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Nur Engel sind schwul

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Toby war eigentlich auf dem Weg nach Hause. Er brauchte ganz und gar nicht durch die Hans-Sachs-Straße zu gehen, um nach der Arbeit in seine Wohnung in der Thalkirchnerstraße zu gelangen. Es war sogar ein Umweg. Aber er mochte diese Straße sehr. Es war eine der schönsten Straßen des Münchner Glockenbachviertels. Toby betrachtete gerne die herrlichen Fassaden aus dem 19. Jahrhundert, es gab einfach an allen Ecken etwas Neues zu entdecken. Stuckgesichter, Ornamente, Faunköpfe, Tierfiguren und Engel. Kunstgeschäfte, Bars, stilvolle Restaurants, Friseurtempelchen und ein Flair, das Ruhe und Spannung zugleich bescherte. Fast schon italienische Lebensart.

Der eigentliche Grund für Tobys täglichen Umweg waren jedoch die hübschen Kerle, denen man auf dieser Straße begegnen konnte. Schon bevor er nach München gezogen war, um mit seinen jungen zweiundzwanzig Jahren in einer Werbeagentur als Praktikant sein Glück zu versuchen, hatte er vom Glockenbachviertel und seinen Straßen gehört, in denen die Regenbogenflaggen von den Fenstern der Fassaden flatterten, und das nicht nur zur Zeit des 17. Juli.

Er ging gerade am EssNeun vorbei als seine Augenwinkel eine alarmierende Meldung abgaben. Sein Blick zuckte unwillkürlich in die vorgepeilte Richtung, sein Kopf folgte. Sein Puls stieg. Meine Güte, was für ein Typ!

Auf der anderen Seite der Straße, gerade am Hotel Olympic vorbei, ging ein Traum auf zwei Beinen. Er hatte schwarze Haare, kurz. Ein frecher Strubbel fiel ihm kataraktartig über die Stirn. Tobys Blick scannte: Rotes, enges Top, Aufschrift: Nur Engel sind schwul ..., die Brust spannte den Schriftzug auseinander. Gut gebaute Oberarme, kantiges Gesicht, ein Adonis-Knutsch-Mund. Schwarzer Gürtel, blaue Jeans.

... Verdammt, das blöde Auto verdeckt die Beine. Geh weiter! Oh nein! Er dreht den Kopf! ...

Toby fühlte den Blick des wandelnden Hormonschocks auf ihm ruhen. Dann sah er Sterne. Etwas Blaues wischte über ihn hinweg. Eine kalte Berührung am Hinterkopf. Warum tat sein rechtes Bein weh? Und warum wurde seine Stirn warm... ?

»Ganz ruhig, ganz ruhig. Meine Güte, wenn man mal einen Moment nicht aufpasst ... Hach, das kriegen wir schon wieder. So, jetzt den Kopf hoch ... Gut so ...«

Toby war restlos verwirrt.

»Was ... was ist denn los, wer spricht denn da?« Er rappelte seinen Oberkörper auf. Rappelte? Sich auf? Verdammt! Er lag auf der Straße! Seine Tasche neben sich. Das Handy war rausgefallen. Oh nein, hoffentlich war es nicht kaputt, nicht das teure Nokia ...!

»Bin ich blöd..., ich denk nur an das Ding!« nuschelte Toby vor sich hin.

»Ja, ja, alle gleich die Jungs ...« Seine Wahrnehmung war etwas verschleiert, aber ein Kerl schien vor ihm zu knien, er hielt ihn am Kopf fest. Der Blick wurde klarer. Toby grinste plötzlich. Er konnte nicht anders. Er musste wohl gefallen sein. Und vor ihm saß sein Retter. Ein Retter, der den Typen von eben zur absoluten Vergessbarkeit degradierte.

»Wer bist du denn?«

»Ach herrjeechen! Das auch noch! Wieso passiert immer MIR so was? Na, jetzt ist es passiert. Hach, also gut, komm erst mal hoch. Aber Vorsicht, du blutest! Das Köpfchen hat gelitten!«

Der unglaubliche Kerl vor Toby half ihm auf. Er stand auf wackeligen Beinen. Bis auf die Tatsache, dass der Typ, der da vor ihm stand schrecklich tuntig redete, war er nicht nur ein Hormonschock, er war ein Herzinfarkt! Und er kümmerte sich um ihn! Toby fühlte sich wie in den Händen des heiligen Samariters.

»Mann, sehen Samariter immer so toll aus...?«

»Nein, im Grunde nicht, waren eher hässliche Typen, ziemlich eingebildet, aber das ist ja bekannt, steht alles im Büchlein...«

»Was...? Jetzt... mal der Reihe nach... was ist denn eigentlich los?« Toby wurde langsam ärgerlich, obwohl er das gar nicht wollte, immerhin wurde er soeben offensichtlich vom Traum seines Lebens gerettet. Aber er lag auf der Hans-Sachs-Straße und jeder konnte ihn sehen und machte sich wahrscheinlich über das Missgeschick lustig und überhaupt... ihm tat der Kopf weh!

»Gutes Gütchen! Was passiert ist? Hat der Mast auch das Innere des Köpfchens getroffen? Du hast so einem langweiligen zugegebenermaßen gut aussehenden Schönling nachgeglotzt und bist ehrlich filmreif gegen das Straßenschild hier geknallt! Unglaublich. Wenn ein Regisseur das in einen Film zeigt, buht das Publikum zu abgedroschen ehrlich!«

Toby betrachtete das Objekt seiner Peinlichkeit. An der Stahlstange war ein kleiner Blutfleck. Sein Blut! Die Erkenntnis brachte den Schmerz an seiner Schläfe zur vollen Entfaltung. Toby verzog das Gesicht.

»Na, komm, das wird schon wieder... laß sehen...« Der Typ berührte zärtlich Tobys Stirn und pustete vorsichtig drauf. Es wurde wirklich besser.

»Wer... bist du eigentlich? Und danke für die Hilfe!«

»Ich bin Marky na eigentlich heiß ich Markus, aber ich steh so auf diesen Wahlberg... du weißt schon...hach!« Marky verdrehte die Augen. »Brauchst Dich nicht zu bedanken. Ist für mich selbstverständlich. Meine Güte, ich hätte dich eigentlich warnen müssen, bevor du da gegen geknallt bist, Süßer, aber ich gebs zu, ich war für nen Moment etwas abgelenkt! Und nachdem sich VON DIESEN ZUCKERSCHNÄUZCHEN HIER...« er sprach deutlich lauter »... sowieso keiner um dich schert, muß ich dir doch helfen. War ja gewissermaßen mit Schuld an der Miesere.« Toby war still. Ihm war ein wenig schwindelig. Er hatte einen kleinen Schock, der Kreislauf war nicht ganz in Ordnung. Marky legte seinen Arm um ihn. Seltsam, Toby fühlte sich sofort wohler. Er hatte diesen Marky noch nie gesehen, aber irgendetwas gab ihm das Gefühl, als würde er Marky schon ewig kennen. War es das, wenn man sich auf der ersten Blick in jemanden verliebt? Oder war es der berühmte Krankenschwestereffekt? Toby war es völlig egal. Und auch, dass er noch nie zuvor gewagt hatte, sich auf offener Straße von einem Kerl noch dazu so perfektem in die Arme nehmen zu lassen.

Die Vertrautheit, die Marky ausstrahlte, tat gut, einfach nur gut. Toby fühlte sich wie ein kleiner Junge, aber stärker.

»Komm, du brauchst etwas Warmes zu trinken und musst dich setzen. Gehen wir ins Nil, ist ja nicht weit.«

Toby nickte, obwohl er sonst eher ins Sax ging. Aber gut. Das Nil war um diese Zeit noch recht leer. Als die beiden über die Schwelle traten, trafen sofort die vertrauten Scanner-Blicke der anderen Gäste und Kellner auf ihn. Toby vermutet aber eher, dass sie Marky galten. Jemand wie Marky war der Stoff feuchter Träume für schwule Männer jeden Alters und auch für Frauen, da war sich Toby sicher. Seltsamerweise spürte Toby keinerlei Siegerlaune oder Stolz, in Begleitung eines solchen Herzensbrechers hier aufzutauchen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Marky ein Herzensbrecher war, trotz seiner Erscheinung. Toby hatte immer gedacht, die Ausstrahlung von nun ja, Tugend und solchem Sexappeal, vereint in einer Person, könne es nicht geben, aber Marky war da, keine Frage.

Sie setzten sich ans Fenster in die Ecke links des Eingangs. Schnell erschien der Kellner und hatte nur Augen für Toby. Er musste Marky schon kennen.

»Hallo, kann man dir helfen? Sieht zwar nicht schlimm aus, aber brauchst du irgendwas? Wir haben ein Erste Hilfe Set da.«

Toby blickte Marky an, der nur Augen für ihn hatte und den Kellner nicht bemerkte.

»Äh, ja, kleiner Sturz, blöde Sache. Vielleicht was Steriles zum Abtupfen und son Desinfektionsmittel... und nen Tee bitte!«

»Aber klar!«

»Für mich nichts, danke!« Der Kellner reagierte nicht auf Marky, was den aber nicht im geringsten zu stören schien.

»Was ist denn mit dem los? Warum behandelt er dich wie Luft?«

Marky gab ein süffisantes Grinsen von sich: »Na, wird schon wissen warum...« Toby beobachtete, wie das Grinsen breiter wurde und Marky in Richtung des Kellners nickte. Er konnte die Reaktion des Kellners nicht sehen, da war eine Säule im Weg. Aber Marky schien man hier zu kennen, das stand fest. Der Kellner kam angerauscht, stellte ein kleines Tablett mit Desinfektionsmittel und steril verpacktem Mull-Pad hin und meinte beim Umdrehen: »Der Tee kommt gleich, wenn du Hilfe brauchst, sag bescheid, ja?«

»Danke, wir schaffen das schon...« Der Kellner hielt kurz an, blickte konsterniert zurück zu Toby und Marky, nickte dann herablassend und schwebte von dannen.

»Komischer Typ, was?«

»Ach, du kennst die Kerle doch. Wenn sie Kellner sind, kennen sie jeden und keinen... Na, jetzt laß mal deine kleine Beule sehen...« Marky setzte sich zu ihm hinüber auf die Bank, ihm war etwas hinunter gefallen. Toby bemerkte beiläufig, wie er sich bückte um die Menükarte aufzuheben. Marky war ungeschickt! Wie niedlich! Er blickte sich im Spiegel an und begutachtete die Beule. Die Blutung war nicht der Rede wert, aber ein hübsches Hörnchen würde er für ein, zwei Tage schon haben.

»Sieht eigentlich ganz sexy aus, so eine Schramme...«

»Maaaaann! Typisch! Immer gleich alles aus der Fashion-Ecke bewerten! Na, jetzt laß sehen!« Er drehte Tobys Kopf herum, packte das Pad aus, kippte Lösung drauf und hielt es Toby an die Stirn.

»Ahhgnang... ssssz, das tut weh!«

»Hab dich nicht so! Memme! Was machst du denn, wenn dir mal ein Bein fehlt, he?«

»Oh Gott, an so was will ich gar nicht denken!«

Marky war plötzlich sehr ernst: »Was glaubst du, was ich schon alles gesehen habe...« Dieser Mensch wurde immer geheimnisvoller. Toby sah ihm in die Augen. »Bist du so was wie Sanitäter oder Krankenpfleger?« Marky blickte ihn lange an, dann meinte er: »So etwas Ähnliches, ja.« Den letzten beiden Statements fehlte jegliche Tuntigkeit in Markys Stimme. Der Ernst seines Tones ließ Toby ein wenig schauern. Ihm fiel auf, dass er Marky noch gar nicht wie sonst üblich nach seiner Kleidung beurteilt hatte, d.h. im Detail. Marky sah einfach umwerfend gut aus, obwohl er fast nur Blau trug und Kleidung, die ganz und gar nicht der Mode der Szene entsprach. Elegante helle Schuhe, konnten von Armani sein, oder auch nicht. Eine klassisch gerade geschnittene Jeans, 501 Levis? Ein einfaches hellblaues Shirt, ohne den üblichen Tunten-schnick-schnack an Aufdrucken oder gar Pailletten oder so einen Zinnober. Eine wundervoll nahtlose, jeansfarbene Kunstfaserjacke mit Reißverschluß. Sonst nichts. Keine Anhänger, keine Ringe, keine Armbänder, kein Rucksack, keine Tasche. Jedes seiner Kleidungsstücke wäre ohne ihn einfach nur zur völligen Gewöhnlichkeit verwelkt. Aber an ihm erblühten sie zur Perfektion.

»Komm, halte das mal.« Er nahm Tobys Hand und führte sie an den Wattepad an der Stirn. Die Berührung von Markys Hand durchflutete ihn mit einem Gefühl unbeschreibbarer Fülle. Dieser Kerl verwirrte ihn mehr und mehr. Er empfand nicht die geringste sexuelle Erregung für Marky, obwohl jedes Attribut an seinem Retter die Perfektion an Sexappeal verkörperte. Und dennoch liebte er ihn vom ersten Moment an, mit einer fast mystischen Urgewalt. Toby ertappte sich dabei, Marky sekundenlang völlig konsterniert anzustarren.

»Toby, sieh mich nicht an, als sei ich das achte Weltwunder, der Kellner kommt!«

Er hatte recht. Toby schreckte zusammen. Der Kellner näherte sich fast vorsichtig.

»Entschuldige, ich bringe dir bloß deinen Tee. Bist wohl doch noch etwas angeschlagen, hmm? Hier, das kommt vom Haus!« Der Kellner lächelte und stellte ihm einen Teller Kekse zum Tee hinzu.

»Äh, vielen Dank...« Toby zitterte etwas. Marky lächelte.

»Ich... das muß jetzt verdammt blöd klingen, aber, Marky, ich hab das einfach komische Gefühl, dich zu kennen!«

Markys Gesicht spiegelte eine Mischung aus tiefer Liebenswürdigkeit und zugleich einer Art allumfassenden Souveränität aus. Verdammt, wie schafft es ein Mensch, so einen Ausdruck in sein Gesicht zu bringen... dachte Toby fassungslos.

»Trink deinen Tee, Toby.«

Ohne es direkt zu bemerken, hatte er seine Tasse in die Hand genommen, und den ersten Schluck genommen. Er hatte keinen Zucker in den Tee getan. Sonst tat er das immer. Warum jetzt nicht? Er konnte sich an dem Gesicht Markys nicht satt sehen. Da war etwas, was immer stärker in den Vordergrund trat. Irgendwie gelang es Marky, Tobys Wahrnehmung zu verändern. Hatte er immer noch einen kleinen Fehler in der Optik oder konnte er Markys Ausstrahlung förmlich sehen? Aber wie kam es dann, dass ihn scheinbar hier im Raum niemand sonderlich beachtete, so als würden sie Marky alle kennen. Wie konnte man diese wundervollen blauen Augen übersehen, seine Gestalt ein griechisches Kunstwerk aus der Glyptothek, und die fast nachtschwarzen seidig schimmernden Haare. Und dann geschah es, Toby schien völlig den Bezug zur Realität zu verlieren. Denn was sonst konnte ihn dazu bringen einen Satz auszusprechen, den er zu oft in Hollywoodfilmen gehört hatte als dass er ihn nicht total lächerlich finden musste.

»Wer bist du wirklich?«

»Ich bin dein Schutzengel, Toby!« Schweigen.

Toby lachte los. »Nein ehrlich, Marky, komm, rette mich nicht zuerst um mich dann zu verarsch...« Sein Lachen erstarb. Marky blieb ungerührt. Sein Gesichtsausdruck ließ keinerlei Zweifel zu. Toby glitt die Tasse aus der Hand. Mit einer Geschwindigkeit, die Marky für einen Augenblick an zwei Orten zugleich erscheinen ließ, glitt er an Tobys Seite und zog ihm das Knie weg. Die Tasse fiel zu Boden und zerklirrte. Der heiße Tee schwappte auf Bank und Fliesen. Hätte Marky ihm die Beine nicht zur Seite gezogen, Toby hätte sich sein teuerstes Stück verbrüht.

»Du weißt es, Toby.«

»Aber... weshalb kann ich dich sehen?«

Der Kellner kam an, schüttelte sträflich den Kopf, stemmte die Arme in die Seiten und wechselte dann in Nachsichtigkeit: »Ich weiß nicht, mein Junge, warum du mich sehen kannst, muß an meiner unglaublichen Erscheinung liegen... na ich hol mal besser den Lappen.« Toby fiel hart in die Realität. Er lief rot an. Alle starrten ihn an. Die Jüngeren grinsten spöttisch. Einige musterten ihn frech, andere eher mitleidig. Aber Marky war kein Traum, er saß neben ihm, so wie der Kellner noch neben ihm stand. Toby musste die peinlichste Figur auf dem Globus sein. Sein Mund stand ihm offen, erstarrt in der Haltung, in der ihn Marky vor dem heißen Tee gerettet hatte. Er stand auf und hätte sich beinahe die Tischkante in den Bauch gerammt, wäre nicht Marky geschickt zur Stelle gewesen um Tobys Hüfte gerade so viel zu verschieben, dass er die Marmorplatte nur streifte.

»Ich muß weg hier!« Er packte zwanzig Euro aus und warf sie auf den Tisch, riß seine Tasche hoch, schwang sie sich über die Schultern und floh hinaus auf die Straße. Plötzlich hielt ihn Marky auf.

»Laß mich!« schrie Toby. Ein Auto rauschte knapp an ihm vorbei. Hätte in Marky nicht gestoppt...

»Ich tue nur das, was meine Aufgabe ist, Toby. Dein ganzes Leben lang schon.«

»Ich glaube nicht an Engel!« Er wehrte Markys Arm ab und rannte in die Ickstattstraße, an dem schwulen Buchladen Max&Milian vorbei. Panisch versuchte er, sich vor dem Kippen seines Weltbildes zu schützen. Er rannte, bis er außer Puste war. Doch immer war Marky schon bei ihm, wenn er sich eine Pause gönnte. Er gelangte an den Westermühlbach. Er konnte nicht mehr. Auf einer Bank sackte er völlig fertig in sich zusammen. Marky saß neben ihm. Toby schreckte auf und warf sich herum.

»Geh weg! Du bist nicht real!«

»Das kann ich nicht, Toby. Wenn ich das täte, Gott bewahre!«

»Aber es gibt so was nicht!«

»Wenn es uns nicht gäbe, wärst du nicht da. Keiner von euch! Ihr Menschen habt ein Talent dafür, ständig irgendwo reinzutreten, euch in die blödesten Situationen zu bringen. Die Menschheit wäre nicht weit gekommen, wenn ihr keine Schutzengel hättet. Schon bei der Entdeckung des Feuers hättet ihr euch schneller umgebracht, als ihr Kinder gezeugt hättet. Ihr wärt in null Komma nix ausgestorben. Seit eurer Selbsterkenntnis...«

Toby versuchte sich zu beruhigen.

»Was soll denn das heißen? Sind wir etwa zu blöd, auf uns selbst aufzupassen?«

»Nein, nicht direkt, aber, sagen wir, euch nicht immer ganz selbst bewusst. Der Prozess der Selbsterkenntnis bei euer Spezies ist noch lange nicht abgeschlossen...«

Toby gab sich geschlagen, er wollte sich nicht mehr wehren. Und wenn Gott persönlich vorbeigekommen wäre, ihm die Hand geschüttelt und zum Tee eingeladen hätte, es wäre ihm egal gewesen. Er konnte offenbar nicht aufwachen aus diesem komischen Traum der keiner war.

»Das heißt, es gab euch nicht schon immer ...?«

»Nein, weißt du, Tiere brauchen keinen Schutzengel. Die haben so was sozusagen eingebaut. Aber als es daran ging, dass die ersten Urmenschen eine Art Selbsterkenntnis entwickelten, fielen sie sich erstaunlich oft selbst zum Opfer. Man entschied, für jeden Menschen einen Engel zu bestellen, der über das Leben wachen sollte. Ihr nennt das heute Glück, Reflex, gute Reaktion, was auch immer. Aber es sind wir.«

»Wie kommts, dass sonst keiner die Schutzengel sieht, ich meinen aber schon?« Eine alte Frau im Lodenmantel kam vorbei, ihren Dackel Gassi führend. Sie blickte strafend Toby an, der offenbar mit sich selbst sprach.

»Sie kann mich nicht sehen, Toby...«

Geistesgegenwärtig riss Toby sein Handy hoch und tat so, als telefoniere er. Die alte Frau schien beruhigt und tat ihren Argwohn mit einem indignierten Kopfschütteln über die heutige Jungend ab.

»Du hast mich schon wieder gerettet, danke.«

»Oh nein, das eben warst du selbst. Dafür bin ich nicht zuständig. Was die Tatsache betrifft, dass du mich sehen kannst...« Er schüttelte hilflos den Kopf, eine Bewegung, die angesichts seiner sonstigen Souveränität fast verstörend wirkte.

»... ich weiß es nicht. Ist mir noch nie passiert. Ich kenne eine Schutzengelin, der ist das mal passiert. Sie war für Johanna zuständig...«

»Eine Sie? D.h. es gibt weibliche und männliche Schutzengel?«

Marky schüttelte ganz Tunte den Kopf und schlug keck die Beine übereinander.

»Aber klar! Was bitte denkst du denn?«

»Was weiß ich denn, bin bisher noch nie einem wie euch begegnet, zumindest nicht so direkt. Hab immer gedacht, Engel seien geschlechtslos, haben Flügel und spielen Harfe.«

»Ach, du süßes Püppchen ...!« Marky stand auf, er hatte plötzlich ein weißes Nachthemd an, goldene Löckchen und eine Harfe in der Hand. Hinter ihm türmten sich gewaltige weiße Flügel auf.

»Etwa so?« Toby erschrak und schrie. Er fiel fast von der Bank, hätte Marky ihn nicht im letzten Moment auf die Bank zurück geschubst.

Ein junges Pärchen hetero hielt erschrocken an, blickte ihm entsetzt ins Gesicht. Wieder versuchte Toby die Handymethode und grinste verzweifelt. Offenbar versagte es diesmal, denn beide suchten betont eilig das Weite.

»Du solltest Acht geben, Toby. Es ist so, wie es ist, und wenn du nicht aufpasst, endest du wie Johanna...«

»Welche Johann war denn das jetzt?«

»Die von Orleans ...!«

»Und dann ende ich wie sie? Etwa auf dem Scheiterhaufen...?«

»Nein, für heutige Verhältnisse wäre es die Gummizelle... also etwas leiser bitte. Die Idee mit dem Handy war doch schon recht gut. Also, das Ding ans Ohr, wenn du mit mir sprichst, klar?«

Toby versuchte sich daran zu gewöhnen.

»Und diese Schutzengelin von Johanna konnte ihr wohl nicht mehr helfen am Ende...?« Toby schauderte. Es war ihm, als habe jemand den Vorhang der Weltbühne gelüftet und er blickte hinter die Kulissen.

»Nein, Toby, wenn wir nicht mehr helfen können, ist es eben Zeit. Diese Entscheidung fällen wir nicht. Frag nicht weiter. Alles kann ich dir nicht sagen. Würde das Konzept deines freien Willens ad absurdum führen und so... schlimm genug, dass du mich sehen kannst, macht meine Arbeit verdammt schwer. Na, es muß irgendeinen Grund geben. Vielleicht sagt man ihn dir, wenn du tot bist...?« Toby schüttelte sich.

»Hör auf davon zu sprechen, das will ich gar nicht wissen. Komm jetzt, ich will endlich nach Hause...«

»Das brauchst du MIR nicht sagen...«

»Wie lange dauert so was eigentlich... ich meine, dass ich dich sehen kann?«

»Soweit ich weiß, geht das nicht mehr weg.«

»Da bin ich aber froh, dass du so verdammt gut aussiehst... Jetzt versteh ich auch, warum ich nicht geil werde, wenn ich dich sehe...« Toby wurde plötzlich rot, als er bemerkte wie locker er vor Marky über sein Innerstes plauderte.

»Das braucht dir nicht peinlich zu sein. Ich weiß alles über dich, Toby. Wie sollte ich sonst meine Arbeit machen können... Und was das Aussehen angeht. Vielen Dank! Aber in der Regel sehe ich gar nicht aus. Ich BIN nur. Daß ich so aussehe, habe ich allein dir zu verdanken.«

»MIR?«

»Ja, du projizierst deinen Traumtypen in meine Gestalt... Hast einen tollen Geschmack, da kann man ja ganz wuschig werden...«

Toby blieb stehen, hielt sich das Handy zur Tarnung ans Ohr.

»Du redest, als würdest du auf Männer stehen...«

»Klar tu ich das, Tobyleinchen!«

»DU BIST SCHWUL!!?« Diesmal half die Tarnung gar nichts mehr. Mindestens 10 Köpfe von Passanten drehten sich um. Aber Toby waren die Reaktionen egal.

»Na klar, was glaubst du, warum DU schwul bist?«

Toby konnte für einen Moment nicht denken. Wäre Marky nicht wieder so schnell gewesen, er läge schon wieder auf der Straße.

»Na sag schon, was glaubst du?«

»Was, was weiß ich? Ist mir auch egal. Irgendwas mit Hormonspiegeln in der Schwangerschaft oder Gehirnknoten oder ...«

»Ach vergiss den ganzen Scheiß, Tobylein. Jetzt mal was Grundsätzliches: Heteros haben Schutzengel vom anderen Geschlecht. Also ein Heteromann hat eine Schutzengelin, eine Heterofrau einen Schutzengel. Eine Lesbe hat eine Schutzengelin. Du als schwuler Mann hast einen Schutzengel mich! Schau nicht wie ein Pferd! Das ist ein kosmisches Gesetz! Etwas mehr Respekt!«

»Aber...«

»Nein, das ist keine Verarschung. Toby, das IST so!«

»So, und was ist mit Bisexuellen, hä? Zwei Engel, ein Männchen und ein Weibchen, die auf der Schulter sitzen?«

Marky grinste und schüttelte den Kopf: »Nein, der Engel ist dann selbst bi!«

»Aha. Weißt du was das heißt, Marky?«

»Dass wirst du mir sicher gleich sagen...«

Toby grinste: »Daß heißt, dass Johanna von Orleans lesbisch war ...!«

Marky machte ein Gesicht der Art Böser Toby!

»Ich bitte dich, Toby, das ist doch ein alter Hut...«

Toby schlenderte lächelnd vor sich hin.

»Ich dachte nie, dass Engel sexuelle Wesen sind!«

»Na so wie ihr sind wir nicht. Bei uns ist das alles eine Frage der Erotik. Diese Lustsache überlassen wir euch. Ist verdammt anstrengend manchmal, sag ich dir... du solltest dickere Kondome nehmen, musste das letzte mal echt einiges tun, dass das Ding heil blieb, Toby...«

»Hör auf, ich will so was nicht erzählt bekommen!!«

Ungeheuerlich. In einem Moment war Marky so menschlich wie er selbst und dann wieder völlig entrückt, ein überirdisch schönes Wesen.

Marky sah sich plötzlich um, eine junge Frau, nicht gerade schön, aber hübsch, kam ihnen entgegen und bemerkte Toby kaum. Marky dagegen drehte sich nach ihr um und fiel über ein Fahrrad. Es kippte scheppernd zur Seite.

»Oh, verdammt. Ich sollte besser auf DICH achten. Entschuldige!«

Toby blieb verwirrt stehen: »Was war denn das? Ich, ich dachte...« das Handy sauste ans Ohr, ein kleiner Junge fuhr mit dem Kickboard vorbei, »...du bist schwul, warum siehst du der Frau hinterher? Und dann das Fahrrad ...?«

Diesmal war es Marky, der sich aufrappelte. »Die Frau nicht, aber du hättest Ihren Schutzengel sehen sollen. Verdammt, hatte der eine Ausstrahlung ...!«

»O.k., ich verstehe, du bist schwul, definitiv, kein Zweifel, aber ich dachte, ihr hättet sonst kein Aussehen...«

»Hach, Toby, typisch Mensch! Typisch Münchner! Er braucht doch gar kein Aussehen, um toll zu sein. Wir haben da ein wenig eine andere Wahrnehmung wie ihr. Seine Ausstrahlung war pure Erotik, sage ich dir!«

»Na soo, aha. Und das Fahrrad?« Toby ging hin und stellte es wieder auf.

»Ähm, na ja, weißt du, wir Schutzengel gelten in der Regel als nicht sehr geschickt, was uns betrifft...«

»Was soll denn das heißen...«

»Keine Angst, Tobylein, keine Angst, was euch betrifft sind wir unschlagbar...«

»...das habe ich gemerkt...«

»...von Ausnahmen abgesehen.«

»Ich verstehe, von irgendwas müssen die Krankenhäuser ja leben...«

»Bitte keine Kränkung meines Berufsstandes!«

»Tschuldige! Mein Gott, jetzt entschuldige ich mich schon bei meinem Schutzengel! Was ist heute für ein Tag? Den muss ich im Kalender notieren!«

»Freitag, Toby!«

»So so, na toll, Freitag der 13! Ich hätte bei einer Wette darum ein Vermögen gemacht!«

»Nenn es doch Schicksal!«

»So bestimmt nicht! Das klingt zu schnulzig!«

»Ach, und das, was dir heute passiert ist, ist nicht schnulzig ...?«

Ecke Westermühlstraße. Der Typ mit dem roten T-Shirt von vorhin knallte fast in Toby. Marky riss Toby zur Seite, dieser das Handy ans Ohr, es klingelte.

Toby: »Du schon wieder!« Der Typ sah Toby indigniert an. Eine Stimme am Handy meinte plötzlich: »Äh, entschuldige, ich wollte eigentlich Tobias Wendl sprechen...«

Marky: »Blöde Schwuppe! Färbt halt doch ab ...«

Toby: »Mein ich auch!«

Am Telefon: »Ich versteh nicht ganz, Toby, bist dus?«

Typ: »Muß ich dich kennen?«

Toby gespielt zickig: »Mich muß jeder kennen, Schätzchen!«

Marky: »Gibs der Tucke, gibs der Tucke!«

Am Telefon: »Sorry, dass ich mich verwählt habe ...«

Toby: »Halt, ich meine nicht dich, bitte nicht auflegen ... Und du Marky, halt dich da raus!«

Typ: »Woher kennst du meinen Namen? Wie kommst du dazu so mit mir zu reden ...?«

Marky schlägt die Hand vors Gesicht: »Hmmmnnn, sein Mensch heißt wie ich, ich fass es nicht!«

Am Telefon: »Oh, entschuldige, ruf ich ungelegen an?«

Toby: »Chris, bist du das? Nein, nein, ich bin nur etwas durcheinander weil ...«

Typ: »Hey du Idiot, laß das Handy-getue und red mit mir, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit!«

Marky: »Laß das sein! Verschwinde! Hab dir vorhin schon gesagt, dass ich nichts von dir will, du hältst mich von der Arbeit ab, du Idiot!«

Toby: »... ich hab da vorhin einen Unfall gehabt und bin blöd mit dem Kopf aufgeschlagen, Chris.«

Typ: »Hey, ich red mit dir. Was bist dun fürn Vogel, häh? Mit dem Kopf aufgeschlagen? Sieht wohl echt so aus...« Der Typ packte Toby am Arm. Toby beobachtete Marky wie er in der Luft rumruderte ...

Am Telefon: »... Toby, brauchst du Hilfe? Belästigt dich jemand?«

Toby: »Nein, aber Marky braucht Hilfe!« Der Typ mit dem roten Shirt war stinksauer, holte aus und zielte auf Tobys Nase: »DU brauchst gleich Hilfe ...«

Toby sah, wie Marky irgendetwas abwehrte, zu ihm glitt und ihn an die Hausmauer presste. Bevor des Typen Faust Toby erwischen konnte, bogen zwei Kinder auf Kickboards um die Ecke und fuhren mit voller Wucht in den Kerl mit dem roten Shirt. Benommen blieb er liegen. Die Kinder wichen erschrocken zurück. Der Kerl am Boden blutete.

Marky in die Luft: »Verdammter Idiot, du sollst mich nicht anmachen, sondern deine Arbeit tun. Schon das letzte mal musste mein Mensch eine Schramme einstecken! Toby, alles in Ordnung? Ja, er kann mich sehen, was gehts dich an. Kümmer dich um deinen Mark oder wie er heißt! Hah, Revanche!«

»Ist o.k., Marky! Mir ist nichts passiert!«

Einer der Kleinen sah völlig perplex zu dem Typen, der noch immer benommen am Boden lag, und winkte ab, einen Schritt zurücktretend, beinahe über sein Kickboard fallend. Marky nickte grüßend in die Luft. »Das warn wir nich, echt nich...«

Toby baute sich vor den Kleinen auf: »Ist gut Jungs, der Typ ist selber Schuld. Ist ein ziemlicher Idiot, wisst ihr. Der nimmt das was Leute zu ihm sagen wichtiger, als das, was um ihn vorgeht. Paßt aber das nächste mal besser auf!«

Die beiden nickten, packten ihre Kickboards und hauten schnell ab.

Aus dem Handy fiepte es: »Hey Toby, was geht denn da vor?«

»Chris, oh, Gott, hab dich ganz vergessen. Meine Güte, du wirst nicht glauben, was da passiert ist!« Marky hörte den Namen Chris und war plötzlich ganz Ohr.

»Doch nicht etwas DER Chris?« Toby nickte aufgeregt. Markys Ausstrahlung wuchs über sich hinaus. Er baute sich vor Toby auf und blickte ihm tief in die Augen. Diesem Blick konnte Toby nicht widerstehen. Da geschah es. Mit dem Gedanken an Chris am Telefon und diesem Blick vor Augen sprudelten die Hormone in Tobys Bauch. Seine Stimme war schon fast lasziv zu nennen.

»Egal was passiert, Chris, für dich hab ich immer ein Ohr. Schieß los!«

»Na ja, wir machen heute Abend eine Party, bei mir in der Reichenbachstraße. Ich dachte, ich frag mal, ob du Lust und Zeit hast, vorbeizukommen, so gegen zehn... das heißt, wenn alles o.k. ist bei dir?«

»Gerne, ich komm, bei mir ist alles o.k., Chris! Ich glaube, ich hab dir was zu erzählen! Also bis dann!«

»Na dann freu ich mich! Ciao«

Der Typ lag noch immer am Boden. Toby legte auf, wählte den Notruf und bestellte einen Krankenwagen.

»Ist alles o.k. mit ihm, Marky?« Toby flüsterte, es waren zu viele Passanten da.

»Ja, mit ihm schon. Sollte sich nen anderen Schutzengel suchen. Naja, der Typ hat keinen anderen verdient. Sind beides Arschlöcher. Aber so ist es eben. Jeder hat den Engel, den er verdient!«

Als der Kerl von den beiden Sanitätern untersucht wurde, kam er bereits wieder zu sich. Toby musste schildern, wie es passiert war und dann etwas unterschreiben.

»Ist es schlimm?«

»Nein, aber mitnehmen werden wir ihn.«

»Gut, dann sind wir ihn ja los!«

Der Ort des Unfalls verwaiste schnell und wurde wieder ein Ort wie jeder andere an einem Freitag Abend in München.

Toby schlenderte dahin, er war glücklich. Ein Date mit Chris! Er hatte ihn vor über zwei Wochen im Soul City kennen gelernt und nach dem Tausch der Nummern niemals damit gerechnet, je von ihm zu hören. Es war ein wundervoller Typ. Chris war hübsch, auch wenn er gegen Marky keine Chance hatte, aber wer hatte das schon, Marky war nicht ganz von dieser Welt. Aber Toby würde Marky nie verlieren, weiß Gott nicht ...

»Eines möchte ich noch wissen, Marky ...«

»Jetzt bin ich aber gespannt!«

»Was hast du da zuvor am Telefon gemacht, ich meine, du warst die pure Erotik, die sich da vor mir aufbaute ...«

Marky wurde etwas verlegen.

»Weißt du, ich habe etwas geschummelt.«

»Schummeln? Du und schummeln? Könnt ihr denn so was ... Vorsicht, ein Abfalleimer!«

Marky schreckte hoch und wich dem Eimer aus.

»Mein Schutzengel...«

Jetzt wurde Toby verlegen.

»Ich kann doch nicht zulassen, dass DIR was passiert ...! Also, was ist nun ...?«

Marky zuckte unschuldig die Schultern.

»Nun was?«

»Was hast du geschummelt?«

»Nun... ich habe mir da mal was von Amor abgeschaut ... ist eine lange Geschichte, klappt aber immer wieder ganz gut. Ich meine... na ja, ich konnte nicht zulassen, dass das mit Chris und dir schief geht...«

»Ich dachte das wäre nicht deine Zuständigkeit ... Freier Wille und so...«

»... das schon, aber...« zu Tobys Erstaunen läuft er rot an: »...du kennst seinen Schutzengel nicht ...!«

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