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Alte Liebe rostet nicht
Osterchallenge 2018
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Informationen
- Story: Alte Liebe rostet nicht
- Autor: OrangeSunshine
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Challenge
Inhaltsverzeichnis
Gründonnerstag
Die Luft brannte....
Gelangweilt sitze ich auf dem Klo und lese den ersten Satz dieses Schundromans, den unser neuer Mitbewohner hier auf der Waschmaschine deponiert hat. Ich klappe das Buch sogleich wieder zu. Das muss ich mir nicht geben. Wenn Geschichten schon mit so einem bescheuerten Satz anfangen wie „die Luft brannte“. Da gehören wirklich vier Punkte dran – für: und NICHT so weiter.
Das ist also der Grund, warum dieser Luigi immer so lange auf dem Eimer sitzt. Ich habe schon gedacht, er habe chronische Peristaltik-Probleme.
Es klopft an der Klotür.
„Nicht so ungeduldig. Ich bin noch nicht fertig“, rufe ich.
„Felix, dein Ex steht hier“, gibt Luigi bekannt.
„Mein Ex? Welcher Ex? Was will der denn? Ich bin noch nicht fertig. Er soll warten.“
„Okay, ich sage ihm Bescheid. Mach aber nicht mehr so lange mit deinem Mütze-Glatze-Mütze-Glatze!“ Kindisches Gekicher dringt aus der Diele ins Bad. Kann den mal einer nebenbei erschlagen?
Dieser Typ hat echt Nerven. Selbst hockt er hier stundenlang rum, blockiert den wichtigsten Ort der ganzen Wohnung und lüftet danach nicht einmal. Ich brauche heute ausnahmsweise mal etwas länger mit der Entbindung und der macht seine dummen Witzchen.
Schließlich sortiere ich meine Kleidung und drücke den Spülknopf. Nachdem ich mir die Hände gewaschen habe, öffne ich die Tür und trete in die Diele.
Während ich so vor mich hin nörgele: „Phillip. Was will Phillip denn jetzt von mir? Wir sind seit einem halben Jahr nicht mehr zusammen. Außerdem sehen wir uns doch übermorgen bei der großen Schlachteplatte zur Familiensause“, kämpfe ich noch mit dem Reißverschluss meiner Hose. Völlig unerwartet vernehme ich eine mir bekannte Stimme: „Hallo Felix.“
Ich blicke auf: Dort steht Jonathan, mein bester Freund aus der Schule. Mein erster Freund, um genau zu sein. Seit dem Abitur haben wir uns nicht mehr gesehen. Er ist damals gleich nach Bayern abgereist, wo er dann auch sein Studium angefangen hat.
Und nun steht er hier. Der Junge, den ich geliebt habe wie keinen anderen und den ich enttäuscht habe wie keinen zweiten. Er steht in unserer Diele noch immer in Mantel und Stiefeln.
„Mensch, Joey! Mit dir habe ich ja überhaupt nicht gerechnet.“
„Ich wollte nur mal wissen, wie es dir geht.“
„Komm in meine Bude!“, fordere ich ihn auf und schiebe ihn durch die offene Zimmertür in mein kleines Reich.
„Das sieht hier aus wie in deinem Zimmer damals.“
„Kein Wunder: Es ist mein altes Bett, mein altes Sofa und mein alter Schreibtisch.“
„Nur ordentlicher“, lächelt er mich frech an.
„Tscha, ich werde eben auch älter und vernünftiger“, entgegne ich grinsend.
Jonathan lacht: „Wer’s glaubt.“
Wir stehen uns gegenüber und schauen uns an. Männlicher ist er geworden, kantiger. Der Drei-Tage-Bart steht ihm. Seine Haare trägt er jetzt etwas verwegener. In seine dunkelblauen Augen könnte ich mich wieder verlieben, wenn da nicht die Erinnerung an unser letztes Schulhalbjahr wäre.
Jonathan reißt mich aus meinem Tagtraum: „Was guckst du mich so an? Habe ich mich so sehr verändert?“
Ich schüttele den Kopf. „Woher weißt du, dass ich hier bin?“
„Ich habe von deiner Mutter deine Festnetznummer bekommen. Neulich habe ich hier angerufen und eine Nachricht hinterlassen. Offenbar hat sie dir niemand übergeben. – Sag mal, störe ich? Oder warum muss ich stehen?“
Oh, ich habe mich wie selbstverständlich auf meinen Schreibtischstuhl gesetzt und Jonathan stehen gelassen.
„Nee. Ja. Steh hier nicht so rum! Setz dich doch aufs Sofa! Das kennst du doch noch?“, entgegne ich verschmitzt. „Mit wem hast du gesprochen? Wir haben eine weiße Tafel am Telefon hängen. Dort schreiben wir uns eigentlich immer die Nachrichten rauf. Kann man dann wieder wegwischen.“
„Mit dem Typen, der mich reingelassen hat.“
„Luigi? Das war klar. Der wohnt hier noch nicht lange bei uns und kann sich einfach nicht an unsere Absprachen gewöhnen. Ich glaube, Struppie, unser Vermieter schmeißt ihn eh bald raus.“
Jonathan lacht kurz auf: „Struppie? So nennst du euren Vermieter?“
„Ja, wieso? Der hat die Wohnung von seinem Vater geerbt und wohnt hier auch mit seinem Freund Tim.“
„Was? Tim und Struppie? Wie süß“, amüsiert sich Jonathan.
„Die beiden sind echt in Ordnung.“
„Sag mal, Felix, hast du heute noch was vor?“, will er wissen.
„Eigentlich ja.“
„Oh schade“, meint er enttäuscht.
„Wieso schade? Das können wir zusammen machen. Ich habe gestern was Merkwürdiges gefunden. Schau dir das mal an.“
Ich greife hinter mir auf dem Schreibtisch nach dem Portemonnaie, das ich neben meinem Auto entdeckt hatte.
„Was ist das?“, will Jonathan wissen.
„Ein Portemonnaie.“
„Das sehe ich. Was ist damit?“
„Ich habe es auf dem Gehweg gefunden.“
„Willst du es zurückgeben?“
„Ja klar.“
„Ist ein Ausweis oder so was drin?“
„Nee, nur ein bisschen Bargeld und dieser Brief.“
Ich öffne das Portemonnaie und hole einen abgewetzten und zweimal gefalteten Briefumschlag heraus.
Jonathan schaut ihn an: „Und?“
„Das ist alles, was auf den Eigentümer des Portemonnaies hinweist. Musste mal lesen.“
„Okay, gib her!“ Er nimmt mir den Umschlag aus der Hand und öffnet ihn. Dann liest er die in sauberer Schulschrift geschriebenen Zeilen vor:
„Mein lieber Fritz,
ich schreibe Dir diesen Brief, weil ich Dir unbedingt erzählen will, wie es mir seit Deinem Wegzug ergangen ist. Allerdings weiß ich nicht, ob Dich dieser Brief erreicht.
Weil Deine Eltern Dich in dieses Internat geschickt haben, ist es mir erlaubt, auf unserer Schule zu bleiben. Allerdings werde ich hier scharf beobachtet, daß ich auch ja nicht einem Schulkameraden zu nahe käme. Von den jüngeren Jahrgängen werde ich ferngehalten. Unsere früheren Klassenkameraden meiden mich. Sie verbreiten wilde Gerüchte über Dich und uns.
Hier kann ich ein paar Zeilen nicht lesen. Da ist ein Knick“, unterbricht er sich.
„Lies weiter!“
„Ach wärst Du doch noch hier. Das würde das alles erträglich machen. Leider haben weder unsere Eltern noch irgendjemand hier Verständnis für unsere Verbindung.
Wie kann etwas, das sich so schön anfühlt, verboten sein? Wie kann eine Liebe wie die unsere von allen anderen verachtet werden? Soll das alles schon vorbei sein? Ich vermisse Dich so sehr. Ich hoffe, es geht Dir gut und wir können uns bald wieder sehen.
Bitte schreibe mir, wie es Dir ergeht.
In tiefer Verbundenheit, dein Hans-Werner“
Jonathan schaut stumm ein paar Augenblicke auf das Papier. Dann meint er: „Wir müssen herausfinden, wem das Portemonnaie gehört. Man kann nur noch den Absender auf dem Umschlag lesen: Hans-Werner Mommsen. Wenn wir den finden, finden wir vielleicht auch den Besitzer des Portemonnaies.“
„Wie sollen wir diesen Fritz finden? Wir haben nicht einmal seinen Nachnamen, weil der nicht zu entziffern ist. Ansonsten sind nur knapp 25 Euro im Portemonnaie.“
„Aber der Brief. Der Brief ist etwas ganz Besonderes für den, der ihn bekommen hat“, erklärt Jonathan mit ernster Miene, „und für den, der ihn geschrieben hat.“
„Häh? Wieso?“, wundere ich mich.
„Erstmal ist der Brief total romantisch. Und dann hat ihn dieser Fritz offenbar schon jahrzehntelang mit sich rumgeschleppt.“
„Wie kommst du darauf?“
„Schau dir den Umschlag an, wie abgeranzt der ist. Und außerdem …“ Jonathan stockt.
„Ja, was außerdem?“, will ich nun wissen.
„Ich weiß, was so ein Brief bedeutet.“
„Achja?“
Jonathan schaut auf seine Fußspitzen: „Ich habe schließlich auch schon mal so einen Brief geschrieben.“
„Wem?“, frage ich neugierig.
„Dir“, flüstert er.
„Mir? Ich habe nie einen bekommen.“
„Ich habe ihn nie abgeschickt.“
„Was hast du damit gemacht?“
„Weggeworfen. Ich war einfach sauer auf dich und enttäuscht.“
Wir blicken uns sekundenlang in die Augen.
Schließlich meint Jonathan: „Zeig mir nochmal den Briefumschlag.“
„Wie gesagt, es ist nur der Absender lesbar und ein Teil der Adresse“, erkläre ich und reiche ihm den Umschlag.
„Ein Internat. Das schreibt dieser Hans-Werner ja.“
„Das ist vor 20 Jahren geschlossen worden. Ich habe es gegoogelt.“
„Der Absender ist: Hans-Werner Mommsen, Akaziensteig 20, 1 Berlin 37. Komische Postleitzahl“, grübelt er.
„Das ist eine alte Postleitzahl. Die 37 steht für Zehlendorf. Gut, dass es das Internet gibt.“
Wir schauen uns wieder an. Ich erkenne, dass es in Jonathans Kopf arbeitet.
„Kommst du mit? Wollen wir zu der Absenderadresse mal hinfahren?“, frage ich.
„Ja klar. Ich habe nichts anderes vor.“
Dank Navigationsapp im Smartphone finden wir die Adresse schnell und stehen vor einer verwunschenen Villa, die von einem gepflegten Garten und einer Kalksteinmauer umgeben ist. Neben dem schmiedeeisernen Tor finden wir einen Klingelknopf in der Mauer.
„Da steht kein Name dran. Was, wenn der Mommsen hier gar nicht mehr wohnt? Vielleicht hätten wir uns anmelden sollen“, meint Jonathan.
„Lass es uns herausfinden“, entgegne ich und drücke den Knopf.
Wir warten. Jonathan will schon aufbrechen, als uns aus dem Lautsprecher neben dem Klingelknopf eine Stimme anknarzt: „Jaaa, was wollen Sie? Wir kaufen nichts.“
„Guten Tag. Ich bin Felix Neumann und ich wollte fragen, ob hier ein Herr Mommsen wohnt?“ antworte ich betont deutlich.
„Mommsen? Nein, der wohnt hier nicht. Was wollen Sie von ihm?“
„Wir haben etwas gefunden, das eventuell ihm gehört. Und wir wollen es ihm zurückgeben.“
Einige Augenblicke lang geschieht nichts. Dann hören wir den Summer und das Tor schnappt auf. Wir gehen über den Plattenweg zum Haus. An der offenen Tür empfängt uns eine ältere Frau: „Kommen Sie herein.“
Wir folgen ihr in ein Foyer. Dort erklärt sie uns, dass sie und ihr Mann dieses Haus vor etwa fünf Jahren von Herrn Doktor Mommsen gekauft hätten. Enttäuscht schauen wir sie an.
Jonathan findet zuerst wieder seine Sprache: „Wissen Sie, wo wir ihn finden? Wir würden gern mit ihm sprechen.“
Die Dame erzählt uns, dass der Verkäufer in ein Altenwohnheim gezogen sei, wo er sich von dem Verkaufserlös des Hauses ein kleines Appartement gekauft hätte. Sie bittet uns, kurz zu warten und verschwindet in einem Zimmer.
„Ich hab’s“, ruft sie, „Hier ist der Kaufvertrag. Das ist die Adresse.“
Ich fotografiere die Seite mit meinem Smartphone ab.
„Viel Erfolg. Doktor Mommsen habe ich als sehr netten Mann in Erinnerung. Der wird sich bestimmt freuen. Wir haben uns damals gewundert, warum er hier in diesem Haus so ganz allein gewohnt hat“, gibt sie uns auf den Weg.
„Vielen Dank“ rufe ich ihr zu, während wir uns verabschieden.
Wir verlassen das Anwesen und fahren zu der fotografierten Adresse in der Innenstadt.
Ich parke mein kleines Auto in der Nähe eines aufwändig sanierten Altbaus in einer ruhigen Nebenstraße. Wir gehen auf den Tresen im Eingangsbereich zu. Hinter ihm steht ein Mann in einem ordentlichen Anzug.
Er begrüßt uns: „Guten Tag, wie kann ich Ihnen behilflich sein?“
„Ich bin Felix Neumann und das ist mein Freund Jonathan Breitenbach.“
Er schaut uns an und hebt dabei seine Augenbrauen. „Bernhard Geisberg“, stellt er sich vor.
„Wir möchten gern zu Herrn Doktor Hans-Werner Mommsen. Wissen Sie, ob er zu Hause ist?“
Bernhard Geisberg blickt auf seine Uhr: „Um diese Uhrzeit ist er meistens in seinem Appartement. Er liest sehr gerne und sehr viel. Er bekommt selten Besuch. Eigentlich außer seinem Hausarzt niemals. Was wollen Sie von ihm?“
„Wir haben etwas gefunden, das eventuell ihm gehört. Oder er weiß, wem es gehört. Wir wollen es gern zurückgeben“, kläre ich ihn auf.
„Das können Sie hier bei mir deponieren. Ich gebe es ihm, wenn er herunterkommt und essen geht.“
„Nein. Wir müssen es ihm persönlich geben“, wirft Jonathan ein.
„Was ist es? Macht es nicht so geheimnisvoll!“, will Bernhard Geisberg wissen.
Wir gucken Herrn Geisberg an. Schließlich erklärt Jonathan: „Es ist etwas ganz Besonderes.“
„Das kann jeder sagen. Herr Doktor möchte nicht gern gestört werden. Wenn ich nicht von der Wichtigkeit des Besuches überzeugt bin, lasse ich niemanden zu ihm.“
„Gut“, seufze ich und lege das Portemonnaie auf den Tresen „Wir haben das hier gefunden. Darin ist ein Brief, den höchstwahrscheinlich Herr Doktor Mommsen geschrieben hat. Leider ist die Adresse, wohin der Brief geschickt worden ist, nicht lesbar, nur der Absender. Deswegen sind wir hier.“
„Darf ich mal sehen?“
„Ich glaube nicht. Es ist ein sehr persönlicher Brief.“ Ich lege meine Hand auf das Portemonnaie.
„Okay, ich rufe den Doktor an. Nehmen Sie bitte dort einen Moment Platz.“
Wir setzen uns in je einen bequemen Freischwinger. Herr Geisberg telefoniert.
Nachdem er aufgelegt hat, kommt er zu uns und erklärt uns den Weg: „Herr Doktor Mommsen erwartet Sie. Fahren Sie dort mit dem Lift in die zweite Etage. Gehen Sie dann links den Gang bis zu Appartement Nummer 27.“
Wir fahren mit dem Aufzug nach oben. Dort angekommen, gehen wir den linken Gang entlang. Rechts und links gehen große hölzerne Wohnungstüren ab, wie man sie aus Altbauten kennt.
„Das ist sehr schick hier“, meint Jonathan.
„Das waren bestimmt früher große Altbauwohnungen, die in kleinere Appartements umgebaut wurden, so als Seniorenresidenz für reiche Leute“, mutmaße ich. „Hier ist Nummer 27.“
Unter den Messingzahlen ist ein Schild angebracht, auf dem der Name „Mommsen“ in geschwungener Schrift eingraviert ist.
Ich drücke den Klingelknopf. Ein paar Sekunden später wird uns die Tür aufgeschlossen. Vor uns steht ein bärtiger alter Mann mit Lesebrille auf der Nasenspitze und korrekt sitzender Strickjacke. Lächelnd spricht er uns an: „So, ihr habt also etwas gefunden, das von mir stammt?“
Ich nicke und hole den Brief aus dem Portemonnaie. Er greift vorsichtig danach und blickt mit feuchten Augen auf den Umschlag in seinen Händen. „Kommt herein und schließt bitte die Tür.“
Wir folgen ihm in die Wohnung. Leise knarren die Dielen unter dem Perserteppich, als wir das Zimmer betreten. Drei große Altbaufenster lassen Tageslicht herein. Der Raum hat mindestens 25 Quadratmeter, in vier Metern Höhe ist reichlich Stuck zu erkennen. An einer fensterlosen Wand steht ein Eichenbett, bedeckt mit einer hellbraunen Tagesdecke, daneben ein altdeutscher Kleiderschrank. Zwischen den Fenstern stehen raumhohe Regale, hinter deren Glastüren hunderte von Büchern einsortiert sind. Gegenüber dem Bett steht ein altes Ledersofa, davor ein kleiner Holztisch mit Intarsien.
„Setzt euch bitte dorthin.“
Er selbst setzt sich langsam in einen klobigen Ohrensessel. Er schaut lange auf den Umschlag in seinen Händen.
Schließlich fängt er an zu erzählen: „Ja, der Fritz. Er war mir wirklich der liebste Mensch. Euch darf ich es erzählen: Wir haben uns geliebt. Seine Eltern und meine Eltern haben das missbilligt. Man durfte vieles als Junge damals. Nur eins war unmöglich: schwul sein.“
Mit zittrigen Fingern öffnet er den Umschlag und entnimmt ihm das Blatt Papier.
„Ja, den habe ich geschrieben. Er hat nie geantwortet. Ich wusste nicht einmal, ob Fritz diesen Brief überhaupt erhalten hat.
Wir waren so verliebt. Friedrich Schlüter war der hübscheste Junge der ganzen Schule. Wir haben uns heimlich getroffen. Irgendwann wurden wir von einem Lehrer entdeckt. Wir wurden mit Prügel bestraft. Wir hätten Schande über die hohe Schule gebracht. Als ich nach Hause kam und meinen Eltern erklären wollte, warum ich bestraft worden war, schlug mein Vater auch noch auf mich ein.
Mein Vater erreichte, dass ich nicht von der Schule entfernt wurde. Stärker hätte er mich nicht bestrafen können. Eine größere Schmach hätte er mir nicht bereiten können, als mich zu zwingen, weitere zwei Jahre auf diese Schule zu gehen.
Von einem netten Mädchen aus der Nachbarschule – Jungen und Mädchen gingen auf verschiedene Schulen damals – hatte ich ein paar Monate danach erfahren, dass Fritz auf ein Internat geschickt wurde. Sie gab mir sogar die Adresse.
So schrieb ich diesen Brief. – Ich habe nie eine Antwort erhalten. So sehr ich auch darauf gewartet hatte.
Später habe ich in Marburg und Bamberg studiert. Chemie war schon immer mein Lieblingsfach gewesen.
Danach war ich in der chemischen Industrie in der Forschung tätig. Ich habe mich buchstäblich mit der Arbeit betäubt. Ein Privatleben habe ich nie geführt.
Irgendwann habe ich es gewagt, Friedrichs Eltern anzuschreiben und mich nach seinem Verbleib und seinem Befinden zu erkundigen. Mehrere Monate hatte es gedauert, bis ich die knappe Antwort erhielt, sie hätten schon lange keinen Sohn mehr und ich solle es nicht noch einmal wagen, sie zu belästigen.
Ich habe mich daraufhin nur noch mehr in meine Arbeit gestürzt.
Nachdem meine Eltern starben, zog ich in ihr Haus und fertigte für verschiedene Institute Gutachten an. Ich war sehr fleißig und ein begehrter Sachverständiger.
Vor langen Jahren habe ich mich zur Ruhe gesetzt und schließlich das Haus verkauft.
Nun bin ich hier gelandet. Meine wohl letzte Station.
Nie habe ich auch nur einen anderen Mann an mich gelassen. Nicht, dass es da keine gegeben hätte. Sie konnten alle wohl nicht dem Vergleich mit meinem Fritz standhalten.“
„Wo hat er früher gewohnt? Vielleicht wohnt er noch dort in seinem Elternhaus“, frage ich vorsichtig nach.
Er seufzt: „Sein Elternhaus steht in derselben Straße wie mein Elternhaus, das ich vor etwa fünf Jahren verkauft habe. Fritz hat sich nie wieder dort blicken lassen. Irgendwann ist es verkauft worden. Ich dachte damals, Fritz würde nicht mehr leben. Nun kommt ihr her und zeigt mir diesen Brief von mir an ihn.
Wer sonst außer ihm würde ihn nach all den Jahren noch mit sich tragen? Was gäbe ich darum, ihn wieder zu treffen.“
Einen Moment schließt er seine Augen. Dann bittet er uns: „Seid mir nicht böse. Aber ich muss mich ein wenig hinlegen. Nehmt den Brief wieder mit. Vielleicht findet ihr seinen Besitzer. Bitte gebt mir Bescheid, wenn ihr was von ihm erfahren habt. Ihr wisst, wo ihr mich findet. Ich bin immer zu Hause. Macht bitte die Tür zu.“
Wir verabschieden uns von Herrn Mommsen und verlassen die Wohnung.
Als wir im Eingangsbereich am Tresen vorbeigehen wollen, winkt uns Bernhard Geisberg herbei: „Na, haben Sie was erreichen können?“
Jonathan meint: „Nun ja, wir wissen jetzt, dass er den Brief tatsächlich geschrieben hat. Und dass der Adressat Friedrich Schlüter heißt. Mehr leider nicht.“
Wir stützen uns am Tresen ab. Ich halte das Portemonnaie in meiner Hand.
„Hm, Friedrich Schlüter“, grübelt Herr Geisberg. „Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.“
„Kennen Sie ihn vielleicht persönlich?“
Er überlegt: „Irgendwie schon. Wer heißt schon so, wie zwei Straßen?“ Er lächelt.
Ich gebe ihm meine Handynummer für den Fall, dass er sich erinnert. Dann verabschieden wir uns.
„Du, kannst du mich an einem U-Bahnhof absetzen? Ich muss nach Hause. Es war echt ein interessanter Tag mit dir heute. Wir sind leider gar nicht viel zum Quatschen gekommen. Wollen wir uns morgen wieder sehen?“, fragt er mich lächelnd als wir beide wieder in meinem Auto sitzen.
„Ja und ja. Tim und Struppie und ich wollen morgen Abend tanzen gehen. Komm doch mit, wenn du Lust hast.“
„Tanzen? Am Karfreitag? Herrscht da nicht Tanzverbot?“
„Was denn, was denn? Hat dich Bayern schon so geprägt? Hier wird getanzt, wenn es etwas zu tanzen gibt. Auch am Karfreitag.“
Er nickt. So nenne ich ihm den Namen des Clubs und halte am nächsten U-Bahnhof. Wir verabschieden uns mit einer Umarmung und einem kurzen Kuss.
„Tschüss, bis morgen“, ruft er, während er die Autotür zuwirft.
Karfreitag
Feiertage haben ihr Gutes. Insbesondere, wenn man frei hat wie ich. Durch geschickte Manipulation des Dienstplanes werde ich bei meinem Studentenjob heute nicht gebraucht. Der Regen lädt nicht gerade dazu ein, das Haus zu verlassen. So frühstücke ich gegen zwölf Uhr mittags mit Tim und Struppie, als irgendwann unser neuer Mitbewohner Luigi die Küche betritt.
„Hallo, Freunde, habt ihr noch Kaffee?“
„Wenn du welchen kochst, ja. Du könntest auch mal wieder welchen kaufen. Milch ist auch gerade genug für die Feiertage da“, grummelt Tim, ohne von seinem Kaffeebecher aufzublicken.
„Wieso ich? Jeder kauft sich doch sein Zeug selber“, nölt Luigi.
„Normalerweise ja. Aber du nimmst andauernd von unserem Kaffee“, wirft Struppie dazwischen.
„Ist das so schlimm? Felix macht das auch.“
„Hey, der bringt aber auch oft genug Nachschub. Im Gegensatz zu dir.“
Ich stehe auf und drängele mich an Luigi vorbei zur Kaffeemaschine, um eine neue Kanne anzusetzen: „Mach mal Platz, Lutschi. Ich brauche noch was von der Suppe, die wachhält.“
„Grrr, Luigi. Ich nenne dich ja auch nicht Phalli oder so.“
„Warum eigentlich nicht? Das würde zumindest passen“, erwidere ich und spiele mit meiner Zunge von innen an meiner Wange.
„Übrigens, Lutschi. Dieses Schild da an deiner Zimmertür ist nicht wirklich ernst gemeint?“
An seiner Tür hängt seit heute früh ein Schild mit dem Wort „Tanzverbot“ in Fraktur. Er zuckt mit den Schultern.
„Was soll das?“, setze ich nach.
„Zu Ostern gedenken wir Christen dem Leiden Jesu. Da kann man doch nicht tanzen“, erklärt er im Brustton der Überzeugung. Der scheint das wirklich ernst zu meinen.
„Du stehst wohl dazu? Das meine ich aber nicht. Es ist die Schrift, dieselbe wie in den Dreißigerjahren auf dem Schild „Swing tanzen verboten“. Das mag dem Dogma deiner Kirche entsprechen. Ich finde es geschmacklos.“
„Tut mal nicht so tolerant. Man darf hier wohl nicht mehr glauben, was man will?“
„Du kommst uns mit Toleranz? Und hängst dann dieses Schild auf? Wenn du deinem Heiland wenigstens huldigen würdest, aber du hast ja nicht einmal gefastet“, grätscht Tim dazwischen.
„Das mit dem Fasten ist nicht wortwörtlich zu nehmen“, verteidigt sich Luigi.
„Dieses ganze Osterfest ist eh alles Kommerz“, meine ich gelangweilt.
„Es ist das wichtigste Fest der Christenheit. Da wird man doch wohl ein bisschen über die Stränge schlagen dürfen und sich gegenseitig was schenken.“
„Was soll man sich zum Fest für einen ans Kreuz genagelten Sterbenden schenken? Nägel?“, wendet Tim ein.
„Im Grunde genommen ist es ein heidnisches Fest zu Ehren der Göttin der Morgenröte. Daher der Name. Was haben die bunten Eier, die Hasen und das Osterlamm mit dem hohen Fest der Gottgläubigen zu tun? Nichts. Das sind doch alles Fruchtbarkeitssymbole: Die Hasen, die es im Frühling treiben wie die Karnickel. Das Ei als Prototyp der Fruchtbarkeit. Und dazu ein unschuldiges Hammelbaby. Alles genau das Gegenteil vom Sterben Jesu.“
„Ihr seid doof“, gibt sich Luigi beleidigt und schleicht in sein Zimmer.
Wir drei lächeln uns an.
„Lass ihm doch seinen Glauben und sein blödes Schild. Wir machen uns heute Abend ein Heidenvergnügen und feiern eine Weltanschauung, die den Lärm zum Sakrament erkoren hat.“
So still Struppie meistens ist, manchmal haut er Sprüche raus, die einen staunen lassen.
Am späten Abend fahren wir gemeinsam in meinem kleinen Auto zu unserem Lieblingsclub. Wie verabredet wartet Jonathan auf mich.
Ich stelle meine drei Freunde einander vor. Dann stellen wir uns an der Schlange an.
„Der Jonathan ist schon ein steiler Zahn“, raunt mir Tim zu.
Ich lächele.
„Und den hast du ziehen lassen? Gott wie dumm!“
Er quittiert meinen Klaps auf seinen Arsch mit einem nicht überhörbaren „Aua. Ich stehe da nicht drauf!“ Dann schmeißt er sich fast weg vor Lachen.
Der Club ist voll. Da die Musik zu laut ist, um sich zu unterhalten, tanzen ich und Jonathan fast die ganze Zeit mehr oder weniger eng umschlungen im Flackerlicht der Strobos. In Schwulenclubs kann man sich so richtig schön gehen lassen. Immer wieder küssen wir uns und lächeln uns an. Mann, fühlt der sich gut an!
Irgendwann vor Sonnenaufgang beschließen wir, zu Jonathan nach Hause zu fahren. Tim und Struppie sind nicht mehr auffindbar.
Wir legen uns zusammen in Jonathans Bett, streicheln und küssen uns ein bisschen und schlafen schnell ein.
Karsamstag
Kurz vor Mittag weckt mich Jonathan mit duftendem Kaffee, Marmeladenbrötchen und einem Kuss. Wir frühstücken im Bett. Danach bleiben wir einfach dort sitzen wie früher und unterhalten uns über die alten Zeiten.
Er erklärt mir, dass er über Ostern seine Eltern besucht und sich dazu in sein altes Jugendzimmer einquartiert hat. Ich höre ihm kaum zu, sondern betrachte ihn ganz genau.
Jonathan ist wirklich ein schöner Mann geworden. Und ich Idiot habe ihn für ein bisschen Sex nebenbei gehen lassen. Es scheint, als würde er meine Gedanken erraten. Denn er beugt sich zu mir. Sein Gesicht nähert sich meinem.
In dem Moment, wo er mir etwas ins Ohr hauchen will, klingelt mein Handy. Ich krame in meiner Jacke, die neben dem Bett liegt und nestle es hervor.
„Neumann“, melde ich mich.
„Bernhard Geisberg hier. Mir ist eingefallen, wo ich den Namen Friedrich Schlüter gehört habe. Er lebt in einem Seniorenwohnheim ein paar Straßen weiter von dem Haus, in dem ich arbeite. Dort ist mein Freund Altenpfleger. Als ich ihn vor ein paar Wochen dort abholen wollte, hat er noch einen Ruf zu einem Herrn Schlüter erhalten.“
„Können wir da hinfahren und Herrn Schlüter besuchen?“
„Das habe ich erwartet“, erwidert er und gibt mir die Adresse. Wir sollen uns bei Theo melden, er habe heute Dienst. Ich bedanke mich und beende das Gespräch.
„Jonathan, das war dieser Bernhard Geisberg. Er weiß, wo Friedrich Schlüter wohnt: in einem Altenheim.“
Wir schauen uns kurz an. In Jonathans Augen meine ich einen kleinen Blitz zu erkennen.
„Da haben wir unsere beiden Freunde“, lächelt er.
„Was machen wir jetzt? Fahren wir hin?“
„Klar, wir fahren da gleich hin und geben Herrn Schlüter sein Portemonnaie und den Brief zurück.“
Somit haben wir den Plan geschmiedet.
„Darf ich duschen?“, frage ich ihn.
„Du musst und ich auch“, entgegnet er und gibt mir ein Handtuch aus einem Wäschefach.
Schade, er kommt nicht mit unter die Dusche. Vielleicht ist es besser so und wir verlieren keine unnötige Zeit.
Während er nach mir duscht, ziehe ich mich an. Dann betritt er sein Zimmer nur mit einem Handtuch um die Hüfte geschwungen.
Oh, Mann, was für eine Sahneschnitte, dieser geile Kerl. Ohne zu hetzen zieht er sich vor mir an. Das macht er bestimmt absichtlich. Oder bilde ich mir das nur ein? Ich kann jedenfalls nicht anders, als ihn zu beobachten, wie er Bein für Bein seine Boxershorts betritt und sie über sein Gemächt zieht. Elegant wickelt er sich in sein T-Shirt und einen Pulli. Schließlich fährt er in seine Jeans: erst mit dem linken Bein, dann ganz gemächlich mit dem rechten. Zum Schluss verschwinden seine schönen Füße in einem Paar Socken. Hat er mich eben eigentlich auch beobachtet? Ach nein, er war unter der Dusche, als ich mich angezogen habe.
Schließlich machen wir uns auf den Weg. Die ganze Fahrt über freuen wir uns. Immerhin vollbringen wir heute eine gute Tat. Außerdem sind wir zusammen. Nach all den Jahren seit der Schule.
Immer, wenn ich zu Jonathan auf dem Beifahrersitz blicke, lächelt er mich an. Schade, dass ich ab und zu wieder nach vorne gucken und mich auf den Verkehr konzentrieren muss.
Im Heim angekommen, erkundigen wir uns nach dem Pfleger Theo.
Nach etwa zehn Minuten Wartezeit, die Jonathan und ich nutzen, um uns anzugrinsen, kommt ein schlaksiger Langhaariger Typ mit Brille auf uns zu: „Hallo. Ihr zwei müsst die beiden mit dem Liebesbrief sein. Ich bin Theo. Kommt mal mit.“
Wir folgen ihm durch lange Gänge in einen Aufzug. Während wir nach oben fahren, fragen wir, was Friedrich Schlüter für ein Mann ist.
„Herr Schlüter? Das ist ein ganz ruhiger. Der sitzt eigentlich jeden Tag im Tagesraum und schaut fern. Er redet nicht viel. Nicht mit uns Pflegern und auch nicht mit den anderen Bewohnern. Wir finden ihn bestimmt im Tagesraum.“
Dort angekommen bittet uns Theo, an der Tür zu warten. Er zeigt auf die Rückseite eines Sofas, auf dem ein Mann sitzt und dem Fernsehprogramm folgt.
Theo geht zu ihm hin, fasst ihn an die Schulter und spricht laut in sein Ohr: „Da sind zwei junge Herren, die etwas gefunden haben, dass wohl Ihnen gehört.“
„So?“ Herr Schlüter bewegt sich nicht.
„Sie sagen, sie hätten Ihr Portemonnaie gefunden. Haben Sie Ihres verloren?“
Herr Schlüter greift nach einer Umhängetasche, die neben ihm auf der Couch liegt und wühlt darin herum.
Nach einigen Augenblicken hören wir ihn ausrufen: „Tatsächlich. Mein Portemonnaie ist nicht mehr da. Die Tasche ist leer. Wo sind die Herren? Sie sollen herkommen.“
Theo winkt uns heran. Herr Schlüter steht mühselig auf und dreht sich zu uns um.
„Sie haben mein Portemonnaie gefunden und bringen es mir sogar persönlich?“
„Guten Tag, Herr Schlüter. Mein Name ist Felix Neumann und das hier ist Jonathan Breitenbach.“ Ich halte ihm meine rechte Hand hin, die er kraftlos schüttelt. Mit der linken gebe ich ihm seine Geldbörse.
„Sie wissen, dass Sie mir damit eine sehr große Freude bereiten?“ Er gibt auch Jonathan die Hand.
Er öffnet das Portemonnaie, blickt hinein, zieht die Euroscheine heraus und will sie mir reichen. Ich winke mit beiden Händen ab. Jonathan schüttelt den Kopf. „Vielen Dank, Herr Schlüter, das ist nicht nötig.“
„Wir wollen keinen Finderlohn. Dass wir Ihnen Ihr Portemonnaie zurückbringen, ist selbstverständlich“, schiebe ich hinterher.
„Aber Sie sind extra hierher gekommen. Viel Bargeld habe ich nie dabei. Es ist noch alles da. Und seit ich überfallen worden bin, habe ich keinen Ausweis oder EC-Karte mehr mit. - Wie haben Sie mich eigentlich gefunden?“ Bei der Frage hebt er eine seiner buschigen Augenbrauen und schaut erst mir dann Jonathan in die Augen.
„Wir haben den Brief gelesen“, erkläre ich.
„Sie haben was?“, fragt er ungläubig.
„Ja“, gibt Jonathan zu, „wir wollten doch herausfinden, wem das Portemonnaie gehört. Einen Ausweis haben wir ja nicht entdecken können.“
Herr Schlüter schaut uns mit einer Mischung aus Ärger und anerkennendem Verständnis an.
„So hält es die heutige Jugend mit dem Briefgeheimnis. Naja, was soll’s.“
„Der Zweck heiligt die Mittel“, werfe ich ein.
„Setzen Sie sich bitte zu mir. Ich werde Ihnen die Geschichte dazu erzählen. Theo? Können Sie uns bitte eine Kanne Tee bringen und vier Tassen?“
Theo nickt und wir setzen uns auf die zwei Sofas: Herr Schlüter, wo er vorher gesessen hat und wir uns auf ein zweites, das im rechten Winkel dazu steht.
Herr Schlüter schaltet den Fernseher mit der Fernbedienung ab. Dann erzählen Jonathan und ich ihm, wie wir zufällig diese Adresse herausbekommen haben. Zwischendurch kommt Theo mit dem Tee und schenkt uns ein.
Herr Schlüter bittet Theo, sich einen Stuhl heranzuziehen und sich zu uns zu setzen.
Mit Tränen in den Augen fängt er dann an zu erzählen: „Hans-Werner war der hübscheste Junge der ganzen Schule. Wir waren verliebt ineinander. Das war strengstens verboten. Wir trafen uns also heimlich. Eines Tages hatten wir nicht genug aufgepasst und wurden von einem Lehrer erwischt. Damals gab es noch die Prügelstrafe. Der Schuldirektor persönlich hat die Prügelstrafe an uns vorgenommen. Hans-Werner war zuerst dran. Ich musste zusehen, wie meine Liebe Schlag um Schlag auf den nackten Hintern bekam. Danach war ich dran und er musste zusehen.
Zuhause gab es dann noch viel mehr Ärger. Meine Eltern schickten mich daraufhin auf ein Internat. Ich sollte nie wieder auf diese verrufene Schule zurück. Und ich sollte nicht wieder den teuflischen Versuchungen erliegen. Im tiefsten Bayern sollte ich meine beiden letzten Schuljahre verbringen.
Ich litt. Oh Gott, niemand kann sich vorstellen, wie sehr ich mich sehnte nach meinem Hansi. Gleichzeitig wurde mir sehr deutlich gezeigt, was sie von mir verdorbener Kreatur hielten.“
Herr Schlüter griff nach seiner Teetasse und Jonathan nach meiner Hand. Ich blickte ihn an. Auch er hatte Tränen in den Augen.
„Während die anderen Jungen in Viererzimmern schliefen, hatte ich eine Einzelzelle. Es wurde peinlich darauf geachtet, dass ich keinem der anderen Jungen zu nahe kam. Und die wussten alle, warum ich dort war. Niemand wollte mich zum Freund oder auch nur in meiner Nähe sein.
Meine Mutter schrieb mir monatlich Briefe, die alle geöffnet bei mir ankamen. Briefe, die ich ihr zurückschrieb, musste ich meinem Vertrauenslehrer vorlegen, der sie korrigierte.
Einmal bekam ich einen ungeöffneten Brief. Das war dieser von Hansi. Ein Versehen? Ich weiß es bis heute nicht.
Ich hüte diesen Brief seit dem Tag, an dem er mich erreicht hatte.
Vor zwei Tagen habe ich ihn verloren. Und es noch nicht einmal bemerkt. Das ist das Ende. Mein Ende.“
Friedrich Schlüter vergräbt sein Gesicht in seine Hände.
Während ich noch nicht fasse, was er uns da gerade erzählt, will Jonathan mehr wissen: „Was war nach der Zeit im Internat?“
„Nach der Schule habe ich eine Lehrstelle angetreten, bei einem Elektromeister. Ich wollte ein solides Handwerk erlernen. Mein Meister stellte keine Fragen, wollte nicht wissen, wo ich herkam und was mit mir los war. Ich wollte ihn nicht enttäuschen. Nie guckte ich auch nur einen anderen Jungen oder Mann länger an als es sich geziemte.
Nach der Lehre lernte ich Margot kennen. Wir heirateten und zogen zusammen. Sie schenkte mir zwei wunderbare Töchter.
Ich bin ihr treu geblieben, bis zu ihrem Tod vor ein paar Jahren und darüber hinaus.
Meine Töchter haben dafür gesorgt, dass ich in diesem wundervollen Altersheim untergekommen bin. Wir werden zusammen Ostern verbringen mit allen meinen Enkeln. Sie wollen mich heute Abend noch abholen.“
Ich nutze seine Pause und erkläre: „Da ist noch etwas. Wir sind nicht nur gekommen, um Ihnen den Brief und Ihr Portemonnaie zurückzugeben.“
Der alte Mann schaut mir fragend ins Gesicht: „Sagen Sie bloß, Sie wissen, wer Hans-Werner Mommsen ist, der diesen Brief geschrieben hat.“
„Wir wissen auch, wo er ist“, wirft Jonathan ein.
Fast schon flehend blickt er in unsere Richtung.
„Wir können Sie zu ihm bringen.“
„Das würden Sie tun?“
„Ehrensache“, antworte ich lächelnd.
„Ich würde ihn so gerne wieder sehen.“ Er unterbrach sich. „Er lebt doch noch?“
Jonathan und ich schlucken.
„Ja, klar. Er wohnt gar nicht weit von hier.“ Jonathan findet zuerst seine Sprache wieder.
„Wann haben Sie denn Zeit?“, setze ich nach.
„Sobald wie möglich. Ich kann es kaum erwarten. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Ich bin ziemlich krank: mein Herz.“
Nach kurzer Überlegung fährt er fort: „Morgen und übermorgen bin ich mit meinen Töchtern verabredet. Wie wäre es mit Dienstag?“
Ich schaue Jonathan an und er mich. Wir nicken.
„Ich habe eine Idee“, erhellen sich seine kleinen Augen, „ich will ihn überraschen. Machen Sie mit?“
„Natürlich machen wir mit.“ Ich denke kurz nach, dann nehme ich mein Handy und rufe diesen Bernhard Geisberg an.
„Geisberg?“, meldet er sich.
„Hallo Herr Geisberg. Wir sitzen hier gerade mit Herrn Schlüter zusammen.“
„Mit dem Herrn Schlüter? Hat es also geklappt?“
„Ja, dank Theo. Herr Schlüter möchte Herrn Dr. Mommsen einen Besuch abstatten.“
„Kein Problem. Wann will er kommen?“
„So schnell wie möglich. Dienstag?“
„Okay. Am Dienstagvormittag kommt sein Hausarzt. Er kann am Nachmittag kommen. Wann? Ich sage Herrn Doktor Bescheid.“
„Es soll eine Überraschung werden. Bitte nicht Bescheid sagen.“
„Dann habe ich eine andere Idee. Ich sage den Hausarzttermin um halb zehn ab und Herr Doktor Mommsen sage ich nichts. Das wird eine doppelte Überraschung.“
„Sehr gut. Bis Dienstag dann.“
Ich fasse den Plan kurz zusammen. Herr Schlüter nickt und freut sich sichtlich, seinen früheren geliebten Klassenkameraden wieder zu treffen.
Dann verabschieden wir uns von Theo und Herrn Schlüter.
„Wir haben uns jetzt erstmal was Trinkbares verdient“, meint Jonathan, als wir wieder in meinem Auto sitzen.
„Und Hunger habe ich auch so langsam“, stimme ich zu.
„Warte mal, ich rufe meine Ellies an und frage, ob du mit uns Essen kannst. Was hältst du davon?“
„Gute Idee.“
Er nestelt sein Smartphone hervor und telefoniert mit seiner Mutter.
„Okay, geht klar. Wir müssen uns nur beeilen.“
„Na dann, nichts wie los.“
Bei seinen Eltern angekommen, werde ich wie früher herzlich begrüßt. Während des Essens – ein rein veganer Auflauf – erinnert seine Mutter Jonathan an die gemeinsamen Theaterkarten für heute Abend.
Jonathan klatscht sich mit der flachen Hand gegen die Stirn: „Das habe ich ja total vergessen.“
Nach dem Essen verabschieden wir uns mit einem innigen Kuss im Windfang.
„Schade“, säuselt er mir ins Ohr, „ich wäre gern noch ein bisschen mit dir zusammen heute.“
„Wie lange bist du denn noch in Berlin?“
„Ende nächster Woche fahre ich wieder nach München.“
„Dann können wir uns doch bestimmt noch mal treffen?“
„Klar. Morgen ist bei uns großes Familienfest“, erklärt er etwas enttäuscht.
„Bei uns auch“, winke ich ab.
„Wie wäre es mit übermorgen? Bei mir in der WG. Wir planen ein kleines Brunch. Dann lernst du mal meine Mitbewohner richtig kennen.“
„Okay. Wann?“
„Gegen zwölf.“
Nach einem weiteren Kuss fahre ich nach Hause. Zugegebenermaßen haben wir uns kaum voneinander lösen können. Während der ganzen Fahrt spüre ich dieses gewisse Kribbeln im Bauch. Sollte ich mich etwa noch einmal in ihn verliebt haben?
Ostersonntag
Wie in jedem Jahr haben auch diesmal meine Tante Edeltraud und Onkel Alfred zum großen Familien-Osterlamm-Essen eingeladen. Sie haben schließlich das größte Haus der Familie, weswegen solche Fressorgien mit der gesamten Sippschaft immer dort stattfinden.
Worauf ich mich am meisten freue: Ich werde dort auf meine lieben Eltern treffen und auf Phillip, meinen angeheirateten Cousin und ehemalige Affäre. Aber das ist eine andere Geschichte. Naja, und all die anderen lassen es sich gewiss nicht nehmen, zu erscheinen, wenn es ordentlich was auf die Gabel gibt.
Wenn meine Lieblingscousine Susanne mich nicht in ihrer unwiderstehlichen Art gebeten hätte, wäre ich diesem Schlachtefest ferngeblieben. Lieber hätte ich mich mit Jonathan getroffen.
Wie immer finde ich mich bei Susanne und ihrem liebsten Hannes ein.
„Setz dich, Großer!“, werde ich von Hannes empfangen und ins Wohnzimmer geleitet.
„Dein liebes Cousinchen ist noch beim Dekorateur“, gibt er grinsend zur Kenntnis.
„Das habe ich gehört, Schatz!“, ruft sie aus einem der hinteren Zimmer. „Biete unserem Gast lieber was zu trinken an, statt abzulästern! Schließlich willst du bestimmt, das ich umwerfend aussehe.“
„Susilein, ich will, dass du mit mir und Felix zusammen zu einem Familienessen gehst, nicht auf eine Wer-bäckt-die-cremigsten-Torten-Convention.“
„Blödmann!“, lacht meine Cousine.
„Was willst du denn trinken? Soft oder schon was zum Vorglühen?“
„Bloß jetzt noch kein Alkohol. Sonst vergesse ich noch wer ich bin. Habt ihr Fassbrause im Haus, oder Cola?“
„Du und dieses Schlabberzeugs. Cola light kann ich dir anbieten.“
„Okay, her damit, ich soll ja viel trinken.“
„Und essen. Du musst unbedingt mal wieder was ordentliches essen“, meint meine Cousine, als sie beschwingt ins Wohnzimmer kommt und ihre Hände komisch schüttelt, damit der Nagellack trocknet.
Ich stehe auf und will sie umarmen.
„Pass auf!“, weicht sie zurück. „Pass auf, dass du mich nicht abschminkst.“
Bei dem Gedanken, wie sich beim gemeinsamen Wangenreiben ihre Schminke in meinem Gesicht verteilt, ziehe ich mich meinerseits zurück und belasse es bei einem: „Auch schön, dich zu sehen.“
„Nein, ehrlich mal, du bist viel zu dünn. Schau dir den Hannes an“, grinst sie zu ihm hinüber.
Hannes streckt ihr die Zunge heraus: „Das ist sexuelle Schwungmasse.“
Die beiden sind so richtig zum liebhaben. Ein bisschen beneide ich sie, wie sie es jahrelang schon miteinander aushalten und immer noch albern wie Teenager sein können.
„Ich fühle mich wohl so wie ich bin“, entgegne ich lächelnd.
„Ach was. Dich muss man nur von hinten mit einer Taschenlampe anleuchten, um deine inneren Organe sehen zu können. Das spart natürlich das Röntgen“, grinst mich Hannes an.
„Ich habe keine inneren Organe“, blaffe ich gespielt beleidigt zurück. „Meine Verdauung funktioniert eben einwandfrei.“
„Denk dran, Übergewichtige sind schwerer zu kidnappen“, lacht Susanne.
„Lass ihn. Er wird heute richtig fetten Lammbraten vorgesetzt bekommen“, meint Hannes und schmatzt auffällig.
„Boah, wie eklig. Alle wissen, dass ich Vegetarier bin. Und dennoch soll ich andauernd totes Fleisch essen.“ Ich schüttele angewidert meinen Kopf.
„Ach komm, sei nicht so doof. Es wird bestimmt Gemüse geben.“
„Ja toll, trockenes Gemüse und Kartoffeln.“
Nach diesem kleinen Geplänkel brechen wir schließlich auf.
Wir werden von Onkel Alfred in seiner Villa in Empfang genommen. Tante Edeltraud reicht uns erstmal einen Willkommensdrink. Das geht gut los.
Im Wohnzimmer ist fast schon die ganze Mischpoke anwesend. Alle mit irgendeinem Getränkt bewaffnet. Jeder drängt sich zu mir, Susanne und Hannes hin, um uns zu begrüßen.
Natürlich lasse ich allerlei Fragen über mich ergehen, wie es mir denn so gehe, was die Uni mache und so weiter. Ich antworte mit „Gut geht’s mir“ oder „Die Uni macht gar nichts, ich muss selber studieren“.
Eines werde ich nicht gefragt: ob ich denn schon eine kleine Freundin hätte. Sollte es sich langsam herumgesprochen haben, dass ich nicht auf kleine Freundinnen stehe?
Meine Mutter begrüßt mich mit: „Junge, könntest du nicht mal wieder zum Friseur gehen? Wenigstens hast du dich rasiert. Aber dein Hemd muss auch mal gebügelt werden. Das hättest du mir doch noch bringen können.“
„Ich freu mich auch, dich zu sehen“, antworte ich ziemlich schnippisch.
Mein Vater steht daneben und brummt nur etwas wie: „Frohe Ostern, mein Sohn.“
„Frohe Ostern, mein Vater.“
Dann werde ich von meiner angeheirateten Tante Katarina begrüßt: „Hallo Felix. Schön, dich wieder zu treffen. Paul ist irgendwo dahinten mit Andreas.“
„Hallo, meinst du, mein Onkel Andreas und dein Sohn wollen mich sehen?“
„Nun sei nicht ungerecht! Es ist so wie es ist. Man kann doch nett zueinander sein.“
„Das habe ich nicht in Abrede gestellt. Naja, wir werden uns hier zwangsläufig über den Weg laufen.“
Nach der allgemeinen Begrüßungsrunde wird auch schon zu Tisch gebeten. Die Sitzordnung ist wie üblich: links neben mir meine Mutter, rechts meine Lieblingscousine Susanne, neben den beiden jeweils deren Ehegespenster. Alles fein säuberlich nach Geschlechtern abwechselt zusammensortiert. Sie müssten die Sitzordnung umstellen, wenn ich jemals mit einer kleinen Freundin aufkreuzen würde. Oder gar mit einem kleinen Freund?
Ich denke an Jonathan, der wie ich mindestens einsneunzig groß ist und somit alles andere als ein kleiner Freund. Mein Lächeln wird durch Anreichung einer Suppentasse unterbrochen.
„Was ist das?“, will ich von der Tante wissen, die sie mir herüberreicht.
„Suppe“, ist die lakonische Antwort.
Ich runzele die Stirn: „Fleisch oder kein Fleisch?“
„Brühe.“
Mir vergeht der Appetit. Bekommt man hier auf seine Fragen keine brauchbare Antwort? Ich entschließe mich, ein Löffelchen zu kosten und verbrenne mir die Lippe.
Mir schräg gegenüber sitzen Paul (der sich wohl nicht mehr Phillip nennt) und seine Mutter Katerina und mein Onkel Andreas.
In dem Moment, da ich herüberschaue, wendet Paul seinen Blick von mir ab und tut, als fixiere er etwas anderes in einer anderen Richtung.
Er ist immer noch ein Hübscher. Leider mein angeheirateter Cousin. Die kurze Affäre zwischen uns hat die ganze Sippschaft wohl eher als Inzucht denn als wahre Freundschaft betrachtet. Naja, das ist nun schon seit Monaten vorbei. Schade, dass er nicht über seinen Schatten springen kann und normal mit mir umgeht, so von Cousin zu Cousin.
Susanne gießt mir gerade Rotwein ein und will mir zuprosten. Ich plane, mich hier und heute mit ihr zu besaufen.
Dann wird der Hauptgang aufgetragen: Lammbraten, Soße, Klöße und grüne Bohnen.
Kein Wunder, dass ich nicht dicker werde. Ich nehme mir einen großen Kloß und stapele grüne Bohnen daneben. Während ich die Speckwürfelchen aussortiere kann ich mich gerade noch so zurückhalten, nach Ketchup zu verlangen.
Die Gesellschaft schmatzt. Es klappern die Bestecke auf den Tellern. Es riecht nach totem Tier. Warum muss man eigentlich jungen Hammel essen? Der hat nicht einmal die Chance auf ein vernünftiges Leben.
Mein Vater beginnt gerade, der Tante neben ihm die Doppelbödigkeit der Vegetarier zu erklären. Es fallen Wörter wie „Palmölplantagen“, „Zerstören des Lebensraums von Tieren“ und „Missionstätigkeit“.
Die Tante hört ihm wohl ebenso wenig zu wie meine Mutter. So beugt er sich zu mir und fragt: „Was sagst du dazu? Was sagst du zum Abholzen des Regenwaldes?“
„Glaubst du, ich finde das toll?“
„Wenn du keine Tiere isst, weil sie dir leidtun, wie verträgt sich das mit Butter und Eiern, die du sehr wohl isst?“
„Ich bin Vegetarier. Das bedeutet, ich esse keine Tiere. Gegen tierische Produkte habe ich nichts. Ich esse Butter, Eier und trinke Milch. Palmölprodukte kaufe ich überhaupt nicht, auch wenn die völlig vegan sind. Hast du dir übrigens schon mal die Frage gestellt, woher die regenerativen Öle in deinem Benzin kommen, dass du immer tankst?“
Er dreht sich wieder zu der Tante an seiner Linken und faselt: „Siehst du? Dann kommt er immer mit so was.“
Sie schüttelt den Kopf und steckt sich ein Stück Lamm in den Mund.
Ich ergreife mein Weinglas. Von irgendwoher höre ich eine Tante ausrufen: „Ist das wieder ein schönes gemütliches Familientreffen.“
Ich gabele mir ein paar Bohnen auf und kaue darauf herum. Ich spüre einen säuerlichen Geschmack im Mund. Da ist Fleisch in meinem Gemüse. Am liebsten möchte ich mir mein Frühstück noch einmal rückwärts durch den Kopf gehen lassen. Ich trinke in einem Zug mein Rotweinglas leer und beende den Hauptgang.
Während ich ungeduldig auf den Nachtisch warte, stupst mich Susanne an: „Es gibt noch leckere Torte.“
Es bildet sich eine Pfütze auf meiner Zunge. Eins muss man meiner Familie lassen: Torten backen kann sie.
Mein Rotweinglas ist leer. Gut, dass irgendwer eine fast volle Flasche in greifbarer Nähe abgestellt hat. Ich zeige auf die Flasche und blicke Susanne fragend an. Die nickt und ich gieße ihr und mein Glas fast randvoll.
„Na dann, prost, Susilein.“
Nach dem Essen bilden sich kleine Grüppchen. Da Paul-Phillip mir aus dem Weg geht, mein Vater wieder seine Stammtischparolen im Herrenzimmer absondert und ich sowieso keinen Bock auf Smalltalk habe, suche ich mir ein ruhiges Plätzchen und warte, bis Susanne und Hannes auch die Nasen voll haben und mich mit nach Hause nehmen.
Ich setze mich also an einen kleinen Tisch in einer versteckten Ecke. Während ich immer wieder mein Handy herausnehme und gelangweilt nachschaue, ob mir irgendwer eine Nachricht geschickt hat oder abwechselnd nach meinem Rotweinglas greife und einen Schluck nehme, kommt die beste Tante der Welt auf mich zu und fragt: „Darf ich mich setzen?“
„Tante Elisabeth! Klar, setz dich!“, freue ich mich, stehe auf und schiebe ihr einen Stuhl zurecht.
„Schau, was ich uns mitgebracht habe!“ Sie stellt eine Flasche Sekt auf das Tischchen. „Musst du nur öffnen und uns ein paar Gläser holen. – Wo steckt denn Pauli?“
„Ich weiß nicht. Bei seiner Mutter?“
„Ihr seid ziemlich distanziert heute. Alles in Ordnung?“
Ich zucke mit den Schultern.
„Hol erstmal zwei Gläser! Ich mach derweil das Fläschchen auf.“
Sofort stehe ich auf und gehe in die Küche, wo ich vorhin saubere Sektgläser entdeckt habe. Während ich damit zurück an unseren Tisch komme, höre ich, wie die Sektflasche aufploppt. Ich halte ein Glas unter den Flaschenhals, damit nicht alles auf den Teppich schäumt.
„So, dann erzähl mal deiner Tante Elisabeth, was los ist“, prostet sie mir zu.
„Eigentlich nichts Besonderes. Es hat einfach nicht geklappt zwischen uns. Mit seinem Stiefvater, der mein Onkel ist, ist es schon schwierig genug. Allerdings scheint es meiner Mutter gelungen zu sein, mit ihrem Gequatsche, was denn die Familie denken soll und so weiter, Paul so unter Druck gesetzt zu haben ... Naja, um es kurz zu fassen: Wir haben uns immer öfter in die Haare gekriegt. Jetzt herrscht Waffenstillstand. Wir haben uns irgendwie nichts zu sagen.“
„Ooch, das ist aber schade. Ihr seid wirklich ein schönes Paar gewesen, ihr zwei. Nun, so wie die Liebe kommt, verfliegt sie auch wieder.“
Dann fragt sie mich noch, ob ich nicht wieder „jemanden am Start“ habe, woraufhin ich wohl ein wenig erröte und ihr vom Überraschungsbesuch Jonathans, meiner früheren Schulliebe berichte.
„So, wie deine Augen leuchten, bahnt sich da doch was an.“
„Ach weißt du ...“, setze ich an.
„Ach lass mal. Du musst mir nicht alles erzählen. Ihr jungen Leute habt eure Geheimnisse und über Liebe reden ist genauso unsinnig, wie vom Trinken sprechen.“
Sie erhebt ihr Glas und stößt es gegen meines.
„So, lass uns mal raus auf die Terrasse gehen. Hier ist so schlechte Luft.“ Dabei fächelt sie sich Luft mit der Hand zu.
Wir stehen auf, gießen uns noch einmal die Gläser voll und wandeln durchs Wohnzimmer nach draußen. Oha, der Alkohol wirkt. Gut, dass ich mit Susanne und Hannes hier bin und nicht selbst sehen muss, wie ich nach Hause komme.
In dem Augenblick, wo wir die Terrasse betreten, kommt mir Paul mit versteinerter Miene entgegen und verschwindet wortlos im Innern der Villa.
Es ist schon dunkel geworden. Tante Edeltraud hat Lichterketten mit bunten Ostereiern in die Sträucher und Büsche gehängt, was dem Ganzen ein leicht psychedelisches Ambiente verleiht. Oder sind das schon die Halluzinationen der geistigen Getränke?
„Was habt ihr noch so vor über Ostern? Musst du arbeiten?“, will Elisabeth wissen.
„Wer wir?“, frage ich scheinheilig.
Sie lächelt mich an: „Na, du und Jonathan, natürlich.“
„Morgen wollen wir zusammen in unserer WG brunchen.“
„Aha, ein kleiner Nachmittagssnack.“
„Und am Dienstag werden wir zwei alte Schulfreunde zusammenbringen.“
„Von euch?“
„Nein. Sie sind in den Fünfzigern zusammen zur Schule gegangen.“
Ich erzähle ihr die Geschichte von dem Portemonnaie, das ich gefunden habe und dem Liebesbrief. Wie ich schließlich mit Jonathan zusammen den Absender des Briefes in einer Seniorenresidenz ausfindig gemacht habe und wie wir von einem dortigen Angestellten die Adresse des Empfängers erhalten haben.
„Da seid ihr dann auch hingefahren?“
„Ja. Der hat sich total gefreut. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er sein Portemonnaie verloren hatte. – Die beiden müssen sich wirklich geliebt haben, so wie sie beide reagiert haben. Und dass sie so brutal auseinandergerissen wurden. Voll krass!“
„Nun ja, so war das damals. Die Liebe zwischen zwei Männern ist verboten gewesen. Das wurde mit Gefängnis bestraft.“
„Wie kann Liebe eine Straftat sein?“
„Frag das mal deinen Vater!“ Sie kann sich nicht beherrschen und lacht laut los. Ich lasse mich anstecken.
Mit ernstem Gesicht sagt sie: „Sei froh, dass das Vergangenheit ist. Leider ist das in den Köpfen vieler dummer Menschen noch nicht angekommen.“
„Ich weiß. Es gibt noch viel zu viele homophobe Arschlöcher.“
„Da sagst du was. Homophob ist ein viel zu gutes Wort für den Irrsinn. Was soll das für eine Phobie sein? Wovor haben diese Idioten Angst?“
„Ich weiß es nicht.“
„Und was habt ihr vor mit den beiden Herren?“
„Für übermorgen haben wir ein Treffen arrangiert. Für den Briefeschreiber wird das eine Überraschung werden. Der weiß noch von gar nichts.“
„Ihr seid wirklich gute Jungens, weißt du das?“
Ich merke, wie mir das Blut in den Kopf steigt. Gut, dass man bei dem Schummerlicht meinen Tomatenkopf nicht erkennen kann.
„Deine Tante wird sich jetzt ein Taxi rufen lassen und nach Hause fahren. Es hat mich sehr gefreut, dass wir mal wieder richtig geschwatzt haben. Ich komme selten genug in die Verlegenheit, mich mit einem so hübschen jungen Mann wie dir zu unterhalten. Vor allem, ohne, dass irgendwelche Leute Hintergedanken hegen.“
Sie klapst mir lächelnd auf den Po, was mich schon wieder erröten lässt. Was macht diese Frau nur mit mir?
Da kommen auch schon Susanne und Hannes auf mich zu.
„Ach hier steckst du“, meint sie, „wollen wir so langsam verduften?“
„Au ja“, sage ich und merke, wie ich leicht lalle.
Zu Hause angekommen vernehme ich leise Musik aus Luigis Zimmer. Die andern beiden scheinen nicht da zu sein. Ich bin zwar müde, will aber noch nicht schlafen gehen. Auf unseren kleinen Italiener habe ich jetzt allerdings keine Lust. So hole ich mir als kleinen Absacker aus dem Kühlschrank eine Tafel Schokolade (die dunkle mit ganzen Nüssen) und verziehe mich in mein Zimmer.
Dort angekommen, ziehe ich mich vorsichtshalber schon einmal aus, schlüpfe in mein Schlafshirt und lege mich mit einem Buch, das ich für die Uni noch lesen muss, ins Bett.
Ostermontag
Irgendwann bin ich offenbar doch eingeschlafen. Ich erwache von dem Geräusch klappernden Geschirrs. Etwas verwirrt scheue ich mich um. Mein Wecker zeigt elf Uhr. Fast hätte ich verschlafen. Schwungvoll stehe ich auf und zertrete dabei die nicht angerührte Tafel Schokolade, die neben meinem Bett auf dem Boden liegt.
„Guten Morgen, ihr Hübschen!“, rufe ich, während ich mich ins Bad begebe.
„Morgen, Schlafmütze“, hallt es aus der Küche wider.
Ich blicke in den Spiegel und raune meinem Abbild zu: „Hm, ich kenne dich zwar nicht, aber ich putze dir trotzdem die Zähne.“ Rasieren ist noch nicht wieder fällig. Ein bisschen Sandpapier auf den Wangen ist okay.
Zuerst ziehe ich mir meine Boxershorts und das Schlafshirt aus und stolpere in die Dusche. Hach, warmes Wasser auf morgendlicher Haut. Wenn das keine Erweckung ist. Sehr gründlich wasche ich mich mit extra viel Duschgel von oben nach unten und vorn und hinten. Danach trockne ich mich ab und stelle mich wieder vor den Spiegel. Während ich mir kunstvoll meine Haare zerwuschele, strecke ich meinem Spiegelbild die Zunge heraus.
Dann putze ich mir die Zähne. Ich will ja nicht nur gut riechen wenn Jonathan gleich kommt, sondern auch einen frischen Atem haben. Schnell ziehe ich mich in meinem Zimmer an und trete derart hergerichtet vor meine beiden Mitbewohner in die Küche.
„Ah, die Sonne geht auf“, ruft Tim aus und kommt auf mich zu, um mich zu umarmen.
„Moin“, kommt von Struppie. Er, der Frühaufsteher scheint noch nicht ganz wach zu sein. Egal, auch wir begrüßen uns mit einer Umarmung.
Dann decken wir den Tisch gemeinsam zu Ende.
„Freunde, wir brauchen noch einen Teller und eine Tasse mehr“, erkläre ich lächelnd.
Ungläubige Blicke erinnern mich daran, dass ich Jonathans Erscheinen gar nicht angekündigt habe.
„Wieso vier? Wir sind doch nur zu dritt. Luigi ist heute schon ganz früh abgehauen“, ist Tim verwundert.
„Entschuldigt bitte. Ich habe ganz vergessen, euch zu sagen, dass ich Jonathan kurzerhand mit eingeladen habe. Ist das trotzdem okay?“
„Der Jonathan von neulich aus deiner längst vergangenen Jugendphase?“, will Tim wissen.
„Ja genau der.“
„Klar darf der kommen. Wir können ihn jetzt ja wohl schlecht wieder ausladen. Dein Freund ist auch unser Freund“, bestimmt Struppie nickend.
Ich habe ihnen natürlich alles über Jonathan erzählt. Auch, dass wir uns kurz vor dem Abitur getrennt hatten und seitdem keinen Kontakt mehr gehabt haben.
Es ertönt unsere Türklingel. Ich renne und drücke auf den Öffner. Kurz darauf erscheint er: groß, blond, lächelnd – ein Traum von einem Mann.
„Was ist? Darf ich reinkommen?“, fragt er verschmitzt.
„Äh ja, klar. Komm rein!“, stammele ich wie ein frisch Verliebter.
„Ich habe was Leckeres mitgebracht.“
Er stellt seinen Rucksack ab, zieht sich die Jacke aus und kommt auf mich zu. Wir umarmen und küssen uns. Ich merke, wie seine Zunge an meine Schneidezähne klopft. Ich öffne und lasse sie ein. Dort wird sie schon sehnsüchtigst von meiner Zunge erwartet.
Nur kurz können wir unsere Zungen Tango tanzen lassen, als uns ein Räuspern unterbricht.
„Willst du deinen Freund hier im Korridor aufessen oder wollen wir lieber gemeinsam essen, was hier in der Küche auf dem Tisch steht?“, ermahnt uns Tim.
Ich drehe mich um und sehe Tim und Struppie im Rahmen der Küchentür stehen. Einer grinst breiter als der andere.
„Äh, ja, nein, natürlich.“
Ich nehme Jonathans Hand und führe ihn zu meinen Mitbewohnern, damit sie sich begrüßen können.
„Hallo Jonathan“, lächelt Tim und umarmt ihn kurz. Struppie gibt ihm artig die Hand.
„Danke, dass ich dabei sein darf. Ich habe etwas mitgebracht. Dort im Rucksack. Muss aber noch mal kalt gestellt werden.“ Dabei holt er drei Flaschen aus seinem Rucksack.
„Das war doch aber nicht nötig“, mein Struppie.
„Hey! Sekt! Der Tag ist gerettet!“, spielt sich Tim auf, „Komm rein und setz dich!“
Struppie verstaut zwei Sektflaschen im Kühlschrank und legt eine ins Gefrierfach. Dann setzen wir uns an den reich gedeckten Tisch. Wann immer wir zusammen essen, bauen wir auf unserem großen Küchentisch alles Mögliche auf: Ich habe Dips besorgt und Käse, Struppie will wie immer auf Wurst und Schinken nicht verzichten, was bestimmt auch Jonathan gutheißt, und mehrere Sorten Marmelade. Ich bin eben doch ein Süßschnabel.
Die Kaffeemaschine rülpst in den letzten Zügen. Struppie fragt, ob Spiegeleier gewünscht werden, was von allen bejaht wird. Er macht sich am Herd zu schaffen, während ich den Kaffee zum Tisch hole.
„Milch? Zucker?“, will ich von Jonathan wissen.
„Alles, mein Schatz, vergessen?“, blinzelt er mich an.
„Der vergisst in letzter Zeit allerhand. Selbst dich hätte er fast vergessen“, schießt Tim dazwischen.
Wir essen und trinken. Struppie springt auf und holt den Sekt aus dem Gefrierfach. „Plopp“, öffnet er die Flasche und gießt uns jedem ein Glas ein. Wir prosten uns zu.
„Wie war denn eigentlich dein Osterfest mit der Familie?“, will Tim zwischendurch wissen.
„Schrecklich, wie immer. Wollen wir uns nicht über was Nettes unterhalten?“
„Was gab es denn zu essen?“, wird Jonathan neugierig.
„Kadaver in rauen Mengen.“
„Da bist du wohl nicht wirklich satt geworden, was?“, lächelt Jonathan.
Ich schüttele den Kopf.
„Ich weiß noch, wie dein Vater ausgetickt ist, als du ihm erklärt hast, du wärest ab jetzt Vegetarier“, haut Jonathan raus.
„Wie war das? Erzähl!“, fordert Tim.
Da die drei mich erwartungsvoll angucken, erzähle ich ihnen, dass ich damals einen Bericht über Tierhaltung in der Landwirtschaft im Fernsehen angeschaut und mich danach weiter zu dem Thema informiert hatte. Schließlich kam ich zu dem Entschluss, keine Tiere mehr essen zu wollen, teils aus Mitleid, teils aus reinem Ekel.
„Mein Vater ist damals ausgeflippt. Er hat getobt. Ich werde schon sehen, was ich davon hätte. Und ich bräuchte mir nicht einzubilden, dass hier in seinem Hause – er hat immer von seinem Hause gesprochen, wenn er auf mich sauer war – auf meine Marotten eingegangen werde. Es gäbe nach wie vor Fleisch, wie sich das gehörte.“
„Und? Haben sie es durchgehalten?“, will Struppie zweifelnd wissen.
„Ich habe von meinem Vater mehr geerbt, als mir lieb ist. So auch den Betonschädel. Nach Anweisung meines Vaters kochte meine Mutter selbstverständlich bei nächster Gelegenheit wieder was mit viel Fleisch. Rinderrouladen, glaube ich. Ich habe mir nur Kartoffeln und Rotkohl auf den Teller gelegt. Meine Mutter wollte mir noch eine Roulade auftun. Doch ich habe abgewunken. Daraufhin knurrte mein Vater: Der Junge muss Fleisch essen. Gib ihm eine Roulade und dann noch Soße.“
„Und das hat sie gemacht?“ Tim Schüttelt den Kopf.
„Ja. Und ich habe dann gemeint, ich wäre satt und wollte aufstehen. Hiergeblieben! Hat mein Vater gebrüllt. Erst aufessen!“
„Und dann?“
„Er hat mich gezwungen, das zu essen. Nachdem ich meinen Teller leer hatte, bin aufgesprungen und zum Klo gerannt. Dort habe ich mir dann einen Finger in den Hals gesteckt und alles wieder ausgekotzt.“
„Ich erinnere mich“, wirft Jonathan ein, „sein Vater ist ein richtiges Ekel. Und Dickköpfe seid ihr wirklich beide. Ich weiß auch noch, wie du dich am nächsten Tag bei mir ausgeheult hast. Geschimpft hast du über deine blöden Eltern. Abhauen wolltest du. Da hatte ich dir angeboten, zu uns zu kommen. Haha! Gottseidank hat sich das schnell wieder gegeben.“
„Ja, nie wieder hat mein Vater verlangt, dass ich etwas esse, was ich nicht mag. Ich habe mich daran gewöhnt, nur das Gemüse zu essen.“
„Dann war da noch die Geschichte mit dem Kochbuch“, setzt Jonathan nach.
Ich schmunzle: „Ja, das habe ich zu meinem siebzehnten Geburtstag geschenkt bekommen von irgendeiner Tante. Ich hatte damals meiner Mutter wirklich gern in der Küche geholfen und wollte auch kochen lernen. Das Buch hieß: So gelingen die saftigsten Schweinebraten.“
Wir lachen Tränen.
Nach einer kurzen Pause fragt Jonathan: „Wo ist eigentlich eurer vierter Mitbewohner? Der, der mich am Donnerstag reingelassen hat?“
„Luigi?“, Tim winkt ab.
„Der wohnt noch nicht lange bei uns. Der ist ein Einzelgänger und eigentlich völlig WG-untauglich“, erklärt Struppie und wuschelt sich durch die bunt gefärbten Haare.
„Oha.“
„Der passt nicht zu uns“, lege ich nach.
„Heute ist er bei seiner Schwester in Potsdam. Sonst hätten wir unseren Osterbrunch woanders gemacht. Nee, der Typ ist scheiße“, meckert Tim.
„Das ging schon gleich vor seinem Einzug los. Nachdem Markus, die Fledermaus ausgeflattert ist, haben Tim und ich das Zimmer neu gestrichen. Der Typ hatte alles schwarz angemalt. Bloß nix Helles“, erklärt Struppie. „Und was macht dieser Spacke? Pinselt alles neu in den buntesten Farben, die er im Baumarkt auftreiben konnte.“
„Warum habt ihr das gemacht?“, fragt Jonathan dazwischen.
„Struppie ist Eigentümer der Wohnung“, erkläre ich.
„Aber wie er alles gestrichen hat. Der hat von so was überhaupt keine Ahnung. Von Abkleben hat der noch nie was gehört. Der hat selbst die Fensterscheiben mit angemalt. Da wartet echt eine Menge Arbeit auf uns, wenn der mal auszieht.“
„Was wohl nicht mehr lange dauern wird“, meint Tim.
„Ich habe mein Zimmer so übernommen, wie ich es vorgefunden habe“, werfe ich ein.
„Kein Wunder. Du ekelst dich vor Farben“, lacht Tim und stupst mir in die Seite.
Wir erzählen Jonathan noch ein paar Anekdoten, dass er beim Mitbewohner-Casting eigentlich ganz nett herübergekommen ist, dieser „Isch bin Luigi aus bella Italia. Meine Freunde nennen misch Lu.“
„Das ist Anfang Dezember gewesen. Gleich zu Weihnachten hat der nicht nur sein Zimmer, sondern auch die Diele geschmückt und wollte tatsächlich sogar hier in der Küche einen Weihnachtsbaum aufstellen“, erklärt Tim.
Ich kann mich nicht halten und quittiere das Gesagte mit einem üblen Gutturallaut: „Aaaarrrgh!“
Wir lachen.
„Weil er irgendwie so hilflos geguckt hatte, hat ihm Struppie schließlich die Erlaubnis dazu erteilt“, meine ich und schaue leicht böse in dessen Richtung.
„Ich bin eben ein Grundguter.“
Das bringt ihm einen dicken Schmatzer von Tim ein. – Und mir einen von Jonathan. Oha.
„Ich bin einmal vor Weihnachten nach Hause gekommen und habe fast Augenkrebs bekommen. Der hat einen riesigen Baum da vors Fenster gestellt und den mit grellbuntem Glitzerkram behängt.“
„Das Viech stand noch zwei Wochen nach Weihnachten da. Luigi meinte, bei ihm zu Hause würde der Weihnachtsbaum erst kurz vor Ostern abdekoriert und entfernt. Noch nie was von Knut gehört? Habe ich ihn angeblafft und aufgefordert, das Teil umgehend zu entsorgen.“
„Luigi hatte dann mehrere Tage keinen Bock, diesen Tuckenbaum hinaus zu befördern.“
„Ich weiß noch, dass ich mit der Küche dran war. Da sagt der Typo doch zu mir, ich solle drum herumputzen. Und das, obwohl das Viech schon reichlich abgenadelt hatte“, echauffiere ich mich.
„Jaja, du hast ihn voll angenölt, er hätte wohl nicht mehr alle Nadeln an der Tanne.“
„Schließlich hat er sich dann doch erbarmt, den Baum aus der Wohnung zu schaffen“, erzählt Tim. „Allerdings hat er ihn so völlig ohne was darunterzulegen, durch die Diele geschleift. Dabei hat er dann den Rest seiner Nadeln verloren. Und was sagt dieser Klappspaten, als ich ihn aufforderte, gleich mit dem Staubsauger hinterherzugehen? Ich bin diese Woche nicht dran mit der Diele. Da habe ich soooo einen Hals gekriegt.“ Überschwänglich zeigt Tim mit beiden ausgestreckten Armen, wie breit sein Hals angeblich wurde.
„Dieser Idiot ist echt ein egozentrisches Arschloch“, meine ich. „Ich weiß noch wie ich den ganzen Morgen damit verbracht hatte, das Bad zu schrubben. Es muss noch nach dem Reinigungsmittel gerochen haben, mit dem ich das Klo desinfiziert hatte, da tauchte fröhlich grinsend Luigi auf: Buon giorno, ihr süßen Zuckerschnecken! Und verschwand im Bad.“
Ich räuspere mich und gieße mir noch Kaffee ein. „Da hörte ich es schon: nach einer längeren Sitzung auf dem Eimer, hatte der doch tatsächlich angefangen, sich zu rasieren. So lange, wie das gedauert hatte, nicht nur seinen Dreitagebart, sondern von oben bis unten, hinten und vorne. Danach sah das Bad echt aus, als wäre in ihm ein Igel explodiert! Ich war stinksauer.“
„Und er? Was hat er dazu gesagt?“
„Ich kann doch nichts dafür, dass ich so viele Haare habe“, äffe ich näselnd seine Stimmlage nach.
„Warum schmeißt ihr den Typen nicht einfach raus?“
„Haben wir schon. Er hat noch zwei Wochen Zeit“, sagt Struppie.
„Es sieht allerdings nicht so aus, als hätte er schon irgendwas in Aussicht. Er hat noch nichts gepackt“, warne ich.
„Schade, dass die Fledermaus ausgezogen ist. Der ist mit so einem Emokid in eine Kellerwohnung gezogen. Wir waren ihm wohl nicht gruftig genug in der ersten Etage“, seufzt Tim.
So langsam haben wir uns satt gegessen, zwei Flaschen Sekt geleert und drei Kannen Kaffee, als Struppie meint, er würde gern jetzt rausgehen und ein bisschen spazieren.
Ich blicke zu Jonathan und er zu mir. Wir lächeln uns an und schütteln die Köpfe.
„Wir bleiben hier. Draußen ist kein schönes Wetter.“
„Okay, dann lasst uns noch schnell zusammenräumen“, lächelt Tim mich wissend an.
Tim und Struppie ziehen sich Jacken und Schuhe an und verlassen die Wohnung.
„Ich habe da noch etwas“, flüstere ich Jonathan ins Ohr und hole die dritte Flasche Sekt aus dem Kühlschrank. „Wie wär’s?“
„Willst du mich gefügig machen?“
„Ein Versuch ist es doch wohl wert, oder?“
„Weil du es bist und weil ich dich aus irgendeinem Grund noch immer gut leiden kann.“
Ich klapse ihm auf den Hintern und schiebe ihn in mein Zimmer. Er geht zielstrebig auf mein Bett zu und lässt sich hineinfallen.
Er schnüffelt herum: „Es riecht wie früher in deinem Zimmer.“
„Was meinst du damit? Ich habe gelüftet.“
„Das was ich gesagt habe. Nicht mehr und nicht weniger.“ Dabei klopft er mit der Hand neben sich auf die Bettdecke. „Setz dich zu mir.“
Ich lasse mich neben ihn fallen. Dabei geht die Sektflasche auf. Ein ordentlicher Schuss Schaum sprudelt heraus auf den Fußboden.
„Oh“, säuselt Jonathan, „Was willst du mir jetzt damit sagen?“
Ich kann es einfach nicht verhindern: Blut steigt mir ins Gesicht. Ich werde wohl rot wie eine Tomate.
„Du bist immer noch so süß, wenn du rot wirst, Felix.“
Wir küssen uns. Nur ungern unterbrechen wir unseren Zungenlimbo, aber ich muss die Flasche irgendwie aufrecht abstellen.
„Sag mal“, fragt Jonathan, „Was ist der Typ eigentlich für ein Sternzeichen?“
Ich zucke die Schultern: „Hm, Hummer?“
Wir kichern.
„Erinnerst du dich noch an die Zwei-Meter-Tunte am Eingang von dieser Schwulendisse, als wir das erste Mal dahin gegangen sind?“
„Ja, ja, ja“, freue ich mich, „Körperhaltung und Gang stimmen: jeder Schritt ein Walzer.“
Jonathan lacht.
„Das passt: Sternzeichen Hummer, aber leider Aszendent Scheißhausfliege.“
„Der Typ scheint ein egoistisches Muttersöhnchen zu sein.“
„Hast du seine Piercings gesehen unter der Lippe und im Nasenflügel?“ frage ich Jonathan.
„Ja, ich war so froh, meine Pickel endlich losgeworden zu sein. Und der steckt sich Metallpickel ins Gesicht.“
„Du hattest doch kaum welche.“
„Jeder einzelne war mir zu viel.“
Natürlich belassen wir es an diesem Abend nicht nur bei Küssen und Sekttrinken. Auch die Schokolade, die noch immer vor meinem Bett gelegen hat, teilen wir uns auf.
Irgendwann will mein Gast allerdings nicht nur Schokolade von mir in den Mund geschoben bekommen, und so ziehen wir uns gegenseitig die Klamotten aus und verstreuen Sie in meinem Zimmer.
Diesen Mann zu küssen, seine weiche Haut zu streicheln und seine leichte Brust- und Bauchbehaarung zu befühlen, ist das Beste, was man sich an einem solchen Ostermontag vorstellen kann. Seine Hände an allen meinen Körperstellen, seine Zunge erst recht.
Wir versinken in unserer Lust. Unsere Erregung steigt ins Unermessliche.
Irgendwann meint Jonathan ganz außer Atem: „Du bist wohl reichlich untervögelt?“
„Wie kommst du darauf?“
„Den Blick kenne ich noch.“
Eh er noch mehr sagen kann, verschließe ich seiner zuckersüßen Mund mit meinen Lippen und schicke meine Finger wieder überall auf seiner Haut auf Wanderschaft.
Nach zwei Orgasmen trinken wir erstmal den fast schon schalgewordenen Sekt. Er artig aus seinem Glas, ich ungehemmt aus seinem Bauchnabel.
Dann erzähle ich ihm von meiner Affäre mit Paul. Dass ich ihn im Fitness-Studio getroffen hatte, wir dann hier den teuflischgeilsten Sex hatten und sich dann auf der Weihnachtsfeier herausstellte, dass seine Mutter einen meiner Onkel geheiratet hatte und wir somit Cousins sind.
„Du hast deinen Cousin gefickt? Krass“, staunt Jonathan.
„Nicht nur einmal. Unsere Beziehung ist in der Familie überhaupt nicht gut angekommen.“
„Das kann ich mir vorstellen. Zwei schwule Cousins im zeugungsfähigen Alter.“
„Das Problem war eher dieses Getratsche und Denken. Diese blöde Mischpoke verwechselt ständig Sodomie und Inzucht mit Sex unter Cousins.“
„Das kann ich mir denken bei deiner Sippschaft. Was haben deine Eltern gesagt?“, will Jonathan wissen.
Ich rolle mit den Augen. Jonathan winkt ab.
In dem Moment klingelt mein Handy: meine Mutter. Ich drehe mich zu Jonathan und wir wälzen uns noch ein bisschen durch mein Bettzeug.
Alte Liebe rostet nicht
Mein Wecker klingelt am Dienstag nach Ostern viel zu früh. Neben mir liegt Jonathan und schläft. Er riecht nach einer wilden Nacht und süßen Träumen. Vorsichtig küsse ich seine Stirn und schäle mich unter der gemeinsamen Bettdecke hervor. Ich ziehe mir Jonathans Boxershorts an – die liegen hier gerade so schön greifbar rum – und mein T-Shirt. Dann gehe ich in die Küche, werfe die Kaffeemaschine an und schiebe Weißbrotscheiben in den Toaster.
Ich drapiere zwei Teller und Marmelade auf einem Tablett. Mist, wieder mal ist keine Butter da. So improvisiere ich mit Frühlingsquark, den Luigi glücklicherweise noch nicht für sich entdeckt hat.
Der Toaster wirft das Brot aus und die Kaffeemaschine rülpst. Schnell noch zwei Kaffeepötte aufs Tablett, die Milchtüte und einen Schokoladenweihnachtsmann aus dem Kühlschrank. So bewaffnet betrete ich mein Zimmer und stelle das Tablett neben Jonathan aufs Bett.
Er räkelt sich und öffnet erst ein Auge, dann das andere. Vorsichtig krabbele ich zu ihm ins Bett, bedacht, das Frühstück nicht umzuwerfen. Ein inniger Kuss und ein liebes Lächeln begründen unseren neuen Tag.
„Guten Morgen, Engelchen“, haucht er.
„Guten Morgen, Teufelchen“, erwidere ich. „Schau, was ich uns beschert habe!“
„Hm, Frühstück. Duftender Kaffee, leicht verkohltes Weißbrot, Süßkram, was ist das?“
Er schweigt grinsend und greift nach dem Schokoladenweihnachtsmann. „Ist der noch übrig? Oder gab’s den etwa billiger?“
„Doowie. Das ist ein Schokohase im falschen Kostüm. Die haben einfach vergessen, ihn neu zu verpacken. Schnell, mach ihn nackig. Den vernaschen wir zuerst!“, lache ich, entreiße ihm den Schokomann und zupfe ihm die Alukleider vom Leib. Dann stecke ich ihn mir lasziv halb in den Mund und nähere mich Jonathans Kussmund. Der schnappt zu und beißt ein Drittel des Nikolauses ab.
„Wir müssen ein wenig eilen. Wir haben noch einen Termin“, mahnt er und schmiert sich Quark und Erdbeermarmelade auf eine Brotscheibe.
Nach dem Frühstück frönen wir einer gemeinsamen kurzen Morgenwaschung unter der Dusche. Wie gesagt, wir haben wenig Zeit für Zärtlichkeiten. Wir sparen nur Wasser. Dann ziehen wir uns flugs an und verlassen das Haus.
Pünktlich um neun erwartet uns Herr Schlüter im Eingangsbereich des Seniorenheims. Jonathan zwängt sich auf den Rücksitz, Herr Schlüter nimmt auf dem Beifahrersitz Platz. Auf der Fahrt zu Herrn Doktor Mommsen ist er spürbar unruhig.
„Ich habe gar nichts frühstücken können, so aufgeregt bin ich. Stattdessen war ich andauernd auf der Toilette. Wie wird er wohl heute aussehen? Was werden wir uns zu erzählen haben? Ist mein Hemd in Ordnung? Habe ich auch beim Rasieren keine Stelle vergessen? Das passiert mir nämlich sehr gerne.“
So geht es die ganze Zeit. Ich lächle Jonathan durch den Rückspiegel an.
In der Seniorenresidenz angekommen, werden wir von Bernhard Geisberg empfangen, der uns persönlich mit dem Aufzug nach oben fährt und bis vor die Tür mit der Nummer 27 bringt.
Friedrich Schlüter drückt zaghaft auf den Klingelknopf und stellt sich direkt vor die Tür. Wir drei anderen halten uns im Hintergrund.
Die Tür wird aufgeschlossen. Doktor Mommsen und Friedrich Schlüter stehen sich gefühlte Minuten gegenüber und schauen sich stumm in die Augen.
Dann flüstert Hans-Werner Mommsen: „Fritz. Mein Fritz. Bist du es wirklich?“
Mit einem gehauchten „Ja“ von Herrn Schlüter fallen sich die beiden alten Männer in die Arme und klopfen sich gegenseitig auf die Schultern. Schließlich küssen sie sich zaghaft.
„Das ist die beste Osterüberraschung die ich jemals hatte“, bringt Herr Doktor Mommsen hervor.
„Es ist wie das Finden eines alten Ostereis, das man vor Jahrzehnten vor mir versteckt hat.“
Jonathan und ich stehen neben der Tür. Bernhard Geisberg kann seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Jonathan reicht ihm seine Packung Papiertaschentücher.
Da die beiden Männer keine Notiz von uns nehmen und in das Appartement taumeln, verabschieden wir uns von Herrn Geisberg.
Unten im Auto greift Jonathan nach meiner Hand: „Du Felix, das war so schön eben. Wollen wir es auch noch mal miteinander versuchen?“
„Nur, wenn du mir verzeihst.“
Jonathan überlegt angestrengt und nickt.
Ich lächele ihn an und wir schenken uns den längsten, den innigsten, den süßesten Zungenkuss unseres bisherigen Lebens.
Nachwort
Die Zeit ist sehr langsam für die Wartenden, sehr schnell für die Ängstlichen, sehr lang für die Jammernden, sehr kurz für die Feiernden. Aber für die Liebenden ist die Zeit unendlich.
(Wilhelm Shakespeare)
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