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Sommermärchen

Teil Zwei

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Inhaltsverzeichnis

4. Tobias – Start ins neue Leben

Das war schon ein ziemlicher Knaller… Marcel und Felix. Ich wusste, das zwischen den beiden was war nach dem WM-Halbfinale. Aber niemals hätte ich bei diesen Beiden an eine Romanze gedacht. Dazu kam nun noch der gemeinsame Job im Schlösschen. Im Grunde so, wie ich es mir auch wünschte. Aber ich konnte ja auf dem Lehrlingsabschied nach dem Outing der Beiden nicht lauthals losbrüllen: „Halli hallo, ich auch! Noch jemand hier mit ähnlichen Vorlieben?“ Ein kleines bisschen neidisch war ich schon auf das Glück der beiden – aber was soll man machen, wenn Amors Pfeil knapp an einem vorbeifliegt?

Diese und ähnliche Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich am Tag nach dem Lehrlingsabschied mein wohl letztes Mittagessen im Schlösschen einnahm. Einer der Kellner unterbrach mich in meinen stillen Überlegungen: „Tobi, du sollst nach dem Essen bitte noch mal zum Chef.“

Ich grübelte so vor mich hin, ob er wohl noch ein besonderes Zeichen der Dankbarkeit oder vielleicht ein Ausbildungszeugnis haben würde, kam aber zu keinem befriedigenden Ergebnis und beschloss, mich überraschen zu lassen. Da ich auf dem Weg in sein Büro auch direkt an meinem -nun ehemaligen- WG-Zimmer vorbei kam, beschloss ich gleich, meine Tasche mitzunehmen. Immerhin vermutete ich, dass nun Felix statt meiner hierher in diese Hotelwohnung ziehen würde.

Als ich die Räume betrat, hörte ich ein Schluchzen und konnte schnell feststellen, dass es aus Marcels Schlafzimmer kam. Ich klopfte und trat ein, als ich ein sehr leises „Ja?“ vernehmen konnte. Marcel lag auf dem Bett, hatte Tränen in den Augen und so gar nichts mehr von dem in Glück aufgelösten jungen Mann, der mir am Vorabend von seinem neu gefundenen Glück erzählt hatte.

„Hey, was ist los?“

Er sah mich mit rotgeränderten Augen an: „Es ist vorbei, ehe es angefangen hat“. Hatte Felix Schluss gemacht? Das konnte ich mir nach 14 Stunden nun wirklich nicht vorstellen.

„Was ist passiert?“

„Gast hat die Übernahme revidiert.“

„Bitte? Warum denn das?“

„Ach er hat irgendwas von Aufsichtsrat oder Betriebsrat und Gesellschaftern gefaselt und von nicht leisten können. Das ist doch nur, weil wir schwul sind, oder?“

„Scheiße“, rutschte es mir raus. Ganz von der Hand war dieser Gedanke ja nun wirklich nicht zu weisen. Aber es würde wohl keine Möglichkeit geben, das rückgängig zu machen. „Marcel, es ist eigentlich nichts anderes passiert, als dass er euch nicht übernommen hat. Egal warum, aber davon dürft ihr euch nicht unterkriegen lassen. Wenn es wirklich deswegen ist, dann ist es sowieso besser, wenn ihr nicht hier bleibt.“

„Du hast ja Recht, aber wenn du vom Himmel zurück auf die Erde kommst, ist das halt auch ein Absturz.“

Wir redeten noch ein bisschen, aber zumindest in die wieder erdunkelte berufliche Zukunft konnten wir kein Licht bringen. In Anbetracht der neuen Entwicklungen war ich nun natürlich gespannt, was Dr. Gast von mir wollte. Nachdem ich Marcel mit ein paar letzten aufmunternden Worten allein gelassen hatte, ging ich zum Chefbüro und wurde sofort nach drinnen gebeten.

„Tobias, setzen sie sich.“ Es war das erste Mal, dass Dr. Gast mich mit dem Vornamen ansprach. Marcel und Felix duzte er ja nun schon seit der WM. „Es gibt doch noch mal Veränderungen. Das Renommee unseres Hauses erlaubt es nicht, und da bin ich mit den Gesellschaftern einer Meinung, ein ...äh... homosexuelles Paar einzustellen. Da sie als Nummer drei auf der Liste standen, kriegen sie jetzt die Chance, den Job als Hotelkaufmann anzutreten. Zivildiensttechnisch sollte das wenig Probleme ergeben. Und wenn doch, wäre ich bereit, hier eine entsprechende Stelle zu schaffen. Tobias, darf ich sie im Team begrüßen?“

Ich weiß nicht, wie lange ich ihn angesehen habe. Und noch 24 Stunden früher wäre ich über dieses Angebot total happy gewesen. Aber unter diesen Umständen und mit dieser Begründung?

„Herr Gast, geben sie mir einen Tag Zeit. Ich würde mir das gern durch den Kopf gehen lassen.“

„Gut. Bitte kommen sie morgen um 16 Uhr zu mir. Dann können wir alles klar machen.“ Er schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein. Aber ich brauchte jetzt jemanden zum reden ... und da kamen eigentlich nur genau zwei Leute in Frage.

Ich verließ das Hotel, und noch auf dem Parkplatz zückte ich mein Handy und rief Marcel an. „Hi Marcel. Bist du noch drin im Hotel?“ „Bin vor zehn Minuten raus.“ „Können wir uns heute Abend treffen?“ „Ja, klar. Wo?“ Wir verabredeten uns zu dritt in einer Strandbar, die es als einzige wagte, dem Schloss-Garten Konkurrenz zu machen.

Besonders gute Stimmung herrschte an diesem Abend nicht. Nur 24 Stunden nachdem eigentlich alles klar war, war wieder alles total unklar. Felix hatte seine Entscheidung getroffen, und es war ihm anzumerken, wie schwer sie ihm gefallen war: „Mir bleibt nicht viel übrig, ich werd nach Wien gehen. Das ist ein zu interessantes Angebot, und grad weil ich hier nichts mehr hab... ich muss es machen.“ Ich nickte, und auch Marcel wusste, dass diese Lösung für Felix die einzig logische war: „Ich kann vorübergehend im Geschäft meiner Eltern aushelfen, auch bei ihnen wohnen und ein bisschen verdienen geht auch. Aber ich werde meinen Felix so unglaublich vermissen.“

Das war nur zu sehr nachvollziehbar. „Hast du nicht überlegt, dich auch mal in Österreich umzusehen?“

„Ja, in den letzten Stunden ist dieser Entschluss in mir auch gereift. Aber das kann dauern.“

Das bahnte sich bereits die erste Belastungsprobe für eine Beziehung an, die noch keinen Tag alt war. Und natürlich musste auch ich meine Karten auch noch offen auf den Tisch packen: „Dr. Gast hat mir heute Mittag das Angebot gemacht, im Schloss anzufangen. In dem Job, der für dich war, Marcel.“

Beide schauten mich fassungslos an. „Und? Wie hast du dich entschieden?“ „Offiziell noch gar nicht. Bis heute Mittag war dieser Job mein Traum. Aber ich bin mir sicher, dass ich nicht davon profitieren möchte, dass dieses Haus keine homosexuellen Pärchen einstellen möchte. Da werde ich jetzt nicht mehr glücklich. Für mich bleibt es dabei, ich werde Zivildienst machen.“

Felix hatte Nägel mit Köpfen gemacht. Er hatte noch am gleichen Tag dem Wiener Hotel zugesagt und hatte nun noch genau fünf Tage, ehe es für ihn in eine neue Welt ging. Und das ohne Marcel. Die beiden nutzten jede freie Minute und mit jeder Sekunde war klar, dass der Abschied immer schwerer werden würde. Aber irgendwann war es dann doch soweit. Um neun Uhr wollte Felix abfahren, und als er dann kurz vor elf die Tür seines Autos zuschlug und sich auf den Weg Richtung Alpenrepublik machte, waren viele Tränen geweint und der vorläufige Abschied besiegelt. Ein Abschied auf Zeit?

Auch für mich begann ein neues Leben. Dr. Gast hatte meine Ablehnung nahezu kommentarlos geschluckt und ich hatte relativ unkompliziert eine Zivildienstelle bekommen - in einem diakonischen Krankenhaus nicht unweit meines Heimatstädtchens. Und recht bald hieß es dann für mich, in eben dieses neue Leben zu starten.

Nicht ohne Herzklopfen betrat ich an meinem ersten Dienst-Tag kurz vor sechs Uhr die Station, in der ich nun also ein dreiviertel Jahr lang zu Gange sein würde. Neugierige Augenpaare waren auf mich gerichtet, als ich, leicht stotternd, mein Sprüchlein aufsagte: „Äh, guten Morgen. Ich bin Tobias, der neue, äh, Zivildienst...“. „...leistende“, beendete ein junger Mann mit lachenden Augen meinen gestammelten Satz. „Ja. Wo könnte ich mich denn umziehen?"

Eine weitere Stationsmitarbeiterin, die einen resoluten Eindruck hinterließ, fragte mich: „Hat man ihnen denn nichts zugewiesen? Na egal, ziehen sie sich erst mal dort hinter dieser Tür um“.

Gesagt, getan. Ein bisschen komisch kam ich mir schon vor, in diesem neuen Gewand. Unwillkürlich kam mir die alte Roy Black-Schnulze "Ganz in weiß" in den Sinn.

"Setzen sie sich doch. Möchten sie eine Tasse Kaffee?", fragte mich der junge Mann. Natürlich wollte ich, irgendwomit musste man die Aufregung ja runterspülen. Cognac schien dafür aktuell fehl am Platze zu sein.

Eine der anwesenden Schwestern begann, ihre Kolleginnen über die Vorkommnisse der vergangenen Nacht aufzuklären.

Dem Gespräch war zu entnehmen, dass der Patientenstamm von sehr pflegeleicht bis vollkommen pflegebedürftig reichte. Dann fiel der entscheidende Satz: „Na dann wollen wir mal!“ Alles sprang auf, entledigte sich des Geschirrs in der benachbarten Stationsküche und stürzte vor das Dienstzimmer. Alles, bis auf die Berichterstatterin der Nachtvorkommnisse – die stürzte sich dem Feierabend entgegen, ich mich dagegen in mein neues Abenteuer.

Vor dem Dienstraum standen zwei Wagen, gefüllt mit allem möglichen Materialien, wie Bettbezüge etc., Waschutensilien und dergleichen. „Bettenwagen“, wie mir sogleich erklärt wurde. Das Pflegepersonal teilte sich in zwei Gruppen.

„So Tobias, dann kommen sie gleich mal mit“, forderte mich die Schwester auf, die mich vorher nach der fehlenden Umziehmöglichkeit gefragt hatte. Gemeinsam mit ihr, dem jungen Pfleger und einer weiteren Schwester betraten wir das erste Krankenzimmer. „Guten Morgen!“, riefen alle den beiden sich dort befindlichen Patienten zu.

„Mein Name ist Elke, ich bin die Stationsschwester. Hauptaufgabe dieser morgendlichen Bettenrunde ist das Glätten des Bettes, das Messen von Temperatur und Puls jedes Patienten sowie Waschhilfen, soweit wie nötig“, erklärte mir meine neue Chefin.

„Wohl ein Neuer?“ erkundigten sich beide Zimmerbewohner. „Mmh, sein erster Tag heute!“ erklärte der Pfleger mit den lachenden Augen, der sich später auf dem Flur als Fabian vorstellte, mir sofort das „du“ anbot. Auch er war als Zivi auf dieser Station und hatte ein gutes halbes Jahr Wissensvorsprung.

Viel Zeit zum gegenseitigen Vorstellen war nicht. Stationsschwester Elke hatte sich bereits wieder in Richtung Dienstzimmer abgeseilt, und für die anderen Mitarbeiter hieß es, die morgendliche Runde durch die Patientenzimmer fortzusetzen. „Traust dir schon zu, mit mir gemeinsam eine Patientin zu waschen?“, fragte mich Fabian. „Ich versuche es“.

Er sah mich an und fragte leise: „Hast du Angst?“ Ich zuckte die Schultern, wusste ich doch schließlich nicht, was mich erwartete. Allerdings ließ mich die Ruhe, die mein neuer Kollege ausstrahlte, optimistisch an diese Aufgabe herangehen. Fabian entkleidete die Patientin Lehneck, die ein nach hinten offenes Hemd sowie eine Windelhose trug und offensichtlich weit jenseits der 70 war. „Ich gebe dir ein Handtuch, und du trocknest überall dort ab, wo ich zuvor gewaschen habe. Okay?“ „Okay“.

Von der Patientin im Bett schräg gegenüber kam die Frage: „Sie fangen wohl hier an zu lernen?“ Ich bejahte, das war wohl nicht zu verbergen - und ich war froh, dass ich an diesem einen Tag einen Lehrmeister hatte, der mir hochgradig sympathisch war und der vor allem auch ein bisschen Geduld mit mir zu haben schien.

Die erste Hürde war genommen, die ersten Kontakte zu Personal und Patienten geknüpft. Später zeigte mir Fabian das gesamte Krankenhaus. Nebenbei erfuhr ich, dass wir ein Vierteljahr gemeinsam Dienst schieben würden. „Und in den ersten zwei Monaten werden wir fast immer zusammen arbeiten – optimale Einarbeitung für dich!“ Ich konnte nicht leugnen, dass ich mich darüber sehr freute, mit diesem fast gleichaltrigen Jungen an meiner Seite würde mir die Eingewöhnungszeit sicher um ein Vielfaches leichter fallen.

Viele Eindrücke stürzten auf mich ein, und ich war erleichtert, nicht weil es mich so gestresst hatte, sondern weil die Angst vor der ungewissen Tätigkeit genommen war. Am Ende fragte mich Fabian: „Und, wie wars?“ „Spannend und interessant. Ich freu mich auf die nächsten Monate.“ „Okay. Hast du Bock, noch `n Schluck trinken zu gehen?“ Ich nickte. Ich überließ ihm die Wahl des Lokals, und er entschied sich ausgerechnet für den Biergarten des Seeschlösschens.

Seit dem mir Dr. Gast das Angebot gemacht hatte, war ich nicht mehr hier gewesen, meine Absage hatte ich telefonisch übermittelt. Und nun saßen wir an dem denkwürdigen Ort des Lehrlingsabschiedes, Ereignisse, von denen Fabian natürlich nichts wusste.

„Wie bist du denn auf Krankenhaus gekommen?“, wollte er von mir wissen. Ich erzählte ihm in Kürze, dass ich meine Lehre im Schloss absolviert hatte und eigentlich große Hoffnungen gehegt hatte, übernommen zu werden „Aber der Chef hatte sich für zwei andere Kollegen entschieden, und als ich dann doch noch im Nachgang die Chance gehabt hätte, wollte ich nicht mehr. Und da war das diakonische Altmark-Krankenhaus nahe liegend. .

Für Fabian warf diese Erklärung natürlich etliche Fragen auf, und für mich drohte das Gespräch in eine unangenehme Richtung zu gleiten. „Wie, du hättest dann doch anfangen können und hast abgelehnt? Wegen des Zivildienstes? Das Amt lässt heute doch viel mit sich reden, wenn’s ums berufliche Dinge geht.“

„Darum ging es mir nicht. Ich wollte meinen beiden Kollegen, deren Übernahme aus fadenscheinigen Gründen plötzlich wieder gecancelt wurde, nicht in den Rücken fallen“.

Fabian sah mich fragenden Augen an: „Das klingt ja fast nach einem Krimi.“ Ich schüttelte lächelnd den Kopf: „Nee, das ist eher `ne Liebesgeschichte. Noch bevor ich dazu kam, weitere neugierige Fragen zu kassieren, klingelte mein Handy. Marcel wünschte mich unbedingt zu sprechen, es gäbe wahnsinnig tolle Neuigkeiten. „Wo bist du denn?“ „Am Altmarker See, in der Ruderstation.“ Damit konnten wir uns eigentlich fast das telefonieren sparen, denn die war keine fünf Gehminuten vom Schloss entfernt. „Wenn du Lust hast, ich sitze mit einem meiner neuen Kollegen im Biergarten.“ Kurzes Schweigen am anderen Ende der Leitung, dann kam ein entschlossenes: „Bis gleich.“

„Kriegen wir Zuwachs am Tisch?“, erkundigte sich Fabian. „Ja, einer der beiden Jungs, die eigentlich fast schon hier angestellt waren, kommt gleich. Er ist `n wirklich guter Freund von mir und kann dir dann ja die ganze Geschichte gleich selbst erzählen. Du aber könntest noch ein bisschen über unsere Station plaudern.“

Und das tat er, klärte mich darüber auf, dass mit Stationsschwester Elke oftmals nicht gut Kirschen essen wäre, während zum Beispiel Irene, Heidrun, Sandra und Birgit die Fraktion zum Pferdestehlen sei. „Na gut, dann werde ich in den kommenden Monaten auf den Genuss von Steinobst verzichten und stattdessen Eigentumsdelikte an Nüsterntieren begehen.“ Fabian brauchte einen Moment, lachte dann aber und sagte: „Ja, besser ist das wohl.“

In diesem Moment stand Marcel an unserem Tisch, begrüßte Fabian, stellte sich kurz vor und nahm mich wie gewohnt in den Arm, um dann sofort die wichtigste Neuigkeit loszuwerden: „Stell dir vor, ich habe ein Vorstellungsgespräch in Wien!“

Das war ja wirklich schnell gegangen. Ich brachte auf den Punkt, was ich wissen wollte: „Wo, wann, was?“

„Bank in Wien, nächsten Monat am 20., Serviceteam.“

Fabian lachte: „Freunde vieler Worte seit ihr nicht, oder?“

„Er hat recht, ein bisschen ausführlicher hätte ich es auch schon ganz gern.“

Marcel begann zu erzählen, eine Erzählung, die von Dr. Gast unterbrochen wurde, der an unseren Tisch trat: „Guten Tag die Herren, ich hoffe, sie genießen dieses wunderschöne Ambiente. Mensch, Marcel, kaum ist der Felix in Wien, hast du dir ja sofort Ersatz gesucht, wie? Tobias, nachdem sie ihre Chance hier im Schloss nicht genutzt haben, haben sie ja wenigstens bei Marcel ihre Chance genutzt. Das war ja ein hochgradig merkwürdiger Jahrgang, im Nachhinein betrachtet. Vielleicht ganz gut, dass niemand hier im Haus geblieben ist. Fabian, du solltest vielleicht ein bisschen aufpassen. Die Getränke gehen aufs Haus. Und nun entschuldigen sie bitte, ich muss ins Büro.“

Einige Sekunden herrschte Schweigen am Tisch, dann stand Fabian auf. „Ich muss los, ich hab noch eine Verabredung. Macht’s gut.“ Er verschwand, und nach ein paar weiteren Augenblicken des Schweigens schaute Marcel mich an und fragte mich: „Was war denn das jetzt bitte?“

„Ich weiß es nicht, aber wenn Fabian eins und eins zusammenzählt, denkt er, das wir zwei was miteinander haben. Aber warum bitte und woher kennt Dr. Gast Fabian?“

„Kann es sein, dass wir es jetzt ein bisschen einfacher gehabt hätten, wenn wir uns statt hier in der Ruderstation getroffen hätten?“

Ja, im Nachhinein schien es mir auch besser, ich hätte Fabian versucht zu überreden, irgendwo anders unsere Feierabend- und Kennenlerngetränk zu uns zu nehmen. Aber nun war das Kind in den Brunnen gefallen, und die nächsten Tage würden mir zeigen, ob Fabian irgendwelche Probleme mit unserem Schwulsein haben würde.

Wir tranken aus und plauderten noch ein bisschen. Lange blieben wir nicht mehr, Marcel wartete noch auf einen Anruf von Felix aus Wien, und ich war nach einem ereignisreichen Tag ausgesprochen müde. Auch wenn ich später kaum schlafen konnte – weil ich einfach nur wissen wollte, wie Fabian dieses unfreiwillige Outing aufgenommen hatte.

Im Verlaufe der folgenden Tage lernte ich sowohl meine weitgefächerten Tätigkeiten als auch das gesamte übrige Personal kennen. Stationsschwester Elke war im Urlaub, und ihre Aufgaben teilten sich Birgit und Schwester Heidrun. Dann gab es unter anderem noch eine Schwester Viola und Pfleger Horst, der die Männerquote des voll ausgebildeten Personals bildete und so manchmal der geballten Frauenpower den Wind aus den Segeln nahm.

Ein sehr junges Kollektiv, in das ich da hineingeraten war - und schon nach wenigen Tagen war ich mit den grundlegenden Aufgaben eines Zivis im Frühdienst vertraut. Auch dank Fabian, der sich dienstlich sehr rührselig um mich kümmerte, mir privat aber vollkommen aus dem Weg ging.

Sobald ich auch nur annähernd versuchte, mit ihm ein Gespräch zu führen, das außerhalb der Klinikmauern angesiedelt war, musste er entweder ins Labor oder andere wichtige Aufgaben erledigen. Irgendwie hatte es der Feierabend meines ersten Zivi-Tages im Biergarten geschafft, eine unsichtbare Mauer zwischen uns aufzubauen. Und die galt es, irgendwie wieder zum Bröckeln zum bringen.

5. Marcel - Eine Reise nach Wien

Meinen Eltern war es nicht unrecht, dass sich in ihrem Lebensmittelgeschäft an einem Campingplatz auf der anderen Seite des Altmarker Sees eine uneingeplante Arbeitskraft einstellte. Ihr „alter“ Azubi“ war weg, ein neuer würde erst in gut anderthalb Monaten kommen – da konnten meine helfenden Hände immer gebraucht werden. Natürlich hätten sie es lieber gesehen, wenn ihr Sohn im Schloss übernommen worden wäre, aber so machten sie halt aus der Not eine Tugend.

Zum einen war ich natürlich eine Arbeitskraft, die sich bei Bedarf mehr als acht Stunden pro Tag mit dem Laden beschäftigte – und das tat ich, um ein bisschen auf andere Gedanke zu kommen – für frisch Verliebte ist es nicht einfach, wenn der Partner hunderte Kilometer weit weg und nur über Chats oder per eMail zu erreichen ist. Zum anderen mussten sie mir natürlich weniger bezahlen als einer normalen Arbeitskraft. Zum Leben war das allemal genug, zumal ich noch mietfrei m Haus meiner Eltern logieren durfte. Aber mein Entschluss war klar – so bald wie möglich wollte ich Felix nach Wien folgen.

Es hatte auch nicht lange gedauert, bis ich einen Termin für ein Vorstellungsgespräch hatte – schließlich hatte ich mich nicht nur als Hotelkaufmann beworben, sondern auch in anderen Dienstleistungsbranchen. Für mich war wichtig, Kontakt mit Menschen zu haben. Und ganz besonders mit Felix. Das eine beruflich, das andere ganz privat.

Eine Bank hatte sich telefonisch bei mir gemeldet, die ihr Serviceteam verstärken wollte und dabei ganz speziell Mitarbeiter aus Deutschland suchte. Nach einem kurzen Telefonat waren wir uns einig, dass ich an einem Donnerstag zu einem Vorstellungsgespräch nach Wien reisen würde. Ich freute mich auf ein langes Wochenende in der österreichischen Weltmetropole, und noch am gleichen Abend begannen Felix und ich via Chat Pläne zu schmieden. Bald darauf stand unser Wochenendplan und die Vorfreude auf Wien begann zu wachsen.

Am Dienstag vor der geplanten Reise hatte ich mich mit Tobias verabredet, der seit Wochen darum kämpfte, seinen Kollegen Fabian ein bisschen aus seinem Schneckenhaus zu locken – aber leider bis dahin vergeblich. Seit unserem Outing im Schloss-Biergarten hatten die beiden kein einziges privates Wort mehr gewechselt. Im Dienst höflich und freundlich-distanziert – davor und danach eiskalte Sendepause. Sicher, ich hatte Fabian nur einmal gesehen, und hatte damals eigentlich keine schlechten Eindrücke sammeln können. Ich nahm mir vor, dieser Sache nach meiner Rückkehr auf den Grund zu gehen.

Ich saß in der Ruderstation und wartete auf Tobias, der direkt vom Krankenhaus an den See kommen wollte – und nun schon fast eine Viertelstunde überfällig war. Ich beschloss, ihn anzurufen und zückte mein Handy. Acht Anrufe in Abwesenheit – da hatte es aber jemand besonders eilig gehabt, mich zu erreichen. Murphys Gesetz in aller Härte: Einmal vergisst man, den Handyklingelton von lautlos wieder auf normal umzustellen, und schon ruft das halbe Städtchen an.

Oben auf der Liste stand Tobias, den ich sofort zurückrief. Nach fünfmaligem Klingeln drückte er dann endlich seine grüne Taste: „Marcel, sorry, ich bin noch im Krankenhaus, deswegen hat es auch ewig gedauert, eh ich rangehen konnte. Hier ist der Teufel heute los, bei mir wird es noch dauern, ich kann jetzt nicht weg hier. Und, Marcel? Bitte ruf bei deiner Mutter an, okay? Wir sehen uns später.“

Ich hatte keine Chance, auf diesen Monolog zu antworten – Tobi hatte sofort wieder aufgelegt. Warum in Gottes Namen sollte ich bei meiner Mutter anrufen?

Mit einem unguten Gefühl wartete ich darauf, dass die Verbindung hergestellt wurde. Meine Mutter wirkte ziemlich aufgelöst: „Marcel, na endlich. Dein Vater hat vorhin einen Kreislaufzusammenbruch gehabt und wurde ins Krankenhaus gebracht. Irgendwas mit dem Herz. Ich bin auf dem Weg dorthin, kannst du auch kommen?“

„Wo liegt er?“

„In der Diakonie auf der Intensivstation.“

„Besteht Lebensgefahr?“

„Ich weiß es nicht, ich bin auch erst auf dem Weg.“

„Wir treffen uns dort, bis gleich.“

Da ich schon ein großes Bier getrunken hatte, musste ich mir ein Taxi rufen – und auf Grund der zahlreichen Gedanken in meinem Kopf wäre es sowieso sicher wenig ratsam gewesen, mich selbst hinters Steuer zu setzen. Heute morgen hatten Daddy und ich noch gemeinsam am Frühstückstisch gesessen und über unseren neuen Lehrling und meine Wienreise geredet – und alles war wie immer. War es das letzte Mal, dass ich mit meinem Vater gesprochen hatte? Alles andere war jetzt komplett unwichtig.

Im Krankenhaus war es wenig schwer, die Intensivstation zu finden. Dort lief mir Tobias bereits entgegen. „Hey Marcel … keine Panik, okay? Deinem Vater geht es den Umständen entsprechend gut, und der Oberarzt spricht grad mit deiner Mutter. Ich bring dich ins Arztzimmer, okay?“

Ich nickte, und wenig später saß ich einem weißbekittelten Dr. Wernicke gegenüber, der offenbar grad über den Gesundheitszustand meines Vaters sprach, mich rasch begrüßte und mir kurz erklärte: „Es war ein Herzinfarkt, aber Gott sei Dank nur ein leichter.“

Er fuhr mit weiteren medizinischen Erklärungen fort, aus denen ich folgendes entnehmen konnte: Es bestand keine Lebensgefahr und er würde mit etwas Geduld wieder ganz der alte werden. Die daraus resultierende Erleichterung ließ sich eigentlich nicht in Worte fassen, weil das mit manchen Gefühlen einfach nicht geht.

Am Abend saß ich noch lange mit meiner Mutter zusammen, uns beiden war der Schock unglaublich in die Glieder gefahren. „Unter diesen Umständen werde ich nicht nach Wien fahren – ich denke, du brauchst mich hier dringender.“

Mama sah mich lächelnd an: „Stimmt, mein Kleiner. Aber ich möchte, dass du am Mittwochabend fährst. Ich würde dich nur bitten, auf das Wochenende in Wien zu verzichten. Du weißt, dass wir Hochkonjunktur haben am Samstag und Sonntag, wenn auch noch die Wochenendcamper einfallen. Es fällt mir schwer, dich darum zu bitten, weil ich weiß, wie sehr du dich auch auf Felix freust.“

Ich schluckte kurz, weil ich daran in den letzten Stunden nun überhaupt nicht gedacht hatte. Aber ich musste nicht lange überlegen – hier wurde ich jetzt gebraucht.

Am Abend telefonierte ich mit Felix, der für meine Entscheidung vollstes Verständnis aufbrachte: „Wien läuft uns nicht weg. Wichtig ist jetzt, dass es deinem Dad bald wieder gut geht und du deiner Mam so gut wie möglich hilfst. Es bleibt dabei, dass du kurz nach neun am Westbahnhof sein wirst?“

„Hey, Feli… danke für dein Verständnis. Ich hab die Rückfahrt umgebucht – von Sonntagabend auf Donnerstag.“

„Das heißt, du fährst am selben Tag noch zurück?“

„Ja, leider.“

„Hey, es gibt wichtigeres jetzt. Dein Gespräch ist um elf, oder?“

„Ja.“

„Gut. Dann sehen wir uns am Donnerstagmorgen am Zug.“

Ich hatte mich entschieden, nicht mit dem Auto nach Wien zu fahren. Von der Altmark würde über ich über sieben Stunden brauchen, müsste mitten in der Nacht losfahren und würde dann übermüdet und abgekämpft ankommen – was bei einem Vorstellungsgespräch in den seltensten Fällen zu einem positiven Eindruck verhilft.

Also hatte ich einen Platz im Liegewagen von Hannover nach Wien reserviert. Die niedersächsische Landeshauptstadt erreichte ich von Stendal ohne umzusteigen, und kurz nach 22:30 Uhr konnte ich in den Euronight einsteigen, der mich über Nacht nach Österreich bringen sollte.

Das Problem an der ganzen Geschichte wurde mir deutlich, als ich vor meinem Abteil stand. Sämtliche Vorhänge waren verschlossen, und im Inneren war bereits Nachtruhe eingekehrt. Der Zug kam aus Hamburg, und meine fünf Mitreisenden befanden sich in Hannover bereits im Land der Träume. Meine Liegemöglichkeit war oben rechts – und im Dunkeln Gepäck und sich selbst an die richtige Stelle bringen, war ein hochgradig spannendes Manöver. Erst recht, wenn man nicht weiß, wo Leiter und Aufbewahrungsmöglichkeit zu finden sind.

Es dauerte wohl eine gute halbe Stunde, ehe ich dann endlich lag. Ich hatte eigentlich noch vor, ein bisschen zu lesen – aber erstens wusste ich nicht, wo der Lichtschalter war, zweitens hatte ich die Nerven meiner Mitreisenden schon jetzt genug strapaziert. Ich beschränkte mich darauf, noch ein Bier zu öffnen und dachte dabei an meinen Vater, an Felix und endlich auch mal an das bevorstehende Bewerbungsgespräch.

Erstaunlicherweise hatten über Nacht weder mein Hemd, noch meine Anzughose oder mein Sakko Spuren einer unbequemen Zugreise abbekommen, was im Nachhinein als mittleres Weltwunder bezeichnet werden musste. Und über die Möglichkeiten der Körperpflege decken wir ebenfalls mal diskret den Mantel des Schweigens – vorhanden, aber eben mehr auch nicht.

Nach dem Genuss eines sehr opulenten Frühstücks, bestehend aus altbackenen Brötchen, billigster Billigmargarine und ebensolcher Marmelade sowie einem Plastikbecherchen Pulverkaffee rollte der Zug, immerhin pünktlich auf die Minute, in den Wiener Westbahnhof ein.

Und dann kam der Moment, den ich solange herbeigesehnt hatte: Endlich hatte ich meinen Felix wieder im Arm – und er mich. Auf überschwängliche Begrüßungsküsse verzichteten wir zunächst auf Grund der Tatsache, dass ich nicht der Einzige war, der am Westbahnhof ausstieg. Trotzdem, ein Gefühl, bei dem ich alles andere um mich herum absolut vergessen konnte.

„Feli, eh ich da jetzt hingeh: Ich brauch noch `ne vernünftige Tasse Kaffee.“ Er grinste verschmitzt: „Ja, so was hab ich mir schon gedacht. Hast dir ja eh’ ne noble Adresse ausgesucht. Direkt im ersten Bezirk, direkt am Stephansdom. Lass uns jetzt einfach da hinfahren, dort ganz in der Nähe gibt es ein tolles Cafe, da werden wir frühstücken. Dann kannst du zu deinem Gespräch und dann schauen wir, was aus dem Rest vom Tag wird, okay.“

Ja, das klang nach einem guten Plan. Mit der U-Bahn brauchten wir zehn Minuten zum Stephansplatz, zehn Minuten, in denen wir damit begannen, uns über die zurückliegenden Ereignisse der letzten Wochen zu informieren. Dann wurde sehr lecker gefrühstückt, und dann hieß es für mich: Ab zum Vorstellungsgespräch.

Ich wurde in dem illustren Gebäude sehr nett von der Personalchefin begrüßt, die mir nach der üblichen Anreise-Einleitung einige wenige allgemeine Fragen stellte und dann für den Vorstandsvorsitzenden Dr. Lugauer Platz machte. Der wollte von mir ebenfalls wissen, wie die Anreise war und begann mich im Anschluss nach guten Urlaubszielen in Deutschland auszufragen. Dann musste natürlich noch beantwortet werden, wie ich mir meine künftigen Aufgaben vorstellen würde und natürlich, warum ich denn ausgerechnet nach Wien wollte.

Ich hatte lange darüber nachgedacht, ich wusste, dass diese Frage kommen musste. Und natürlich hätte ich jetzt irgendwas erzählen können von schöne Stadt, nettes Land, gute Karrierechancen, besserer Arbeitsmarkt … aber ich hatte mich dafür entschieden, bei der Wahrheit zu bleiben. „Mein Freund ist seit einigen Wochen hier in einem Hotel beschäftigt, ihm gefällts, und natürlich wollen wir möglichst rasch wieder zusammenziehen.“ Wobei das wieder natürlich unzutreffend war, aber den Kern doch am besten traf.

Dr. Lugauer sah mich an, lächelte und sagte: „Wow. Den Pluspunkt für Ehrlichkeit haben sie sich jetzt schon eingesammelt. Ich würde ihnen ihren möglichen künftigen Arbeitsplatz gern zeigen, aber da es dort grad sehr stressig zugeht, müssen wir leider darauf verzichten. Also bei mir haben sie einen ganz tollen Eindruck hinterlassen, aber ich bitte sie um Verständnis, dass ich oder dass wir sie trotzdem erst in der kommenden Woche darüber informieren, wie wir uns entschieden haben.“

Nach nicht einmal 45 Minuten war das Gespräch beendet. Zum Schluss hatten wir uns noch auf den ersten Januar als mögliches Einstiegsdatum geeinigt – im Falle einer Zusage könnte ich so Weihnachten noch im Kreise der Familie verbringen und könnte während des Genesungsprozesses meines Vaters noch das Geschäft tatkräftig unterstützen. Mit einem überaus positiven Eindruck verließ ich die Bank und stürzte mich mit Felix auf einen Kurztrip durch Wien.

Wir wanderten zunächst ein bisschen durch die Fußgängerzone des ersten Bezirks, ehe wir dann per U-Bahn Richtung Schönbrunn fuhren. Felix fand meine Entscheidung, erst im Januar durchzustarten, nachvollziehbar und richtig. Ich freute mich, dass ich seine uneingeschränkte Rückendeckung genoss.

Wir schlenderten durch Wiens bekanntesten Schlossgarten. „Marci, was hältst du davon, dass du dir hier für die ersten zwei, drei Monate ein Zimmer suchst, wenn du den Job wirklich bekommst? Dann haben wir hier gemeinsam Zeit, uns nach einer kleinen Wohnung umzuschauen.“

Fasziniert warf ich einen Blick auf die traumhafte Aussicht, die sich von der Gloriette des Parks über das Schloss auf die Stadt bot. „Ja, irgendwo mit dir da unten gemeinsam ein Häuschen. Oder zunächst eine kleine Wohnung. Das ist ein Traum.“

Ich weiß nicht, wie lange ich gebannt auf dieses einzigartige Panorama schaute, aber irgendwann streichelte mir Felix sanft über den Rücken: „Hey, Marci, lass uns langsam zur U-Bahn zurückgehen. Es gibt mindestens noch einen schönen Platz in Wien, den ich dir zeigen will.“

Es klingt vielleicht unglaublich, aber tatsächlich gibt es im Schlosspark Schönbrunn einzigartige verschachtelte Wege, auf denen man sogar bei immensem Touristenaufkommen (was in dieser Stadt an diesem Platz nur höchst selten NICHT vorkommt) allein war beziehungsweise nicht im Sichtkreis anderer Besucher – und einen dieser Orte nutzten wir, um endlich in einen unglaublich zärtlichen Begrüßungskuss zu versinken, der zeitgleich aber auch schon wieder Abschiedskuss war: in nicht einmal drei Stunden würde ich schon wieder im Zug Richtung Deutschland sitzen.

Was aber ist ein Wien-Besuch, ohne nicht wenigstens einmal einen Blick auf die Donau geworfen zu haben? Mit der U-Bahn dauerte es keine halbe Stunde, ehe sich mir ein ganz anderes Wien zeigte. Wir traten aus der Station Donauinsel direkt auf eine Brücke. Unter uns ein Donauarm, rechts eine atemberaubende Skyline und links ein Partyareal mit anschließendem natürlichen Uferbereich.

Felix schien mir die Begeisterung anzusehen. „Ja, die Donauinsel ist so ein bisschen das grüne Herz der Stadt direkt am Wasser. Liegt zwischen der neuen Donau und dem Hauptstrom – wollen wir hier ein bisschen spazieren gehen?“

Und ob ich das wollte…von der Insel hatte man den Blick auf die Großstadt und war doch isoliert. Eine Oase mitten in der Millionenstadt und offenbar auch Naherholungsgebiet der erholungssuchenden Großstädter. Es war unglaublich, wie schnell uns hier an der Donau die Zeit davon flog. Wenn Felix nicht auf die Uhr geschaut hätte, wäre ich vermutlich nie pünktlich am Bahnhof gewesen. Aber einen Sonnenuntergang an der Wiener Donau würden wir auf das nächste Jahr verschieben müssen.

Zum Schluss hatten wir grade noch Zeit für ein paar Würstel am Bahnhof, und dann musste ich auch schon wieder rein in den Euronight. Genau zehn Minuten blieben uns noch, als wir wieder am Zug standen. „Ich such mir rasch noch meinen Platz, dann komm ich.“ Felix lächelte – mit traurigen Augen allerdings.

Die Platzsuche war diesmal deutlich unkomplizierter als auf der Hinfahrt. Zwar hatte es bei meiner kurzfristigen Umbuchung keine Liegewagen mehr gegeben, aber auf Grund der Erfahrungen der letzten Nacht war ich darüber nicht wirklich böse. Ich hatte einen Fensterplatz in einem Sechserabteil – das ließ sich aushalten. Ich belegte rasch meinen Platz, entledigte mich meines Gepäcks und bat meinen Sitznachbarn, kurz darauf aufzupassen.

Und dann war er da. Der Moment des Abschieds. Felix und ich standen auf dem Bahnsteig waren grade dabei, noch ein paar Zukunftspläne zu schmieden, als uns ein Junge ansprach, der nur unwesentlich jünger war als wir: „Entschuldigung, ich möchte hier nicht betteln und ich mach das hier auch grad das erste Mal, aber man hat mir das Portmonee geklaut ich muss zurück nach Hause. Habt ihr ein bisschen Geld übrig?“ „Wo musst du denn hin?“, erkundigte ich mich bei ihm. „Nach Linz.“

Ich drückte ihm rasch zwei Euro in die Hand, einfach um jetzt nicht noch länger aufgehalten zu werden und wandte mich dann wieder Felix zu. Fast schon zu spät, denn die automatische Ansage bat alle Fahrgäste, einzusteigen.

Feli hatte Tränen in den Augen – und war mit diesem kleinen Problem nicht allein. „Hey, es ist nicht so lange. Die werden mich schon nehmen, und das viertel Jahr schaffen wir auch, oder?“ Er nickte. „Felix, denk dran: Ich liebe dich.“ „Ich dich auch“, schluchzte er und drückte mir einen letzten Kuss auf den Mund“ „Gute Reise, Marci, und komm bald wieder! Bitte!“ „Versprochen!“ Ich löste mich von ihm und stieg in den Zug. Keinen Moment zu früh, denn hinter mir fiel die Tür zu.

Und wenige Sekunden später rollte der Zug aus dem Wiener Westbahnhof in Richtung Deutschland und der Nacht entgegen. Ich hatte meinen Entschluss gefällt: Wien mit Felix, dass war die Zukunft.

6. Tobias – Stationsalltag und Schattenseiten

Ich blühte auf in meinem neuen Tätigkeitsgebiet im diakonischen Krankenhaus. Ich war gern mit den Patienten zusammen und versuchte, auch über die allgemein übliche Behandlung hinaus für die kranken Menschen dazu sein, ihnen zuzuhören oder auch mal Trost und Aufmerksamkeit zu spenden.

Zeit blieb dafür zumeist in den Spätdiensten, in denen es vor allem nach dem stationären Abendessen oftmals ruhiger wurde. Für mich als Zivi hieß es dann zumeist, auf Blutdruck-Messrunde zu gehen – und dabei sprang meistens viel Zeit für die Patienten heraus.

Besonders gern verweilte ich in einem Vierbettzimmer, um mich mit den Insassen, netten älteren Damen, die sich wirklich richtig gut verstanden, zu unterhalten. Eine gemütlich aussehende Grauhaarige, die mir wegen ihrer derberen, aber richtig herzlichen Art sehr sympathisch war, fragte mich: „Wo ist denn ihr Kollege? Ich hab noch Hunger!“

Ich lächelte. „Der Fabian ist in der Küche, Frau Hendriks. Aber zu essen dürfen wir ihnen nichts mehr geben. Sie wissen doch, ihr Zuckerspiegel wird neu eingestellt.“

Brummend gab sie sich zufrieden: „Na ja, einen Versuch war es wert. Schicken sie ihn mal her, vielleicht hat er ja ein Herz.“ Das war natürlich nicht so gemeint, auf dieser Ebene alberten wir nahezu jeden Tag, wenn Zeit dafür war.

Es gab aber auch Tage, an denen sich die Ereignisse überschlugen. Meist dann, wenn die Station sowieso nur spärlich besetzt war und man selbst darüber hinaus auch gleich nach Dienstende etwas vor hatte. Marcel und ich wollten die letzten Sommer-Sonnenstrahlen am Altmarker See genießen und hatten uns nach Feierabend auf ein bis drei schöngeistige Getränke verabredet.

Ein relativ ruhiger Dienst-Tag neigte sich dem Ende entgegen. Heidrun und Birgit waren mit der Aufnahme eines Neuzugangs beschäftigt. Eine zierliche, schmächtige und grauhaarige Omi, die jeder eigentlich nur ins Herz schließen konnte und die nur einen Gedanken hatte: Niemandem lästig zu werden. Es war ihre bescheidene Art, ihre Angst, irgendjemandem zur Last zu fallen, die sie bei wirklich jedem auf unserer Station richtig beliebt machte. Nachdem Frau Kohl einquartiert war, alle Patienten versorgt waren und endlich auch an das eigene Wohl gedacht werden konnte, riss uns die Patientenklingel aus allen Kaffee-Träumen. „Das kann so schlimm nicht sein“, sagte Birgit zu mir, „das ist die 13.“

Zimmer 13 war das Vierbettzimmer mit den älteren Damen. Der Ruf kam von Frau Hendriks, der gemütlichen Grauhaarigen. „Tobias, mir ist so...so schwindelig und ich hab so Herzrasen“, erklärte sie mir und schaute mich mit ihren großen Augen hilfesuchend an.

Natürlich alarmierte ich sofort Schwester Birgit, die ihrerseits sofort den diensthabenden Arzt informierte. Frau Hendriks schilderte ihm ihre Beschwerden, und er stellte nach einer Kreislaufkontrolle eine sehr hohe Pulsfrequenz und einen relativ niedrigen Sauerstoffgehalt des Blutes fest.

„Birgit, bereiten sie eine Sauerstoffgabe vor. Wir schließen sie an die Überwachung an. Ich werde ihr zur Beruhigung zwei Ampullen Bayotensin verabreichen. Heidrun, gehen sie bitte die Spritzen aufziehen?“ Da die Patientin über einen sehr trockenen Hals klagte, holte ich ihr ein Glas Wasser und versuchte, sie zu beruhigen.

Der Doktor war mit seinen Anweisungen noch nicht fertig: „Tobias, holen sie sich den Fabian aus der Küche und verlegen sie die Patientin in ein Einzelzimmer.“

Fabian kam, ohne dass ich ihn holen musste: „Doktor, ich hab die Zentrale am Telefon. Es gibt einen Notfall.“ „Okay, wie gesagt: Frau Hendriks bitte ins Einzelzimmer. Und einer bleibt bitte bei ihr. Die Überwachung nicht vergessen!“

Frau Hendriks, der anzusehen war, wie wenig gut es ihr ging, lächelte uns tapfer an: „Jetzt mach ich euch solche Umstände.“ Ich streichelte ihre Hand: „Wichtig ist, dass sie jetzt wieder auf den Damm kommen!“ Sie nickte, und dann begannen Heidrun und Birgit mit der Installation des Überwachungsapparates.

Wenig später stürmte der Doktor wieder in das Zimmer: „Meine Damen und Herren, freunden sie sich mit dem Gedanke an, dass der Feierabend heute ein bisschen nach hinten verschoben wird. Zum einen: Schwester Viola liegt mit Kreislaufbeschwerden im Bett, wird also nicht gleich zur Spätschicht kommen. Heidrun, sie sind sowieso bis um neun da. Bitte verlängern sie bis um zehn. Birgit, bleiben sie so lange wie nötig. Und das gleiche gilt für euch zwei. Es kommen jetzt gleich noch zwei Zugänge, die es in sich haben. Wir brauchen noch ein Einzelzimmer.“

Fabian sah mich an: „Du bist verabredet, oder? Also geh du, ich bleibe.“ „Nein. Ich werde nicht gehen. Lass uns beide bleiben, ich glaube, hier wird jede helfende Hand benötigt.“ Fabian nickte, und Heidrun lächelte uns an: „Danke Jungs.“

Die Krankenwagenbesatzungen hatten sich wohl verabredet, synchron standen sie Sanitäter mit ihren „Mitbringseln“ auf dem Stationsflur. Und plötzlich stockte mir der Atem: Auf der einen Trage lag Marcels Vater.

Anhand meiner Blicke konnte Fabian wohl sehr gut erkennen, dass ich diesen Patienten kannte. „ Wer ist das?“, frage er mich. „Das ist Marcels Vater.“ Er nickte. „Ruf ihn schnell an. Und dann kümmere dich bitte um die andere Patientin, okay?“

Es dauerte ewig, bis ich ihn erreichte. Genauer gesagt, er mich: Nach gefühlten 50 Versuchen rief er mich endlich zurück. Mittlerweile wusste ich von Dr. Wernicke, dass der Zustand von Marcels Vater nicht lebensbedrohlich war und konnte mich der anderen Patientin widmen, die sichtbar zu leiden hatte.

Heidrun erklärte mir: "Frau Salmaneck hat bis vor drei Tagen in einer Privatklinik gelegen. Magenkrebs im Endstadium.“ Während der üblichen Standarduntersuchungen jammerte die Patientin unaufhörlich, wimmerte und schrie. Es war unglaublich, wie diese Frau unter ihren Schmerzen zu leiden hatte. Der Arzt verordnete ein starkes Schmerzmittel.

„Sie wird sterben“, flüsterte mir Heidrun zu. Ich nickte nur – irgendwie hatte ich mit einer derartigen Situation gerechnet, nur war es dann doch total schockierend, mit dem Tod Auge in Auge konfrontiert zu sein.

Die Spritze stellte die Patientin ruhig, allerdings nur für 45 Minuten. Dann begannen die Schmerzensschreie erneut. Dem Doktor stand die Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben: die verabreichte Dosis des Medikaments diente im Normalfall zur Ruhigstellung für mindestens fünf Stunden, wie ich dem Gespräch der Schwestern entnahm. Ich gab der Schwerkranken noch Tee, versuchte, Kontakt zu ihr aufzubauen, hielt ihre Hand und versuchte, sie zu trösten. Aber ihre Schmerzen schienen unerträglich zu sein. Heidrun schickte mich wenig später aus dem Zimmer.

Ich versuchte mich kurz zu sammeln und ging dann Richtung Intensivstation, wo mir Marcel begegnete, den ich rasch ins Arztzimmer zu Dr. Wernicke brachte. Dem Vater meines Freundes ging es den Umständen entsprechend gut. Für ihn war jetzt optimale medizinische Betreuung und viel Ruhe wichtig.

Auf unserer Station hingegen arbeiteten wir lange daran, Frau Hendriks hyperaktiven Kreislauf unter Kontrolle zu bekommen und so wenig Schmerzen wie möglich zu Frau Salmaneck durchzulassen – es war weit nach 22 Uhr, ehe die Nachtschicht Fabian und mich nach Hause schickte.

Nachdem wir uns umgezogen hatten, standen wir an der Krankenhauseingangstür: „Noch so einen Tag möchte ich nicht erleben“, sagte ich zu Fabian: Er sah mich einen Moment an: „Wirst du aber. Ich bin müde. Schlaf gut“ und ging dann durch die Nacht Richtung Parkplatz.

Am darauf folgenden Tag war mein erster Gang auf die Intensivstation, wo ich mich rasch davon überzeugte, dass Marcels Vater den ersten kleinen Schritt auf dem langen Weg der Besserung gegangen war. Auf Station galt mein erster Blick dann der Patientenliste: Frau Salmaneck hatte es geschafft, sie war von ihren Schmerzen erlöst.

Meine anstehenden Aufgaben zwangen mich, dieses Schicksal zu vergessen, und mich auf die anderen Patienten zu konzentrieren. Beim Zimmerdurchgang zum Geschirrabräumen setzte ich mich ein wenig zu Frau Kohl ans Bett, um in einem kleinen Gespräch die heute etwas depressiv wirkende Frau aufzubauen. „Es geht nicht mehr so, wie man will“, sagte sie zu mir.

„Das wird wieder. Deswegen sind sie doch hier. Essen sie ihr Schnittchen, damit sie wieder zu Kräften kommen!“, forderte ich sie auf. „Da hat er recht, Oma! Guten Tag“, bestärkten mich zwei lächelnde jüngere Damen, die das Zimmer unbemerkt betreten hatten. Später beobachtete ich, wie enthusiastisch Omi Kohl mit ihren Enkelinnen würfelte, und ihr Abendbrot verschlang sie regelrecht. Die Anwesenheit ihrer Angehörigen schien sie regelrecht aufgebauscht zu haben.

Ganz anders bestellt war es um Frau Hendriks – für sie wurde die gesundheitliche Situation immer bedrohlicher. Birgit sagte zu mir: „Wenn der Puls nicht runtergeht, war’s das. Niemand kann auf Dauer mit so einem Puls leben. Sieht nicht gut aus“. Was ich bei der todkranken Patientin Salmaneck noch verstehen konnte, wollte ich hier nicht begreifen. Vor drei Tagen war die Frau doch fit! Wir hatten wie immer unsere Späße gemacht, und sie schien völlig in Ordnung, jedenfalls den Umständen entsprechend. Und jetzt wurde mir gesagt, dass auch sie möglicherweise sterben sollte?

Nachdenklich beendete ich an diesem Tag meinen Dienst, und als ich nach meiner Spätschicht die Station verließ, waren Kinder und Enkel von Frau Hendriks an ihrem Bett, sie selbst traute sich nicht, sich hinzulegen und zu schlafen. Sie hatte Angst. Todesangst. Ihre Angehörigen verbrachten die ganze Nacht bei ihr, kümmerten sich rührend um ihre sterbende Oma und Mutter, die ihrem Schicksal bei vollem Bewusstsein ins Auge blickte.

Ich versuchte, alle meine Gedanken klar zu kriegen, nur zum Reden hatte ich an diesem Abend niemanden. Fabian wollte ich nicht ansprechen, und mit Marcel, der im Zug saß, hatte ich nur kurz telefoniert und ihm gesagt, dass es seinem Dad den Umständen entsprechend gut ging.

Ich probierte, in meinen drei folgenden freien Tagen den Kopf frei zu bekommen, was mir nur sehr schwer gelang. Marcel war natürlich nach seinem Wien-Ausflug im Geschäft der Eltern viel beschäftigt und verbrachte in der Freizeit viel Zeit im Krankenhaus.

Und als auch ich dorthin zur Spätschicht zurückkehrte, erlangte ich traurige Gewissheit: Frau Hendriks war gestorben. Ihre Tochter, die bei meinem Dienstbeginn grad den Nachlass ihrer Mutter abholte, sprach mich an: „Tobias ich danke ihnen ganz besonders. Meine Mutter hat sie sehr gemocht und es in den letzten Tagen durch sie vielleicht ein bisschen leichter gehabt.“ Ich konnte nur noch schlucken und ihr mein Beileid aussprechen – dann flüchtete ich mich in Arbeit, um so meine düsteren Gedanken zu vergessen.

Aber – es gab noch einen weiteren Schock. Als ich das Abendessen zu Frau Kohl bringen wollte, stand ich in einem leeren Zimmer. Ich rannte förmlich zurück in die Küche und fragte Fabian: „Wo ist Omi Kohl?“ „Sie liegt auf der Intensivstation, sie hat gestern Abend einen Schlaganfall gehabt.“

Irgendwie brachte ich die letzten Stunden bis zum Feierabend noch rum, auf dem Weg ins Zivi-Umkleidezimmer schaute ich dann noch mal auf der Intensivstation vorbei. Frau Kohl lag in dem Bett, in dem Marcels Vater gelegen hatte.

„Wo ist Herr Brandt?“, fragte ich bei der diensthabenden Schwester.

„Auf die innere Station verlegt.“

„Und wie geht’s ihr?“, erkundigte ich mich weiter, dabei auf Frau Kohl deutend.

„Nicht gut. Sie wird die Nacht kaum überstehen“

Ich stürzte aus dem Wachzimmer in die Umkleide. war froh allein zu sein und konnte endlich meine Gefühle rauslassen – und dabei auch die eine oder andere Träne. Keine Ahnung, wie lange ich so saß, aber irgendwann ging die Tür auf und Fabian stand im Umkleideraum: „Hey, Tobi, was ist mit dir los? Alles okay?“

Ich war dankbar, dass er fragte: „Weißt du, ich weiß ja dass der Tod aus dem Krankenhausalltag nicht wegzudenken ist. Aber dann jetzt gleich drei Mal in Folge, und mit Frau Hendriks und Frau Kohl dann auch noch zwei Patienten, die man irgendwie lieb gewonnen hatte – das muss man doch erstmal verdauen“

„Ja, das ging und geht mir auch so. Da sterben Menschen, die man in den vergangenen Tagen kennen gelernt hatte, die man gepflegt und betreut hat. Das ganze Geschehen löst in mir auch ein beklemmendes Gefühl aus. Ein Gefühl von Leere und Hilflosigkeit. Aber das Schlimme daran ist, dass keine Zeit bleibt, es zu verarbeiten. Auf der Station liegen bis zu 34 Patienten, um die man sich zu kümmern hat. Es bleibt keine Zeit, die Ereignisse zu verarbeiten und zu verkraften. Deswegen lassen viele Pflegekräfte auch niemanden so nah an sich ran“

Diese Worte gingen mir schon sehr nah, aber Fabian war noch nicht fertig: „Seit ich hier im Krankenhaus bin habe ich, vielleicht mehr als alles andere, gelernt, mit dem Tod umzugehen, ihn als eine natürliche Sache zu betrachten. Für die meisten Patienten, deren Leben auf der Ebene 1 zu Ende ging, war es eine Erlösung, bei manchen aber dachte man sich: Mein Gott, wie schnell es gehen kann und vor allem wie überraschend. Man braucht schon ein dickes Fell, um Patienten sterben zu sehen, und im nächsten Moment sofort wieder zur Tagesordnung überzugehen, für den Nächsten ein offenes Ohr und je nach Bedarf ein beruhigendes Lächeln oder einen deftigen Spaß auf den Lippen zu haben. Zurück bleiben die trauernden Angehörigen, für die man im Moment des großen Schmerzes kaum die richtigen Worte findet - und dann oft noch für Außenstehende als gefühlloser Eisblock dasteht. Aber alles andere als das ist richtig. Gefühle - ja. Aber schweigend und ohne Vernachlässigung der Arbeit. So traurig es klingt - eine Übungssache. Schattenseiten, die dazu gehören.“

Ich lächelte ihn an: „Danke, Fabian. Du hast völlig Recht. Und ich hoffe, dass ich das glatt gerührt krieg. Verstanden hab ich es. Nur umsetzen muss ich es noch.“ Er lächelte zurück und nickte, stand auf, zog sich um und wollte gehen.

„Fabian?“

„Ja?“

„Was machst du jetzt?“

„Nach Hause fahren, war ein langer Tag.“

„Lass uns noch irgendwo was trinken gehen, bitte. Ich ertrag das nicht, wenn wir so aneinander vorbei arbeiten. Lass uns noch ein bisschen quatschen – in der Hoffnung, dass es uns so gut tut wie deine Ansprache eben mir gut getan hat.“

Er nickte und lächelte irgendwie verkrampft – es war förmlich spürbar, dass er einen kleinen Kampf mit sich austrug: „Okay. Zwei Straßen weiter ist eine kleine Eckkneipe. Wenn Du magst?“

Und ob ich mochte... im Augenblick war ich für wirklich jede Ablenkung dankbar, und außerdem gab es auch zwischen Fabian und mir durchaus noch Klärungsbedarf.

Wenige Minuten später saßen wir in einer verräucherten, aber nicht ungemütlichen Kaschemme, und jeder hatte ein großes frisch gezapftes Bier vor sich stehen. Ich entschied mich zur Flucht nach vorn, hatte wenig Lust, um den heißen Brei herumzuschleichen.

„Fabian, seit wir damals im Seeschlösschen waren, haben wir nie wieder ein privates Wort gewechselt. Warum? Ist es, weil... weil wir schwul sind?“

Fabian sah mich mit großen Augen - und hatte plötzlich Tränen in den Augen. „Ach Mensch Tobi... wie könnte ich damit Probleme haben. Bist du mit Marcel zusammen?“

Ich schüttelte den Kopf und erzählte ihm die Kurzfassung unseres chatbedingten Outings.

Und dann begann Fabian zu reden: „Ich war damals zwei, drei Wochen auf der Station in der Diakonie, als wir einen jungen, 18-jährigen Patienten als Zugang bekamen. Mit Markus hab ich mich von Beginn an sensationell gut verstanden, und von Tag zu Tag hab ich mich mehr in ihn verliebt. Nur getraut, ihm das zu sagen, habe ich mich nicht. Irgendwann wurde er dann am Bauch operiert, und anstatt auf der Station zu sein, hab ich mich am OP rumgedrückt.“

Ich begann zu begreifen, dass eine wohl ziemlich bittere Erfahrung hinter unserem Schweigen steckte. Er schaute mich einen Moment und ich lächelte ihn an und strich ihm für die anderen Gäste unsichtbar über den Rücken.

„Stationsschwester Elke hat mich zur Schnecke gemacht und es natürlich brühwarm meiner Mutter erzählt, die beiden kennen sich von einer früheren Arbeitsstelle. Die wollte dann natürlich am Abend wissen, was denn dahinter steckte. Nun, ich hab ihr gesagt, dass ich mich verliebt hatte. Und als sie nach ihrem Namen gefragt hat, hab ich halt alles auf eine Karte gesetzt – und hab Markus gesagt.“

Wieder hatte Fabian Tränen in den Augen. Er stand auf... und wollte gehen. „Fabian, bitte! Bleib!“

„Ich komm doch gleich wieder.“

Eine unglückliche Liebe und ein verunglücktes Outing in der Familie? Immerhin schien er soviel Vertrauen in mich zu haben, dass er bereit war, mir diese Geschichte jetzt und hier fertig zu erzählen. Als er wiederkam, schien auch er sich endgültig sicher zu sein, dass er mir jetzt und hier seine Gefühle und Gedanken unterbreiten wollte.

„Meine Mutter ist dann einfach nur aus dem Zimmer gestürzt, und am nächsten Morgen fragte mich mein Vater, was denn dran wäre, dass ich mich in einen Kerl verliebt hätte. ‚Ja, ich glaub schon’, das war meine Antwort. Und daraufhin verfinsterte sich sein Gesicht, und seine Worte werde ich wohl nie mehr vergessen: ‚Wenn ich dich einmal mit einem Kerl rumschwuchteln seh, dann fliegst du hier hochkant raus. Aber vorher könnte es sein, dass ich mich noch ein kleines bisschen vergesse.’ Das war alles so bitter für mich...“

„Wie ist es mit Markus weitergegangen?“

„Ich war bereit, volles Risiko zu gehen. Er hatte seine OP gut überstanden, ich war bei ihm im Zimmer, wir haben geredet, ich hab ihn aufgebaut und mich aber wieder nicht getraut, ihm meine Gefühle zu offenbaren. Am Abend hab ich ihm dann eine SMS geschrieben.“

Er nahm sein Handy vom Tisch und zeigte mir, was er gesendet hatte: „Markus, es ist unglaublich schön, dich kennen gelernt zu haben. Du bedeutest mir sehr, sehr viel. Ich glaube, es ist mehr als nur normale Freundschaft, was ich für dich empfinde. LG Fabi“

„Was hat er geantwortet?“ Fabian schüttelte den Kopf: „Nichts. Als ich am nächsten Tag auf die Station kam, war Markus weg. Entlassen auf eigenen Wunsch.“

„Und als du mit uns am Tisch vom Schlösschen gesessen hast, ist alles wieder hochgekommen?“

„Ja, das auch. Aber noch schlimmer: Der Chef vom Altmarker Seeschlösschen... ist der Bruder von meinem Vater. Über mir schwebt ein Damoklesschwert.“

„Fabian, was auch immer passiert – was auch immer für Probleme du hast: Bitte komm zu mir, okay?“ Er nickte und lag dann plötzlich in meinem Arm – mitten in der kleinen Kneipe. Der Gastwirt kam an unseren Tisch, stellte uns schweigend zwei Bier hin und lächelte: „Geht aufs Haus, Jungs.“

wird fortgesetzt…

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