas.
Torsten war sehr nervös. Er hatte es sich auf der Fahrt zum Flughafen nicht anmerken lassen. Doch Claudia hatte es gemerkt. Er hatte kaum ein Wort gesprochen, während sie ununterbrochen auf ihn eingeredet hatte, er solle es sich überlegen.
Er war auf dem Weg nach London.
Ganz kurzfristig hatte er sich entschieden. Nächste Woche war Weihnachten. Er hatte noch Resturlaub gehabt. Jetzt saß er im Flieger nach London. Er hatte sich in ein sündhaft teures Hotel eingemietet, denn es war vor den Feiertagen nichts mehr freigewesen, was sein Portemonnaie nicht so belastet hätte. Also hatte er in den sauren Apfel gebissen. Den Flug hatte er aber äußerst günstig bekommen. Wenigstens dieses Trostpflaster. Und die Vorfreude auf das Treffen mit Chris. Chris wußte nichts von seinem Glück.
Gegen 11 Uhr am Morgen kam Torsten in Heathrow an.
Es war sein zweiter Besuch in London für dieses Jahr. Nach dem gemeinsamen Urlaub mit Claudia. Doch das hier hatte er allein geplant.
Mit dem Express-Zug fuhr er in die Innenstadt, von wo er ein Taxi zum Hotel Blake's nahm. Es lag in Chelsea, sehr ruhig. Und es war wirklich nobel. Es war sein Geld wert. Definitiv.
Es war am frühen Nachmittag, als sich Torsten nach einer kleinen Verschnaufpause auf den Weg machte. Es schneite sehr stark. Er nahm die U-Bahn nach Soho. In seinem Magen rumorte es gewaltig. Er zitterte am ganzen Körper, und es war nicht nur die Kälte schuld daran.
Nummer 101. Hier war es. Er hatte es sofort gefunden. Im Sommer waren sie oft hier vorbeigegangen. Doch Chris war zu dem Zeitpunkt nicht in London gewesen. Nachdem Torsten endlich die Klingel gedrückt hatte, hielt er den Atem an und schloß die Augen.
»Ja, bitte?« ertönte es aus der Sprechanlage.
Es war Chris.
»Hier ist Torsten!«
Eine Weile geschah nichts. Fast hätte Torsten kehrt gemacht, doch da ertönte der Summer der Tür.
Er drückte die schwere Stahltür auf. Er fand sich in einem großen Hausflur wieder. An einer Seite gab es zwei Aufzüge. Eine Tür öffnete sich gerade. Es mußte Chris‘ privater Lift sein. Claudia hatte einmal etwas erwähnt.
Er betrat den kühlen Aufzug und drückte den Knopf für die vierte Etage. Mit einem sanften Ruck setzte sich der Lift in Bewegung und schnurrte wie eine Katze nach oben.
Torstens Herz raste. Er war fix und fertig, obwohl noch nichts geschehen war.
Die Tür kannte kein Erbarmen und öffnete sich an ihrem Ziel. Ein riesiger Flur tat sich vor ihm auf. Parkettboden, die Wand zur Straße komplett verglast. Moderne Lampen. Und noch eine Stahltür im Stil der Haustür. Mit einer breiten Stange, die als Griff diente. Auch diese öffnete sich, doch nicht wie von Geisterhand wie die Lifttür.
Chris.
Er sah müde aus, doch nicht im negativen Sinn. Ein bißchen verschlafen. Attraktiv. Torsten machte eine Handbewegung, die etwa soviel heißen sollte wie ‚Tja, hier bin ich!‘
»Wow!« bemerkte Chris.
Er kam näher. »Claudia... sie hat mich angerufen.«
Torsten sah zu Boden. Ihm war es plötzlich furchtbar peinlich. Andererseits war er froh, daß sie es getan hatte.
»Das ist toll!«
Chris strich über seinen Arm.
»Willkommen!«
Torsten schluckte. Er atmete schwer.
»Soll ich gehen?«
Statt einer Antwort folgte eine feste Umarmung.
»Ich freu‘ mich, daß du da bist!« flüsterte Chris.
Torsten hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Er war erleichtert, es endlich getan zu haben, egal was jetzt folgen würde. Als Chris ihn losließ, rollten sie unaufhaltsam über seine Wangen. Chris wischte sie weg. Dann drückte er ihn noch einmal.
»Torsten!«
Schließlich nahm er ihn an der Hand und führte ihn in die Wohnung.
»Komm‘, zieh‘ den Mantel aus!«
Er half ihm dabei.
»Torsten, setz‘ dich!«
Sie nahmen in der Küche platz.
»Darf ich dir etwas anbieten? Hast du schon gegessen?«
Torsten schüttelte den Kopf.
»Ich möchte nichts, danke.«
Chris sah ihn an.
»Mein Gott! Jetzt seh‘ ich dich hier! Du siehst gut aus! Warst du in der Sonne?«
Er streichelte seine Wange.
»Ich habe lange überlegt, ob ich das hier tun soll. Die ganzen Monate, und dann letzte Woche hab‘ ich es einfach getan. Ich weiß nicht, was es bringt, aber ich wollte das einfach. Im Sommer habe ich mich nicht gewagt. Ich hab‘ mich einfach nicht getraut, obwohl du es mir so einfach gemacht hast. Du warst so ehrlich, und ich habe mich so benommen. Es hätte ja auch sein können, daß du mich nicht ...«
Torstens Stimme brach. Er war vollkommen aufgelöst.
»Ich hab‘ es überlebt. Es war eine schlimme Zeit, aber es ist okay.«
Er nahm Torstens Hand, die auf dem Tisch lag.
»Wie geht es dir? Wie ist die Situation zu Hause? Deine Eltern?«
Torsten schüttelte den Kopf.
»Ein Desaster!«
Er weinte leise.
»Das tut mir leid. Glaubst du, sie beruhigen sich?«
Torsten konnte nichts sagen.
»Hey...!«
Chris ließ ihn eine Weile weinen. Er hielt nur seine Hand. Das Telefon ignorierte er.
»Es ist okay! Du darfst jetzt nicht zumachen. Es tut doch gut.« bemerkte Chris, als Torsten sich anstrengte, die Tränen zurückzuhalten.
»Das ist eine riesige Belastung. Ich kenn‘ das doch. Manchmal muß man einfach Luft machen. Das ist vollkommen in Ordnung.«
Es artete in einem mittlerem Nervenzusammenbruch aus. Torsten war am Ende. Als er sich einigermaßen beruhigt hatte, bereitete Chris Tee zu.
»Kannst du gehen? Wollen wir ins Wohnzimmer? Dort ist es wärmer.«
Torsten war ganz unsicher auf den Beinen. Im lichtdurchflutetem Wohnzimmer nahmen sie auf dem hellen Sofa platz.
»Möchtest du reden?«
Torsten nickte.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich wohne bei ihnen, und es ist wie... wenn ich meinen Vater sehe, versuche ich, versuche ich mich total unauffällig zu verhalten. Jede noch so kleine Geste, die irgendwie verräterisch wäre... es kommt jedesmal zum größten Krach. Besonders jetzt vor den Feiertagen. Ich denke mit Schrecken an nächste Woche! Letztes Jahr war ich bei einem Freund, weil meine Mutter schon wieder anfing zu weinen wegen mir. Das macht einen mürbe. Ich kann auch nicht mehr. Ich hab‘ es satt, auf andere Rücksicht zu nehmen. Ich muß damit fertig werden. Nicht meine Eltern. Ich muß es in erster Linie akzeptieren. Wenn mir dann so in den Rücken gefallen wird, dann... wie soll ich das dann akzeptieren? Ich brauche auch jemanden, der mir den Rücken stärkt. Ich habe Claudia. Ich danke Gott jeden Tag dafür, daß ich sie habe. Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn sie nicht da wäre. Ich weiß es wirklich nicht. Sie hilft mir so. Ich habe...«
Torsten schloß die Augen.
»Claudia ist toll. Halt‘ sie fest.«
Torsten nickte.
»Ich weiß, ich habe sie in den letzten Wochen sehr überanstrengt. Ich... hat sie mit dir gesprochen?«
»Ja. Sie ist sehr verletzt.«
»Ich weiß.«
Torsten legte seinen Kopf in beide Hände.
»Ich war sehr unter Druck in den letzten Monaten. Und als sie mir dann diese Dinge sagte. Daß sie mich noch sehr lieben würde, und daß sie weiß, daß es utopisch ist. Sie wollte nur einen kleinen Abstand von allem. Und ich hab‘ es ihr übel genommen. Ich habe sie... und sie redet immer noch mit mir, obwohl ich weiß, daß ich gemein war. Ich sehe, wie verletzt sie ist. Ich habe Angst, daß ich sie verlieren könnte.«
»Sie hält viel aus. Aber du solltest mit ihr reden. Das bist du ihr schuldig.«
Torsten rieb sich das Gesicht. Chris massierte seinen Nacken.
»Das tut mir sehr leid, Torsten. Ich wünsche dir, daß du das in den Griff kriegst. Ich weiß, daß es harte Arbeit ist. Bei manchen wirst du auf Granit beißen, aber sie sind es auch nicht weiter wert. Wenn es deine Eltern sind, dann ist es zwar doppelt so hart, aber es ist so. Dann mußt du für dich die Konsequenzen ziehen. Am Ende ist es das beste für dich. Und wer weiß? Menschen ändern sich!«
Torsten sagte nichts.
»Ach, mein Armer! Hör‘ zu, wo wohnst du? Wie lange bleibst du?« wechselte Chris das Thema.
»Ich habe ein Zimmer im Blake's. Bis Heiligabend.« antwortete Torsten.
»Schön! Wir können uns gerne sehen und essen gehen oder so.«
Torsten sah ihn an. Er nickte.
»Ich komme ungelegen.« meinte er leise.
»Nein. Überraschend, ja. Ich habe natürlich einige Dinge zu erledigen. Aber es sind Kleinigkeiten. Wir können uns oft sehen.«
»Okay, dann werde ich jetzt...«
»Nein! Du bist doch gerade erst gekommen! Und außerdem...«
Chris wurde ernst.
»Ich schätze, ich muß dir noch etwas sagen. Eigentlich bestand ja kein Anlaß dazu, weil wir uns ja seit Monaten nicht mehr gesprochen haben. Und ehrlich gesagt ist das ganze auch noch sehr frisch.«
Torsten ahnte etwas. Er rückte etwas von ihm ab, wenige Millimeter nur, aber die Geste war eindeutig.
»Ich habe mich verliebt. Ich weiß nicht, was daraus wird. Aber im Moment ist es einfach sehr schön. Ich... es war auch eine Art Kurzschlußhandlung, aber ich wußte, daß es an der Zeit war.«
Torstens Miene versteinerte sich. Sie schwiegen lange. Chris wußte, daß es schmerzte. Er spürte es förmlich. Er traute sich nicht, ihn anzufassen.
»Ich habe nichts erwartet.« meinte Torsten schließlich leise.
Es war nicht besonders überzeugend, doch immer noch besser als das Gegenteil zuzugeben. Chris sah ihn skeptisch an.
»Torsten...«
Chris kannte ihn ein wenig, wenngleich sie sich nur relativ kurze Zeit über das Internet ausgetauscht hatten. Ihre Liebe hatten sie sich gegenseitig gestanden. Im Sommer.
Es war eine sehr intensive Zeit gewesen. Sie hatte Torsten sehr geprägt, ihn in eine Krise gestürzt, ihn über sich neu nachdenken lassen.
»Ich bin auch überrascht jetzt. Aber man darf keine Erwartungen haben. Wenn sie nicht erfüllt werden, ist das immer sehr schmerzhaft.« erklärte er tapfer.
»Und Erwartungen und Hoffnungen sind so schön.« fuhr Chris fort.
»Es tut mir leid, wenn ich sie nicht erfüllen kann.«
»Ich möchte jetzt gehen.«
Doch Torsten blieb sitzen. Er war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Er war wie gelähmt.
»Es war ein Fehler zu kommen.«
»Das denke ich nicht. Ich würde dich sehr gerne kennenlernen. Neu kennenlernen. Denn ich denke nicht, daß für uns die Zeit gekommen war, sich zu trennen. Sofern man davon sprechen kann. Ich habe dir gesagt, daß du eine unglaubliche Persönlichkeit bist. Und ich fand es sehr schade, als wir uns nicht mehr schrieben. Ich will mehr von dir wissen. Und jetzt, da du hier bist... geh‘ nicht schon wieder. Ein zweites mal könnte ich es nicht ertragen. Es bedeutet mir sehr viel.«
Er sah, wie sich Torstens Augen wieder mit Tränen füllten.
»Ich meine das ernst.«
Das war's. Torsten weinte. Auch Chris kämpfte mit sich. Und verlor. Er hatte sehr gelitten, als sich Torsten, der sehr schwierig sein konnte, damals entschieden hatte, den Kontakt zu ihm abzubrechen, weil eine Beziehung auf Distanz für ihn nicht in Frage kam. Er hatte zu viele Probleme darin gesehen. Das nur deshalb, weil er nach wie vor bei seinen Eltern wohnte, die mit seinem Lebenswandel nicht zurechtkamen und ihm so gut es ging ein schlechtes Gewissen einredeten. Chris hatte es sehr mitgenommen. Er hatte es nicht verstanden, weil es die Hintergründe nicht genau kannte. Claudia hatte ihn irgendwann aufgeklärt. Doch es war zu spät gewesen.
Chris fuhr Torsten in sein Hotel. Es war eine seltsame Situation. Beide fühlten sich denkbar unwohl in ihrer Haut und jeder wußte, was der andere tat, sobald Torsten ausgestiegen war. Und so war es. Rotz und Wasser heulend fuhr Chris los. Ziel war sein bester Freund Ian, der ganz in der Nähe wohnte. Als er Chris in seinem desolaten Zustand antraf, war er schockiert.
Torsten hatte es nicht so gut. Die Toilette mußte als erstes herhalten. Er mußte sich übergeben. Das hatte er nicht erwartet. Er fühlte sich hundeelend. Es war sechs Uhr. Er war in London. Claudia wollte er nicht anrufen. Er würde es nicht aushalten. Also legte er sich früh zu Bett. An Schlafen war nicht zu denken.
KAPITEL 3
»Hi, Claudia! Hier ist Marc! Ich schätze, du bist unterwegs mit Torsten. Ähm, ich hab‘ schon tausendmal versucht, ihn zu erreichen. Sag‘ ihm doch, daß er mich mal zurückrufen soll. Wär‘ nett, weil... ja, wär‘ halt nett! Du siehst ihn wahrscheinlich eher als ich. Danke. Ciao!«
Claudia schnappte sich das Telefon und wählte eine Nummer. Derweil zog sie sich den Mantel aus.
»Marc Klauser?«
»Hallo, Marc! Claudia hier!«
»Ach, hi! Du bist aber auf Achse, kann das sein?«
»Kann man so sagen, ja! Was gibt's?«
»Ist Torsten bei dir?«
»Nein. Den hab‘ ich heute morgen zum Flughafen gefahren.«
»Ach, ich wußte gar nicht, daß er in Urlaub fährt. Wohin denn?«
»Dreimal darfst du raten!«
»Nein!«
»Klar! Nach London. Ich konnte es ihm nicht ausreden. Ich habe alles versucht. Ich hab's dann aufgegeben. Er muß wissen, was er tut.«
»Ach, und... weiß... ich meine, weiß Chris davon?«
»Ich hab‘ ihn angerufen. Was soll ich sagen? Er war nicht sehr begeistert.«
»Hm, das ist übel. Und hat sich Torsten schon gemeldet?«
»Nein. Ich wundere mich auch. Er ist heute morgen geflogen.«
»Hm, da bin ich ja mal gespannt. Armer Kerl!«
»Oh, ich hab‘ kein Mitleid mehr mit ihm! Das hat er sich selbst zuzuschreiben. Im Sommer wollte er ja nicht.«
»Ach, ja! Aber es beschäftigt ihn ja doch noch!«
»Ja. Ich weiß. Ich..., ich weiß nicht, wo mir mein Kopf steht. Ich..., erst heult er mir die Ohren voll, dann will er nichts mehr davon wissen, und jetzt... naja... Was wolltest du von ihm?«
»Ach, nicht so wichtig. Weißt du, wann er zurückkommt?«
»Er wollte eine Woche bleiben. Wenn nichts dazwischenkommt. Aber ehrlich gesagt, habe ich das Gefühl, daß da was ganz Böses passiert.«
»Hm, jetzt mal den Teufel nicht an die Wand! Ich schätze, sie werden sich ausgesprochen haben!«
»Das hoffe ich! Das hoffe ich für ihn und für mich!«
»Kannst du ihm dann Bescheid geben, daß er sich mal bei mir meldet? Oder, nein, sag‘ du mir, wenn er wieder da ist, ja?«
»Klar, mach‘ ich! Hör‘ zu, da kommt ein zweiter Anruf rein. Ich meld‘ mich bei dir, okay?«
»Danke! Bis dann!«
»Bye! --- Hallo?«
»Claudia?«
»Torsten! Hi! Was ist?«
Lange Zeit war nur Schluchzen am anderen Ende der Leitung zu hören.
»Torsten... hey!«
»Kannst du mich... ich bin am Bahnhof! Kannst du mich abholen?«
»Am Bahnhof? Du meinst, hier am Bahnhof?«
Schluchzen.
»Natürlich! Ich bin gleich bei dir! Bleib‘, wo du bist! Ich fahre los!«
Claudias Herz raste. Sie wußte zwar nicht, was passiert war, doch konnte sie es sich annähernd denken. Es schneite. Die Straßen waren bedeckt und sehr rutschig, trotzdem schaffte sie es, heil am Hauptbahnhof anzukommen. Dort erkannte sie ihren Freund schon von weitem. Er stand mitten im Schneegestöber. Es schien ihm nichts auszumachen. Als er sie erspähte, nahm er seine Tasche, öffnete die Beifahrertür und stieg ein. Schweigend fuhren sie zu ihm nach Hause. Erst als Torsten seine Wohnungstür aufschloß, wollte Claudia wissen, was geschehen war.
»Torsten, ich habe ihn angerufen heute morgen.«
»Ich weiß.« entgegnete Torsten leise und hängte seine vollkommen durchnäßte Jacke an der Garderobe auf.
Wie in Trance ging er ins Wohnzimmer, wo er sich im Dunkeln aufs Sofa setzte.
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