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Nicht dein Zug

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Diese Story ist eine von sechs Stories, die im Rahmen des ersten Nickstories-Workshops 2017 in Neuss entstanden sind.

Als Vorgabe dient ein Zeitungsartikel über einen Schüler, der einem anderen Jungen mit Hilfe von WhatsApp das Leben rettet. Auf Grundlage dieser realen Geschichte haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, mit unserer Phantasie daraus eine Erzählung zu schreiben.

Die Teilnehmer des Workshops haben im Rahmen einer kleinen Challenge ihre Lieblingsstory gewählt. Das Ergebnis wird hier nicht verraten. Lest selbst die Geschichten und macht euch eure eigenen Gedanken. Wir Workshop-Autoren freuen uns auf Feedbacks und eine rege Diskussion im Nickstories-Forum.

Viel Spaß beim Lesen.

Vorwort der Redaktion

Liebe Leser,

die folgende Geschichte befasst sich unter anderem mit der Thematik Suizid. Dies ist ein sensibles Thema, das Nickstories.de nicht unkommentiert lassen kann und will. Deshalb haben wir uns entschieden diese Geschichten generell mit einem Vorwort zu versehen.

Für uns ist dieses Thema in Stories kein Tabu, aber wir wollen deutlich machen, dass Selbstmord mit Sicherheit kein Weg ist, um ein Problem zu lösen. Jeder, der sich in einer scheinbar aussichtslosen Lage befindet, sollte wissen, dass er Hilfe finden kann.

Wenn du jemanden kennst, der über diesen Schritt nachdenkt oder ihn geäußert hat, solltest du das nicht auf die leichte Schulter nehmen und versuchen mit dieser Person zu reden. Erst dann wird deutlich, wie ernst die Lage wirklich ist.

Wenn du über Selbstmord nachdenkst, bitten wir dich, Kontakt mit einer Hilfseinrichtung aufzunehmen, bevor du etwas tust, das für deine Freunde und deine Familie ein unwiederbringlicher Verlust sein wird.

Informationen und Notrufnummern findest du z.B. unter: www.telefonseelsorge.de

1

Jan nimmt sich noch eine Scheibe Toastbrot und bestreicht sie mit etwas Butter und selbstgekochter Erdbeermarmelade.

"Du hast aber heute einen besonderen Appetit", lächelt ihn seine Mutter an.

"Ich will gleich los zum Tag der offenen Tür auf dem Straßenbahnhof in Niederschönhausen. Die wollen da heute die ganz alten Triebwagen zeigen. Da muss ich doch satt sein."

"Das Wetter ist ja heute auch ganz passabel. Du musst halt nur deine Jacke anziehen und die wärmeren Schuhe", mahnt sie.

"Ja, Mami. Und ich will gleich mein neues Smartphone ausprobieren, wie toll es Fotos macht", freut er sich.

"Ach Junge, du und dein Spleen. Sei bitte vorsichtig, dass es nicht kaputtgeht."

"Klaro. Ich bin so glücklich, dass du es mir zum Geburtstag geschenkt hast."

"Naja, ohne das Geld von Opa hätte ich es nicht bezahlen können. Du brauchtest ja schließlich auch wieder neue Unterwäsche, eine neue Jacke und den neuen Pullover, so schnell wie du wieder wächst. Wo willst du nur noch hin?"

"Ich kann ja nichts dafür. - Trotzdem bin ich immer noch der Kleinste in unserem Jahrgang."

"Nimm dir noch einen Toast, mein Lieber. - Willst du dir noch was mitnehmen für unterwegs?"

"Nein, ich bleibe ja nicht lange."

Er hilft seiner Mutter noch, den Tisch abzudecken, danach zieht er sich seine neue Jacke an und verabschiedet sich von ihr. Für einen Sommertag ist es heute recht kühl. Jan fischt sein Fahrrad aus dem Unterstand hervor und bricht auf.

An der Ausfahrt der Hochhaussiedlung stellen sich ihm drei Jungs aus seiner Schule in den Weg. Er kommt vor ihnen zum Stehen.

Kazim, einer der drei, raunzt ihn an: "Na, wen haben wir denn da?"

Erik, der Zweite, wirft ein: "Wenn das nicht unsere süße kleine Schwuchtel ist."

"Was wollt ihr schon wieder von mir? Lasst mich einfach vorbei!", entgegnet Jan ängstlich.

"Wir sind aber heute gar nicht freundlich", spielt Kazim Verärgerung.

"Das meine ich aber auch", meldet sich Piet, der Dritte zu Wort.

"Ich habe euch nichts getan, lasst mich bitte jetzt durch", fleht Jan.

"Und? Was gibst du uns dafür, dass wir dich durchlassen?"

"Ich habe nichts."

Erik dreht sich zu den anderen: "Der lügt doch. Schauen wir uns doch mal seine Jacke an!"

Sie reißen ihn vom Fahrrad, wobei er strauchelt. Im Fallen ziehen sie ihm seine Jacke von den Schultern. Jan rutscht dabei seine Brille von der Nase. Während er auf dem Betonweg aufschlägt, bemerkt er ein Knirschen in seiner Hosentasche: Sein neues Handy!

Kazim greift in die Jackentasche und holt Jans Portemonnaie hervor, öffnet es und nimmt drei Zehn-Euro-Scheine heraus. Die Münzen wirft er zusammen mit der Börse auf den Boden.

"Das ist mein ganzes Taschengeld. Das dürft ihr nicht klauen!"

Piet beugt sich zu ihm herunter und schlägt ihm mit der Hand ins Gesicht: "Halt's Maul! Das ist Wegegeld. Ein Zehner für jeden von uns. Den Rest kannst du behalten."

Kazim befühlt weiter Jans Jacke: "Mal sehen, was er noch in seinen Taschen hat."

"Der hat doch bestimmt ein Handy", wirft Erik ein, "Ey, Schwuchtel: Wo ist dein Handy?"

Jan schweigt. Tränen laufen seine Wangen hinunter.

"Jetzt heult sie auch noch. Steh auf! Sofort!"

Mühsam steht Jan auf. Piet greift ihm von außen an die Hosentasche, fasst hinein und zieht das neue Smartphone heraus.

Jan schreit: "Das könnt ihr nicht machen! Das ist meins!"

"Natürlich ist es deins. Und es ist kaputt", lacht Piet und wirft es ins Gebüsch.

"Neiiiin!"

"Hey, was ist da los?", erschallt von weitem Schmitties kräftige Stimme.

"Scheiße, der Blockwart", ruft Kazim aus, "Wenn der mich hier sieht, verkacke ich meine Bewährung. Der meldet das doch dem Hippie vom Jugendamt. Lasst uns abhauen!"

Sie lassen Jan zurück, der auf allen Vieren erst seine Brille sucht, sie aufsetzt und dann sein Geld zusammensammelt.

Schmittie nähert sich: "Mensch Junge. Was ist denn nun schon wieder los? Was machst du hier?"

"Es ist nichts. Ich habe mein Handy hier irgendwo im Gebüsch verloren", antwortet Jan.

"Du sollst nicht ins Gebüsch, das weißt du ganz genau."

"Aber da ist mein Handy drinnen, mein neues."

"Nix da. Mach, dass du weiter kommst! Hier wird nicht rumgespielt!"

Jan rafft sich auf, zieht seine Jacke an, schnappt sich sein Fahrrad und will gerade aufsteigen.

Da bellt Schmittie ihn an: "Schieben! Hier in der Anlage wird nicht herumgefahren."

Kopfschüttelnd entfernt sich der Hausmeister. Jan wartet, bis der außer Sichtweite ist. Dann kniet er sich vor das Gebüsch, entdeckt sein Handy und angelt es vorsichtig heraus.

Jan wischt den Dreck ab und betrachtet das Gerät. Das Display hat einen Sprung. Aus Angst hat er es absichtlich in die Hosentasche gesteckt. Nicht das erste Mal haben sie ihm seine Sachen aus der Jacke geklaut: Zwei Handys, mehrere hundert Euro von seinem Taschengeld und einmal sogar seinen Wohnungsschlüssel haben sie schon erbeutet.

Jan steht da und blickt fassungslos auf das keine drei Wochen alte Telefon.

Er weint vor sich hin: "Wie soll ich das Mama erklären? Wir können uns kein Neues leisten. Hoffentlich geht die Kamera noch."

Ein Test ergibt, sie funktioniert. Auch alles andere scheint noch zu gehen.

Jan öffnet Whatsapp. Ein Eintrag in seiner Lieblingsgruppe "Crazy Öffis" wird gerade eingestellt: "Ich war heute im Straßenbahndepot. Leutz, es lohnt total. Die haben da die ganzen alten Wagen zu stehen." Drei Fotos unterlegen den Beitrag.

Eben noch wäre er am liebsten wieder hoch gegangen, hätte sich in seinem Zimmer verkrochen und leise vor sich hin geweint. Warum sind sie so zu ihm? Er ist doch kein böser Mensch, tut niemandem etwas an, ist sowieso lieber mit sich allein, mit sich und seinem Hobby. Warum vergreifen sie sich immer an ihm, dem Schwächsten?

Die Whatsapp-Nachricht lässt ihn sein Fahrrad nehmen und losfahren. So beschissen, wie der Tag für ihn begonnen hat, so schön will er ihn sich machen. All die alten Straßenbahnen zu bewundern, vielleicht wie im letzten Jahr eine Runde im Führerstand drehen zu dürfen - das würde ihn ein wenig aufmuntern.

Jan behält recht: Er entdeckt Wagen, die noch nie zuvor ausgestellt worden sind, macht Fotos und postet sie voller Stolz in seiner Whatsapp-Gruppe und auf Instagram.

2

Holger Kaiser und ich sind Freunde seit der Grundschulzeit.

Wir wohnten in derselben Straße in unserem Vorort und waren immer unzertrennlich. Wir spielten zusammen Fußball. Darin waren wir unschlagbar. Jede Mannschaft, die uns beide in ihrer Mitte wusste, brauchte nicht um den Sieg zu fürchten. Standen wir uns allerdings in unterschiedlichen Mannschaften gegenüber, waren wir unerbittliche Feinde. Mit dem Ergebnis, dass solche Partien ausnahmslos unentschieden endeten. Kaum waren die Schlusspfiffe verklungen, wurden wir wieder die Unzertrennlichen.

Wir waren fast immer hinter denselben Mädchen her. Dass wir während unserer gesamten Schulzeit nie feste Beziehungen hatten, lag in dem Umstand, dass sich die Mädchen nicht entscheiden mochten und wir uns eher um sie prügelten, als dem anderen den Vortritt zu gönnen. Erst wenn das umkämpfte Mädchen die Nase voll hatte von unseren Kindereien und uns beide abblitzen ließ, war wieder alles gut zwischen uns.

Erst nach dem Abitur trennten sich für einige Zeit unsere Wege. Holger bekam einen Studienplatz in einer anderen Stadt und ich wurde zum Wehrdienst eingezogen. Danach absolvierte ich ein Studium an der Polizeiakademie und schlug die gehobene Beamtenlaufbahn ein.

Zwischendurch trafen Holger und ich uns unregelmäßig. Jedes unserer Treffen war so, als ob wir nie getrennt gewesen waren.

Holger heiratete irgendwann seine Sybille und kaufte ein Haus in unserer alten Straße in unserem Vorort. Kurz darauf starben meine Eltern und ich zog mit meiner damaligen Freundin Christiane in mein Elternhaus.

Die Unzertrennlichen sind seitdem wieder zusammen.

Holger und Sybille wurden kurze Zeit später stolze Eltern eines gesunden Kindes.

Florian ist immer schon ein aufgeweckter Junge gewesen. Er lernte schnell, konnte früher gehen als andere in seinem Alter, lernte früher sprechen. Schnell wurde deutlich: Er war anders. Seine Andersartigkeit beruhte auf einer stark ausgeprägten Beobachtungsgabe und Sensibilität. Florian spürte Dinge, die anderen, auch seinen Eltern, verborgen blieben.

Florian konnte sich stundenlang mit sich selbst beschäftigen: Er zeichnete gern und viel, keine Personen, keine Tiere, nur Autobusse, U-Bahnen und S-Bahnen. Mit großem Vergnügen entwarf er Liniennetze fiktiver Städte. Oft wurde er dafür ausgelacht, wenn seine Mitschüler von seinen Vorlieben erfuhren. Er hatte kaum Freunde, lud nie andere Kinder zu sich nach Hause ein.

Seine Eltern machten sich anfangs Sorgen. Aufgrund seiner außerordentlich guten schulischen Leistungen traten ihre Bedenken immer wieder in den Hintergrund.

Zu Holger Kaisers großem Bedauern hatte Florian überhaupt keinen Spaß am Fußballspielen. Sibylle beruhigte ihn immer mit den guten Schulnoten ihres Sohnes und dass er ansonsten ein aufgeweckter und gesunder Junge war, der seinen eigenen Interessen mit großem Eifer nachging.

Als enger Freund der Familie bin ich so etwas wie ein Onkelersatz für Florian geworden. Besonders mochte er es, wenn ich jedes Jahr als Weihnachtsmann verkleidet zu den Kaisers kam und ihm nach bravem Aufsagen eines Gedichtes die Geschenke überreichte. Viel später hatte er mir verraten, dass er schon längst nicht mehr an den Weihnachtsmann glaubte, sondern ganz genau wusste, dass ich ihn nur mimte. Dennoch hatte er sich nichts anmerken lassen, weil ihm das jährliche Ritual so viel Spaß machte.

Er sah in mir mehr als einen Ersatzonkel. Ich wurde für ihn zu einem väterlichen Freund. Mit mir besprach Florian Dinge, die er mit seinen Eltern nicht besprechen konnte oder wollte. Das tat er nicht, weil er seinen Eltern nicht vertraute, sondern vielmehr, weil die durch ihre Tätigkeit als Ärzte in einem großen Krankenhaus offenbar seltener für ihn Zeit fanden als ich.

Florian entwickelte sein Hobby weiter. Er fing an, alle U- und S-Bahnstrecken Hamburgs abzufahren und akribisch zu fotografieren. Er sammelte darüber hinaus sämtliche erdenklichen Information über Fahrzeuge, Streckenabschnitte und Bahnhöfe des Hamburger Nahverkehrs. Darin wurde er zu einer wandelnden Enzyklopädie.

Ich hatte stets ein offenes Ohr für seine Sorgen und Nöte. Und davon hatte er reichlich durch seine Andersartigkeit. So kam es auch, dass er eines schönen Tages bei mir auftauchte und mir ein Geständnis machte.

"Axel?", fing er zögerlich an.

"Ja, Großer, was gibt's?"

"Ich glaube …" Er unterbrach sich selbst.

"Was glaubst du?", hakte ich nach.

"Es ist nicht einfach." Er blickte neben sich auf den Boden.

"Egal, was es ist. Du weißt, mit mir kannst du über alles reden. Hast du was angestellt?"

"Nein, es ist …"

Ich ließ ihn seine Gedanken ordnen. Nach ein paar Augenblicken wurde sein Gesichtsausdruck ernster. Was ging vor in dem Knaben? So forderte ich ihn heraus: "Ich kann dir nicht helfen, wenn du es mir nicht sagst. So wie ich dir vertraue, kannst du auch mir vertrauen. Worum geht's? Hast du Drogen genommen? Beim Sex das Kondom vergessen? Dich in einen Jungen verliebt?"

Blieben seine Gesichtszüge lange versteinert, so riss er beim letzten Satz die Augen auf und schaute mich an. Er schwieg weiter.

"Nun sag schon! Wir entscheiden dann danach, ob wir deine Eltern einweihen oder es für uns behalten."

"Woher weißt du das? Sieht man es mir an?", wollte er erstaunt wissen.

Ich ließ ihn ein wenig zappeln. "Wir kennen uns schon lange genug, dass ich dich einschätzen kann. Ich kenne dich fast seit deiner Geburt. Mir machst du nichts vor." Und das stimmte auch. Was immer er mir erzählte, ich wusste genau, wann er log und wann er die Wahrheit sagte. Auch jetzt hatte ich eine gewisse Ahnung von dem, was er mir beichten wollte.

"Okay, wenn du es eh schon weißt: Ich glaube ich bin schwul."

"Erzähl! Wie kommst du darauf?"

"Nunja, ich finde Mädchen ganz nett und die meisten mich wohl auch. Nur fühle ich irgendwie nichts Besonderes, wenn ich mit einer mal zusammen was unternehme. Jessica hat mich dann neulich mal gefragt, was ich so von ihr halten würde. Und da habe ich ihr gesagt, dass ich sie sehr nett finde und gerne mit ihr quatsche und neulich als wir zusammen Klamotten kaufen waren - das hatte mir auch gefallen. Da sagte sie, sie glaube, ich sei irgendwie anders. Sie meinte, ich würde mehr auf Jungs stehen. Immerhin würde ich eher Jungs als Mädchen hinterhergucken."

"Und? Hat sie recht? Schaust du gerne Jungs hinterher?"

Florian schwieg und schaute wieder auf den Boden.

"Es ist nichts dabei. Ich habe ein paar schwule Kollegen. Das ist nichts Besonderes."

"Ja, schon ...", kam schüchtern von ihm.

"Hast du denn schon einen Freund?"

"Nein. Aber ich hätte gern einen. Zumindest jemanden, mit dem ich darüber reden kann, einen, der genauso fühlt wie ich."

"Wissen es deine Eltern?"

Er schüttelte den Kopf.

"Willst du es ihnen sagen? Ich glaube, sie würden es verstehen."

"Ich denke auch. Aber wir haben noch nie über so was gesprochen."

"Du musst selbst entscheiden, ob und wann du es ihnen sagst. Wenn du Hilfe brauchst, weißt du ja, wo du mich findest."

Florian sprang auf und umarmte mich.

Es dauerte nicht lange, dann hatte er es seinen Eltern gesagt. Erwartungsgemäß hatten sie keine Probleme damit. Sybille zeigte sich ein wenig enttäuscht, dass er ihr es nicht schon längst gesagt hatte, weil sie annahm, Florian vertraute ihr nicht. Mir gelang es, ihr zu erklären, dass es nichts mit mangelndem Vertrauen zu tun hatte, sondern eher damit, dass Florian erst einmal sich selbst klar werden musste, bevor er mit irgendwem darüber sprach.

Florian begann, seine Mitmenschen zu beobachten. Wer waren seine Freunde? Wem könnte er sein kleines Geheimnis anvertrauen? Wer sollte es wissen? Er sprach viel mit mir darüber. Über die nächsten Wochen und Monate wurde er offener für Kontakte mit seinen Mitschülern. Er gewann plötzlich Freunde.

Schnell merkte er, dass er nicht alleine war mit seinen Gefühlen. Da waren noch andere, die ähnlich wie er mit sich kämpften. Mit einem Vertrauenslehrer baute er eine kleine Gruppe auf von Mitschülerinnen und Mitschülern, die sich als Anlaufstelle für Schwule und Lesben aber auch für ganz andere Problemfälle verstanden.

Sein Hobby, den öffentlichen Nahverkehr drängte er nur geringfügig in den Hintergrund.

3

Florian hat begonnen, seine Fotos von S- und U-Bahnen auf Instagram zu posten. Neugierig, wie er ist, hat er nach ähnlichen Profilen auf Instagram Ausschau gehalten und dabei Jans Fotos gefunden. Der scheint dasselbe Vergnügen an Bahnen des öffentlichen Nahverkehrs zu haben wie er. Florian abonniert ihn und kommentiert ein paar seiner Fotos. Jan hat wirklich tolle Fotos von S-, U- und Straßenbahnen aus Berlin eingestellt.

Irgendwann liest er einen Kommentar von Jan unter einem seiner U-Bahnfotos. So ist ein reger Austausch zwischen den beiden zustande gekommen. Sie stacheln sich förmlich an, immer neue Bilder zu posten, immer gespannt auf die Kommentare des anderen.

Nach zwei Wochen bekommt Florian eine Direktnachricht von Jan, der ihn fragt, ob er zu einer Whatsapp-Gruppe hinzugefügt werden möchte, um sich auch dort mit anderen über deren Bilder zu fachsimpeln. Sie tauschen ihre Handynummern aus und wenige Sekunden später erhält Florian die Nachricht, zu der Gruppe "Crazy Öffis" hinzugefügt worden zu sein.

Anfangs liest er nur mit, bis er feststellt, dass sich in dieser Gruppe ganz lustige und nette Leute tummeln. Irgendwann schreibt er auch. Hauptsächlich wird die Gruppe von Berlinern genutzt, die sich zu besonderen Anlässen austauschen und dann entsprechende Fotos teilen.

Irgendwann schreibt Florian Jan direkt über Whatsapp an. Er ist neugierig, was für ein Typ er wohl ist. Vom Schreiben her erscheint er ihm sehr sympathisch. Das gleiche Hobby und denselben Enthusiasmus haben sie auch. Während Florian ein Gesichtsfoto als Whatsapp-Bild und auch bei Instagram hat, erscheint Jans Gesicht nirgendwo. Er will wissen, wie dieser Jan wohl aussieht.

Jan antwortet, dass er sein Gesicht nicht gern in sozialen Medien zeigt.

"Warum denn nicht?", fragt Florian über Whatsapp.

"Ich habe Angst."

"Angst? Wovor?"

"Ich werde hier von einigen Idioten gemobbt."

"In der Gruppe?"

"Nein, aber in der Schule und überhaupt."

Florian schreibt ihm, dass Jan sich immer bei ihm melden könne, wenn er jemanden zum Reden brauche. Per Whatsapp oder auch direkt per Telefon. Jan schickt ihm schließlich ein Foto von sich.

"Hübsches Bild", schreibt Florian zurück, nachdem er das Gesicht mit den blonden Locken und der schicken Brille lange angestarrt hat.

Jan kommentiert das nicht weiter.


Ein paar Tage später liest Florian wieder in der Whatsapp-Gruppe mit.

Karlchen: "Ey Fans. Habe gehört, heute fahren die E-Züge auf der U5."

Till: "Was sind denn das für welche?"

Karlchen: "Das sind die aus der DDR. Die BVG hat die wieder aufgemöbelt."

Till: "Die? Nix wie hin!"

Paule: "Hallo. Wo kann man die denn am besten fotografieren?"

Flo: "Am besten zwischen Biesdorf-Süd und Hönow. Da fahren die draußen."

Till: "Lol, unser Hamburger kennt sich wieder am besten aus."

Flo: "Man muss den Newbies doch Tipps geben."

Jan: "Ich fahre mal nach Biesdorf-Süd und mache ein paar Fotos."

In diesem Moment bekommt er eine direkte Whatsapp-Nachricht von Jan: "Hallo Flo. Weißt du, wer Paule ist?"

Florian gibt ein: "Nein. Der ist heute erst hinzugefügt worden."

"Irgendwie kommt mir die Handynummer bekannt vor. Ich habe sie aber nicht bei mir gespeichert. Naja, ich mache mich gleich auf den Weg. Die Sonne scheint heute. Gutes Wetter für schöne Fotos."

"Ich bin gespannt. Sei aber vorsichtig."

"Du bist wie meine Mama *lol*"

"Frechling. Bis bald."

4

Jan beendet den Chat mit Florian. Er zieht sich Jacke und Schuhe an und geht zum Fahrradunterstand vor dem Wohnhaus. Dort stehen Kazim und Piet. Jan will schon umkehren, als die beiden ihn nur ansehen und sich dann entfernen.

Jans Herz bleibt stehen. Er wartet noch ein paar Sekunden, dann geht er zielstrebig zu seinem Rad, löst das Schloss und fährt los in Richtung Biesdorf.

Gut zwanzig Minuten später erreicht er den Bahnhof. Schon auf der Treppe strömt ihm eine Menschenmenge entgegen. Jan kämpft sich gegen den Fluss auf den Bahnsteig. Es sind gerade zwei Züge angekommen, weswegen die Bahnsteige überfüllt sind. Jan schlängelt sich zum anderen Ende durch.

Beide Züge fahren ab. Der Bahnsteig leert sich. Noch im Gehen nestelt Jan sein Handy hervor. Er will bereit stehen, wenn einer der alten Züge einfährt.

Kurz bevor er das Bahnsteigende erreicht, blickt er auf und direkt in Eriks Gesicht, der dort mit einem Kumpel auf ihn wartet. Bleich verharrt Jan in seiner Bewegung. Die beiden Kerle grinsen ihn an.

Augenblicklich dreht er sich um, schiebt sein Handy in die Hosentasche und läuft los. Jan will nur weg, nichts wie weg.

So rennt er geradewegs in Kazims Arme, der sich ihm zusammen mit Piet in den Weg stellt.

Kazim hält ihn fest und dreht ihm beide Arme auf den Rücken, während Piet ihm sein Handy aus der Hosentasche fischt.

"Jetzt wollen wir doch mal sehen, was die kleine Schwuchtel so für Bilder auf dem Phone hat", grinst Piet.

Jan ruft: "Das geht dich gar nichts an!"

Kazim drückt ihm beide Arme weiter nach oben, während Piet ihm eine schallende Ohrfeige verpasst. Dabei lässt er Jans Handy fallen. Zu allem Überfluss rutscht ihm noch die Brille von der Nase und kommt neben dem Telefon zu liegen.

Jan schwinden fast die Sinne. Er weiß nicht, welcher Schmerz der stärkste war: der an seinen Armen, der in seinem Gesicht oder der tief in seinem Inneren.

In der Zwischenzeit kommen Erik und sein Kumpel herbei. Erik bückt sich und hebt das Handy auf. Er öffnet die Galerie und wischt sich durch die Fotos.

"Hier schau mal: Straßenbahnen und nochmal Straßenbahnen. Zur Abwechslung mal ein paar S-Bahnen und seht mal hier: unser Kleiner als Straßenbahnschaffner."

"Lasst mich in Ruhe!", wimmert Jan.

"Halt die Fresse!", blafft ihn Erik an.

Jan spürt einen Faustschlag in seiner Magengrube und sackt zusammen. Nur Kazims festem Griff verdankt er es, nicht zu Boden zu gehen.

Einer der Vier raunt den anderen zu: "Kommt, lasst die Memme hier verrotten! Bei dem ist nichts zu holen."

Kazim lässt ihn los, worauf er auf die Knie fällt. Sein Magen dreht sich. Jan will sich übergeben. In dem Moment tritt ihm Eriks Kumpel mit voller Wucht in die Seite. Das Knirschen in seinem Innern war nicht das letzte, was er spürte. Ein weiterer Fußtritt trifft ihn am Kopf. Es wird schwarz um ihn.

5

Florian kramt nach der Englischstunde sein Handy hervor. Seit einigen Tagen hat er nichts mehr von Jan gelesen. Das ist nicht dessen Art. Er wollte neulich U-Bahnzüge fotografieren. Normalerweise hat er dann immer etwas auf Instagram und in der Whatsapp-Gruppe gepostet. Doch bisher ist nichts gekommen, kein Foto, kein Lebenszeichen.

Er kann seine Freude nicht verbergen, als er neben dem Whatsapp-Symbol eine Zwei stehen sieht. Zwei neue Nachrichten. Davon ist doch bestimmt eine von Jan. Hoffentlich.

Doch es ist nur ein witziges Meme von Alina und dann noch ein Hilferuf von Totti aus seiner Problemlösungstruppe.

Dem schreibt er schnell zurück, was es denn gebe. Kurz darauf ruft Totti an, der unbedingt wegen eines Neuntklässlers reden will, der mit ihm gerade in der Cafeteria sitzt. So macht sich Florian auf den Weg zu Totti und einem neuen Problemfall.

"Was gibt’s, Totti?", begrüßt er seinen Freund, als er die ruhige Gesprächsecke der Cafeteria erreicht.

"Hei, Flo. Super, dass du noch schnell herkommen konntest. Das ist Murat. Er ist in der 9c."

"Die Integrationsklasse?"

"Ja." Dann dreht er sich zu Murat um und fragt ihn: "Darf ich es ihm erzählen? Flo ist in Ordnung. Und wenn dir einer helfen kann, dann Flo. Er ist genauso wie du."

Murat zuckt schüchtern mit den Schultern.

"Hallo Murat. Was gibt es denn? Du kannst ganz offen mit uns reden. Wir sagen nichts weiter: keinem Lehrer, keinem anderen Schüler und auch deine Eltern erfahren nichts von uns. Außer du willst es", beruhigt ihn Florian.

Tief einatmend beginnt Murat zu erzählen. Vor ein paar Monaten habe er sich eingestanden, schwul zu sein. Seine Eltern seien zwar eigentlich ganz moderne Leute aber eben doch gläubige Muslime. Nun werde er von Schülern der Parallelklasse bedroht, dass sie sein Schwulsein öffentlich machen wollen. Woher sie das wüssten, könne Murat nicht sagen. Er habe mit noch niemandem darüber gesprochen und auch noch niemals etwas mit einem anderen Jungen gehabt, der ihn hätte verraten können.

Florian hört sich Murats Geschichte schweigend bis zum Ende an. Er legt einen Zehner auf den Tisch und bittet Totti, eine Runde Kaffee zu holen.

Dann erzählt er Murat sein Coming-Out. Sie diskutieren lebhaft.

Nach fast zwei Stunden fordert Florian Murat auf, sich sofort bei ihm zu melden, wenn er wieder bedroht werde oder er einfach nur mit jemandem reden brauche. Sie tauschen ihre Handynummern aus.

Während Florian Murats Nummer speichert, blinkt neben dem Whatsapp-Symbol eine Eins auf.

"So, Leute. Ich muss mich jetzt auf den Weg machen. Danke Totti, dass du mich angetextet hast. Murat, du weißt, wie du mich kriegen kannst."

Murat verabschiedet ihn: "Danke. Ich wusste echt nicht mehr weiter."

Sie schlagen ein und Florian geht etwas abseits und öffnet Whatsapp.

Hoffnungsfroh liest er Jans Nachricht: "Falls du mich vermisst, ich war in der Notaufnahme. Gruß Jan."

Sofort antwortet er: "Was war los? Wie geht es dir? Endlich meldest du dich!"

Es folgt keine Antwort. Florian schnappt sich sein Fahrrad und fährt nach Hause. Seine Eltern sind nicht da, so setzt er sich an den Küchentisch und öffnet Whatsapp wieder.

"Sie haben mich wieder verprügelt", hat Jan zwischenzeitlich geschickt.

"Wer?"

"Die Typen aus meiner Schule. Sie waren zu viert."

"Scheiße! Hast du sie angezeigt?"

"Ja, aber ich habe ihre Namen nicht genannt. Sie machen es sonst wieder."

"Du musst der Polizei die Namen nennen, sonst hört das nie auf!"

"Doch, es hört auf. Heute hört es auf."

"Was meinst du? Kann ich dich anrufen?"

Florian wählt schon Jans Nummer. Doch der nimmt das Gespräch nicht an.

"Jan! Lass uns telefonieren! Bitte!", schreibt er ihm.

"Es ist sinnlos. Du kannst mir nicht helfen. Es ist vorbei. Ich will das alles nicht mehr."

"Jan! Natürlich kann ich dir helfen! Ich will dir helfen! Rede mit mir!"

"Du willst einem Schwächling helfen, einer kleinen Schwuchtel? Ich will nicht mehr der Versager sein. Ich habe niemals jemandem was getan. Sie haben mir die Nase gebrochen und die Rippen geprellt. Ich habe keine Lust mehr auf Schmerzen."

"Du bist kein Versager. Was hast du vor?"

"Um 20:23 Uhr fährt der Schnellzug nach Warschau."

"Du willst abhauen? Nach Warschau?"

"Nein. Dann fährt er mit 120 km/h hier unter der Brücke durch. Dort wird er mich erwischen."

"Wie meinst du das? Welche Brücke?"

"Es war schön, mit dir zu chatten. Schade, dass du so weit weg wohnst. Ich hätte dich sehr gerne getroffen."

Und wieder wählt Florian Jans Nummer. Vergeblich, Jan nimmt nicht ab.

"Jan? Bist du noch da?"

Aus dem einen Häkchen im Display werden keine zwei. Jan hat sein Handy ausgeschaltet.

"Was mache ich jetzt?", fragt Florian laut in die leere Küche hinein. Dann kommt ihm ein Gedanke: "Axel. Ich muss sofort zu Axel."

Schon schnappt er sich seinen Pulli und läuft aus dem Haus, links die Straße hoch in Richtung meines Hauses.

6

Ich bin vom Dienst nach Hause gekommen und habe es mir gerade gemütlich gemacht, als es wild an meiner Haustür klingelt.

"Wer ist's der mir nach meinem Feierabend trachtet?", rufe ich und öffne die Tür.

Vor mir steht Florian ganz außer Atem.

"Axel, du musst mir helfen. Bitte! Jetzt! Sofort!", stammelt er sichtlich aufgeregt.

"Komm erstmal rein, Junge!"

Während er an mir vorbei ins Wohnzimmer stürmt, plappert er drauf los: "Ich habe dir doch von Jan erzählt. Dem Straßenbahnfreak aus Berlin. Der mit den süßen Augen und den blonden Locken."

"Was ist mit ihm?", unterbreche ich seinen Redefluss.

"Er ist wieder mal zusammengeschlagen worden. Und jetzt will er sich was antun! Er will sich umbringen!"

"Ohwee, erzähl!"

"Axel, zum Erzählen ist nicht viel Zeit. Der will sich vor einen Zug werfen. Der ist total verzweifelt. Ich muss ihm helfen! Du musst was machen!"

"Was kann ich denn machen?"

"Du bist Polizist. Du musst helfen!"

"Ich bin bei der Hamburger Polizei. In Berlin kann ich nichts machen. Der Kleine ist bestimmt nur ein bisschen verwirrt."

"Nein. Ist er nicht. Ganz bestimmt nicht. Er ist verzweifelt. Ich weiß das. Du musst ihm helfen! Du bist der einzige der ihm jetzt helfen kann."

"Was soll ich denn machen von hier aus? Wir wissen ja nicht einmal, wo dieser Jan jetzt ist."

"Du bist Polizist. Du musst in Berlin direkt anrufen und denen klarmachen, was los ist. Bitte! Der bringt sich um."

In der Tat: Ich kann es nicht zulassen. Florian muss sehr viel an diesem Jan liegen. So aufgewühlt und hysterisch habe ich ihn noch nie erlebt. Das ist mehr als nur eine Liebelei unter schwulen Teenagern, dachte ich mir. Da ist mehr. Zudem zeigt er mir einen Chatverlauf auf seinem Handy, der mich überzeugt, dass die Sache ernst ist. Zumindest von dem zu urteilen, was ich kurz überfliege.

"Wenn du jetzt nichts machst, rufe ich den Notruf an."

"Flo, ich habe eine Idee. Setz dich!"

Ich krame mein Handy hervor und suche nach einer Nummer, die ich schließlich finde und direkt anwähle.

Corinna Merfort habe ich auf der Polizeischule hier in Hamburg kennengelernt. Wir hatten eine kurze und heftige Affäre. Jedoch merkten wir schnell, dass es mit uns nicht funktionierte. Eine Beziehung, die nur aus Sex bestand, wollten wir beide nicht.

Nach der Ausbildung hat sie geheiratet und ist mit ihrem Mann nach Berlin gezogen, wo sie in den Polizeidienst aufgenommen wurde.

"Merfort", höre ich die ewig nicht vernommene Stimme an meinem Ohr.

"Hallo Cori. Ich bin's Axel aus Hamburg. Erinnerst du dich noch an mich?"

"Wie könnte ich dich vergessen, den geilsten Stecher der Akademie. Was führt dich in mein Ohr?"

"Hast du ein paar Minuten Zeit?"

"Na, klar. Ich bin zwar im Dienst, aber es ist ruhig hier heute. Wie geht’s deiner Christina? Seid ihr noch zusammen? Wirst du Vater? Komm schon, erzähl!"

"Ja, wir sind noch zusammen. Und nein, es ist kein Kind unterwegs. Du weißt doch, ich bin da nicht so der Typ für Familie. Christina arbeitet noch immer bei dieser Airline. Da ist sie andauernd unterwegs. Jetzt auch."

Corinna entgegnet etwas, das ich nicht verstehe. Mir gegenüber schaut mich Florian nervös an und erinnert mich unmissverständlich an den Grund meines Anrufes.

"Du Corinna, lass uns später noch weiter plauschen. Ich habe einen Spezialfall. - Es geht um einen Jungen, 16 Jahre alt."

"Was ist mit dem?"

"Der will sich gleich vor einen Schnellzug werfen."

"Der will was? Warum rufst du mich an? Wo ist das?"

"Deswegen rufe ich dich an. Er will in Berlin von einer Eisenbahnbrücke springen."

"Au weh! Von welcher? Wann?"

"Von welcher Brücke, wissen wir nicht genau. Wir wissen nur, dass der Junge sich den Fahrplan eines Schnellzuges nach Warschau herausgesucht hat. Um 20:23 Uhr will er springen."

"Okay, jetzt ist es 19 Uhr 34. Die Zeit ist denkbar knapp. Wir sind hier am Platz der Luftbrücke im Präsidium. Die Züge nach Warschau fahren auf der Ostbahn raus. Ich übernehme das selber."

"Cori, du bist die beste Frau der Welt. Darfst du das überhaupt? Willst du das nicht weitergeben?"

"Axelchen, erstens weiß ich das und zweitens sitze ich auf derselben Etage mit unserem Polizeipräsidenten. Er und mein Mann spielen regelmäßig Tennis zusammen. Außerdem bin ich blond und habe blaue Augen. Eh ich das an die Wache weitergereicht habe, ist der junge Mann tot. Lass mich nur machen! - Kannst du mir noch weitere Infos geben?"

"Der Junge heißt Jan, Nachname unbekannt. Er ist etwa 1,60m groß, sehr schlank. Hat ein Pflaster auf der Nase. Meistens ist er mit dem Fahrrad unterwegs."

"Er hat lockige blonde Haare und trägt eine Brille", ruft Florian dazwischen, "Sie müssen ihm helfen!"

"Hast du gehört?"

"Ja, blonde Locken und Brille. Sag wem auch immer, wir werden ihn retten. Dafür sind wir da."

"Das ist Florian, ein sehr guter Freund. Du wirst ihn sehr glücklich machen, glaube ich."

Wir beenden das Telefonat. Florian lässt sich in das Sofa fallen. Er umfasst seine Knie und fängt an, bitterlich zu weinen. Ich setze mich neben ihn und lege meinen Arm um seine Schultern.

"Großer, lass es raus. Es wird alles gut. Auf meine Corinna ist Verlass."

"Was, wenn sie ihn nicht findet? Es wird doch wohl viele Eisenbahnbrücken in Berlin geben. Was, wenn sie zu spät kommt?"

"Corinna kommt niemals zu spät. Glaub mir!"

In dem Moment klingelt mein Telefon. Ich nehme ab. Es ist Holger, der sich nach seinem Sohn erkundigt.

"Ja, er ist hier. Lass ihn bitte noch ein wenig hier bei mir. Er ist sehr aufgebracht und muss sich ein bisschen beruhigen."

"Was ist mit ihm? Als ich eben nach Hause gekommen bin, stand die Tür offen. So vergesslich ist er doch sonst nicht. Was ist mit ihm los? Wir wollen gleich essen."

"Ich glaube nicht, dass er jetzt was essen will. Komm am besten mal her, dann kann ich dir erklären, was los ist."

Als Holger und Sybille nach wenigen Minuten bei mir ankommen, sitzt Florian immer noch zusammengekauert wie ein Häufchen Elend auf dem Sofa und schluchzt.

Sybille setzt sich sofort neben ihren Sohn und drückt ihn an sich.

"Was ist denn mit dir los, mein Großer?"

"Er darf sich nicht umbringen. Dann haben die anderen gewonnen."

"Wer darf sich nicht umbringen? Was geht hier ab?"

Ich gebe ihr Florians Handy mit dem geöffneten Chat. Sie liest ihn und flüstert dem Jungen etwas ins Ohr, das ihn ein wenig beruhigt. Ich erzähle den beiden, was hier vorgefallen ist.

"Wir müssen sofort nach Berlin!", verlangt Florian und zieht die Nase hoch.

"Wie stellst du dir das vor? Was sollen wir jetzt in Berlin machen? Du weißt ja noch nicht einmal seine Adresse", gibt seine Mutter zu denken.

"Aber wir können doch nicht hierbleiben und nichts machen", schluchzt Florian.

Zu dritt gehen sie schließlich nach Hause.

7

Corinna legt ihr Handy zur Seite und greift zum Telefon auf ihrem Schreibtisch.

"Corinna Merfort hier. Ist Martin Meier heute noch im Dienst?"

"Moment", antwortet die Stimme am anderen Ende, "ja, ich stelle Sie durch."

"Danke."

"Meier."

"Hey Doppel-M, Spätdienst?"

"Eigentlich bin ich schon fast weg. Was gibt’s? Willst du mich mal wieder zu einem Tässchen Schnäpschen einladen?"

"Später, Martin. Jetzt brauche ich dringend deine Hilfe. Du kennst dich doch mit Eisenbahnen aus?"

"Klaro. Ich war lange Jahre als Bundespolizist bei der Bahn. Was kann ich tun?"

"Folgendes: Es ist ein Suizidplan gemeldet worden. Ich weiß nur, dass es um 20:23 Uhr passieren soll, von einer Brücke herunter. Und, dass es der Schnellzug nach Warschau ist. Ich muss wissen, an welcher Brücke er um 20:23 Uhr langfährt. Kannst du das herausfinden?"

"Klar Cori. Das finde ich heraus."

"Okay, ich fahr schon mal in die Richtung. Ich habe schon eine Streife in Alarmbereitschaft an der Bahnstrecke. Meld dich auf meinem Handy!"

"Okay. Fahr vorsichtig!"

Auflegen, Tasche greifen und Jacke anziehen ist eine Handlung. Schon läuft Corinna Merfort die Treppen hinunter in die Tiefgarage. Unten am Auto wartete eine Kollegin auf sie: "N'Abend Corinna. Ich habe den Einsatz schon gemeldet. Wir haben die Freigabe."

"Gut Klaudia. Fahr du, ich kann dann besser telefonieren. Lass uns keine Zeit verlieren und ein junges Menschenleben retten!"

"Dafür sind wir da."

Mit Blaulicht verlassen sie das Präsidium.

In Lichtenberg klingelt Corinnas Handy. Sie nimmt ab: "Doppel-M, was hast du herausgefunden?"

"Der Zug wird zur angegebenen Zeit unter der Kaulsdorfer Brücke durchfahren. Soll ich eine Streife hinschicken?"

"Ich habe 34-12 auf Alarm. Sie sollen sich bereithalten. Aber ohne Licht."

"Klaro. Einsatz im Dunkeln. Zugriff nur im Notfall."

8

Zielstrebig fährt Jan mit dem Fahrrad zur Brücke. Tief steht die Sonne am Horizont. Die Wärme des Tages verfliegt. Jan hat sich diese Brücke ausgesucht, weil sie durch eine Baustelle vom Autoverkehr abgeschnitten ist. Fußgänger nutzen sie selten. Hier will er sein Vorhaben in aller Ruhe in die Tat umsetzen. Niemand wird ihn hier stören. Er hat auch niemandem Bescheid gesagt. Den Brief, den er seiner Mutter geschrieben hat, wird sie erst lesen, wenn sie zum Feierabend nach Hause kommt. Dann ist alles erledigt. Dann ist er endlich frei.

Diesem Florian aus Hamburg hat er noch eine Nachricht geschickt. Dem einzigen Menschen außer seiner Mutter und seinen Großeltern, der ihm etwas bedeutet, der ihn versteht. Nur leider wohnt der so weit weg. Egal, heute Abend wird es vorbei sein.

An der Brücke angekommen, schließt Jan sein Fahrrad sorgsam an einer Laterne an. Er blickt sich um, überzeugt sich, dass die Luft rein ist und schreitet zur Mitte der Brücke. Genau über Gleis zwei bleibt er stehen. Auf Gleis zwei fahren immer die Schnellzüge Richtung Osten. An dieser Stelle haben sie schon fast ihre Reisegeschwindigkeit erreicht. Schnell genug, um ihn sofort von seinem Kummer zu befreien.

Es wird wehtun. Zwar nur ganz kurz. Dennoch hat er vorgesorgt und die ganze Packung Schmerztabletten seiner Mutter mitgebracht, dazu eine Flasche Wasser.

Jan schaut auf seine Uhr: genau 20 Uhr. Unter ihm begegnen sich auf den Gleisen drei und vier zwei S-Bahnzüge: ein Dreiviertelzug 481er Baureihe und ein Verstärkerzug der Baureihe 485. Das verrieten ihm die Geräusche.

Er öffnet die Tablettenschachtel und drückt sich von der ersten Charge alle Pillen in die hohle Hand. Dann stopft er sie sich in den Mund. Mit einem großen Schluck aus der Wasserflasche spült er sie hinunter. Er würgt, um alle Tabletten gleichzeitig zu schlucken.

Mit der zweiten Charge verfährt er genauso. Ihm wird leicht übel. Seine Nase tut ihm weh. Jan setzt sich ans Geländer und wartet. Das bisschen Übelkeit hält ihn nicht von seinem Plan ab. Zu lange hat er schon darüber nachgedacht.

Sein Blick wandert über die menschenleere Brücke und bleibt schließlich auf dem Gleis zwei hängen, wo er aus der Ferne in ein paar Minuten den rettenden Zug herbeifahren sehen wird.

Jan blickt auf seine Armbanduhr: 20:10 Uhr. Unter ihm begegnen sich wieder zwei S-Bahnzüge. Diesmal beide Baureihe 481. In seinem Hals fühlt er noch immer die vielen Tabletten. Er nimmt einen kräftigen Schluck aus der Wasserflasche.

Die Minuten vergehen. Ein leichter Wind kommt auf. Bald werden sich wieder zwei S-Bahnen begegnen. Dann wird es Zeit. Er steht auf und blickt in die Ferne. Langsam sinkt die Sonne hinterm Fernsehturm.

Nie wieder werden sie ihn ärgern, ihn auslachen oder verprügeln. Nie wieder werden sie ihm seine Sachen wegnehmen oder kaputtmachen. Und wenn schon: Ab heute Abend können sie alles haben. Er hat keine Verwendung mehr dafür. Nie wieder werden sie ihm wehtun. Den letzten Schmerz wird er heute Abend verspüren. Dann ist es vorbei.

Etwas weiter weg hört er ein Auto fahren, ziemlich langsam, kaum zu vernehmen. Jan blickt ängstlich in die Richtung, aus der das Geräusch kommt. Gleich naht sein Zug, da dürfen sie ihn nicht stören. Es ist wieder still. Nur die Vögel zwitschern.

"Ihr haltet mich auch nicht mehr davon ab. Es ist aus. Aus und vorbei", ruft er ihnen zu und erhebt sich, um über das Geländer zu klettern.

Jan blickt auf die Uhr: 20:21 Uhr. Es ist Zeit, sich bereit zu machen für den richtigen Zeitpunkt. Er zieht seinen Kapuzenpulli aus. Den braucht er jetzt nicht mehr. Um ihn wäre es zu schade, wenn er kaputtgeht. Er hängt ihn über das Geländer und steigt selbst hinüber auf die andere Seite. Da steht er nun direkt über Gleis zwei. Wenn er jetzt einfach im richtigen Augenblick loslässt, würde er genau an der Oberleitung vorbei fallen direkt vor die Lokomotive.

Jan hält sich fest. Die Tabletten in seinem Magen rumoren. Der Schmerz in seiner Nase klingt ab. Seine Hände sind schweißnass. Er schaut Richtung Westen, woher jetzt eigentlich sein Zug heranfahren sollte. Doch nichts tut sich.

Von rechts her vernimmt er ein leises Geräusch. Wie Schritte, die sich nähern. Er bekommt Angst. "Nein", flüstert Jan vor sich hin, "nicht jetzt. Wo bleibt der scheiß Zug?"

Eine Frau kommt näher. Über Gleis vier lehnt sie sich ans Geländer und schaut hinab.

"Wann kommt dein Zug?", fragt sie leise, aber laut genug, dass Jan sie versteht.

"Ich weiß nicht. Er hätte schon längst hier sein sollen", antwortet er verblüfft.

"Soll ich dir was sagen? - Ich glaube, dein Zug kommt heute noch nicht."

"Was?"

"Dein Zug kommt heute noch nicht."

"Was soll das heißen?"

Langsam bewegt sie sich auf ihn zu. An seinem Pulli bleibt sie stehen.

"Es wird kühl. Möchtest du deinen Pulli nicht wieder anziehen?"

"Wenn Sie näher kommen, springe ich."

"Okay. Ich bleibe hier stehen."

Jan schaut ängstlich in ihre Richtung. Da steht eine Frau mit einer schwarzen Lederjacke und dunkler Hose bekleidet. Sie blickt lächelnd dem Sonnenuntergang entgegen. Ihre langen blonden Haare wehen leicht im Abendwind.

"Schau dir den Sonnenuntergang an! Er hat heute besonders schöne Farben. Was meinst du, Jan?"

Ihm dreht sich der Magen um. Woher kennt sie seinen Namen?

"Lassen Sie mich in Ruhe! Ich will alleine sein", schreit er sie an.

"Du bist stark, Jan. Ich würde mich das nicht trauen."

Ihre sanfte Stimme verunsichert ihn. Was meint sie? Was würde sie sich nicht trauen? Er klammert sich ans Geländer.

"Mir ist kalt", wimmert er.

Corinna greift nach dem Pulli: "Gegen den Wind hätte ich was. Ich glaube es gehört sowieso dir."

"Bleiben Sie, wo Sie sind!"

"Keine Angst, Jan. Ich tu dir nicht weh."

"Mir ist schlecht."

"Ich würde dir gern helfen. Dazu müsste ich ein wenig näher kommen. Schau, hier habe ich deinen Pulli. Er wird dich wärmen."

"Nein. Ja." - Tränen lösen sich aus Jans Augen. Sein Magen rebelliert. Die Kräfte schwinden ihm. Warum kommt jetzt nicht einfach sein scheiß Zug?

In dem Augenblick, wo er aufgibt und seine kalten Hände vom Geländer gleiten, fühlt er unter seinen Achseln zwei Arme und zwei Hände, die sich vor seiner Brust verschränken. In dem Moment, wo er abzustürzen droht, hält ihn jemand fest. Jan weiß nicht, wer ihn langsam über das Geländer zieht. Er hat nicht bemerkt, dass sich jemand von der anderen Seite genähert hat.

Nun geht alles ganz schnell. Jan wird auf das Pflaster des Fußweges gesetzt. Die blonde Frau hängt ihm seinen Pulli über die Schultern.

Sie hockt sich neben ihn und flüstert ihm ins Ohr: "Alles wird gut, Jan. Alles."

Er schüttelt nur kurz seinen Kopf, dann übergibt er sich.

"Oh Gott. Ruft schnell den Arzt her. Der Junge ist vollgepumpt mit Drogen!", hört er die Frau nach hinten rufen. Dann schwinden ihm die Sinne.

Zwei Sanitäter legen Jan auf eine Trage. Der Arzt untersucht ihn. Dann wird er in den Rettungswagen gebracht und ins Krankenhaus gefahren.

Corinna und der junge Kollege, der Jan über das Geländer gezogen hat, stehen nebeneinander am Brückengeländer und atmen tief durch, während sie gemeinsam in den Sonnenuntergang hinterm Fernsehturm blicken.

"Das haben Sie großartig gemacht. Ich wusste nicht, wie lange ich ihn noch ablenken konnte", beginnt Corinna das Gespräch.

"Ich habe mir extra die Schuhe ausgezogen, damit er mich nicht hörte", ergänzt der Kollege.

Klaudia bringt zwei Tassen Tee: "Hier, das könnt ihr jetzt gebrauchen. Corinna, woher wusstest du, dass Martin den Zugverkehr unterbunden hat?"

"Er hat was? Ich hatte keine Ahnung. Allerdings ist ja auch kein Zug gekommen."

"Martin hat bei der Bahnleitstelle in Lichtenberg angerufen und Personen im Gleis gemeldet. Deswegen haben sie weder die Fernzüge noch die S-Bahn fahren lassen."

"Der Mann ist genial. Auf so was kommt nur Doppel-M."

"Jetzt müssen wir erstmal die Adresse des Knaben herausfinden und seine Eltern informieren."

"Das müssen wir nicht mehr", sagt eine Kollegin, die herbeigeeilt kommt, "Es hat sich gerade eine Frau Müller beim Notruf gemeldet, sie hätte den Abschiedsbrief ihres Sohnes gefunden. Die Beschreibung des Jungen passt auf Jan."

"Wo ist sie jetzt?"

"Sie ist jetzt gerade auf der Wache bei den Kollegen."

"Nichts wie hin. Wir fahren sie ins Krankenhaus zu ihrem Sohn."

"Meinst du, das wäre jetzt gut?"

"Ja. Erstens ist der Junge noch minderjährig. Wir brauchen im Krankenhaus einen Erziehungsberechtigten. Zweitens haben die beiden bestimmt einiges zu klären. Ich habe von einem Freund aus Hamburg einen Chatverlauf zugeschickt bekommen. Da wird einem ganz trübe ums Herz."

Nachdem sie ihren Tee ausgetrunken hat, macht sie sich mit Klaudia auf den Weg zur Dienststelle in Hellersdorf.

Frau Müller sitzt gerade in einem Befragungsraum mit einer Kollegin, die ihr allerhand Fragen stellt, als Corinna an die Tür klopft. Nach der Aufforderung, tritt sie ein und schließt die Tür hinter sich.

"Guten Tag, ich bin Corinna Merfort. Sie sind Frau Müller?"

Die Angesprochene blickt mit tränennassen Augen zu ihr auf und nickt: "Wie geht es ihm? Hat er sich was angetan?"

"Jan geht es soweit ganz gut. Er hat sich nichts angetan. Wir waren rechtzeitig bei ihm."

"Gott sei Dank!", ruft Jans Mutter weinend und steht auf. "Wo ist er? Darf ich zu ihm?"

"Wir haben ihn ins Krankenhaus Marzahn bringen lassen."

"Was hat er? Ist es schlimm?"

"Das wissen wir noch nicht. Er hat offensichtlich Drogen genommen."

"Mein Junge hat noch nie Drogen genommen. Dazu ist er viel zu vernünftig."

Corinna setzt sich an den Tisch zu ihrer Kollegin: "Wir wissen noch nichts genaues. Er zeigte typische Hinweise auf Drogenkonsum: seine Augen, seine blasse Haut, kalter Schweiß. Er wird gerade im Krankenhaus untersucht. Möchten Sie zu ihm?"

"Möchten? Ich muss! Ich will zu Jan. Er braucht doch seine Mutter jetzt."

9

Für Florian sind die nächsten Tage eine Geduldsprobe. Täglich kommt er zu mir nachmittags nach der Schule oder erst später am Abend. Er kennt meinen Dienstplan erstaunlich gut.

"Axel, hast du was gehört aus Berlin? Sie haben nichts in den Nachrichten gebracht auch nicht auf RBB."

Florian geht grußlos an mir vorbei ins Wohnzimmer, als ich ihm die Haustür öffne. Dann wirft er seine Schultasche aufs Sofa und lässt sich daneben fallen.

"Guten Tag, mein Freund. Ist das die neue Begrüßung unter Männern?"

"Entschuldigung, Axel. Hast du was gehört?"

"Nein. Wir müssen jetzt Geduld haben."

"Ich habe aber keine Geduld."

"Florian. Wegen Datenschutzes dürfen sie nichts sagen. Ich weiß nur, dass er noch im Krankenhaus liegt."

"Das ist alles? Komm schon, du weißt mehr."

"Nein. Ich mache dir einen Vorschlag. Ich werde meiner Freundin Corinna in Berlin eine E-Mail schreiben und sie bitten, mal nachzufragen. Okay?"

"Okay. Sie soll aber schnell antworten."

"Und du gehst jetzt nach Hause und machst deine Schularbeiten."

"Ich habe nichts auf."

"Wer's glaubt."

Wir unterhalten uns noch ein wenig. Ich erkläre ihm, was in solchen Fällen normalerweise passiert und dann schicke ich ihn nach Hause.

Am Abend lasse ich es mir nicht nehmen, Corinna anzurufen. Ich erwische sie zu Hause.

"Nun Axel, du weißt, ich bin zur Verschwiegenheit verpflichtet."

"Ich bin ein guter Freund, hast du das vergessen? Außerdem kann ich Geheimnisse bewahren."

"Weil du es bist: Also, Jan Müller wird heute aus dem Krankenhaus entlassen. Sie haben ihm den Magen ausgepumpt und ihn entgiftet. Er hat starke Schmerzmittel in rauen Mengen eingenommen. Morgen werde ich ihn zusammen mit seiner Mutter zu einem Jugendpsychologen begleiten. Es ist Peter Sembritzki, ich glaube, den kennst du auch noch."

"Klar, kenne ich Peter noch. Der hat ein Händchen für solche Fälle."

"Ja, Peter wird ihn wieder aufrichten. Jan wird erst einmal bei seiner Großmutter untergebracht. Sie wohnt in einem anderen Bezirk. Eine sehr patente Frau. Jan muss erst mal weg von seiner bisherigen Umgebung. Bis nach den Ferien ist er von der Schule befreit. "

"Das ist vernünftig. Kommt er danach auf eine andere Schule?"

"Da sind wir gerade dran. Hoffentlich klappt das. Du kannst dir nicht vorstellen, wie kompliziert sich die Ämter hier in Berlin anstellen."

"Es wird wohl nicht viel anders sein als hier in Hamburg. Ich wünsche dir viel Erfolg. Und halte mich bitte auf dem laufenden. Du weißt, ich werde hier von einem Quälgeist täglich nach Neuigkeiten befragt."

"Na, dem scheint eine ganze Menge an Jan zu liegen. Der ist aber auch ein süßer Junge. Schade, dass ich keine Kinder kriegen kann."

Nach unserem Telefonat schreibe ich Florian eine kurze Zusammenfassung.

Tags drauf erscheint er wieder bei mir und löchert mich. Er ist drauf und dran, nach Berlin zu fahren und Jan zu besuchen. Mit großer Mühe erreichen seine Eltern und ich, ihn davon zu überzeugen, auf dieses Vorhaben zu verzichten. Zudem muss ich ihm eröffnen, dass mir seine Adresse nicht bekannt ist und ich sie auch nicht erfahren werde. Corinna hält in dieser Hinsicht dicht. Und nach "Müller" bräuchte er erst gar nicht im Telefonbuch zu suchen.

So vergeht die Zeit: Ich telefoniere fast täglich mit Corinna, die mir stets die Neuigkeiten im Fall Jan Müller erzählt und mit der ich unsere alten Zeiten noch einmal wehmütig durchkaue.

Ein paar Tage später finde ich in meinem Fach auf der Dienststelle einen Brief von Corinna. Aus dem Umschlag fische ich ein kleines Stück Papier und einen weiteren Umschlag.

Auf dem Zettel steht: "Hallo Axel. Ich leite dir einen Brief von Frau Müller weiter. Sie hat mich darum gebeten. Liebe Grüße, deine Corinna."

Sofort öffne ich den zweiten Umschlag und lese den Brief.

"Lieber Herr Johnsen.

Wir kennen uns nicht und doch haben ich und mein Sohn Jan Ihnen viel zu verdanken.

Ich habe die Kommissarin Corinna Merfort gebeten, Ihnen diesen Brief zukommen zu lassen. Ich wollte Ihnen unbedingt schreiben und mich bei Ihnen bedanken.

Jan hat ein Hobby gehabt, für das er andauernd unterwegs gewesen ist. Er hat zwar viel zu viel vor dem Computer gesessen und Sachen gemacht, die ich nicht verstehe, aber ich habe geglaubt, er hat Spaß an dem was er gemacht hat.

Ein paar Male ist er mit blauen Flecken nach Hause gekommen oder auch mal mit einem zerrissenen T-Shirt. Ich habe es für normal gehalten. Jungen in seinem Alter prügeln sich eben. Er hat nie darüber geredet. Auch wenn ich ihn gefragt habe, hat er eher ausweichend geantwortet. Dann wurde ihm die Jacke geklaut und sein Handy. Auf der Polizei haben sie mich immer wieder beruhigt. Nie haben sie die Täter fassen können.

Jan ist bisher kein sehr gesprächiger Junge gewesen. Er ist immer sehr in sich gekehrt gewesen. Vielleicht hat ihm der Vater gefehlt, den er nie kennengelernt hat. Jan hat mir nie Ärger oder Kummer gemacht. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, was mit ihm los war. Ich habe aber leider auch nicht viel Zeit gehabt, mich mit ihm zu beschäftigen. Ich muss als Verkäuferin viel arbeiten. Seine schulischen Leistungen sind immer in Ordnung gewesen.

Er geht jetzt zu einem Jugendpsychologen, den die nette Kommissarin empfohlen hat. Ich glaube, die beiden kommen gut miteinander klar.

Jan redet jetzt etwas mehr mit mir. Ich nehme mir einfach mehr Zeit. Er wohnt jetzt bei meiner Mutter. Wir telefonieren täglich. Allerdings hat er seit dem Vorfall kein Handy mehr angerührt und auch keine Fotos mehr gepostet.

Vorgestern hat er mir von einem Florian aus Hamburg erzählt, den er so gerne einmal treffen würde. Von der Kommissarin habe ich erfahren, dass Sie ihn kennen würden. Und dass er die ganze Rettung wohl ins Laufen gebracht hat.

Ich kann es mir leider nicht leisten, Jan nach Hamburg zu schicken. Aber vielleicht können Sie Florian ausrichten, dass er sich mal bei uns melden darf, wenn er will. Ich glaube, Jan würde sich sehr freuen.

Mit dankbaren Grüßen, Ihre Katarina Müller"

Am Ende des Briefes steht eine Adresse und eine Berliner Telefonnummer. Ich beschließe, Frau Müller einmal anzurufen und mit ihr meinen spontanen Plan zu besprechen.

10

Es sind nur noch ein paar Tage bis zu den Sommerferien. Die Kaisers haben wie üblich einen großen Urlaub geplant. Wie so oft sitze ich am Nachmittag bei ihnen auf der Terrasse. Florian ist unterwegs, S- und U-Bahnen fotografieren. So packe ich die Gelegenheit beim Schopfe, zeige Holger und Sybille den Brief aus Berlin und erzähle ihnen von meinem Plan.

"Okay. Von uns aus kann er nach Berlin fahren. Wir fliegen erst in der dritten Woche weg. Dann hat er noch zwei Wochen Zeit für sich und Jan. Wo kann er da übernachten?", gibt Holger sein Einverständnis.

"Das habe ich schon abgeklärt. Er kann bei meiner Kollegin Corinna schlafen, die hat ein Gästezimmer. Sie wohnt nicht weit von Jans Oma entfernt", erkläre ich, was ich mit Frau Müller und Corinna abgesprochen habe.

"Bist du sicher, dass er dort niemandem zu sehr zur Last fällt? Was ist, wenn er sich dort nicht wohlfühlt?", will Sybille wissen.

"Ich glaube, das geht alles in Ordnung. Corinna und Jans Oma haben versprochen, sich um ihn zu kümmern. Wenn's Schwierigkeiten gibt, wollen sie sich bei mir melden."

"Abgemacht. Ich bin mir sicher, unser Sohn ist alt und vernünftig genug. Ich habe keine Bedenken", lässt Holger wissen. Sybille nickt.

Als Florian von seiner Tour nach Hause kommt, klären wir ihn auf. Er kann sein Glück nicht fassen.

"Das ist so toll. Ich darf wirklich nach Berlin? Axel, du bist der Beste", ruft er aus und fällt mir um den Hals.

"Bedank dich bei deinen Eltern! Die erlauben dir die kleine Spritztour", erkläre ich ihm.


Zu Beginn der Sommerferien steht Jan mit seiner Großmutter am Bahnsteig, als der ICE aus Hamburg einfährt. Sie schaut zu ihrem Enkel. Der lächelt zurück. Er ist sehr aufgeregt. Beide schweigen.

Florian kann es kaum erwarten, mit dem Drückknopf die Zugtür zu öffnen. Schon springt er mit seiner Tasche aus dem Waggon. Er blickt sich auf dem Bahnsteig um und entdeckt am Rand eine ältere Frau mit einem schlaksigen blonden Jungen. Jan!

"Sieh mal, Jan. Das muss er sein", macht sie ihren Enkel auf den anderen Jungen mit der Reisetasche aufmerksam. Jan rührt sich nicht und wartet, bis der andere auf sie zukommt.

Florian stellt seine Tasche vor den beiden ab. Dann gibt er artig Jans Großmutter die Hand: "Guten Tag, ich bin Florian Kaiser."

Sie zieht ihn zu sich heran und umarmt ihn: "Ich bin Jans Oma und freue mich, dass du hergekommen bist. Dieser junge Mann ist mein Enkel."

Damit lässt sie Florian frei, der sich zu Jan umdreht und ihn anlächelt. Drei Sekunden stehen die beiden bewegungslos da. Dann fallen sie sich wortlos in die Arme.

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