Stories
Stories, Gedichte und mehr
Gränsel und Hetel
Ein Schwarzmärchen
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.
Informationen
- Story: Gränsel und Hetel
- Autor: Oliver
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Krimi
Gränsel und Hetel
Ein Schwarzmärchen
„Herr Gränsel zum Diktat!“, bellte es aus der Sprechanlage. Jakob fielen die Papiere aus der Hand. Ungeschickt drückte er die Taste, um zu antworten.
„Ich komme sofort, Frau Doktor Grimmenbroich.“
„Das höre ich gerne, Herr Gränsel. Aber ich bitte darum, nicht wieder zwei Kaffeepausen später hier aufzukreuzen!“ Ihre Stimme verriet wieder einmal, dass sie zur Zeit auf ihrer Datingseite keinen Erfolg hatte.
„Ich eile, Frau Doktor Grimmenbroich.“ Jakob ließ die Taste los und atmete tief durch. Was wollte die alte Hexe denn nun schon wieder von ihm? Niemand in der Firma mochte die Chefin. Kein Wunder. Zwar nicht hässlich, hatte sie es doch bisher nicht geschafft, einen Mann an Land zu ziehen, der dauerhaft ihr Leben und die Leitung der Firma Leiblein-Lebkuchen mit ihr teilen wollte. Antonello, ihr Sohn, war ein Ausrutscher aus Tagen, als das Tönen der Haare noch keine Frage war. Es hing einfach mit ihrer Art zusammen: Sie war schrill und fordernd. Besser man legte sich nicht mit ihr an. Naja, Jakob hatte kaum Probleme mit ihr. Sie mochte ihn. Leider. Er sie nicht. Gott behüte.
Er nahm sein iPad und den Stift, rückte die Krawatte zurecht und machte sich auf den Weg ins Nebenbüro.
Auf dem Gang nickte man ihm mitleidig zu. Jeder wusste, dass SIE ihn gerufen hatte. Frau Doktor Athanasia Grimmenbroich, von allen Mitarbeitern von Leiblein-Lebkuchen heimlich nur ‘die Knusperhexe‘ genannt, war in jeder Hinsicht ein Ereignis.
„Setzen Sie sich, Herr Gränsel. Bitte notieren Sie für meine Rede zum Jahresende: ‚Geschätzte Mitarbeiter, das letzte Jahr hat uns gezeigt, wie erfolgreich unsere Geschäftsführung auf ein Neues vorgegangen war. Unser Umsatz steigerte sich um 20 Prozent in fast allen Sparten, vor allem in der neuen Schiene der Lebkuchen-Pausensnacks und der Gingerbread-Zero-Linie. Der Markt in Asien steht uns offen. Das Interesse der Chinesen an original deutscher Lebkuchenware ist gewaltig. Ich darf Sie deshalb alle herzlich beglückwünschen und auf ein gutes neues Jahr einstimmen. Darüber hinaus wird Leiblein-Lebkuchen im nächsten Jahr bezüglich der Mitarbeiterstruktur einige Optimierungen vornehmen und die Führungsetage auflockern. Wir empfehlen einige langgediente Mitarbeiter anderen Aufgaben außerhalb des Unternehmens weiter …“
Jakob sah auf. Das meinte die alte Hexe doch nicht ernst? Zuerst der Belegschaft Honig ums Maul schmieren um ihnen dann Entlassungen anzukündigen. Frau Doktor sah das wohl auch noch als genial an. Jakob hörte sich seufzen.
„Herr Gränsel? Ist Ihnen nicht wohl?“
„Nein, alles in bester Ordnung.“
„Na, dann ist es ja gut. – Aber jetzt zu etwas anderem …“ Sie machte eine bedeutsame Pause und spielte mit ihren langen Fingernägeln um ihre Lippen.
„Wie jedes Jahr gibt es zwischen den Jahren die exklusive Firmenreise auf meine Hütte nach St. Moritz, Herr Gränsel. Das kennen Sie doch?“ Sie sah ihn mit einem Lächeln an, das Jakob den Schweiß aus den Poren trieb.
„Selbstverständlich Frau Generaldirektorin. Diese fünf Tage gelten als … legendär. Jedes Jahr aufs Neue.“
„Will ich wohl meinen, Herr Gränsel. Es wird Zeit, dass auch Sie in den Genuss kommen. Wie erwähnt, es wird Umstrukturierungen geben …“
Jakob drehte sich alles. Verdammt, er hatte doch schon einen Urlaub mit Henning geplant …
„Und bringen Sie bitte diesen charmanten jungen neuen Mitarbeiter mit, den ich auf Ihren Vorschlag hin angestellt hatte. Er macht sich gut. Wie war nochmal sein Name.“
Verdammt! Die alte Knusperhexe … Jetzt musste er auch noch seinen Partner mitschleppen, und das im Lichte des Mitarbeiters, ungeoutet. Na super!
„Herr Bartel, Henning Bartel, Frau Generaldirektorin!“ Jakob nannte Henning liebevoll ‘Hetel‘ denn er kannte sonst keinen in seinem Umkreis, der so hetero aussah und agierte.
„Sehr schön, sehr schön. Setzen Sie ihn auf die Liste. – Was ist, Herr Gränsel?“
Jakob ordnete seine entgleisten Gesichtszüge. Gottseidank war die Alte überhaupt nicht gut darin, Gesichtsausdrücke zu deuten. Sonst hätte er jetzt Ärger am Hals.
„Alles bestens, Frau Doktor Grimmenbroich.“
„Deliziös! Das wäre dann alles!“
„Was machen wir denn jetzt, Hetel?“ Jakob war am Boden zerstört. Aber wie immer war Henning nicht aus der Ruhe zu bringen.
„Na, wir spielen mit. Du bist doch der Organisator. Also muss es doch ein Leichtes sein, zwei Zimmer nebeneinander zu belegen, oder? Hast du nicht den Hüttenplan erhalten? – Wer kommt denn sonst noch mit?“
Das war einer der Gründe, warum Henning sein Partner war: Dieser unerschütterliche Optimismus.
„Du hast recht. Das wird sich schon machen lassen. Aber blöd ist es schon, ich habe keinerlei Lust, im Weihnachtsurlaub so tun zu müssen, als seien wir nur Kollegen. – Wer noch mitkommt? Erinnere mich nicht daran … Natürlich ihr unausstehlicher Sohn Antonello …“
Henning lachte. „Der Möchtegern-Jetsetter, dessen größter Erfolg darin bestand, bei DSDS in der ersten Runde ausgeschieden zu sein?“
Jakob nickte mitleidig: „Das Schlimmere daran ist, dass er das für derart bemerkenswert hält, dass er es jedem auf die Nase bindet.“
Henning schüttelte den Kopf, DSDS, so was von out. „Und wer ist noch auf der illustren Liste zu finden?“
„Da hätten wir noch Chancelle Legrande, die Marketingleiterin …“
„… was denn? Die französische Frisur? – Mehr ist sie ja wohl nicht, eine einzige Frisur“, stichelte Henning.
„Hetel, bitte, sie ist gut. Sie war es, die die Gingerbread-Zero-Linie eingeführt hat. Und …“
„Kann ja sein, Jackie, aber die Heten in ihrem Umfeld tun mir echt leid. Bei dem Verschleiß. Ich glaube in der Firma hat sie nur uns beide noch nicht durch, oder?“
„Das ist es ja, Hetel. Mach dich darauf gefasst, dass sie in St. Moritz zum Angriff übergehen wird.“
„Keine Angst, mein Lieber, du weißt, wie ich über Frauen denke.“
Jakob wurde rot. „Also, dann haben wir noch Bodo Löhlein …“
„Was macht denn Löchlein auf der Hütte? Der Buchhalter?“, frotzelte Henning.
„Henning!“, schimpfte Jakob. Er meinte es ernst, wenn er ihn nicht Hetel nannte. „… du sollst ihn nicht ‘Löchlein‘ nennen, auch wenn er eine fast schon ans Fetischistische heranreichende Hingabe zur Betätigung des Lochers an den Tag legt.“
Henning lachte. „Vielleicht hat er sonst keine Löcher in seinem Leben …“
„Es reicht, Henning!“, fuhr Jakob auf.
„Istls‘ ja gut. Wen haben wir sonst?“
„Sonst noch der unweigerliche Hofstaat der Knusperhexe, bestehend aus ihrem Leibarzt, Herrn Doktor Meindl, ihrem Leibdiener Mortimer Manson, …“
„… hat sie den denn nicht aus England kommen lassen …?“, warf Henning ein.
„Ganz recht, wie stilvoll, nicht?“, meinte Jakob nicht ohne Sarkasmus.
„Dann haben wir noch zwei: Zum einen Frau Miitake …“
„Entschuldige bitte Jackie, wer ist denn das?“
„Ach ja, du bist noch nicht lange genug bei Leiblein-Lebkuchen. Frau Dr. Grimmenbroich hat vor 6 Jahren aus ihrer Reise nach Japan eine Art japanische Mystikerin und Lebensberaterin mitgebracht. Frau Miitake ist nicht oft in der Firma. Ich denke, sie bewegt sich eher in ihrem privaten Umfeld.“
„Miitake – klingt irgendwie nach japanischem Gemüse … bin ja mal gespannt“, frotzelte Henning.
„Sie ist … na ja, du kannst dir Denken, dass sie mit Herrn Doktor Meindl in einer Art Dauerkrieg liegt. Einen Rat: sprich sie nie auf Geister an …“
Henning bedachte seinen Partner mit einem Blick, den man besser nicht beschrieb.
„Zu guter Letzt haben wir dann noch einen Schweizer Geschäftsmann, den ich nicht kenne. Herr Urs Züngli. Er ist Schokoladen-Waffenfabrikant …“
„Halt! Jackie, WAS ist er?“, Henning tat, als sei gerade der Äquator verrutscht.
„Er stellt Schweizer Jagd- und Militärwaffen aus Schokolade her. Ich weiß, das ist ein wenig skurril, Hetel …“
„Skurril?“ Henning befühlte Jakobs Stirn.
„Hetel…“, seufzte Jakob fast entschuldigend: „So sind die Schweizer nun mal. Sei doch etwas toleranter. Im Übrigen sieht er ganz passabel aus.“
„Ich halte nichts von Waffen, ob aus Schokolade oder Apfelmus ist mir egal.“
„Es sind doch nur fünf Tage, Hetel.“
„Fünf Tage auf einer Hütte in der Schweiz. Wir beide und 8 Exemplare aus dem Panoptikum des Wahnsinns.“
„Machen Sie sich keine Umständ‘, Herr Gränsel“, erklärte der Schweizer Herr Züngli beschwichtigend, „Ich bin ja gewissermaßen hier zu Hause. Ein andresch Zimmer zu beziehen ist nid schlimm. Sollte eine Lawi abgehen und die Hütte verschütten, dann trifft es mich nid so leicht, gewissermaßen …haha!“
Jakob begrüßte Herrn Züngli als letztes und lächelte gequält über dessen offensichtlich eigenartigen Humor. Wenigstens hatte er das dunkle Zimmer, das halb im Berghang drin lag, ohne zu zögern, akzeptiert. Dass sein ursprünglich geplantes Zimmer jetzt Hetel bewohnte, vermied er dem Waffenschokolatier, auf die Nase zu binden.
Die Ankunft war ein Chaos gewesen. Frau Doktor Grimmenbroich hatte Jakob mehrfach zu verstehen gegeben, dass die Organisation das nächstes Jahr besser zu werden habe. Und dabei lag es einzig an ihrem idiotischen Sohn, der dreimal das Zimmer zu wechseln wünschte, weil ihm einmal die Aussicht und dann wieder der Geruch nicht behagte. Dass er jenes, das er die letzten Jahre offenbar mit Zähnen und Klauen verteidigt hatte, dieses mal nicht wollte, leuchtete niemandem recht ein, musste es wohl aber auch nicht.
Für einen jungen Mann von 24 Jahren führte sich Antonello mehr als pubertär auf.
Jakob und Hetel spielten die Herrn Kollegen Gränsel und Bartel so gut es ging. Henning beherrschte die Kommunikation über vielsagende Blicke meisterhaft. Jakob hatte immer ein wenig Sorge, es würde sie verraten. Davon abgesehen, wenn es wirklich dazu kommen sollte, hatten beide vereinbart, die Flucht nach Vorne anzutreten und sich eben zu outen. So lange das nicht nötig war, würden sie es lieber vermeiden. Diesem Sammelsurium seltsamer Charaktere wollten sie sich auf engem Raum nicht notwendigerweise offenbaren.
Die weiteren Gäste verhielten sich bei ihrer Ankunft nicht weiter problematisch. Doktor Meindl, Butler Manson mit seinen schlohweißen Haaren und Frau Miitake reisten mit Frau Generaldirektorin Grimmenbroich an. Jakob fand nicht nur die Japanerin etwas eigenartig, die in Kimono und japanischen Holzschuhen im Eingang einer rustikalen Schweizer Alpenhütte ein seltsames Bild darbot und wie ein vergessenes Sushiröllchen auf einem Melkschemel wirkte. Sie schien jedoch das Ambiente als vertraut zu empfinden. Immerhin war sie schon Jahre zuvor stets Teil der Veranstaltung gewesen. Ihr einziges Gepäck bot sich als eine Art großer zylindrischer Koffer dar, über den man ein Tuch gezogen hat.
Etwas irritierend fand Jakob die Art, in der die Generaldirektorin ihre japanische Beraterin behandelte. Frau Miitake wurde hin und her geschoben, als sei sie ein Rollkoffer, der stets im Weg stand. Herrn Doktor Meindl schien das zu amüsieren.
Dann erst bemerkte Jakob, dass Frau Miitake blind war. Man sah es ihren Augen nicht an, nur der starre Blick und die Art sich zu bewegen verrieten diesen Umstand.
Manson schob eine Unmenge an Koffern umher. Der Butler sah sehr eigenartig aus. Er trug eine moderne, an einen Bodyguard aus US-Filmen erinnernde Sonnenbrille zu der sonst typischen Butlerlivrée.
„Frau Generaldirektor wünscht einen Aperitif. Ich hoffe, die Spirituosenbar ist ausreichend aufgefüllt worden, Herr Gränsel?“, war alles, was Manson zur Begrüßung hervorbrachte.
„Aber ja, Manson, weshalb fragen Sie?“
„Der Organisator des letzten Jahres hatte es vergessen. Was meinen Sie, weshalb er nicht mehr bei Leiblein-Lebkuchen verweilt, meinen Sie nicht?“, gab der Butler trocken mit britischem Akzent von sich. Jakob schluckte, aber mehr des eigenartigen Klappmessers wegen, das der seltsame Leibdiener unter der Livréejacke in seiner Weste trug.
„Gedenken Sie auf die Jagd zu gehen?“, fragte Jakob verwirrt und deutete auf das gut sichtbare, nicht gerade kleine Messer.
„Das ist ein Tool. Sie wissen doch, was ein Tool ist, Herr Gränsel?“ Mansons kühle Art ließ Jakob schaudern.
„Manson? Bei allem was recht ist. Ich bezahle Sie nicht für Pläuschchen mit Herrn Gränsel! Bringen Sie gefälligst die Koffer hinauf!“
Der Butler drehte sich wortlos um und tat wie geheißen.
Frau Doktor war im Nerz erschienen. Was sonst. Den Wechsel des Zeitgeistes, der das Tragen von Tierpelzen als unmoralisch erachtete, ignorierte sie seit Jahren hartnäckig. Nun, sie hatte das Geld und die Beziehungen, ihre Felle aus Russland zu beziehen, natürlich handgejagt aus freier Wildbahn.
„Herr Gränsel, sorgen Sie dafür, dass Herr Löhlein mit seinen Aktenkoffern nicht solchen Lärm macht. Und bringen Sie Antonello zum Schweigen.“ Frau Doktor Grimmenbroich warf die Hände in die Luft, als man aus dem oberen Teil der Hütte lautes Geschimpfe vernahm.
„Verzeihen Sie Frau Generaldirektorin, welche Mittel sind mir erlaubt, in diesem Fall anzuwenden?“, erkundigte sich Jakob mit gespielt pflichtbewusster Miene, die in anderer Situation ausgesprochen kabarettistisch gewirkt hätte.
„Ach, was weiß ich, geben Sie ihm ein Betäubungsmittel in seinen Aperipol, oder wie das Zeug heißt, das er Literweise säuft …“
„Aperol-Spritz, gnädige Frau“, wagte Jakob, sie zu verbessern. Das noch vor zehn Jahren als Kultgetränk in der schwulen Szene der Großstädte konsumierte Mischgetränk aus Aperol und Prosecco, war mittlerweile in der Welt der hippen Heteros angekommen. Bei den Schwulen absolut out.
„Oder geben Sie ihm gleich einen dieser Marihuana-Kekse, dann schläft er wenigstens …“ Jakob blieb der Mund offen, als Frau Doktor an ihm vorbei die Treppe hinaufrauschte.
Gerade wollte er sich entspannt um eigene Angelegenheiten kümmern, als die alte Hexe sich noch einmal umdrehte. Jakob erstarrte.
„Ach, und feuern Sie …“ Jakob pochte das Herz.
„… die Sauna an!“ Jakobs Puls verlangsamte auf Trab.
„Sie werden heute Abend mit mir und einigen anderen saunieren!“ Jakobs Herz raste! Seine Gesichtszüge entgleisten wie ein ICE mit schadhaften Rädern bei Tempo 300.
„Was will sie denn mit dir in der Sauna?“ Henning machte keinen Hehl daraus, von der Sache gar nicht erfreut zu sein.
„Ich weiß nicht, Hetel, aber du bist auch dabei!“
„Was?“
„Ja, Du, Herr Löhlein, Dr. Meindl, Mademoiselle Legrande, Herr Züngli, Antonello …“
„Gott bewahre, Löchlein nackt zu sehen gehört nicht gerade zu den drei Wünschen, die ich bei einer guten Fee hätte.“
„Schau doch nicht hin.“
„Ich kann nicht anders, Jackie.“
„Hetel, sei doch froh, dass Antonello dabei ist. Zwar ein Idiot, hat er doch den besten Körperbau von allen hier, du ausgenommen.“
„Nicht, wenn seine Mutter daneben sitzt, mit nichts als einem Stück Handtuch als Schutz zwischen meinen Augen und der atomar verseuchten Zone ihres Körpers.“
„Stell dich nicht so an und spiele mit.“
„Ja natürlich, das wird schon klappen. Aber was man hier erdulden muss, ist den Job bei Leiblein eigentlich nicht wert. Ich möchte Chancelle sehen, was sie mit ihrer Frisur in der Sauna macht …“
„Ich habe erst mal andere Sorgen, Hetel. Frau Generaldirektorin möchte mich heute Nachmittag noch vor dem Kaffee sprechen. Sie sagte nicht, um was es geht. Das tut sie sonst immer.“
„Na, dann nimm vorsichtshalber mal das Pfefferspray mit“, witzelte Henning, aber Jakob konnte nicht lachen. Die Alte hatte schon mehrfach durchblicken lassen, dass sie ihn gut leiden konnte. Was ist, wenn sie ihre Position ausspielen würde … Jakob schüttelte sich und küsste Henning vorsichtshalber heftig. Das half.
Es klopfte an der Tür. Schnell huschte Henning lautlos in das Badezimmer.
„Ja bitte?“
„O’ ‘err Gränsel, Sie müssen mir ‘elfen!“, tippelte eine sichtlich aufgelöste junge Dame herein und verschloss die Türe hinter sich.
„Mademoiselle Legrande, Sie sehen ja ganz mitgenommen aus. Was ist denn passiert?“
„O‘, zu schrecklisch! Dieser missratene So’n von Frau Directrice … Er ‘at versuscht, misch zu vergewaltigen!“ Ups, das war heftig.
Jakob brauchte einen Moment. Vielleicht war der Keks, den er aufs Zimmer von Antonello geschmuggelt hatte, doch mit anderen Mitteln versetzt gewesen? Chancelle sah nicht danach aus, als würde sie Scherze machen.
„Du meine Güte, Mademoiselle Legrande. Wir werden das klären …“
Es klopfte heftig an die Türe.
„Gränsel! Machen Sie auf! Ich weiß, dass diese miese Schlampe da drin ist!“ Er rüttelte an der Türe. Jakob schwirrte der Kopf. Frau Generaldirektorin machte gerade ihren Mittagsschlaf. So einen Lärm konnte er jetzt nicht brauchen.
Mademoiselle Legrande huschte ins Badezimmer, ehe Jakob irgendetwas dagegen unternehmen konnte. Kein Laut drang hinter der Türe hervor. Antonello aber hämmerte wieder an die Zimmertüre.
Jakob öffnete. Der junge Mann stürmte herein und sah sich um.
„Wo ist sie?“ Er war außer sich. Wohl doch der falsche Keks.
„Herr Grimmenbroich, jetzt beruhigen Sie sich bitte. Was sollte denn Mademoiselle Legrande in meinem Zimmer? Sie sehen doch, dass sie nicht da ist!“
„Das Biest hat mich bestohlen! Meine Rolex! Die ist 12.000,- Euro wert!“
„Herr Grimmenbroich. Ich bitte Sie. Das wird sich klären. Und da das Wetter draußen zusehends schlechter wird, wird weder heute noch morgen jemand diese Hütte verlassen können. Nichts kommt fort.“
Das schöne Gesicht Antonellos starrte Jakob genervt an. Wenn er nicht so ein Ekel wäre, Jakob würde ihn nicht von der Bettkante stoßen. Schnell vergrub er den Gedanken tief in den privaten Gemächern seines Hirns.
Jakob rang nach Worten und stierte auf die Badezimmertüre. Verdammt, was ging da drinnen vor sich?
„Herr Grimmenbroich! Vielleicht sollten wir einfach mit Ihrer Mutter …?“
„Bloß nich!“, blaffte Antonello und schwang seinen Adoniskörper aus dem Zimmer.
Jakob schloss die Türe ab und eilte zur Badezimmertüre. Kaum geöffnet, fielen ihm die Augen aus den Höhlen.
Hennings stand wild küssend mit Mademoiselle Legrande unter der Dusche, die sich die Behandlung sichtlich gefallen ließ.
„Äh …“, Jakob fehlten die Worte.
„Herr Bartel … ich muss doch sehr bitten! Mademoiselle …!“
Die Lippen der beiden trennten sich.
„Oh, Herr Gränsel … ich muss mich doch glatt in der Türe geirrt haben. Ist das Ihr Bad?“ Mademoiselle Legrande lächelte Henning an. Jakob wurde eifersüchtig.
„In der Tat, Herr Bartel! Gehen Sie ihren amourösen Abenteuern gefälligst in Ihrem eigenen Bad nach!“, bellte Jakob genervt.
Chancelle hüpfte davon.
„Äh, halt!“, rief Jakob um Sekunden zu spät hinterher.
„Kannst du mir bitte erklären, was das sollte?“ Jakob war stinksauer.
„Ich bitte dich, Jackie, was hätte ich tun sollen? Sie kam rein und machte Anstalten aufzuschreien. Hätte ich ihr den Mund zugehalten: ein Desaster! Also Küssen, das hat bei dir auch immer gewirkt!“
Jakob war sprachlos. Henning begann zu grinsen.
„Hee, verdammt, das war Notwehr! Du weißt doch, dass ich Frauen nicht ausstehen kann. Glaubst du, mir hat das gefallen?“
„Da ist Seife! Willst du dir den Mund auswaschen?“, fuhr Jakob ihn an.
„Ich bitte dich, Jackie! Selbst James Bond muss zu ungewöhnlichen Mitteln greifen, wenn es ums Überleben geht!“
„Du bist nicht James Bond und außerdem steht der auf Frauen und einen Mann hat der – meines Wissens – nie geküsst.“
Henning kam auf Jakob zu und lächelte. Verdammt, dieses Lächeln.
„Komm her, es tut mir leid, ich mache es wieder gut!“ Jakob wich zurück.
„Entschuldigung akzeptiert. Aber für den Rest des Tages gilt Kussverbot. Ein wenig Strafe muss sein!“
Henning salutierte.
„Jawohl, Sir! – Was war denn eigentlich los?“
„Antonello behauptet, Mademoiselle Legrande hätte ihm seine Rolex-Uhr geklaut. Eine sehr wertvolle.“
Henning sah gespielt mitfühlend aus.
„Meine Güte, hat der Sohn seine Uhr verlegt und dann wurde er von einer schönen Französin – mit überdimensionierter Frisur – abgewiesen. Da führt ein Gedanke zum anderen. Ich bin sicher, Antonello glaubt auch ernsthaft, Mademoiselle Legrande sei eine Diebin.“
„Eine mit überdimensionierter Frisur. Hast du ihr wenigstens die Haare ein wenig zerwühlt?“, grinste Jakob. Er war längst versöhnt. Außerdem kannte er Henning zu gut.
„Blieb nicht aus. So ein Malheur, sacre bleu!“
Vor dem Saunieren zu duschen war Pflicht. Und da das Gespräch mit Frau Doktor Grimmenbroich am Nachmittag stattfand, war es für Jakob angebracht, gleich zu duschen.
Noch vor einer Stunde hatte er Hetel mit der französischen Frisur hier drinnen erwischt.
Jakob liebte es, sich mit dem sündteuren Duschgel einzureiben, das Henning ihm zu ihrem letzten Kennenlerntag geschenkt hatte. Der Duft war ganz speziell und passte sehr gut zu seinem Hetel.
Er stellte die Tube in den Halter an der Duschwand. Die Tube fiel wieder heraus. Da war kein Platz für die Tube. Die Halterung war schon gefüllt. Konsterniert zog Jakob eine funkelnde Rolex heraus.
„Ich glaub‘ mich tritt ne schwule Kuh! Legrande ist doch ein Diebin. Antonello hatte recht!“, murmelte Jakob vor sich hin.
Schnell machte er sich fertig und überlegte, was er nun tun solle.
Mit Hetel konnte er nicht darüber sprechen, der war hinab in die Bar gegangen, zum ‘Socializing‘ – wie er sagte.
Er schlich den Gang entlang. Plötzlich ging die Türe zu Frau Dr. Grimmenbroichs Zimmer auf und Herr Löhlein kam heraus.
Er wirkte fahrig und so, als habe man ihn bei etwas ganz Schlimmem erwischt. Seine Nervosität sprach Bände.
„Ach … haha, Herr Gränsel. Gut, Sie zu sehen. Ich war gerade dabei… in Frau Generaldirektorins Zimmer einen Aktenordner abzulegen, den sie angefordert hatte. Das ist sonst nicht meine Art… in leere Zimmer zu gehen. Sie verstehen …“, gab er schwitzend von sich. Nun, Bodo Löhlein verhielt sich sonst selten anders, nur zwischen seinen Akten, seinem Computer und seinem geliebten Locher agierte er souverän. Aber Jakob sah ihm deutlich an, dass der Buchhalter etwas zu verbergen hatte.
„Ach, Frau Doktor ist gar nicht anwesend? Um was handelt es sich? Vielleicht kann ich helfen?“ Jakob versuchte auf diplomatischem Wege zu erfahren, was da so Seltsames am Laufen war.
„Nein, alles in bester Ordnung, Herr … Gränsel – Nein, Frau Generaldirektorin ist bei Frau Miitake. Ich … verstehe davon nichts … Ahnenbefragung oder so etwas.“
„Ahnen… was? Ich gebe zu, ich habe davon auch keine Ahnung, Herr Löhlein. Aber wenn die Direktorin damit ihre Freizeit verbringen will, ist das sicherlich in Ordnung.“
„Das ist es. Sie ist dann immer so entspannt, weitaus besser als wenn dieser Arzt sich um sie kümmert.“ Er schloss die Türe zum Zimmer der Direktorin und trat verschwörerisch an Jakob heran.
Jakob wich dezent einige Zentimeter zurück. Löhlein schien von Körperhygiene nicht so viel zu halten wie von seinem Locher.
„Dieser Meindl. Nehmen Sie sich, Herr Gränsel, um Himmels willen vor ihm in Acht! Das ist ein Pfuscher …“ Gerade als Jakob mit hochgezogenen Augenbrauen Näheres von dem Buchhalter erfahren wollte, kam der Butler Manson über die Stiege in den Flur, in den Händen ein Tablett mit diversen Flakons, und trat herbei.
Löhlein eilte von dannen.
„Ah, Manson. Frau Doktor Grimmenbroich ist bei ihrer japanischen Ahnensichtung …“, flachste Jakob, dem das Sammelsurium eigentümlicher Gestalten langsam zu gefallen schien.
„Wüsste ich nicht um den Aufenthaltsort meiner Herrin, wäre ich in der Tat ein schlechter Diener, wouldn’t I?“, britelte Manson tonlos vor sich hin und verschwand samt Tablett im Zimmer seiner Arbeitgeberin.
Jakob schüttelte den Kopf. Seltsam. Dieser Manson trug auch hier im dunklen Flur seine Sonnenbrille. Ein eigentümlich technischer Duft umgab den Butler. Als wäre er ein Roboter, so steif und unnahbar wirkte er.
Jakob entsann sich seines Vorhabens. Das Zimmer Antonellos lag am Ende des Flurs neben der Butlerstiege.
Leise klopfte er an der Türe. Stille.
„Herr Antonello?“, flüsterte Jakob leise. Nichts. Entweder der Schönling schlief oder er war nicht da. Gerade im Begriff, leise die Türe zu öffnen, wurde ihm der Knauf aus der Hand gerissen und ein nicht minder konsternierter Dr. Meindl stand im Türrahmen zu Antonellos Zimmer.
Jakob sah gerade noch, wie der Arzt verstohlen so etwas wie eine kleine Spritze in seine Jackentasche gleiten lies.
„Herr Gränsel? Sie wollen zu Antonello?“
„Ja, in der Tat. Herr Antonello hatte mich vor Kurzem besucht. Er vermisste seine Uhr. Sie hat sich wieder gefunden“, gab Jakob wahrheitsgemäß von sich, obwohl er gar nicht wusste, ob es so klug war, Herrn Meindl davon zu erzählen.
„Es geht Herrn Antonello nicht so gut. Er braucht eine Stunde Ruhe. Die Uhr werde ich ihm dann geben.“ Er hielt Jakob die offene Hand hin.
„Nun, ich denke, wir sollten die Uhr einfach in sein Zimmer …“, meinte Jakob, wobei er versuchte, neben Herrn Dr. Meindl in den Raum zu lugen. Im Halbdunkel schien es, als liege Antonello eingemummt in seinem Bett.
„Wie gesagt, Ruhe ist alles, was er braucht. Wie Sie vielleicht wissen leidet Herr Antonello an einer hyperkinetischen Störung, die jedoch medikamentös und mit etwas Ruhe wunderbar zu behandeln ist.“
„Oh, wenn Sie es sagen, Herr Doktor.“ Jakob sah etwas peinlich berührt umher, zog die Rolex aus seiner Tasche und legte sie dem Arzt in die Hand. Der nickte und steckte sie ein.
„Ich werde mich darum kümmern.“ Na hoffentlich, dachte Jakob. Auf dieser Hütte hier war alles etwas eigenartig.
Herr Dr. Meindl schloss die Türe zu Antonellos Zimmer und eilte den Gang hinab zur Haupttreppe.
Jakob schlenderte zum Flurfenster und sah sich das Wetter an. Es wurde schlimmer. Der Schneefall war dicht und man konnte kaum 3 Meter weit sehen.
Wenn sie Pech hatten, war mit den geplanten Skifahrten die nächsten Tage nichts.
„Ach, der Saunaofen!“, murmelte Jakob vor sich hin. Da die Frau Generaldirektorin den Auftrag ihm erteilt hatte, würde sich Manson nicht darum kümmern.
So weit er sich erinnerte, konnte er auch die Butlerstiege hinab durch die Küche zum Saunakeller gehen. Also machte er sich auf den Weg.
Die knarrende Treppe war eng. Wie schaffte es Manson, diese Holzstufen lautlos heraufzukommen? Ein Phänomen dieser Mann.
Ein kleiner Gang, eine Türe, noch eine Türe. Hoppla. Das war wohl das Privatgemach des Butlers. Wo war noch die Türe durch die Küche? Jakob war es peinlich, mitten in das Privateste eines anderen Hüttenbewohners hineinzuplatzen.
Gerade wollte er gehen, als sein Blick von einer seltsamen schwarzen Sporttasche angezogen wurde. Der Reißverschluss war nicht ganz zu und Handschellen lugten hervor. Na so was? Wozu brauchte ein englischer Butler solches Gerät?
Auf einem Tischchen stand ein Laptop und darunter lagen einige Papiere. Ein Pass, wie es schien.
Jakobs Art war es nun nicht zu schnüffeln, aber der Butler schien ihm außerordentlich seltsam. Schnell horchte er durch die Türe hinaus. Es schien niemand zu kommen. Ja, ein britischer Pass und etwas Eigenartiges. Jakob konnte es kaum glauben. Mortimer Manson schien eine militärische Vergangenheit zu besitzen. Als Butler? Er verstand von derlei Dingen nicht viel, aber da stand etwas von ‘discharge‘. Das war doch eine ‘unehrenhafte Entlassung‘. Dieser Manson hatte also eine finstere Vergangenheit. Verdammt, das ging ihn nichts an. Es war nicht sein Butler. Aber diese Tasche mit den Handschellen? Was sollte das?
Jakob legte den Pass wieder an Ort und Stelle. Er wollte gerade gehen. Aber die Tasche ließ seine Gedanken nicht los.
Vorsichtig öffnete er den Reißverschluss und lugte hinein. Da gab es nicht nur Handschellen. Jakob stand der Mund offen. Unter anderem war da ein medizinisch aussehendes Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit. Auf dem Etikett stand nur ‘TXB‘. Er hörte ein Geräusch und schreckte auf.
Schnell schloss er den Reißverschluss wieder und verließ die fensterlose Kammer. Da, das musste die Türe zur Küche sein! Jakob hatte recht. Er huschte an einem Tisch mit beunruhigend mächtigen Messern vorbei, aus der Küche in eine Art Vorraum. Rechts war eine Türe zum Hof. Links stand ein Hackstock, in dem ein großes Beil stakte. Ein Haufen Holzscheite lagen darum herum. Es roch nach Kiefern und Eichenholz. Hier, das war die Hintertüre zur Sauna.
Jakob schnallte sich die Schürze um und begann Holzscheite zu sammeln. Der Ofen vor der Sauna war ein klassischer Holzofen, dessen steinerne Seite in die rustikal eingerichtete Saunakammer hineinragte. Die schwere Saunatüre mutete wie der Eingang einer alten Räuberhöhle an. Es passte zu Frau Doktor Grimmenbroichs derber Art.
Jakob räumte große Scheite in den Ofen. Plötzlich schoss zitternd ein wuchtiges Klappmesser in ein Scheit. Jakob fuhr zusammen und sah auf. Manson war lautlos in die Sauna-Vorkammer gekommen.
„Sie müssen Späne machen. So wird es nicht werden, my dear!“, meinte Manson trocken, zog sein Messer aus dem Scheit und begann Kienspäne davon abzuschneiden.
Jakob hatte Mühe, seinen Puls unter Kontrolle zu bringen. Dieser Butler war ihm ganz und gar nicht geheuer. Für seinen Geschmack hatte der Engländer ein wenig zu viel für Messer und ausgefallene Sexspielchen übrig. Er dachte an die Sporttasche.
„Ich kenne mich nicht wirklich damit aus, Manson“, gab Jakob eingeschüchtert zu.
„Ich übernehme das. Kümmern Sie sich um die Gäste.“ Jakob war mehr als froh, der Gesellschaft Mansons zu entfliehen. Wieder nahm er den seltsamen Geruch an diesem Butler war. Es erinnerte ihn an eine Autowerkstatt. Nur an was genau, konnte Jakob nicht entschlüsseln.
Er legte die Arbeitsschürze ab und nahm diesmal den Weg über die Haupttreppe hinauf in den Salon. Henning stand mit Herrn Züngli und Chancelle Legrande an der Bar, jeder mit einem Aperitif in der Hand.
Jakob war froh, Henning zu sehen und atmete vernehmlich, als er hinzukam.
Mademoiselle Legrandes Blicke zu Henning entgingen ihm nicht.
„Herr Gränsel! Sie wirken ja etwas knell. Komma Sie her zu uns, wir sind gerade beim Apéro. Sie mache ja a Gfrääsli“, meinte Herr Züngli in einer Mischung aus Schwyzerdütsch und Hochdeutsch.
„Oh, äh, der Saunaofen. Das ist kein Leichtes, den in Gang zu bringen. Danke, keinen Alkohol im Moment. Nur Wasser, danke.“ Herr Züngli schenkte ihm ein.
„Das Wetter ist schleschter jede Minüt!“, beschwerte sich Mademoiselle Legrande, während sie versuchte mit Blicken klarzustellen, dass sie den Vorfall im Badezimmer zuvor tunlichst zu verschweigen gedachte.
„Es wird auch nicht besser werden, befürchte ich, Mademoiselle Legrande.“ Jakob gab den Besorgten.
„Mon dieu. Wohlmöglisch sitzen wir ‘ier fest?“ Sie wirkte nicht, als täte ihr das leid.
„Damit ist zu rechnen, Mademoiselle. Aber der Wetterbericht verspricht Aufheiterung bis spätestens übermorgen.“
„Oh ja, unsere Schwytzer Berge sind unberechenbar, gell, Herr Bartel?“
„Das ist richtig, Herr Züngli, wie so manches bei Leiblein. Und Sie wollen wirklich unsere Lebkuchen mit der speziellen Schokolade aus ihrem Werk in der Schweiz verkaufen?“
„Ja, unsere Schoki mit dem Leiblein Biberflädli. Des is‘ echt an der Ziit gsi.“
„Apropos an der Zeit …“, meinte Jakob. „Ich denke, ich muss unsere Generaldirektorin von Frau Miitake abholen. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden?“ Herr Züngli und Mademoiselle Legrande nickten.
„Ich werde Herrn Gränsel begleiten und mich noch ein wenig vor dem Saunieren frischmachen, ich empfehle mich“, meinte Henning. Herr Züngli nickte ihm zu, aber Jakob entging die Enttäuschung in Mademoiselle Legrandes Augen nicht. Distinguiert kippte sie den Rest ihres Proseccos hinab. Ob sie mit der alleinigen Gesellschaft von Herrn Züngli zufrieden war, konnten Henning und Jakob nicht erfahren. Es war ihnen auch egal.
Auf dem Weg hinauf war eine Besenkammer der ideale Ort für raschen Austausch.
Nachdem Jakob das Gebot der Kussstrafe erneuert hatte und sich Henning einige Bemerkungen über Boris Becker nicht verkneifen konnte, erzählte Jakob seinem Partner alles, was ihm seit dem Treffen zuletzt widerfahren war. Die Sache mit der Uhr, Löhlein, Antonello, Meindl, die Sporttasche und Manson. Er ließ nichts aus.
„Ich kann nur sagen, Jackie, unser kleines Geheimnis hier ist das harmloseste, wie ich mittlerweile glaube. Ich habe von diesem Züngli einiges Interessantes erfahren. Und ich glaube auch, dass er gar kein Schokolatier ist, ob mit oder ohne Waffenformen.“
„Wie meinst du das, Hetel? Schieß los!“
„Ich hatte doch einmal dieses Praktikum bei den berühmten Pralinenherstellern in Turin gemacht. Ich kenne mich also aus. Der Mann weiß noch nicht mal, dass man Kuvertüre temperieren muss, geschweige denn, was eine Canache ist. Auch, welche Sorten Schokolade sich besser eignen und dass der Anteil an Kakaobutter …“, begann Henning zu dozieren.
„Ist ja gut, Hetel. Ich glaube es dir ja. Aber wer ist er und was will er dann hier?“
„Ich weiß es nicht, Jackie. Aber dass er eine Pistole in einem Halfter unter seiner Jacke trägt und offensichtlich nicht viel von Löchlein und der französischen Frisur hält, kam deutlich rüber.“
„Aber er wird sich doch nicht vor Mademoiselle Legrande über sie ausgelassen haben? Schweizer hin oder her, aber das trau ich ihm auch als Angehörigen dieses gefuchsten Bergvolkes nicht zu“, meinte Jakob nicht eben unflätig.
„Jackie, was hast du gegen Schweizer?“ Henning war überrascht, immer wieder mal Neues über seinen Mann zu erfahren.
„Eine Jugendsünde …“, wischte Jakob beiseite, „… aber du hast recht, ich darf nicht vorverurteilen. Davon abgesehen, kann es sein, dass hier nur die Hälfte der Anwesenden das zu sein scheint, was sie vorgeben?“
„Das kannst du auch laut in den Schneesturm brüllen, mein Lieber. Zu Meindl meinte er, der habe gar keine Approbation und in Gegenwart von Mademoiselle Legrande müsse man sich stets dem Verbleib seiner Wertgegenstände versichern. Das alles erzählte er mir natürlich bevor die Frisur hereinkam.“
„Das würde zumindest die Sache mit der Uhr erklären, Hetel. Meinst du, sie ist so was wie eine Kleptomanin?“
„Na, wenn das Frau Doktor erfährt, fliegt sie achtkantig, erfolgreiche Marketingchefin hin oder her.“
„Aber dieser Butler macht mir Angst, Hetel. Das ist ein Waffennarr. Und der steht ganz heftig auf SM-Spielchen. Du hättest sehen sollen, was da in der Tasche für Spielzeug drinnen war. Ich frag mich ernsthaft, für wen er das braucht. Weißt du, was ‘TXB‘ ist?“
„Vielleicht hat er eine heimliche Liebschaft hier auf der Hütte, die es auch ein wenig heftiger mag“, grinste Henning seinen Freund an.
„Und ‘TXB‘: K.o.-Tropfen. Ein übles Zeug, es ist …“
„Ich will es gar nicht wissen, Hetel. Schlimm genug, dass du zu wissen scheinst, was das ist. – Aber ich muss jetzt los, Frau Generaldirektorin von der japanischen Mystikerin abholen. Meine Güte, nicht auszudenken, wenn ich zu spät käme.“
Henning gab Jakob absolut recht. Vorsichtshalber ging Henning zuerst aus der Besenkammer, einen Staubwedel tragend, als Tarngrund, diesen Ort besucht zu haben, wie er Jakob verschwörerisch zuflüsterte. Manchmal war sein Freund im Herzen schon noch ein rechtes Kind.
Nach ein paar Minuten folgte Jakob und ging hinauf in die Dachkammer, in die man Frau Miitake gestopft hat.
Die Japanerin war allein und fütterte einen Papagei, der in einem runden Käfig mit offener Türe auf einer Stange saß und genüsslich Erdnüsse aufknabberte.
„Schwuchtel!“, krächzte das Tier.
„Bitte?“ war alles, das Jakob zu sagen wusste. Was war denn das? Jetzt wurde er schon von exotischen Vögeln geoutet. Da war es wohl nur noch exotischer, beim Vögeln geoutet zu werden …
„Hören Sie nicht auf Kokinatori, Herr Gränsel. Er ist nur ein Vogel.“
„Schwuchtel!“, krächzte der ‘nur Vogel‘ erneut. Jakob versuchte, ihn zu ignorieren. Erstaunlich auch, dass Frau Miitake wusste, dass er es war, der ihr Zimmer betrat. Sie war immerhin blind. Na vielleicht hatte ihr komischer Vogel ihr etwas gesteckt.
Jakob bemerkte eine ganze Reihe von japanischen Schälchen und Tiegelchen. Aus manchen dampfte es. Andere verströmten eigentümlich exotische Düfte.
„Ich wollte Frau Dr. Grimmenbroich abholen.“
„Sie ist nicht hier.“ Welch Antwort. Das sah Jakob selbst.
„Wann ist sie gegangen?“
„Soeben.“
„Und wohin?“
„Wohin trägt den Bären der Winter?“ gab sie geheimnisvoll von sich.
Jakob runzelte die Stirn. Den Bären? Der Winter? Naja, in seine Höhle zum Winterschlaf… in seine Höhle. Die Hexe war in ihren Bau zurück.
„Sie ist in ihr Zimmer gegangen?“
„Ja.“ Frau Miitake lächelte aus ihrem Kimono.
„Warum sagen Sie das nicht gleich?“
„Es klingt nicht geheimnisvoll, Herr Gränsel.“
„Da haben Sie wohl recht, Frau Miitake. Danke.“
Sie verneigte sich. Er verneigte sich ungelenk.
„Schwuchtel!“, krächzte Kokinatori.
Jakob straffte seinen Anzug und klopfte. Drinnen hörte man Antonello. Oh je.
„Kommen Sie herein, Herr Gränsel!“, befahl die Stimme der Knusperhexe. Hatte er eine Art Meldesystem an sich, das jedem gleich kundtat, dass Herr Gränsel vor der Türe stand? Oder färbte etwas von der Mystik der Japanerin auf seine Direktorin ab?
Jakob trat ein. Ein sichtlich aufgebrachter Antonello starrte seine Mutter mit hochrotem Kopf an.
„Das kannst du nicht machen, Mutter! Du bist unmöglich!“, schrie er sie an.
„Danke, Antonello, das wäre alles. Lass uns allein!“
Antonello zitterte am ganzen Leib. Er ballte die Faust. Jakob dachte schon, er wolle seiner Mutter an den Hals springen, dann brach alles in dem jungen Mann zusammen. Mit feuchten Augen rannte er an Jakob vorbei aus dem Zimmer.
Frau Dr. Grimmenbroich war die Ruhe selbst und setzte sich.
„Herr Gränsel. Pünktlich wie immer. Das schätze ich sehr. Schließen Sie die Türe und setzen Sie sich.“
Jakob tat wie geheißen.
„Verzeihen Sie Frau Generaldirektorin. Muss man sich um Ihren Sohn Sorgen machen?“
„Nicht im Geringsten, Herr Gränsel.“
Sie zog ein großes Kuvert aus einer der Schubladen ihres Schreibtisches. Jetzt erst erkannte er, dass es sich bei dem Möbel um eine verkleinerte Replik des Schreibtisches aus ihrem Büro der Fima handelte. Der wuchtige Ebenholztisch war mit Szenen aus den Grimmsmärchen geschmückt.
„Nun, Herr Gränsel. Das kommende Jahr wird ein besonderes werden. Viele Veränderungen stehen uns ins Haus. Ich werde mich zum Ende des kommenden Jahres aus der Geschäftsführung zurückziehen.“
Jakob blieb der Mund offen.
„Frau Generaldirektorin. Bitte, Sie sind doch in den besten …“
„… in der Tat und wenn es am Schönsten ist, soll man aufhören, nicht wahr. Herr Gränsel, geben Sie es doch zu. Was kann ich noch mehr erreichen? Es wird Zeit mit Würde zu gehen, ehe es nicht mehr geht. Dies ist mein Testament. Ich vertraue es Ihnen an.“ Jakob war sprachlos und nahm das Kuvert mit zittrigen Händen an sich.
„Aber Frau Doktor, … Testament?“
Frau Gerneraldirektorin lachte.
„Ha, Herr Gränsel. Ihr Gesicht allein ist es wert, Ihnen die Geschäftsführung anzuvertrauen.“
Jetzt fiel Jakob fast der Umschlag aus den Händen. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
„Herr Gränsel. Ich werde mich am Ende des nächsten Jahres zurückziehen und aus Europa verabschieden. Andere Arten zu Leben locken mich. Mein Vermögen geht an eine Stiftung. Sie übernehmen die Firma. Machen Sie damit, was Sie wollen. Ich vertraue Ihnen. Machen Sie von mir aus einen Deal mit Schweizer Schokolade oder heiraten Sie Ihren Herrn Bartel …“
„Frau Grimmenbroich!“, fuhr Jakob auf.
„Ich bitte Sie, Herr Gränsel! Ich weiß, was in meiner Firma vor sich geht! – Nein, sonst weiß es niemand. Mir ist es auch nicht wichtig. Wer mit wem ins Bett geht, interessiert mich nur, wenn ich involviert bin. Aber die Sache mit dem Testament und meinen Plänen bleibt unter uns. Sehen Sie es als einen kleinen Handel an: Ich bin bereit meine Geheimnisse mit Ihnen zu teilen, solange Sie sie als Geheimnisse behandeln.“
Jakob wurde ganz schwummrig. Er hätte mit allem gerechnet, sogar, dass sie von ihm verlangt hätte, mit Mademoiselle Legrande eine Affäre anzufangen oder ihren Sohn auf einer seiner Vergnügungsreisen zu coachen. Es hätte ihn nicht gewundert. Aber das?
„Frau Generaldirektorin, ich bin sprachlos …“, flüsterte Jakob.
„Wieso? Weshalb? Ich höre Sie doch plappern. Seien Sie ein Mann und blicken Sie der Zukunft fest ins Auge. Ich weiß, dass Sie das können!“
„Was ist mit Ihrem Sohn Antonello?“
„Ich habe ihn soeben enterbt. Er bekommt seinen Pflichtteil. Vielleicht wird ihm das seinen Charakter retten. Er sollte mir dankbar sein.“
Jakob war nicht wohl in seiner Haut. Diese Frau war skrupellos bis ins Mark. Das erklärt auch Antonellos Abgang von zuvor.
„Verwahren Sie das gut, Herr Gränsel, lassen Sie es nicht in der Nähe von unserer Marketingleiterin liegen.“ Die Hexe hatte recht. Sie schien wirklich über die Leute in ihrer Firma Bescheid zu wissen.
„Ich nehme an, Sie begleiten Frau Miitake nach Japan?“
„Das muss Sie nicht kümmern, Herr Gränsel. Aber Frau Miitake spielt eine Rolle. Sie ist meine Mentorin zur Anderswelt. Wenn nur nicht dieser grässliche Vogel wäre.“
„Der Papagei?“
„Irgendwann bring ich das Vieh um. Er plappert zu viel.“
„Er ist gesprächig“, bestätigte Jakob.
„Ah, Sie hatten bereits das Vergnügen?“
„Ja, er nannte mich ‘Schwuchtel‘!“, gab Jakob zu.
Frau Dr. Grimmenbroich lachte laut auf.
„Ein vorlautes Biest. – Nun, genug der Plauschereien. Ich nehme noch bei Frau Miitake meinen Trunk zu mir, dann sehen wir uns alle bei Kaffee und Kuchen.“ Sie war plötzlich bester Laune. So wagte Jakob eine Frage zu stellen.
„Verzeihen Sie, aber ist es Herrn Doktor Meindl nicht ein Dorn im Auge, wenn Sie Frau Miitake bevorzugen?“ Frau Doktor Grimmenbroich lächelte beschwichtigend.
„Herr Doktor Meindl ist allein zu einem Zweck in meinen Diensten: Er hält Mademoiselle Legrande im Zaum. Die beiden haben eine Affäre. Sie ist gut in ihrem Job, aber sie leidet an Kleptomanie. Meindl ist nur offiziell mein Leibarzt. Ich weiß, dass er mir nur Placebos gibt und sie sündteuer berechnet. Soll mir recht sein. Er ist nur eine der Schachfiguren auf dem Leiblein-Brett. Und Sie …“ Frau Doktor Grimmenbroichs knorriger Zeigefinger ragte Jakob entgegen, „… sind soeben zum Springer aufgestiegen!“
Henning schüttelte zum zehnten Mal den Kopf.
„Jetzt ist die alte Knusperhexe endgültig übergeschnappt.“
„Ich kann nicht anders, als ihr das zu glauben, Henning.“
„Du bist wirklich und ehrlich völlig fertig, mein Schatz. Wenn du mich Henning nennst, ist es ernst.“
„Was wärst du denn in einer solchen Situation. Und zu allem Überfluss muss ich jetzt auch noch so tun, als wüsste ich von dem Ganzen nichts.“
„Kopf hoch, Jackie. Das sieht doch alles gar nicht so schlecht aus, oder? Jetzt gibt es erst einmal Kaffee und Kuchen.“
„Schon, aber sie spielt ein Spiel! Sie sieht uns alle als Schachfiguren. Ich bin jetzt ein ‘Springer‘. Die hat sie doch nicht alle.“
„Nun, sie hat Fantasie, Jackie. Komm, lass uns gehen.“
Manson reichte Kuchen.
Jakob war gar nicht wohl dabei, von jemandem Kuchen zu bekommen, der solch eine Vergangenheit hatte und K.o.-Tropfen mit sich führte.
Frau Doktor Grimmenbroich thronte wie die Königin aus Schneewittchen im Kreise ihrer Untertanen und schien bester Laune zu sein.
Nur Antonello fehlte.
Frau Miitake war sehr still und trank allein Tee. Kuchen schien nicht in ihr Weltbild zu passen.
Herr Züngli redete in einem fort über die Vorzüge von Schweizer Schokolade. Jakob sah Henning mehrfach verstohlen die Augen verdrehen, wenn er den Schweizer mal wieder etwas Falsches über Schokolade sagen hörte.
Der Salon war mit Kerzen anheimelnd beleuchtet. Trotz Schneesturmes war es der hellste Raum in der sonst eher düsteren Hütte. Die Kuchen waren exquisit.
„Bei allen Geistern, Manson! Eine Leiblein-Lebkuchen-Torte hätte wohl doch darunter sein können“, wies Frau Generaldirektorin ihren Butler zurecht.
„Sehr wohl, Madame. Ich werde das nächste Mal darauf achten.“ Entgegnete Manson monoton. Man hatte das Gefühl, als hasse er seine Herrin aufs Tiefste. Jakob schauerte jedes Mal, wenn der Butler in seiner Nähe war.
Unter seinem Hemdkragen sah Jakob einmal kurz etwas schwarz Glänzendes hervorlugen. Jetzt wusste er, weshalb ihn der Butler an eine Autowerkstatt erinnerte. Er roch ganz leicht nach Gummi. Manson trug unter seiner Livrée offenbar ein Latexkostüm. Mein Gott, der Mann war wirklich ein wenig schräg.
Plötzlich sprang die Türe auf. Ein sichtlich aus dem Rahmen gefallener Antonello stürzte herein, ohne sich um die Anwesenden zu kümmern. Alles hielt inne und sah dem jungen Mann konsterniert zu, wie er sich von der Bar eine Whiskeyflasche und einen Teller schnappte. Dann schaufelte er mit bloßer Hand die Hälfte einer ganzen Schwarzwälder Kirschtorte auf den Teller, wischte seine Hand an einem Stuhlpolster ab und verschwand so schnell wieder, wie er gekommen war.
Frau Doktor Grimmenbroich lächelte: „Ach ja, Kinder! … Manson, bitte reinigen Sie doch den Stuhl. Und sprechen Sie später doch mal mit Antonello. Wenigstens auf Sie scheint er zu hören“, grinste die Knusperhexe.
Jakob schauderte als er Manson antworten hörte: „Sehr wohl, Madame.“ Es klang diabolisch.
Henning sah seinen Partner erschrocken an. Jakob seufzte. Was sollte das nun? Seine Chefin entpuppte sich mehr und mehr als offenkundiges Biest. Er wusste nicht, ob er sich als bald erkennbarer Günstling der Hexe bei Leiblein in Zukunft sicher fühlen konnte.
Die Sauna war bereitet. Es war in der Tat eine seltsame Sache, die Mitarbeitergesichter nun samt ihrer ganzen Körperlichkeit zu erfahren. Nur Henning hatte er bisher nackt gesehen. Bis auf Frau Miitake und Antonello, die fehlten, und Manson waren alle nur mit dem obligatorischen Saunatuch bekleidet.
Wie immer vergab auch hier Frau Doktor Grimmenbroich ihre Anweisungen.
„Verehrte Mitarbeiter, liebe Gäste. Es gehört mit zu der Tradition der Leiblein-Lebkuchen-Hüttenerfahrung, dem heiteren Sauna-Wettbewerb zu frönen. Wer als erster die Sauna verlässt, wird nächstes Jahr keine Gehaltserhöhung bekommen. Ein Geschäftspartner würde sich zu Rabatten bei unseren Geschäften verpflichten. Jeder weitere Ausscheidende erhöht sein Gehalt um 2%, bzw. erniedrigt seine Rabatte. Nach dem Saunagang empfehlen wir dringlichst, sich von Manson mit einem guten erfrischenden Schwall Schweizer Schneewassers aus diesem Bottich abschrecken zu lassen. Danach ist Bettruhe angesagt! Viel Vergnügen! Sehen Sie es als Spiel. Nun denn, auf in den Ofen.“
Jakob schwante Übles. Die Hexe hatte bisher noch jeden geschlagen, wie man hörte. Na sie schien ja an die Temperaturen der Hölle gewöhnt zu sein.
Züngli sprang elegant in die Sauna. Er war merklich behaart, sonst aber enorm sportlich gebaut. Das Gegenteil traf für Herrn Löhlein zu. Sein Bauch bewegte sich mehr als er selbst. Elegant wie eine Gazelle sprang die zierliche Mademoiselle Legrande in die Sauna. Sie hatte turbanartig einen Handtuchwickel um den Kopf geschlungen um ihre Frisur zu schützen. Herr Doktor Meindl trug Goldkettchen und war sehr stattlich gebaut. Henning und Jakob sahen ausgesprochen gut aus. Auffällig war nur, dass beide keinerlei Körperbehaarung hatten. Nun ja, sie achteten eben darauf. Aber bis auf die Französin schien das keinem aufzufallen. Antonello war nicht erschienen. Zumindest noch nicht.
Nach etwa 6 Minuten schweigenden Schwitzens, stand Herr Löhlein keuchend auf, Anstalten machend, die Sauna zu verlassen.
„Nun, nun, Herr Löhlein, was ist denn das? Sie werden doch nicht schon wieder schlapp machen? Ach, Buchhalter! So schaffen Sie es nie, was zu werden. Seien Sie ein Mann und setzten Sie sich wieder hin.“
Gequält und gekränkt blickend setzte sich Bodo Löhlein wieder auf die Holzbank. Mit hochrotem Kopf versuchte er durchzuhalten, aber es gelang ihm nicht. Er sprang auf und stürzte aus der Sauna.
„So ein Schlappschwanz! Na, wer schon Bodo heißt!“, schickte Frau Generaldirektorin ihrem Buchhalter hinterher. Sie war schon ein schreckliches Biest. Jakob wusste schon, weshalb er sie nicht mochte. So oder so.
Von draußen ertönte ein Wasserplatschen und ein Schrei. Durch das Bullauge in der Saunatüre erkannte man Mansons diabolisch grinsendes Gesicht.
Nach weiteren 4 Minuten folgte Mademoiselle Legrande. Wortlos verließ sie die Sauna.
„Zu zart, das Pflänzchen! Nun, wer kommt als Nächstes?“
Ein Kreischen ertönte schon vor dem Schwall Wasser.
Es wurde in der Tat schwer erträglich. Herr Züngli und Herr Meindl kämpften nach 15 Minuten in der Sauna um den letzten Schweißtropfen. Schließlich stürzten sie beide zugleich hinaus.
Frau Doktor Grimmenbroich grinste.
„Ich wusste doch, dass Sie und Ihr Freund, Herr Gränsel, die Letzten sein würden. Ich habe einfach Menschenkenntnis.“
Henning starrte Jakob erschrocken an.
„Sie weiß es, Hetel. Aber es ist o.k.!“ Kreischende Männer waren zu hören, als Wasser platschte. Etwas Britisches wurde gesagt. Ganz offensichtlich hatte da ein Butler eine Menge Spaß. Welch Sadist.
„Ja, das ist es, meine Süßen, so und jetzt bitte ich euch zu gehen. Ihr wollt doch eurer Direktorin die Schmach erlassen, vor zweien ihrer besten Mitarbeiter die Sauna verlassen zu müssen!“ Henning und Jakob sahen sich an, nickten und verließen den Backofen. Noch ehe sie das Handtuch umgeschlungen hatten, ergoss sich ein stechend kalter Wasserschwall über Jakob und Henning.
Beiden entfuhr ein Jappsen. Hennings Laute klangen ähnlich wie jene, die sonst nur Jakob zu hören bekam.
„Sehr männlich, meine Herren, isn‘t it? Gehen Sie jetzt. Ich komme mit Ihnen. Der Salon muss bereitet werden.“ Weshalb jagte dieser Manson einem immer einen Schauer über den Rücken, auch wenn er nur alltägliche Dinge von sich gab?
Henning und sein Partner lagen diese Nacht gemeinsam in Jakobs Bett. Er hatte seinem Freund mittlerweile alles erzählt.
„Mein Gott, das ganze Hüttenwochenende wird ein Alptraum, Hetel.“
„Aber nicht wenig aufregend, meinst du nicht?“
„Lass es erst vorbei sein, dann urteile ich darüber.“
Auf dem Flur vor dem Zimmer der beiden hörte man ein Geräusch.
„Was ist denn das?“
„Ich weiß nicht, Hetel, interessiert mich auch nicht. Vielleicht ist es Frau Generaldirektorin eingefallen, noch ein Mitternachtsmahl zu sich zu nehmen?“
„Ich will sehen, was da vor sich geht.“ Henning stand auf. Er zog die Sporthose an.
„Verdammt, bleib hier, wir können doch nicht nachts durch die Hütte geistern!“
Hennings Gesicht im Schein der Nachttischlampe war voller frechem Jungengrinsen.
„Natürlich können wir. In Anbetracht solcher Leute sollten wir es als unsere Pflicht ansehen, Bescheid zu wissen, was da vor sich geht.“ Jakob streifte genervt seine Pyjamahose über, löschte das Licht und folgte seinem Partner vorsichtig auf den Flur hinaus. Im Schein der fahlen Notausgangsbeleuchtung im Flur sahen sie am Ende des Ganges eine schwarze Gestalt an Antonellos Türe. Reflexe des Lichtes schimmerten auf der Oberfläche des schattenhaften Körpers.
Jakobs und Hennings Augen wurden groß. Das musste Manson sein, von Kopf bis Fuß in Latex. Die Gestalt huschte in Antonellos Zimmer.
„Manson?“, flüstert Jakob.
„In Antonellos Zimmer!“, gab Henning leise zurück.
Ehe Jakob seinen Freund daran hindern konnte, schlich der den Flur entlang zu besagter Türe und horchte daran. Jakob folgte widerwillig und tat es ihm gleich. Man hörte Geräusche wie sie jemand von sich gab, der einen Knebel im Mund hatte.
Jakob winkte Henning von der Türe fort.
„Was sollen wir jetzt tun, Hetel?“
„Nichts. Lass den beiden doch ihren Spaß!“
„Ja, aber Antonello ist doch gar nicht schwul, Manson scheint ihn doch zu etwas zu zwingen.“
„Weißt du’s?“ Henning hatte recht. Jakob wusste das nicht. Jemand kam leise die Butlerstiege herauf. Beide sahen sich hektisch um. Bis zu ihrem Zimmer schafften sie es nicht. Da gab es einen Vorhang. Schnell huschten beide dahinter. Aus der Dunkelheit heraus riskierten beide einen Blick.
Eine zierliche Person schlich vorbei. Mademoiselle Legrande? Jemand kam ihr entgegen. Die leise Stimme Herrn Doktor Meindls war zu hören.
„Liebes, du sollst doch nicht herumschleichen. – Oh nein, was hast du jetzt wieder gestohlen. – Das ist ein Fläschchen? – Sehr interessant. Das Zeug ist verboten. Jetzt komm! Wir müssen das loswerden!“
Es verging keine Minute, nach dem beide in ihre Quartiere ins Erdgeschoss hinabgeschlichen waren, ehe sich die Türe zu Löhleins Zimmer öffnete. Was wollte denn der Buchhalter jetzt? Aber als die Gestalt aus dem Zimmer trat, war es die Statur Herrn Zünglis. Im fahlen Schein der Notausgangsbeleuchtung erkannten Jakob und Henning die Pistole in der rechten Hand Zünglis. Jakob packte Hennings Hand und drückte sie heftig. Mühsam mäßigte er seinen Atem. Jetzt hatte er wirklich Angst.
Beide versteckten sich für Minuten. Aber es blieb still. Nur einmal hörte man ein leises, geknebeltes Stöhnen hinter der nicht weit entfernten Türe Antonellos hervor.
„Bei allen Heiligen, Henning, was geht hier nur vor? Da sind ja lauter Psychopaten unterwegs!“ flüsterte Jakob.
„Jetzt mach mal halblang. Schräg drauf sind sie alle hier, aber Psychopaten deshalb noch lange nicht. Psst, da kommt jemand!“
„Schon wieder? Ein Taubenschlag ist eine Gruft dagegen …“, flüsterte Jakob verunsichert. Beide lugten durch den Vorhang.
Die Statur war eindeutig Herrn Löhlein zuzuschreiben. Man erkannte seine gedrungene Gestalt wie sie gerade in seinem Zimmer verschwand. Dann war es wieder still.
„Dramaturgisch wertvoll!“, bemerkte Henning nach einer Weile angespannten Herumsitzens in einer staubigen Nische hinter einem Vorhang.
„Hier tut sich ja wohl Einiges.“ Jakob versuchte alles zusammenzutragen. Jeder hatte ein dunkles Geheimnis. Von einigen wusste man welches. Andere verhielten sich derart, dass man ahnen musste, dass sie eines hatten.
„Psst!“, machte Henning leise. Jemand kam den Flur entlang geschritten. Leise, aber sehr langsam. Es war fast schaurig. Fahl leuchtete der Kimono Frau Miitakes im Dunkel des Flurs. Sie kam die Treppe von ihrem Dachzimmer herab. Leise sang sie ein japanisches Lied. Es klang gespenstisch und hatte etwas Rituelles an sich. Als sie am Vorhang der beiden Männer vorbeikam, hielt sie inne. Jakob und Henning stockte der Atem. Seltsame Laute entfuhren ihrer Kehle. Es klang wie das leise Wehklagen eines Vogels. War die Japanerin eine Schlafwandlerin, durchgedreht oder auf einer mythischen Odyssee durch die Nacht einer eingeschneiten Schweizer Berghütte? Gruselig war es in jedem Fall.
Sie drehte sich und schien etwas aufzuheben.
Dann setzte sie sich wieder in Bewegung und schritt langsam den Flur entlang bis zur großen Treppe in die Eingangshalle hinab. Dazu brauchte sie fast 10 Minuten.
Jakob schlotterte am ganzen Körper. Ihm war kalt und er war völlig verwirrt. Henning nahm ihn in den Arm. Beide wärmten sich aneinander. In diesem Moment flammte eine solch tiefe Zuneigung in beiden auf, dass sie wussten, sie würden sich für immer an diesen Moment erinnern. Der schräge Zauber dieser Nacht war elektrisierend, erschreckend, berauschend und fremdartig zugleich. Als gehe man auf den Ringen des Saturn spazieren.
„Jackie! Lass uns in Frau Miitakes Zimmer sehen. Ich will wissen, was es mit dieser Frau auf sich hat.“
„Bist du jetzt auch übergeschnappt?“ Jakob nahm beide Backen seines Partners in die Hände.
„Wir können doch nicht einfach nachts in fremde Zimmer schleichen.“
„Nachdem das offensichtlich jeder hier tut, können wir das auch.“ Henning zog seinen widerwilligen Freund hoch und küsste ihn. Es verfehlte seine Wirkung nicht. Jakob ließ sich von ihm auf den Flur hinaus und über die Treppe in die Dachkammer schleifen.
In Frau Miitakes Zimmer lag schwerer, süßlicher Duft zäh und betäubend über einer in Dunkelheit treibenden Insel aus Kerzenlicht. Auf dem Boden vor dem Bett lagen Federn. Mansons Klappmesser steckte im Leib des Papageien, der tot in seinem Blut auf dem Boden lag.
Jakob entfuhr ein erstickter Schrei. Auch Henning atmete schwer.
Scherben zerbrochener Tiegel und ölige Flüssigkeiten drapierten sich um das Bild des Grauens.
„Verdammt, jetzt wird es aber langsam unheimlich, Henning!“
„Wir gehen jetzt zurück, Jackie. Da gehen wirklich gefährliche Dinge vor sich.“ Jakob merkte seinem Freund an, dass selbst er seinen Optimismus zu verlieren schien. Er war sehr dankbar für den Vorschlag, zurück in das Zimmer zu gehen.
Auf dem Rückweg begegnete ihnen niemand.
Im Zimmer krochen beide schnell ins Bett und hielten sich aneinander.
„Henning?“
„Ja?“
„Glaubst du, Miitake hat ihren Papagei ermordet?“
„Warum sollte sie das tun?“
„Weiß nicht, japanisches Ritual oder so was, ich kenne mich da nicht aus.“
„Jackie, ich glaube das nicht. Es war Mansons Messer.“
Jakob machte kein Auge zu. Zumindest glaubte er das bis zu dem Moment als er aufschreckte. Da Stand die schwarz glänzende Gestalt Mansons in der Ecke. Jakob fuhr zusammen. Aber als er aufschreckte, lag nur Henning neben ihm. Es war ein Alptraum gewesen.
Bis zum Morgengrauen war es gespenstisch still. Dann hörte man die ersten Geräusche aufstehender Hüttenbewohner.
„Guten Morgen, Jackie!“
„Ich hoffe, es ist ein guter Morgen.“
Im Salon trafen alle zusammen. Jeder tat, als sei letzte Nacht nicht das Geringste vorgefallen und man habe gut geschlafen. Sogar Antonello war anwesend. Sein Gesicht offenbarte, dass er seine Nacht nicht ganz so ruhig verbracht hatte wie manch anderer.
Manson servierte still und stoisch wie immer, dann verschwand er.
Frau Doktor Grimmenbroich war noch nicht erschienen. Aber es war auch noch früh am Tage. Der Schneesturm hatte aufgehört. Das Wetter war klar und sonnig. Allerdings waren die Schneemassen derart phänomenal, dass man sich mindestens zwei Tage durch wuchtige Wehen zu graben hatte, ehe man die Hütte verlassen und Kontakt zur Außenwelt herstellen konnte.
„Sogar des Internet is varhäit. Und des Telefon is abibisläd“, meinte Herr Züngli.
„Ähh, wir sin‘ also hier gefangen. Na schöne Scheiße!“, gab Antonello in gewohnt peinlicher Art von sich und stieß reichlich obszön sein Croissant in den Kaffee.
Plötzlich flog die Türe auf und Manson stand da. Er wirkte eigentümlich irritiert. Zum ersten Mal überhaupt sah man ihn ohne Sonnenbrille. Er hatte die Augen eines Albinos. Sie waren rot.
„Ich bitte die Herrschaften Ruhe zu bewahren. Es ist etwas Folgenschweres vorgefallen. Ich musste soeben Frau Doktor Grimmenbroich tot in der Sauna auffinden.“
Löhlein, Züngli, Meindl, Henning und Jakob riss es von den Stühlen. Mademoiselle Legrande stieß einen schrillen, über das Trommelfell kratzenden Schrei aus.
Frau Miitake senkte den Blick und murmelte etwas auf Japanisch.
Jakob und Henning sahen sich an. Jetzt war es soweit. Die Welt kippte aus ihren Angeln.
Herr Züngli preschte in großen Schritten voraus in Richtung Treppe zur Sauna hinab.
Manson blieb ungerührt: „Ich bitte die Herrschaften, mir zu folgen.“
Manson folgte Züngli, dem alle hinterherrannten, nur Antonello blieb im Salon zurück.
Da lag sie. In der erkalteten Sauna. Ihr Körper so kalt wie alles im Raum. Ihr Blick war verschleiert. Ein eigentümliches, perfides Lächeln fand sich in ihrem toten Gesicht wieder, als wolle sie noch im Tod über ihre erschütterten Mitarbeiter und Gäste spotten.
Herr Löhlein raufte sich die Haare, murmelte ständig etwas unverständlich vor sich hin und rannte wie irre gleich einem aufgeschreckten Huhn herum. Manson hielt formvollendet die Türe zur Sauna auf. Mademoiselle Legrande hatte sich an die Seite Herrn Doktor Meindls geklammert und schluchzte hysterisch. Frau Miitake kam als letztes hinzu und starrte aus ihren blinden Augen ins Nichts. Dabei summte sie eine japanische Melodie, die schauerlich traurig klang. Herr Züngli stand in der Saunakammer und untersuchte die Leiche vorsichtig.
„Meindl! Sie sind Doktor. Kommen’s her, san’s nit so a Nobisser und tun’s ihre Büätz!“, polterte Züngli los. Doktor Meindl machte sich von der immer noch schluchzenden Mademoiselle Legrande los und begann, die Leiche zu untersuchen.
„Ich brauche meine Tasche. Es wird etwas dauern. Was ich jetzt schon sagen kann: Der Tod muss gestern Abend kurz vor Mitternacht eingetreten sein.“
„Aber sie wird doch nicht seit unserem Saunagang die ganze Zeit dort gesessen haben?“, meinte Jakob.
„Sicher nicht, Herr Gränsel, das hält kein Schwein aus!“, meinte Meindl salopp.
Jakob trat zu Züngli und Meindl in die Saunakammer. Am Boden in einer Spalte fanden sich zwei runde Papierscheibchen. Locher-Punzen! Heimlich nahm Jakob die Indizien an sich. Löhlein war nicht ganz motivlos.
„Frau Generaldirektor nahm gestern Abend noch einmal eine Reihe von Saunagängen. Ich verließ sie darauf einige Zeit vor Mitternacht“, spulte Manson in seinem kühlen britischen Statement-Ton hervor.
„Was tun wir jetzt, was tun wir jetzt …“, brach es fast hysterisch aus dem schwitzenden Löhlein heraus.
Züngli schlug vor, dass sich alle derweil in den Salon zurückziehen sollten, während er und Doktor Meindl die Leiche untersuchen und dann ein Statement über die gewonnenen Fakten abgeben wollten.
Zurück im Salon erzählte man Antonello die Details, der kommentarlos jede Information in sich aufsaugte. Es schien ihn nicht sonderlich zu kümmern. Stattdessen schüttete er eine Tasse Kaffee nach der anderen in sich hinein und sparte auch nicht am Genuss von Croissants.
Mademoiselle Legrande saß mit roten verweinten Augen auf einem Sessel und hatte die Beine angezogen. Ihre Frisur war gänzlich zerstört.
Henning stand bei Jakob, der sinnierend am Kamin saß. Niemandem entging, wie Herrn Bartels Hand Herrn Gränsel an der Schulter streichelte. Aber keiner kümmerte sich um solche Belanglosigkeiten.
Bodo Löhlein beharrte mehrmals darauf, den Salon verlassen zu dürfen. Aber Manson und Henning hinderten ihn gemeinsam daran. Der Mann war am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Mansons rotäugiges Starren machte es kaum besser. Nach fast einer halben Stunde quälenden Schweigens, das nur durch gelegentliches Schlürfen unterbrochen worden war – Antonellos Kaffeekonsum verringerte sich kaum – kamen Herr Doktor Meindl und Herr Züngli zurück.
Mademoiselle Legrande ergriff sofort die Hand Herrn Doktor Meindl und drückte sie, was so manchen mehr beeindruckte als die Tatsache, dass Bartel und Gränsel offensichtlich ein intimes Verhältnis hatten.
„Und?“, drängte Henning.
Meindl tätschelte Mademoiselle Legrande sanft. Dann seufzte er.
„Nun, verehrte Gäste. Es sieht so aus, als ob das Ableben von Frau Doktor Grimmenbroich keine natürliche Ursache hat und wir damit einen Mordfall vor uns liegen haben!“ Mademoiselle Legrande entfuhr ein Keuchen.
Löhlein bekam eine Art Anfall. Züngli und Manson hielten ihn fest, während Meindl ihm ein Beruhigungsmittel verabreichte.
„Wen wundert’s?“, lallte Antonello hervor.
„Verdammt ‘err Grimmenbroisch, es ging um ihre Maman!“, schrie Chancelle Legrande Antonello an, aber der zuckte nur mit den Schultern und sah etwas benebelt in die Runde.
„Dass die alte Hexe mal wie bei Hänsel und Gretel im Ofen landen würde, ist doch fast schon ein stilvoller Abgang, oder?“, zischte Antonello zynisch.
Frau Miitake seufzte. „Der Tod trägt für jeden einen anderen Namen“, säuselte sie geheimnisvoll.
„Verdammt!“, schrie Antonello und schlug mit der Hand auf den Tisch. Eine Tasse sprang von der Kante. Frau Miitake fing sie auf und stellte das empfindliche Stück zurück auf die Untertasse.
„Ich kann diese blöden Weisheiten nicht mehr hör’n!“, murmelte Antonello.
Keiner ging darauf ein. Jakob musterte die anderen im Raum genau.
Doktor Meindl stellte sich in die Raummitte und begann einen Vortrag zu halten. Frau Doktor Grimmenbroich sei demnach an einem Herzstillstand verstorben, hervorgerufen durch die Kombination der Einnahme von stark betäubenden, Bewusstsein verändernden Drogen und der Hitze der Sauna.
„Die Substanz, von der ich glaube, dass sie Frau Doktor Grimmenbroich verabreicht wurde, lautet kurz genannt TXB. Genau kann ich das aber erst nach einer Untersuchung im Labor sagen. Ich kenne jedoch diverse solche Mittel genau und auch ihre Symptome.“
Jakob sah auf und achtete auf Manson. Der Butler zeigte keinerlei Regung. Er stand wie ein Wachmann an der Türe. Löhlein hatte sich ein wenig beruhigt.
Jakob erhob sich.
„Wir müssen also annehmen, werte Damen und Herren, dass es sich hier um eine vorsätzliche Tötungsabsicht handeln könnte, und wenn dem so ist, dann muss der Mörder hier in diesem Raum sein!“
„Juhhhh!“, johlte Antonello auf.
„Is‘ ja ein Ding. Wie im Krimi von dieser Adelheit Christie!“
„Agatha Christie, du Idiot!“, rutschte es Henning heraus.
„Is‘ mir doch egal wie die Tusse heißt. Und du, Gränsel willst jetzt diesen Franzosen spielen, der immer alles aufklärt! Was?“
Henning seufzte: „Belgier! Hercule Poirot war Belgier!“ Antonello winkte ab.
Jakob sah Henning an und dann in die Runde.
„Nun, zumindest habe ich eine Erklärung abzugeben. Vielleicht mag sie zur Enthüllung der Sachverhalte beitragen. Immerhin bin ich Organisator dieser Reise und fühle mich dazu verpflichtet.“ Die meisten nickten. Antonello zuckte nur gelangweilt die Schultern. Manson stand stoisch an der Türe zur Eingangshalle.
„Zunächst müssen wir feststellen, dass wir in der wahrhaft klassischen Situation eines Krimis festsitzen: Wir sind eingeschneit und haben eine Leiche. Offenbar war es Mord, demnach gibt es einen Mörder, und mehr als eine Person hier hätte ein handfestes Motiv, eine solche Tat zu begehen.“
Alle begannen, wild durcheinander zu reden. Es dauerte eine Weile, bis Jakob sich Gehör verschaffen konnte.
„Ich verstehe Ihre Aufregung. Wer lässt sich schon gerne sagen, ein potentieller Mörder zu sein. Ich werde nun ganz offen – und von Herrn Bartel jederzeit Bestätigung erhaltend – meine Version oder zumindest einen Teil der Dinge darlegen, die gestern Abend vor sich gegangen sind.“
„Weshalb sollte Herr Bartel Ihnen einen Freischein auf Wahrheit zu dem erteilen, was Sie an Geschichten verzähle, Herr Gränsel?“, fragte Züngli.
„Weil die beiden Schwuchteln sind und die ganze Nacht zusammenwaren! Mann, ihr Schweizer seid doch immer die Langsamsten!“, warf Antonello wenig stilvoll ein.
Manson musterte Gränsel und Bartel ausführlich.
„Das stimmt, meine Damen und Herren. Herr Bartel – Henning und ich, sind ein Paar und haben die Nacht zusammen verbracht. Henning wird alles bestätigen, was ich sage.“ Der Genannte nickte und lächelte Jakob zu.
„Pah, das ist doch kein Beweis, dass Sie die Wahrheit sagen. Verliebte schützen sich immer, ob heterosexuell oder homosexuell!“, warf Löhlein kurzatmig ein und begann fahrig seine Brille zu putzen.
„Lassen Sie mich erzählen und dann urteilen Sie selbst“, bat Jakob. Alle nickten.
Ausführlich erzählte Jakob von seinem Gespräch mit Frau Doktor Grimmenbroich. Antonello fuhr auf.
„Was? Eine Schwuchtel wie du wird meine Firma erben? Das werde ich nicht zulassen. Die Alte war doch bekloppt, das weiß jeder!“
„Immer mit der Ruhe Herr Grimmenbroich!“, fuhr Doktor Meindl ihn an. „Wenn das alles stimmt, dann muss sich besagtes Testament ja finden lassen. Ich gehe mit Herrn Gränsel in sein Zimmer und wir werden den Umschlag holen. Dann werden wir ja sehen.“ Bis auf Antonello, der angefangen hatte, seine Gleichgültigkeit aufzugeben, waren alle damit einverstanden.
Nach fünf Minuten waren beide mit dem Umschlag zurück.
„Nun …“, meinte Jakob, „… in Anbetracht der Lage ist es in Ordnung, wenn wir das Testament öffnen und verlesen.“
Jakob brach das Siegel und begann sich durch die Angaben zu wühlen. Er las alles vor.
Noch einmal war es, als lebe der unselig zynische Geist der Knusperhexe auf.
Antonello stürzte sich auf Jakob und wollte ihm die Papiere aus der Hand reißen, aber Henning war schneller und hielt den hitzigen jungen Mann in Schach, indem er ihm die Arme auf den Rücken drehte. So sehr sich Antonello wehrte, er war einfach zu ausgelaugt und Henning offensichtlich stärker. Und dem schien es sichtlich Spaß zu machen, einen solch körperlich attraktiven Mann in seiner Gewalt zu haben. Chancelle blickte verächtlich weg. Jakob seufzte und sah mit Schaudern Manson das erste Mal lächeln.
„Na ja“, meinte Doktor Meindl, „Es sieht wohl so aus, dass Sie, Herr Gränsel, und vermutlich auch Herr Bartel, kein wirkliches Motiv zur Ermordung Frau Doktor Grimmenbroichs hätten.“
„Isch glaube nischt, dass ‘err Bartel zu so etwas fä’isch wäre“, nuschelte Chancelle hinter ihrem Taschentuch hervor.
Antonello versuchte noch immer, sich aus Hennigs Griff zu befreien.
„Lass mich los, verdammte Schwuchtel!“ Henning lächelte ihn an.
„Na, mein Süßer, wird dir schon ganz warm!“, flüsterte er Antonello ins Ohr.
„Henning, bitte. Lass ihn in Ruhe. Er hat in nicht mal 24 Stunden sein Erbe und seine Mutter verloren.“ Antonello wurde rot. Sein Blick senkte sich. Das war das Peinlichste in seinem Leben. Sie bemitleideten ihn. Nichts hätte ihn mehr treffen können. Langsam ließ er sich aus Hennings Griff auf einen Sessel nieder und blieb still sitzen.
„Ich denke, wir können auch Antonello ausschließen“, meinte Jakob, „Er hatte zwar ein starkes Motiv. Aber, bitte seien Sie mir nicht böse, Antonello, zu einem Mord halte ich Sie nicht für fähig. Und gestern Abend schon gar nicht. Herr Meindl, als ich zu Antonellos Zimmer kam …“ Jakob holte aus und erzählte von dem Vorfall mit der Rolex. Antonello sah kurz auf und duckte sich unter Chancelles Blick weg.
„Ja, sie ist Kleptomanin. Sie kann nichts dafür“, verteidigte Doktor Meindl die Französin. Chancelle schluchzte leise vor sich hin. Frau Miitake kam herbei und reichte ihr eine Tasse Tee. Sie lächelte. Die Französin beruhigte sich wieder.
Jakob fuhr mit der Geschichte fort, und erzählte, dass Doktor Meindl Antonello offenbar ein Sedativ verabreicht hatte.
„Das geschah auf seinen eigenen Wunsch hin“, meinte der Doktor ruhig.
„Das stimmt. Ich bin nich‘ clean. Ich brauch ab und zu was. Das war so ‘ne Abmachung zwischen mir und Meindl. Er gab mir Zeugs und ich sagte dafür Mama nichts, dass seine Pillen nur Schund sind“, schnotterte Antonello.
„Placebo heißt das in Fachkreisen!“, brachte Doktor Meindl etwas beleidigt hervor.
„Aber keine 255 Euro das Stück wert, du Kurpfuscher!“, blaffte Antonello. Doktor Meindl sagte nichts mehr. Er ging zurück zu Chancelle und hielt ihre Hand.
„Ich gebe ja zu, ich habe die Alte ausgenommen. Aber die Behandlung für Chancelle ist teuer. Ich kann sie nicht durchführen. Was soll ich tun. Ich liebe sie nun mal!“
„Mir kommen die Tränen!“, zischte Antonello. Keiner ging auf ihn ein.
„Ich darf Sie darauf hinweisen, Herr Doktor Meindl, dass mir Frau Doktor Grimmenbroich sagte, sie wisse von Ihren kleinen Aktionen und dulde sie nur, weil es damit gelang, Mademoiselle Legrande arbeitsfähig zu halten – von der sie im Übrigen viel hielt.“
Antonello begann hysterisch zu lachen.
„Jaaa, die Alte hatte uns alle in der Hand. Wir waren nur Figuren in ihrem Spiel.“
„Ja, Antonello! Schachfiguren! Aber jetzt ist sie tot und wir müssen herausfinden, wer dafür verantwortlich ist“, fuhr Jakob streng fort.
Antonello war still.
„Nein, ich denke, wir müssen Herrn Doktor Meindl, Chancelle und Antonello aus verschiedenen Gründen hier als Täter ausschließen und sei es nur der Wahrscheinlichkeit halber. Zudem haben wir, Henning und ich, Chancelle und den Doktor zur Tatzeit nachts auf dem Flur gesehen, wie der Doktor Mademoiselle zu Bett geleitete. Aber was mir in dem Zusammenhang einfällt: Herr Züngli, was tun Sie nachts zur Tatzeit mit einer Pistole bewaffnet in Herrn Löhleins Zimmer?“
Alle Augen richteten sich auf den Schweizer.
„Na, ich war etwas nachseh‘ gsi!“
„Etwas nachsehen? Was?“
„Ich muss hierzu ein Statement abgeben!“, schaltete sich Herr Meindl plötzlich ein.
„Herr Züngli arbeitete im Auftrag von Frau Doktor Grimmenbroich als Privatdetektiv. Sie erzählte mir erst kurz vor der Anreise davon. Sie hatte Grund zur Annahme, dass Herr Löhlein seine Bücher frisierte. Diese Maskerade mit dem Schokolatier war nur ein Vorwand, um als Geschäftsmann aufzutreten. Er sollte bei Löhlein Beweise für die Unterschlagung von Geldern finden.“
Löhlein sprang auf und wollte zur Türe hinaus. Er zitterte am ganzen schwabbeligen Leib. Aber Züngli und Manson hielten ihn fest.
„Da hat wohl jemand ein schlechtes Gewissen“, meinte Jakob und zog die beiden Papier-Punzen hervor.
„Diese kleinen Locherreste fand ich zuvor unter der Leiche von Frau Doktor Grimmenbroich. Wie kommen sie dort hin, frage ich mich? Herr Löhlein, wir alle wissen, dass Sie gerne mit Ihrem Locher spielen.“
„Das ist nicht verboten!“, rief er aufgebracht.
„Das nicht, aber solche kleinen Papierreste, wie sie beim Lochen entstehen, haften gerne ihrer Kleidung an. Sie leeren den Auffangbehälter nicht allzu oft aus, sodass er überquillt und sich die Papierrestchen wie Konfetti überall verteilen. Ich bin sicher solche kleinen Fetzchen finden sich auch im Moment in den Falten des aufgeschlagenen Saums Ihrer Cordhose oder an den Sohlen Ihrer Schuhe.“ Unter heftiger Gegenwehr nahmen Manson und Züngli eine Untersuchung vor. Es war, wie Jakob vermutet hatte.
„Sie müssen demnach gestern Nacht noch einmal zu Frau Doktor Grimmenbroich in die Sauna gegangen sein, angezogen. Leugnen Sie nicht, wir haben Sie zurückkommen sehen. Kurz nachdem Herr Züngli Ihr Zimmer nach Akten durchsucht hatte.“
Löhlein blickte gehetzt hin und her.
„Ich hab sie nicht ermordet!“
„Nun, Sie waren ja oft in ihrem Zimmer. Da wäre es doch ein Leichtes gewesen, ihr etwas in ihre Getränke zu kippen, zum Beispiel dieses TXB?“ Jakob sah ihn streng an.
„Ich hab sie nicht umgebracht. Ich schwör’s! Ich – ich weiß nicht einmal, was das für ein Zeug ist!“
„Dann erzählen Sie doch, was Sie bei Frau Doktor Grimmenbroich noch einmal zu so später Stunde machten.“
Löhlein zögerte. Antonello setzte sich mit bösem Blick zurecht, als interessiere er sich plötzlich ganz besonders für alles.
„Ich wollte sie bitten, mich nicht zu entlassen. Sie sagte, … ich, ich solle froh sein, dass sie mich nicht an die Polizei verpfeife, sie wisse nämlich alles von meinen kleinen Transaktionen mit den Büchern. Sie machte sich lustig über mich. Ich war wütend. Da griff ich nach ihrem Hals! Ich hatte eine solche Wut im Bauch. Ich wollte sie erwürgen. In der Sauna. Aber ich konnte es nicht! Sie lachte mich aus. Da bin ich weggelaufen und wieder ins Zimmer zurück. Hab die ganze Nacht nicht geschlafen.“
„Schöne Geschichte. Pah, die kleine fette Laus hatte ein Mordsmotiv. Er war nämlich verschossen in meine Alte. Ja ja. Und wie! Sie hat ihn deshalb immer fertig gemacht. Und anstatt einfach zu kündigen und sich wie ein Mann vom Acker zu machen, hat er sie heimlich angehimmelt.“ Antonello hatte sein böses Vergnügen daran Löhlein bloßzustellen.
„Hmm, das ist in der Tat interessant, Herr Löhlein. Was haben Sie denn im Zimmer von Frau Grimmenbroich gemacht, als ich Sie gestern Nachmittag dort erwischte?“
Löhlein sagte nichts. Er starrte nur zu Boden. Sein Kopf war rot.
„Er liebte es, seine kleine fette Nase in die Unterwäsche meiner Mutter zu stecken“, feixte er, „in die gebrauchte!“, setzte er grinsend nach.
„Das ist nicht wahr! Du mieser Arsch …!“, schrie Löhlein Antonello an und sank dann jammernd in sich zusammen.
Henning versetzte dem Schönling einen Schlag.
„Halt deinen blöden Schnabel, du Idiot!“, fuhr er ihn an.
„Nun, das interessiert im Detail wirklich nicht“, meinte Jakob sachlich. „Ein Motiv ist zweifelsohne vorhanden. Aber ich glaube nicht, dass Bodo Löhlein es war. Denn wir müssen ja davon ausgehen, dass diese Substanz, dieses TXB, zusammen mit der Saunahitze die Ursache des Todes war. So etwas erfordert Planung und jemand muss sich mit diesem Stoff und seinen Eigenschaften gut auskennen. Löhlein hat wohl kaum Kenntnisse von bewusstseinsverändernden Substanzen und alle seine Handlungen waren gestern Abend wohl emotionalen Ursprungs, also aus dem Affekt heraus geschehen. Planungsvoll möchte ich Löhleins Handeln nicht nennen.
Das TXB war in einem Fläschchen, das gestern Nacht in die Hände des Mörders gelangte. Gefunden hatte es zunächst Herr Doktor Meindl auf dem Flur in den Händen von Chancelle, die es auf Grund ihrer Zwanghaftigkeit zu stehlen aus den Privatsachen von Butler Manson entwendet hatte. Ich selbst habe durch Zufall dieses Fläschchen gestern Nachmittag in der zugegeben interessanten Sporttasche unseres Butlers gefunden.
Zwei Fragen: Herr Meindl, wohin haben Sie das Fläschchen gebracht, nachdem Sie es in den Händen von Chancelle entdeckt haben? Und Manson, was tun Sie mit derlei – wie ich glaube – verbotenen Drogen in Ihrem Gepäck?“ Henning war baff. Er hatte nicht geahnt, wie forsch Jakob sein konnte. Er war sehr stolz auf ihn.
„Wir ließen es im Gang stehen, auf der kleinen Kommode neben dem Vorhang. Dann gingen wir schlafen. Vorsichtshalber zusammen. Chancelle neigt dazu, nachts aufzustehen und Sachen zu stehlen.“
„Na, das ist ja jetzt nicht mehr neu“, meinte Jakob, „Aber wie ist es mit Ihnen, Manson?“
Der Butler stand ungerührt an der Türe.
„Mit Verlaub, es mag eine Substanz sein, deren Besitz illegal ist. Ich werde mich dafür verantworten. Ich benötige es zuweilen für meine Arbeit“, gab er trocken von sich.
„Aha. Interessant …“, setzte Jakob an.
Züngli sprang auf: „Na, dann is‘ es wohl klar, wer der Mörder ist! De Chaib macht des wohl auch noch professionell, hmm?“ Manson wehrte Zünglis Zugriff geschickt ab.
„Moment, Herr Züngli, da gibt es noch ein Detail, von dem bisher nur wenige wissen.“
Frau Miitake stand auf und holte sich Tee. Sie trank eine ganze Tasse.
„Frau Miitake, Ihr Papagei, Kokinatori. Er wurde ermordet, nicht wahr?“ Frau Miitake rollte eine Träne über das blasse Gesicht. Sie nickte. Sonst behielt sie die Fassung.
„Und zwar mit dem Dolch von Manson!“
„Dann war es doch Manson!“, meinte Doktor Meindl.
„Ich möchte aussagen, dass ich niemals die Anweisung erhielt, einen Papageien zu töten und es auch nicht getan habe!“, warf Manson ein.
„Und Manson war es auch nicht, denn er war zur fraglichen Stunde lange in Antonellos Zimmer.“
Antonello stierte Manson an. „Was soll’n das heißen?“
„Das erzählen wir dir in einer ruhigen Stunde, mein Jungchen. Drogen können einem manchmal den Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit ganz schön verschleiern! Nicht?“, meinte Henning und tätschelte Antonellos Kopf. Der Sohn von Frau Doktor Grimmenbroich wurde kreidebleich. Manson lächelte.
„Frau Miitake, Sie sind gar nicht blind, nicht wahr?“ Alle sahen die Japanerin an, die sich vor Jakob verbeugte.
„Nein, ich sehe gut.“
„Aber Sie spielten die Blinde, nicht wahr? Weshalb?“, fragte Jakob.
„In unseren Kreisen gilt es als schicklich, für das Diesseits blind zu sein“, antwortete sie. Ihre Augen hefteten sich zum ersten Mal an jene Jakobs. Ein Schauer lief ihm über den Rücken.
„Sie haben Frau Doktor Grimmenbroich ermordet, nicht wahr?“
„Ja.“, sagte sie nur.
Alles redete wild durcheinander.
„Ruhe bitte! Frau Doktor Grimmenbroich mochte ihren geliebten Kokinatori nicht, stimmt das?“, fuhr Jakob fort.
Frau Miitake nickte.
„Aber der Tod des Vogels war nicht das Motiv für die Tat, nicht wahr?“
„Nein!“, gab sie zu.
„Wer hat dann Kokinatori getötet?“, sprach Jakob aus, was jedem als Frage im Gesicht stand.
„Ich selbst, um den Verdacht auf Manson zu lenken. Das Messer erhielt ich durch Miss Chancelle.“ Die Französin wurde rot und vergrub ihr Gesicht in den Händen.
Die Japanerin sprach ruhig und bedacht.
„Ihren eigenen Gefährten zu töten, um etwas Wichtiges zu verschleiern, das hat Sie als Japanerin schwer getroffen, nicht? Sie gingen in diesem rituellen Singsang durch den Flur hinab zur Sauna, fanden das Fläschchen mit dem TXB im Gang. Woher wussten Sie, was es war und wie es wirkte?“
„Ich kenne viele Tränke. Und ich kenne Manson gut. Ich weiß mehr über ihn, als er selbst weiß“, gab Frau Miitake mit dünner Stimme zu.
„Und dann gaben Sie es Frau Doktor Grimmenbroich als einen der Tränke zu trinken, die Sie ihr zuweilen kredenzten, unten in der Sauna?“ Die Japanerin nickte und strauchelte. Henning hielt sie fest.
„Ich wollte ein anderes Mittel verwenden, aber das TXB … fiel mir in die Hände. Ein weiterer Verdacht gegen Manson … Und es wirkt schnell und viel besser …“ Die Japanerin zitterte.
„Frau Miitake, … was haben Sie da getrunken? Der Tee …?“, alle erschraken, als die Japanerin blau im Gesicht wurde.
„Ich habe … mein Leben verwirkt. Nur so … werde ich …das Gesicht …vor den Ahnen wahren.“
„Aber weshalb haben Sie Frau Doktor Grimmenbroich umgebracht?“
„Sie wollte mit mir … nach Japan kommen. Sie wollte … ein Teil der Kultur werden. Sie war böse. Sie hätte es nie gekonnt. Ich hätte die Ehre meiner Ahnen beschmutzt. Sie … verstand nicht, sie … war giftig … sie war böse …“ Frau Miitake kippte vorn über. Doktor Meindl eilte zu ihr. Er erfühlte ihren Puls. Alle starrten auf die reglose Japanerin. Dann schnupperte der Arzt an ihrer Teetasse.
„Sie ist tot. Gift. Kannte sich wohl gut aus mit solchen Substanzen.“
Antonello hatte keinen Blick für die Japanerin. Er starrte nur Manson an. Der Butler lächelte.
„Ich bin stolz auf dich!“ meinte Henning zwei Tage später.
Jakob und er sahen Arm in Arm zu, wie die Schweizer Polizei die Leichen abtransportierte.
„Ach weißt du, Hetel. Mir graut davor, den ganzen Sermon vor der Polizei noch einmal abspulen zu müssen.“
„Du wirst das sicher gut machen.“ Henning drückte seinen Partner.
Manson kam zu ihnen.
„Wünschen die Herrschaften noch etwas?“, brachte er trocken hervor.
„Nein, Manson, nichts für Ungut, aber von Ihnen bestimmt nichts!“, meinte Henning mit großer Überzeugung.
„Was wird jetzt aus Antonello, Manson?“, meinte Jakob fast mitleidig.
„Ich werde mich um ihn kümmern, Herr Gränsel. Er ist ein verzogenes Gör und braucht nur eine feste Hand, doesn’t he?“, lächelte Manson sardonisch.
„Na dann …“, meinte Jakob und gemeinsam verließen Gränsel und Hetel die Hütte und machten sich glücklich auf den Weg nach Hause.
©2012 Oliver Richtberg
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.