zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

An jenem Tag...

Teil 2

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

Zusammenbruch

Alec war sehr müde, noch nicht ganz wieder auf dem Damm. Er hätte auf Luke hören und im Bett bleiben sollen. Den Vormittag schlug er sich recht gut, holte sich noch aufgrund nicht geschaffter Arbeit der letzten Woche eine Standpauke beim Amtsleiter ab und machte sich dann wieder an die Arbeit. Einige der Aufgaben verteilte er gleich an Dana weiter, um sie eine Weile zu beschäftigen. Während der Mittagspause suchten seine neugierigen Kollegen das Gespräch, fragten nach seinem Wochenende. Irgendwann vertieften sich seine Kollegen in Gespräche über den letzten Feuerwehreinsatz unweit des Ortes. Alec hatte zu tun, wachzubleiben, Uta bemerkte das natürlich, da sie ihn aufmerksam beobachtete, ebenfalls auf Dana schauend. Das Telefon im Aufenthaltsraum klingelte. Brigitte nahm sich dem nervenden Etwas an. Sie vertröstete den Anrufer kurz und hielt Alec den Hörer hin. „Ich hab den Namen nicht verstanden, Herr Frank oder so?“

Alec stellte sich förmlich vor, neugierig, wer ihn erwartete.

„Ich bin's. Es tut mir leid, dass ich es heute früh nicht geschafft habe. Geht es dir gut?“

Alec erschrak etwas, versuchte sich nichts anmerken zu lassen und fing an, irgendetwas zu antworten.

„Ja, alles okay. Ich würde Sie nachher zurückrufen. Ich kann die Zahlen hier leider nicht einsehen. Bis nachher!“

Mit hochrotem Kopf reichte Alec den Hörer wieder zu Brigitte rüber, die ihn aufs Telefon legte. Sie fragte neugierig, wer das denn war. Alec nannte schnell den Namen eines Ortsvorstehers. Brigitte bemerkte nur, dass sich die Stimme ja so anders angehört hatte als sonst. Alec zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung, der war auf Arbeit, wollte nur ein Datum wissen. Aber da muss ich erst nachschauen, das habe ich nicht im Kopf.“

“Hast du nicht was von Zahlen gesagt?”

“Ja, und einige andere Sachen. Aber da muss ich ihn einfach vom Büro aus zurückrufen”, log er.

Sie beendeten sehr bald die Mittagspause, Alec atmete durch, überlegte, wie er Dana lang genug loswird, um Luke zurückzurufen. Er schickte sie einige Sachen im Haus erledigen, kam aber nicht dazu, den Anruf zu tätigen. Noch bevor er das konnte, klingelte das Telefon, stand wieder jemand in der Tür oder wollte ein anderer eine Auskunft.

Kurz vor dem Feierabend fragte Dana ihn, ob er nicht noch Lust auf einen Spaziergang hätte. Er verneinte und machte pünktlich Schluss. Er war müde und irgendwie war ihm etwas schummrig, er fühlte sich heute unwohler denn je.

 

Zu Hause angekommen begrüßte er seine Mutter, die ihn freudig empfing und versuchte zu erfahren, was er am Wochenende in Berlin unternommen hatte. Er stand am Türrahmen angelehnt, wollte gerade antworten, als ihm schwindelig wurde. Sie sah ihm sofort an, dass etwas nicht stimmte.

„Was ist denn los?“, fragte sie ihren Sohn betrachtend.

„Mir ist auf einmal schwindelig.“ Er begann mit den Augen zu zwinkern, sah Sterne, verlor fast das Gleichgewicht.

„Dann setz dich hin.“ Noch bevor sie diese Worte ganz ausgesprochen hatte, kippte Alec um. Seine Mutter wusste nicht, was sie machen sollte, rief den Rettungsdienst, und es glich einem Wunder, dass, noch bevor dieser eintraf, Luke an der Tür klingelte. Sie öffnete die Tür, starrte ihn ungläubig an.

„Sie?“

„Ich?“ Luke sah die Panik in den Augen von Agnes und konnte sie nicht deuten.

„Ich wollte nur zu ...“

Sie fiel ihm ins Wort „Sie sind doch Arzt, Alec ist umgekippt.“ Luke antwortete nicht und stürmte ins Haus. „Wo ist er?“

„Ich habe schon einen Krankenwagen gerufen. Ich wusste nicht, was ich machen soll.“

Luke hockte sich sofort zu Alec, den er augenblicklich sah und bekam ihn gleich wieder wach.

„Ist nicht nötig“, meinte Luke. Kurz darauf erreichten die Sanitäter das Haus und standen nun hinter Luke und Alec.

Alec, der die Augen wieder offen hatte, wollte sofort aufstehen, wurde aber von Luke auf dem Boden gehalten.

„Bleib noch kurz liegen. Alles okay? Weißt du, wo du bist?“

Alec schaute sich kurz im Raum um, erblickte die Sanitäter.

„Zu Hause, aber ich weiß nicht, was du hier machst. Und wer das ist.“

Die Sanitäter wollten Luke ein wenig zur Seite drängen, um ihre Arbeit zu machen, bis sich Luke kurz mit ihnen unterhielt und sie unverrichteter Dinge nach Hause schickte. Dann wandte er sich sofort wieder Alec zu, der inzwischen auf dem Boden saß, den Rücken an die Wand gelehnt.

„Alles wieder gut? Kannst du aufstehen?“ Er half ihm auf. Alecs Mutter stand noch immer etwas verwirrt unweit der Situation. Schaute von einem auf den anderen. Ihr war nicht wohl dabei, wie sich beide Männer berührten, obwohl nichts weiter geschah, als dass Luke ihrem Sohn auf die Beine half. Gott sei Dank war er genau in diesem Augenblick da gewesen.

„Was machst du hier?“

„Du hast nicht zurückgerufen, ich dachte, ich komme mal und sehe nach, wie es dir geht.“

„Ich wollte, mir kam ständig was dazwischen. Bin eben erst nach Haus gekommen und dann wurde mir schon schwarz vor Augen.“

„Eigentlich wollte ich dich abholen. Aber ich denke, du bleibst lieber hier.“

Alecs Mutter stimmte ihm erleichtert zu.

„Ich mache was zu essen, sie können auch hier bleiben, Dr. Franklin.“ Dann wandte sie sich Alec zu.

„Dein Vater ist schon zur Arbeit, kommt erst morgen früh wieder. In einer halben Stunde gibt’s Essen.“ Sie verschwand in der Küche.

Luke schaute Alec an. Die beiden blieben allein im elterlichen Wohnzimmer zurück.

„Lass uns nach oben gehen.“ Etwas schwankend ging Alec voraus, immer unter Lukes ständiger Beobachtung, der bereit war, ihn sofort zu stützen.

In Alecs Zimmer hatten sie Ruhe, Luke suchte das Gespräch.

„Erzählst du mir, was am Wochenende passiert ist?“ Ihm brannte die Frage auf der Zunge.

„Nein, jetzt nicht. Ich möchte das jetzt nicht.“

„Was ist los? Warum?“

„Ich möchte hier keinen Nervenzusammenbruch bekommen, ich möchte meine Mutter nicht noch weiter beunruhigen. Du weißt, dass ich das schlecht kontrollieren kann.“

„War es so schlimm, dass dir das passieren würde?“

„Hör bitte auf Luke, du weißt, wie das meistens endet. Ich kann darüber nicht so einfach sprechen.“

„Ist okay.“ Luke kam Alec näher, machte Andeutungen, ihn umarmen zu wollen „Darf ich?“

„So lange die Tür zu ist, darfst du alles.“

Er nahm die Einladung an und seinen Freund in den Arm, stand ruhig da, ihn umarmend.

„Wir kriegen das schon hin“, flüsterte Luke ihm ins Ohr.

„Warum machst du dir den Stress mit mir? Warum tust du dir das an?“, war die Antwort darauf. Das verletzte Luke ein wenig. Hatte Alec seine Unsicherheit gespürt? Schließlich stellte er sich genau diese Frage. Er reagierte dann und vergrub sein Kinn in Alecs Haar: „Weil ich dich liebe.“ 'Glaube ich', dachte er still weiter.

 

Luke verbrachte den Rest des Nachmittags bei Alec.

Alecs Mutter verließ gleich nach dem Essen das Haus, um zu einer Bekannten zum wöchentlichen Tratsch zu gehen. Das war hier ein Muss für die Hausfrauen des Ortes. Sie hoffte nur jedes Mal, dass keiner die Neigungen ihres Sohnes bemerkte. Sonst wäre ihre Familie das nächste Klatschthema.

Luke scheuchte Alec sofort ins Bett und setzte sich hinter ihn, seine Arme um Alecs Oberkörper geschlungen. Er lehnte sich an seinem Freund an, genoss diese Berührung.

Luke sah ihm an, dass es ihm schlechter ging.

„Warum bist du nicht zu Hause geblieben? Du hättest auch bei mir bleiben können. Du musst dich ausruhen. Das war zu viel heute, nach der Sache am Wochenende“, tadelte Luke ihn sachte.

„Ich weiß nicht, ich will nicht immer der Kranke sein. Ständig fehle ich, ständig bleibt die Arbeit liegen und meine Kollegen fragen immer.“

„Es bringt aber nichts, wenn du dich kaputtmachst. Das ist es nicht wert. Du bist vielleicht einfach noch nicht wieder soweit ...“

„Ich sollte doch sowieso schon unter der Erde sein“, setzte er schnell nach.

„Wieso?“ Luke war verwundert über seine Worte und wurde ernster.

„Du sagtest doch, es war ein Wunder, dass ich überlebt habe.“

„Das war es, aber dein Schutzengel hat da ganze Arbeit geleistet.“

„Siehst du.“

„Ja, und das heißt, dass deine Zeit noch lange nicht da ist.“ Luke versuchte, die Depressionen, die Alec nun schob, etwas zu entschärfen. Alec atmete tief durch, ließ seinen Kopf etwas hängen.

„Du kriegst Fieber, mh?“, meinte Luke und fasste ihm auf die Stirn.

„Mmh, scheint so und Kopfschmerzen.“

Luke wurde wieder neugierig. Sie waren beide allein, eigentlich konnte Alec reden. Ein neuer Anlauf: „Wie lange hast du da im Regen gelegen?“

„Ich weiß es nicht. Ich war die ganze Nacht auf den Beinen.“

„Was war los?“ Luke flüsterte ihm sanft ins Ohr.

Alec seufzte. „Warum musst du das wissen?“

„Ich will dich verstehen. Ich will nicht, dass sowas nochmal passiert. Ich habe gemerkt, dass du nach unserem Einkauf sehr unruhig und abwesend warst. Aber ich weiß nicht, warum.“

„Der eine Typ da, den kannte ich.“

„Welcher? Einer vom Personal dort?“

„Nein, ein Kunde. Er schaute mich an, als er mich sah, verschwand er schnell.“

„Du sahst aus, als hättest du einen Geist gesehen. Stimmt.“

„Ja. Das war einer von den Typen, die mich ...“ Er machte eine Pause. „... die mich dort vergewaltigt haben. Der war oft da. Ich bin sicher, dass der das war.“ Lukes Umarmung wurde fester, er merkte, dass Tränen über Alecs Gesicht rollten.

„Warum hast du nichts gesagt. Wir müssen die Typen doch kriegen. Die verdienen eine gerechte Strafe. Die gehören weggesperrt.“

„Ich konnte nicht, ich war in diesem Augenblick wie erstarrt“, schluchzte der Jüngere.

„Was passierte, als ich weg war? Warum war die Wohnung so verwüstet?“

„Die Wohnung war verwüstet?“ Alec konnte sich nicht erinnern.

„Ja, und die Tür stand offen, als ich kam. Von dir keine Spur. Dann hatte ich gesehen, dass dein Handy mitten im Zimmer lag. Ich hatte ja versucht, dich zurückzurufen, als ich deinen Anruf sah.“

„Warum warst du nicht rangegangen?“

„Ich wünschte, ich wäre. Ich hatte es nicht bei mir. Ich hatte so viele Patienten, sehr viel Stress, zu viele in dieser Nacht. Es tut mir so leid. Wollte ja eigentlich Schreibkram machen, aber ich kam nicht dazu.“

Luke schloss die Augen und ließ seinen Kopf gegen die Wand fallen. Alec sprach weiter: „Ich hatte Angst, ich dachte, du könntest helfen. Ich war in Panik und bin dann losgelaufen. Ich bin die ganze Nacht gelaufen, orientierungslos.“

„Bis zum Grunewald?“

„Ich weiß nicht, wo ich war.“

„Am anderen Ende von Berlin.“

„Oh ... Dann kamen plötzlich diese Schmerzen. Irgendwann kam ich wieder zu Sinnen. Ich hatte deine Nummer nicht im Kopf. Deshalb habe ich mein Handy angerufen. Glücklicherweise bist du rangegangen. Ich weiß nicht, was sonst passiert wäre. Mich hatten einige Leute gesehen, aber niemand hat mir geholfen. Es ist so beschämend, so hilflos zu sein, und alle glotzen nur. Keiner tut etwas, nur gucken und weitergehen. Stempeln dich als Besoffenen ab.“

„Ja, das kann ich mir vorstellen. Die Leute sind meistens sehr distanziert, wenn jemand Hilfe braucht. Nachdem ich rausbekommen hatte, wo du in etwa bist, bin ich sofort los und habe dich gesucht. Als ich dich da liegen sah, hatte ich solche Angst, dass du der nächste an diesem Abend bist, der mir unter den Händen wegstirbt. Ich war völlig am Ende, Alec. Ich wusste ja noch nicht, was passiert war.“ Luke konnte seine Aufregung gerade so zurückhalten und beruhigte sich wieder.

„Wer weiß, wie lange ich da gelegen hätte, wenn du nicht gekommen wärst.“

„Ich hätte dich nie gefunden, wenn du nicht angerufen hättest. Ich war kurz davor, deine Eltern und die Polizei anzurufen. Deine Eltern hätten mich wahrscheinlich geköpft.“

„Ja, meine Mutter hätte dir das nie verziehen, aber du konntest ja nichts dafür. Das war meine Schuld.“

„Du hast das ja nicht mit Absicht gemacht.“

Luke war erstaunt, dass Alec es einigermaßen schaffte, ruhig zu bleiben. Weinte nur leise vor sich hin, keine Hysterie, keine Überreaktionen. Wahrscheinlich war er einfach zu müde und zu schwach, um anders zu reagieren.

„Versprich mir, dass du das nie wieder machst. Du darfst nicht so viel laufen. Du hast ja gemerkt, was dann los ist. Und wenn du dann deine Tabletten nicht hast ...“

„Ich weiß, kein Sport, nicht überanstrengen und immer pünktlich den ganzen Kram einwerfen. Das ist lästig.“

„Weiß ich, aber es hilft dir! Es muss sein.“

„Siehst du, ich bin doch ein Krüppel.“

„Hör auf zu spinnen. Es hätte viel schlimmer kommen können. Wir wussten nicht mal, ob du je wieder laufen kannst.“ Luke drückte sanft seinen Kopf gegen Alecs, wechselte dann das Thema:

„Wann kommt deine Mutter? Ich muss ja vorher hier verschwunden sein.“

„Meinst du?“

„Hast du vorhin gesehen, wie sie uns angeschaut hat, als ich dir aufgeholfen habe? Sie sieht uns nicht gern zusammen. Ich fühlte mich, als hätte ich einen Dolch im Rücken, als sie uns nachschaute.“

„Habe ich nicht mitbekommen. Da war ich noch zu benebelt. Aber sie mag dich.“

„Ach ja?“ Luke war verwundert.

„Na ja, sie achtet dich auf jeden Fall. Sonst wäre sie diesen Abend nicht gegangen, mit einem anderen allein hätte sie mich hier nicht gelassen. Jedenfalls nicht, nachdem ich einfach umgekippt bin. Ich hatte mal einen Ex-Freund mitgebracht, damals, was meinst du, was das für eine Szene war, den wollte sie gar nicht reinlassen. Sie findet dich auch sehr nett. Kommt nur mit der Tatsache nicht klar, dass man schwul sein kann. Sie versteht das nicht. Hält es für eine Phase. Du weißt ja. Zurzeit erfüllt sie mir ja fast jeden Wunsch und akzeptiert dich auch. Das war früher anders.“

Alec grinste, zuckte dann kurz zusammen.

„Sind die Kopfschmerzen schlimm?“

„Sie werden mehr.“

„Du warst leicht unterkühlt, jetzt kommt die Quittung. Eigentlich hatten die Medikamente angeschlagen, aber irgendwie nicht anhaltend. Ich habe zwei Tage frei, magst du nicht doch mitkommen? Du solltest nicht arbeiten gehen, du musst dich ausruhen, dir wird es die nächsten Tage nicht viel besser gehen. Hör mal auf deinen Arzt!“

Alec lachte. „Werde ich. Aber nur auf dich, den anderen mag ich nicht.“

„Welchen anderen?“

„Na meinen Hausarzt.“

„Ach so, der, der dir die falschen Tabletten verschrieben hat? Also nicht die Falschen, aber die nicht so wirkungsvollen. Mit dem ich mich am Telefon rumschlagen musste, dass er mir sagt, was du sonst noch bekommst?“

„Genau der.“

„Auf den musst du auch nicht hören. Der scheint an seiner alten Lehre festgefahren zu sein.“ Luke scherzte.

„Ich hatte mich am Telefon ja noch richtig mit ihm angelegt, hat er was gesagt?“

„Nein, ich war noch nicht wieder da. Ich sollte morgen hin. Ich will dir nicht noch mehr Arbeit machen, du hast sicher keine Lust, mich auch noch zu verarzten, wenn du mal frei hast.“

„Es macht mir nichts aus, das weißt du. Also? Kommst du mit?“

„Willst du das wirklich. Willst du dich nicht lieber erholen?“

„Ja, das will ich. So viel Arbeit wirst du mir ja nun auch nicht machen“, scherzte er.

„Ich muss meiner Mutter Bescheid sagen. Ich komme gleich wieder. Mal schauen, ob sie wieder da ist.“

Alec löste sich aus Lukes Armen und ging nach unten. Luke blieb zurück und schaute sich vom Bett aus in Ruhe die Bilder an den Wänden an. Schaute sich nochmal im Zimmer um. Alec tauchte bald wieder auf und blieb in der Tür stehen.

„Also, Doktor! Können wir?“

„Pack deine Sachen, dann geht’s los. Aber kipp mir nicht wieder um. Du siehst echt nicht gut aus.“ Er schaute ihn an. „Was hat sie gesagt?“

„Begeistert war sie mal wieder nicht, weiß mich aber in guten Händen und war einverstanden. Auf Arbeit sage ich morgen früh Bescheid, dass ich krank bin. Muss ich wenigstens Dana nicht ertragen.“

„Das ist gut. Dana? Versucht sie es denn weiter?“

„Ja leider. Ich habe manchmal das Gefühl, dass sie mich verfolgt.“

„Kannst du ihr nicht klarmachen, dass sie keine Chance hat?“

„Ich versuche doch schon, so ekelig wie möglich zu ihr zu sein, aber sie lässt sich nicht beeindrucken. Heute Mittag hast du mich ja in die Zwickmühle gebracht, mit deinem Anruf.“

Alec suchte nebenbei einige Klamotten zusammen und stopfte sie in seinen Rucksack.

„Du kannst doch gar nicht richtig ekelig sein. Das wollte ich nicht. Du warst nicht ans Handy gegangen und da dachte ich, ich rufe dich auf Arbeit an. War doch aber die richtige Durchwahl, oder?“

„Ja, war es, aber der falsche Zeitpunkt. Wir saßen gerade alle zusammen. Konntest du ja nicht wissen.“

„Na ja, du hast mich ja bestens abblitzen lassen.“

„Ja, du weißt ja ...“

Luke fiel ihm ins Wort. „Du brauchst dich nicht rechtfertigen, das ist ok. Ich bin da auch nicht besser, ich halte es geheim.“

„Warum?“

„Es würde niemand verstehen. Jedenfalls keiner aus meiner Familie.“ Luke starrte in die Gegend. „Und meine Kollegen, na ich weiß nicht.“

„Mh. Komm, ich hab alles“, zerstörte Alec die Situation.

Luke erhob sich vom Bett, folgte Alec wieder nach unten.

 

Er steuerte konzentriert seinen Wagen über die Landstraße, ab und an wich sein Blick auf Alec, der meistens aus dem Seitenfenster schaute oder ins Leere blickte. Während der Fahrt suchte dieses Mal Alec das Gespräch. Er hatte sich die Frage verkniffen, konnte seine Neugier aber kaum zurückhalten.

„Luke?“

„Mh? Ich dachte, du schläfst.“

„Nein, bin nur müde. Ich wollte dich neulich schon fragen, wie es dem Anderen geht.“

„Wem?“ Luke schaute kurz rüber, konzentrierte sich dann aber wieder auf die Straße und den bremsenden PKW vor ihm.

„Na ja, dem anderen Opfer.“

„ Achso, er heißt Raphael. Den Umständen entsprechend gut, die Brüche verheilen gut, reden tut er auch nicht viel. Also er spricht normal, aber nicht über seine Erlebnisse. Ihn hat es nicht so schlimm erwischt wie dich damals.“

„Dann hat er Glück gehabt.“ Alec machte eine Pause, traute sich kaum, weiterzufragen. „Kann ich ihn besuchen?“

Luke wurde stumm, bevor er antwortete.

„Na ja. Ich ... ich weiß nicht. Willst du das wirklich, meinst du, das ist eine gute Idee? Er bekommt nur Besuch von seiner Familie, bisher jedenfalls“

„Er ist Leidensgenosse, vielleicht kann ich mich mit ihm zusammen erinnern.“

Luke wusste, dass Alec sich an alles erinnern konnte, wusste aber auch, dass er nicht alles erzählte, was er weiß.

„Ich kann dich zu ihm bringen, wenn du das wirklich möchtest. Aber erst, wenn es dir besser geht. Nicht in dem Zustand, in dem du jetzt bist.“

„Danke.“ Das Gespräch war beendet. Luke war besorgt, wusste nicht, ob das der richtige Weg war bzw. ob Alec dafür wirklich bereit war. Die beiden wechselten kein Wort mehr, bis sie die Wohnung erreichten.

Sie gingen sofort ins Bett. Luke gab seinem Freund noch Medikamente und legte sich dann zu ihm. Er stellte keinen Wecker, er hatte Zeit am nächsten Morgen mal auszuschlafen. Sorgen um seinen Geliebten brauchte er sich nicht machen, denn der lag ganz ruhig schlafend neben ihm.

Alec scherzte noch kurz, bevor ihm die Augen zufielen. „Woher weiß ich eigentlich, was du mir hier immer gibst?“

„Das weißt du nicht, da musst du mir vertrauen.“ Luke streichelte über Alecs Stirn. „Du weißt doch, dass ich dir nichts Böses will.“

„Ja, das weiß ich.“ Alec drehte sich auf die Seite und schlief schnell ein. Luke betrachtete ihn noch kurz und schlief dann ebenfalls.

Die lieben Kollegen

Am nächsten Morgen wunderten sich Alecs Kollegen über dessen Abwesenheit, so wurde er gleich das Thema beim Frühstück. Ohne lästern ging es schließlich nicht. Gabriele bemerkte sofort, dass er gestern schon nicht so gut aussah. Der Amtsleiter kam etwas später dazu, schaute in die Runde und fragte nur, wo der 'Schwächling' sei. Er mochte Alec nicht, akzeptierte seine Arbeit, nahm ihn aber sonst nicht sehr ernst. Im selben Augenblick rief Alec an und hatte Gabriele am Telefon. Er entschuldigte sich für die nächsten zwei Tage, sagte, dass er krank sei und wimmelte das Gespräch schnell wieder ab. Dana wurde hellhörig. Sie hatte den Vorfall vor seinem Wohnhaus gestern beobachtet, zögerte kurz, sich zu Wort zu melden, tat es dann aber doch.

„Vor seinem Haus stand gestern ein Krankenwagen.“

Uta, die schon aufgelegt hatte, wurde neugierig.

„Ach je. Aber er hörte sich eben nicht so schlimm an. Wie hast du das denn mitbekommen? Du wohnst doch an 'ner anderen Ecke.“

„Ich war gerade spazieren, das war gegen halb fünf etwa. Die sind auch gerade gefahren, ich denke ohne ihn. Jedenfalls sah es so aus.“ Ihre Stimme wurde leiser.

„Mh, wer weiß. Er ist ja am Donnerstag wieder da. Vielleicht erzählt er ja was.“

„Er erzählt nie was“, warf Brigitte lachend ein. „Das kennen wir doch von ihm.“

„Ja, der ist etwas zu ruhig. So kann er ja keine Mädchen kennen lernen“, warf nun Anne ein, die am anderen Tischende saß.

„Das ist ja auch kein Mann, der muss erst mal noch ein bisschen auf die Weide“, argumentierte der Vorgesetzte protzig. Das Klingeln des Telefons lenkte ab und unterbrach das Herziehen über den abwesenden Kollegen rasch.

Dana hatte das Geschehen am gestrigen Tag aus sicherer Entfernung gut beobachtet. Auch sah sie Luke und sein Auto. Das war schon das zweite Mal, dass sie ihn dort gesehen hatte. Am Vorabend nutzte sie die Gelegenheit, sich sein Nummernschild zu merken. Anhand dessen könnte sie ja seinen Namen herausbekommen.

Sie nutzte ihre Position und die Tatsache, dass sie allein im Büro war. Nachdem sie, die ihr von Alec aufgelegten Arbeiten erledigt hatte, rief sie die Zulassungsstelle in Berlin an. Sie dachte sich eine kurze Story aus und fragte nach dem Fahrzeughalter.

Die Kollegin am anderen Ende checkte die Telefonnummer, stellte fest, dass sie zur richtigen Gemeinde gehörte, und rückte mit dem Namen und der Adresse raus. Eine Information, die natürlich nur Dienstzwecken galt. Dana war erfreut über die Info und überlegte, was sie damit nun anfängt. Den Namen hatte sie nie gehört. Sie suchte einfach mal über das Internet und wurde fündig. Es gab jemanden mit diesem Namen, einen Arzt in Berlin. Sie beschloss, es erst mal dabei zu belassen. Am folgenden Donnerstag war Alec wieder da, sichtlich erholt und etwas gesprächiger als sonst. Als seine Kollegen fragten, was er hatte, antwortete er, dass er umgekippt sei und seine Mutter mit dem Krankenwagen etwas überreagiert hatte. Die Kollegen waren überrascht durch seine plötzliche Redegewandtheit, quetschten ihn aber nicht weiter aus.

Dana war hocherfreut, ihn wiederzusehen, und versuchte weiterhin, ihm schöne Augen zu machen.

„Was hast du denn am Wochenende vor?“, fragte sie neugierig.

„Ich weiß nicht, nach Berlin fahren.“

„Machst du da irgendwas Besonderes?“

„Nein, nur Kumpels besuchen.“

„Na, das ist ja auch was Schönes.“

Die Gespräche blieben meistens kurz, da Alec wieder konzentriert an seine Arbeit ging und so tat, als hätte er jetzt gar keine Zeit, darüber zu sprechen. Er wollte es natürlich auch nicht.

Der kurze Freitag kam ihm genau recht, am Nachmittag machte er sich gleich auf den Weg nach Berlin. Luke hatte bis Sonntagmittag frei und hatte den Vorschlag gemacht, einfach mal einen Tag an die Ostsee zu fahren. Das schlug Alec natürlich nicht aus. Ein erster gemeinsamer Urlaub?

Urlaub

Luke hatte ein kleines, nettes Strandhaus gemietet. Es war noch nicht wirklich viel los am Strand. In der Vorsaison war es zu kalt, um Schwimmen zu gehen, so hielten die meisten Menschen sich noch bedeckt und am Wasser war es eher ruhig. Perfekt für gemeinsame Spaziergänge der beiden. Natürlich nur nebeneinander her, Luke ließ es in der Öffentlichkeit nicht zu, dass Alec ihn berührte. Zu groß war seine Angst, geoutet zu werden, auch wenn ihn hier keiner kennen würde, aber man wusste ja nie.

In der Nacht von Freitag zu Samstag schlief Alec unruhig, wurde ständig wach, sah Bilder seiner Peiniger und befreite sich sehr bald aus der Umarmung seines Freundes, um ihn nicht zu wecken.

Nachdem es ihm kaum noch möglich war, einigermaßen ruhig zu bleiben, sprang er auf und rannte vor die Tür. Etwas außer sich saß er nur mit seinen Shorts bekleidet gehockt an der Wand des kleinen, hübsch gestrichenen Strandhauses und atmete tief durch. Der Wind wehte in der jungen Birke, die links des Eingangs stand. Kleine Wellen bildeten sich auf dem etwas entfernten Wasser. Durch das Mondlicht konnte Alec die Eindrücke um sich herum sammeln und versuchte, sich zu beruhigen. Das leise Rauschen des Meeres tat gut.

Luke wurde wach und bemerkte wenig später, dass Alec verschwunden war. Er zog sich schnell einen Pullover über, sah die geöffnete Eingangstür und ging mit einer Decke unter dem Arm raus. Er erblickte Alec sofort etwas zusammengerollt dort sitzend. Der erschreckte sich, als er Luke hörte, und schaute zu ihm hoch.

„Bist du wahnsinnig. Komm rein. Was machst du denn hier draußen?“ Er legte ihm die Decke über den Rücken und setzte sich zu ihm, nahm ihn in den Arm, als er nicht reagierte. Im Dunkeln konnte sie ja niemand sehen.

„Was machst du hier draußen?“, fragte er nochmal.

„Ich wollte dich nicht wecken, ich konnte nicht schlafen. Ich wollte uns nicht dieses kurze Wochenende damit versauen.“

„Du hast doch gar nichts gemacht. Komm wieder mit rein, es ist zu kalt, um hier draußen zu sitzen.“

Luke schaute in Alecs gestresstes Gesicht, die weichen Züge waren verhärtet, die eigentlich schläfrigen Augen etwas aufgerissen, etwas hatte ihm Angst gemacht.

Luke wartete auf keine Antwort, sagte: „Komm schon“, und zog ihn sachte hoch.

„Willst du Medikamente?“, fragte Luke sorgsam, Alec immer noch im Arm.

„Nein, das geht schon. Sonst schlafe ich ja wieder den halben Tag durch. Das möchte ich nicht. Wir haben ja nicht so viel Zeit gemeinsam und die, die wir haben, möchte ich wach mit dir verbringen. “

„Lass uns wieder ins Bett gehen. Hier passiert dir nichts, ich bin doch da“, besänftigte er sorgsam.

Etwas erdrückt von der Fürsorge legte Alec sich wieder nah an Luke, genoss seine Wärme, versuchte aber, wach zu bleiben, und starrte in die Dunkelheit.

Gegen sechs klingelte Lukes Handy, der wurde murrend wach, murmelte ohne aufs Telefon zu schauen, dass es seine Mutter sei, und ging ran. Alec war noch immer wach und wunderte sich über die Eingebung Lukes und lauschte dem Gespräch.

„Danke! ... Nein, ich bin nicht zu Hause ... an der Ostsee ... nein, nur heute ... besuchen? Nein, das müsst ihr nicht, ich bin eh selten zu Hause ... Ja, ich bin allein unterwegs. Danke, Danke. Tschüss!“

Luke stöhnte kurz, drehte sich zu Alec, der mit dem Rücken zu ihm lag, und schlang seinen Arm um ihn, drückte sich gegen seinen Rücken und schlief weiter. Seinen Kopf gegen Alecs Genick gelegt. Der spürte den warmen Atem, schloss kurz die Augen, bemühte sich dann aber wieder, wach zu bleiben.

Zwischendurch bekam Luke noch ein paar SMS, die er im Schlaf nicht bemerkte, Alec dagegen lauschte dem leisesten Geräusch. Gegen acht wieder ein Anruf. Luke löste sich von Alec, ging ran.

„Hallo Brüderlein! Ja, vielen Dank! Das ist super, danke ... mir geht’s prima ... Nein, ich weiß noch nicht, wann ich mal wieder runter komme ... ja, ich weiß, dass Mutter das möchte, das möchte ich aber nicht ... Ja, grüß deine Frau ... ich weiß, dass sie sich über meine Grüße freut, so sehr wie sie mich hasst”, witzelte er. „Bis dann!“

Luke legte sein Handy weg, strich Alec über die Schulter und küsste ihn in den Nacken: „Lass uns aufstehen, frühstücken. Bist du wach?“

„Bin ich.“ Alec drehte sich zu Luke, setzte sich auf und küsste ihn kurz, bevor er aufstand.

„Ich mache Frühstück, lass dir Zeit“, meinte er, als er Richtung Küche ging.

Als sie am Tisch saßen, bekam Luke erneut einen Anruf und telefonierte kurz. Alec war verwirrt. Er hatte es nie erlebt, dass er so viele Anrufe und Nachrichten bekam. Woher wusste er heute früh so platonisch, dass es seine Mutter sei. Warum fragten alle, wo er sei?

Luke legte auf, aß weiter. Alec spielte mit einem Messer auf seinem Teller rum, kratzte die Krümel von einer Seite zur anderen und fragte dann neugierig: „Woher wusstest du heute früh, dass das deine Mutter ist?“

„Jedes Jahr, am selben Tag, zur selben Zeit. Und jedes Mal weckt sie mich, wenn ich nicht eh arbeiten bin.“

Jedes Jahr am selben Tag, zur selben Zeit, es ratterte kurz in Alecs Gehirn. „Nein, du hast nicht wirklich Geburtstag, oder?“

„Doch, habe ich.“

Wie aus Reflex ließ Alec das Messer fallen, das auf den Teller schepperte, vergrub sein Gesicht in seinen Händen.

„Wie peinlich“, wisperte er. Erst jetzt wurde ihm klar, wie wenig er über seinen Freund wusste. Er wusste nicht mal, wann er Geburtstag hat. Er wusste nicht, wie sein Bruder heißt, er wusste nicht, wie alt er wirklich war, er wusste überhaupt sehr wenig über ihn.

„Was denn?“, fragte Luke zurück.

„Ich wusste das nicht.“ Alec ließ seine Hände ein wenig herabgleiten, schaute dann Luke an, die Hände noch an seinen Wangen.

„Das macht doch nichts, ich habe es dir nie gesagt. Du konntest es doch nicht wissen“, antwortete ihm Luke grinsend.

Alec wäre am liebsten im Boden versunken, schaute wieder auf seinen leeren Teller, sprach ganz leise. „Ich weiß gar nichts über dich.“

„Nun sei doch nicht traurig. Ich weiß deinen Geburtstag auch nur aus deiner Krankenakte, ebenso deinen vollständigen Namen. Mach dir keinen Kopf. Es ist unwichtig für mich. Wenn dich irgendwas interessiert, frag mich einfach.“

„Das sind peinliche Fragen, ich sollte das wissen, so lange wie wir uns kennen.“

„Musst du doch nicht. Wir haben über sowas nie gesprochen. Irgendwie hatten wir immer andere Sachen im Kopf.“

Luke sprach wieder mit seiner völlig warmen Stimme, immer ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Er hatte damit keine Probleme, dass Alec seinen Geburtstag nicht wusste, merkte aber dann, wie sehr das an seinem Freund zehrte.

„Mensch, nun guck doch nicht so, frag mich einfach was. Was willst du wissen? Vollständiger Name? Luke Gordon Franklin. Nein, kein deutscher Name, meine Eltern sind irgendwann mal aus den USA eingewandert. Alter? Seit heute 29. Meinen Beruf kennst du ja, Assistenzarzt Unfallchirurgie.“ Luke lachte kurz, nahm Alec auf die Schippe. Erwartete, dass er den Spaß bemerkte und mal lächelte. „Verarsch mich nicht“, murmelte er nur. „Ich wusste das wirklich nicht“, erwiderte der nur kurz.

„Alec! Nun lächel doch mal. Du konntest das nicht wissen. Ich mache mir da wirklich nichts draus. Lass uns doch einfach das Wochenende gemeinsam genießen.“

Luke angelte sich Alecs Hand, der schon wieder verlegen mit dem Messer auf dem leeren Teller rumspielte, nahm es ihm aus der Hand und spielte sachte mit seinen Fingern, bis er seine Hand umfassen konnte. Alec schaute ihn jetzt an, etwas bedrückt. Luke lächelte, beugte sich über den Tisch und küsste ihn auf die Stirn.

„Alles gut, Alec. Alles gut”, wispelte Luke.

Alec rollten sachte einige Tränen über die Wangen. Ihm war das so peinlich, er zitterte ganz leicht, stand auf und wollte gehen. Luke stand ebenfalls sofort auf. „Och Mann, Kleiner“, meinte er kurz und nahm ihn in den Arm. „Lass mich los“, bockte Alec zurück.

„Sei doch nicht so. Ich wusste nicht, wie wichtig es dir ist, das zu wissen.“

„Das ist es ja gar nicht. Darum geht es nicht.“

„Was dann?“ Luke hielt ihn fest, drückte ihn an sich.

„Die Tatsache, dass ich so gut wie nichts über dich weiß. Ich kenne dich im Grunde gar nicht. Lass mich bitte los.“

„Natürlich kennst du mich. Nur weil du solche unwichtigen Kleinigkeiten nicht weißt, heißt das nicht, dass du mich nicht kennst.“ Luke brach die Situation ab, bevor Alec noch zerbrechlicher wurde, als er in dieser Situation schon war. „Komm, lass uns rausgehen. Bisschen frische Luft schnappen? Lass uns irgendwo hin fahren, irgendwas angucken. Nach Stralsund, Meereskunde Museum oder sowas? Oder ist dir das zu langweilig?“

„Nein, das ist toll.“

„Du bist so süß“, antwortete Luke und küsste seinen Freund. „Komm schon!“

 

Den Abend ließen beide ruhig angehen, ein Gläschen Wein zusammengekuschelt auf der Couch. Luke wagte sich ganz sanft an Alec, küsste ihn vorsichtig, wartete auf eine Reaktion. Alec erwiderte, zog Luke sein Hemd aus, zog sein eigenes Shirt aus. Sie wurden zärtlich, genossen die Zuwendung. Luke arbeitete sich gewissenhaft bis zu Alecs Hosenbund vor, öffnete den Knopf. Alec sprang nach kurzem Zögern auf, drehte sich um, fasste sich mit der rechten Hand ins Gesicht, während er Luke den Rücken kehrte.

„Ich kann das nicht, es tut mir leid. Ich kann nicht!“

Luke lag da, völlig erhitzt und fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel, stöhnte nur kurz ein 'Oh Mann.' Alec ging sofort, hatte sich verkrochen, legte sich ins Bett, nicht mehr fähig, seinem Freund in die Augen zu blicken. Luke verweilte noch einen Augenblick auf der Couch, bis er ihm folgte. Er verstand nicht, dass Alec ihm sagte, dass er ihm vertrauen würde, ließ ihn aber nicht vollständig an sich ran. Er führte es auf seine Erlebnisse zurück, war damit aber völlig unzufrieden. Wann wäre Alec so weit, sich ihm hinzugeben? Ihm wirklich zu vertrauen.

Er legte sich ruhig neben ihn, berührte ihn nicht, schaute ihn nicht an, drehte sich auf die entgegengesetzte Seite und schlief ein. Alec war wach und verängstigt vor Lukes plötzlicher Kälte. Er hatte ihn nicht umarmt, hatte sich an die andere Bettkante gelegt, ohne ein Wort, ohne eine Tat. Alec war unruhig, schlief nicht. Die fremde Umgebung wurde für ihn plötzlich zur Anstrengung. Unruhe machte sich breit. Er stand irgendwann auf und wandelte durch das kleine Strandhaus, bis er sich in einer Decke eingemurmelt auf die Couch setzte und dort letztendlich von der Müdigkeit überrascht wurde.

 

Alec erwachte, als Luke durchs Wohnzimmer schlich.

„Was machst du hier, warum bist du nicht im Bett geblieben? Du darfst nicht lange so sitzen, wegen deinem Rücken“, fauchte er ihn sofort an.

„Ich konnte nicht schlafen.“ Kurze Pause. „Und ich hatte Angst vor dir. Du warst plötzlich so kalt.“

„Brauchst du nicht. Ich muss in der Situation nur mit mir selbst klarkommen. Das hat nichts mit dir zu tun“, antwortete er etwas kühl.

Alec schaute ihn nur an, Luke sprach weiter. „Ich kann dich nicht verstehen. Du sagst, du vertraust mir, warum in der Situation plötzlich nicht mehr?“ Luke sprach das Thema offen an, nun konnte Alec ja nicht weit flüchten.

„Meinst du, das mache ich mit Absicht?“ Alec blickte ihn entsetzt an. „Ich will das doch nicht. Wurdest du je geschlagen, hat man dich gefesselt, ausgepeitscht, verprügelt, getreten, erniedrigt, die Haut aufgeschlitzt, dich fast erdrosselt, wie Dreck behandelt? Hat man dich je dazu gezwungen? Als wenn man ein Spielzeug ist. Ständig und immer wieder. Gefesselt, hungernd.“ Er war außer sich, war laut geworden, hatte wieder Tränen in den Augen, seine Stimme begann zu zittern. Luke antwortete wieder ruhig, er war eigentlich kein Typ für Streit und wollte nicht schreien.

„Nein, nie. Ich würde dir nie etwas antun. Das solltest du inzwischen wissen. Es tut mir so leid, dass du so etwas erleben musstest.“ Luke ging enttäuscht vor die Tür, ließ Alec zurück und meinte noch. „Du solltest da wirklich mal drüber reden.“

Alec schrie ihm hinterher „Was willst du wissen? Willst du wissen, wie man sich fühlt, wenn sie zu viert oder fünft über dich herfallen und du dich nicht mehr wehren kannst? Wenn du dich selbst schon aufgibst, weil es nicht mehr auszuhalten ist? Willst du das?“

Luke bemerkte, dass Alec plötzlich anfing zu röcheln und nach Luft schnappte. Er hatte sich so aufgeregt. Luke eilte sofort zu ihm, setzte sich daneben.

„Nun beruhige dich. Versuch langsam zu atmen.“

Alec wollte von ihm wegrutschen, war so enttäuscht, wollte ihn jetzt nicht so nah haben. Luke hielt ihn fest.

„Lass mich bitte los“, stammelte er mit hochrotem Kopf und schnappte weiter nach Luft.

„Nein. Ich wollte dir mit meinen Worten nicht wehtun. Aber wie gesagt, ich muss mit diesen Situationen erst mal selbst klarkommen. Das geht nicht gegen dich. Das ist wirklich nicht so einfach.“

Alec wurde langsam ruhiger, atmete normal.

„Geht‘s wieder?“ Die Antwort war ein Nicken.

„Komm, lassen wir das Thema. Ich mach was zu essen und du nimmst deine Medikamente.“ Beide wussten, dass dieses Thema nur wieder verschoben wurde, beließen es aber dabei, wechselten beim Frühstück nicht viele Worte.

„Wann müssen wir zurück nach Berlin?“, fragte Alec schließlich.

„Nachmittags so gegen vier. Wir könnten vorher noch ein bisschen spazieren gehen, wenn du willst.“

„Ja, können wir.“

Sie räumten den Tisch ab und packten ihre Sachen zusammen. Alec räumte das kleine Häuschen auf, bis sie schließlich beide ein letztes Mal am Strand spazieren gingen. Dabei geschah es, dass Luke auf einen Stein trat und umknickte. Alec konnte ihn fast vor dem Fallen bewahren und stütze ihn kurz, so gut er konnte.

„Ah! Verdammt. Na prima, das hat gerade noch gefehlt.“

Luke setzte sich kurz in den Sand. Alec hockte sich daneben.

„Was ist los? Tut‘s doll weh?“

„Nein, das geht schon, aber ich sollte den Fuß ausruhen.“

„Dann lass uns zurückgehen, geht das?“

„Ja, so weit werde ich noch kommen. Aber das zurückfahren könnte problematisch werden. Das wird nachher gleich dick.“

„Ich kann doch fahren.“

„Du kannst Auto fahren?“ Luke beäugte ihn ungläubig, lächelte ihn dabei verschämt an.

„Klar. Muss ich doch zu Hause und auf Arbeit auch. Siehst du, das ist etwas, was auch du nicht über mich wusstest“, scherzte er nun sanft.

„Bei dem Gedanken daran habe ich Angst um mein schönes Auto“, Luke witzelte weiter, zauberte endlich ein kleines Lächeln auf Alecs Lippen, nachdem der Morgen so niedergeschlagen begann.

„Ach quatsch, nur weil‘s ein dicker BMW ist?“, stichelte Alec. „Ich kann das, glaub mir. Ich komme vom Land, da muss man Auto fahren können.“

„Na Hauptsache, wir kommen an und du lässt mein Auto heil.“

„Immer doch.“

Am frühen Abend machten sie sich auf den Rückweg nach Berlin, Alec stieg wenig später in den Zug Richtung Neuruppin.

Raphael

Der Montag nahte, Zeit, zur Arbeit zu gehen. Montag gegen Abend wollte er zurück nach Berlin, Luke hatte ja versprochen, ihm Raphael vorzustellen. Dieses Mal hatte er einen ruhigen Wochenstart, keine Dana, kein nerviger Vorgesetzter und von seinen anderen Abteilungskollegen waren nur zwei anwesend.

Kaum zu Hause angekommen, schnappte er sich seine Sachen und wollte sich auf den Weg machen. Seine Mutter war heute gar nicht da, hatte ihn aber gestern Abend schon übers Wochenende ausgequetscht. Er hinterließ ihr eine Nachricht – er sei in Berlin ... Bis morgen! -

Dort machte er sich schnurstracks auf den Weg zur Klinik, wo Luke arbeitete. Das tat er auch heute trotz leicht angeschwollenen Fußgelenks.

Alec kam sich seltsam vor, als er die Klinik betrat. Zu lange war er dort gewesen, zu nah kamen jetzt auch die Erinnerungen. Auch diese an seinen ersten Versuch, Luke dort nochmals zu treffen. Er verwarf alle Gedanken und betrat das Gebäude. Alec wusste, dass er nicht ohne Weiteres dorthin kam, wo Luke zu finden war, und ließ ihn ins Foyer rufen. Er wurde kurz vertröstet, setzte sich auf einen der Besucherstühle und blickte in die Runde auf die Gesichter der anderen. Eine Frau kam ihm bekannt vor, aber er verband sie an diesem Ort mit keinem bekannten Gesicht. Er sah durch die Glastür, dass Luke sich näherte. Er steuerte allerdings zuerst auf die Frau zu, die Alec zu kennen glaubte. Sprach kurz zu ihr und rief dann in aller Förmlichkeit zu Alec „Folgen Sie mir auch gleich, Herr Wiek?“

Alec sichtlich verwirrt, tat dies, folgte Luke und dieser Frau, hielt sich aber im Hintergrund. Luke ging mit der Dame in eines der Patientenzimmer, vertröstete Alec mit den Worten, dass er kurz warten solle.

Als Luke aus dem Zimmer kam, stand Alec noch wie kurz zuvor abgestellt an Ort und Stelle.

„Hey! Entschuldige die Förmlichkeit.“

„Kein Problem, Herr Doktor.“

„Hör auf mit dem Quatsch, komm mit.“ Luke hatte eine Krankenakte unter dem Arm geklemmt, wirkte leicht gereizt und nutzte die Gelegenheit des leeren Flures. „Sag mal, die kleine Nervensäge bei dir auf Arbeit, wie hieß die doch gleich?“

„Dana. Wieso?“ Luke schlug wortlos die Akte auf, zeigte Alec nur Namen und Adresse. Der schaute verdutzt. „Ja, genau die.“ Noch bevor Alec fragen konnte, begann Luke zu reden. „Sie hatte einen Verkehrsunfall. Wollte wohl eine Freundin hier in der Nähe besuchen, als ihr einer die Vorfahrt nahm und in die Seite krachte. Jedenfalls sagt sie das so.“ Bei Alec machte es Klick, jetzt wusste er, woher er diese Frau kannte, es war Danas Mutter. Sie schien ihn aber auch nicht erkannt, oder nicht wahrgenommen zu haben.

„Oh. Wie geht’s ihr denn?“ So ganz kalt ließ Alec das dann doch nicht.

„Sie ist okay. Schock, ein Arm gebrochen und die Halswirbelsäule etwas angeschlagen. Sonst alles okay.“

„Warst du als Notarzt draußen?“

„Nein, das mache ich ja eigentlich nicht. Schon gar nicht ohne Oberarzt. Darf ich noch nicht raus. Bin ja meistens nur hier. Das mit dir war reiner Zufall. Mein Kollege war zu Schichtbeginn nicht da, dann haben sie mich schnell geschickt. Das war auch der Grund, warum ich danach so schnell weg konnte. Mein Kollege war endlich aufgekreuzt, hatte verschlafen. Na ja, der Einsatz war nicht ganz richtig abgelaufen, kein Oberarzt und ich allein als Assistenz ... hätte nicht sein dürfen. Lief alles drunter und drüber. Egal.“

Die beiden waren inzwischen vor Raphaels Zimmer angekommen. Luke blieb stehen: „Bitte!“, und zeigte auf die Tür. „Aber bevor du reingehst. Sobald irgendwas sein sollte, ruf mich sofort. Ansonsten habe ich in einer halben Stunde Feierabend und hole dich vor dieser Tür ab. Okay?“ Er schaute ihm tief in die Augen, sah Alecs Anspannung. Der antwortete, indem er wieder nickte.

„Das ist gut“, sagte Luke, noch bevor sein Pieper ihn wieder in die Notaufnahme rief. „Ich muss, sorry. Mach keinen Blödsinn, ruf mich sofort, wenn was ist.“

 

Alec verweilte noch einen Augenblick vor der Tür, bevor er den Mut fasste, sie zu öffnen. Er wartete, bis Luke außer Sichtweite war.

Er hoffte, Raphael wach vorzufinden, wusste aber gar nicht, was er zu ihm sagen sollte. Er öffnete die Tür langsam und leise, trat ein. Raphael lag im Bett, las ein Buch. Als er zur Seite schaute, erblickte er Alec und war etwas verwundert. Eigentlich kam niemand zu ihm, nur seine Eltern oder Ärzte bzw. Krankenschwestern.

Die beiden standen sich gegenüber, Alec hatte die Tür geschlossen, nun schauten sie sich an. Keiner sagte einen Ton, bis Alec schließlich ansetzte.

„Hallo. Ich bin Alec.“

„Schön. Hallo.“

Stille. Raphael wartete, was wollte der Fremde? Alec hatte einen Kloß im Hals, bemühte sich aber, weiter zu sprechen: „Ich bin. Also ich war in der gleichen Situation wie du.“

Raphael blickte ihn noch immer ungläubig an, ließ das Buch auf die Bettdecke sinken. Alec machte einen Schritt auf ihn zu, stammelte zögernd weiter. „Ich konnte der Polizei helfen, dich zu finden. Ich war da auch eingesperrt. Über ein Jahr.“

„Die Polizei hat mir davon erzählt. Also, dass sie Hilfe hatten, mich zu finden.“ Endlich sagte Raphael etwas, Alec wirkte erleichtert.

„Du kannst ruhig näher kommen.“ Alec, der mitten im Raum stand, tat dies und setzte sich auf einen der Besucherstühle.

„Was haben sie denn erzählt?“

„Dass sie beim Ermitteln sind und dass ich nicht der einzige bin und dass sie Hilfe hatten, mich dort zu finden.“

„Sie versuchen noch immer, den Täter zu finden. Kannst du dich daran erinnern?“ Alec wurde direkter. Der Blonde Raphael sah ihm recht ähnlich, schlank, genauso groß, ein nettes Gesicht. Nur hatte er leicht lockiges Haar, wovon ihm die Strähnen im Gesicht hingen.

„Nein. Kann ich nicht. Und eigentlich will ich darüber auch nicht reden. Wie bist du eigentlich hier reingekommen? Normalerweise empfange ich niemanden.“

„Ähm, Kontakte. Ich wollte dich sehen, in der Hoffnung, dass wir uns darüber austauschen können und das aufklären, dass nicht noch mehr passiert.“

„Na nun wissen sie ja, wo dieses Verließ steht, da wird dieses Arschloch niemanden mehr einsperren.“ Raphael erschien recht locker. Nicht so ängstlich wie Alec.

„Wie lange warst du da?“

„4 Wochen. So lange brauchten die wohl, um Parallelen aufzustellen, bis sie wahrscheinlich dich gefragt haben. Wie lange warst du da?“

„Über ein Jahr.“

„Stimmt, sagtest du ja bereits. Wie hast du das ausgehalten? Ich hätte mir nach den vier Wochen am liebsten schon einen Strick genommen!“

„Mh, ich hatte ja keine Wahl. Kam da auch nur durch Zufall raus.“

„Dich hat da also keiner rausgeholt?“

„Nein. Sie haben mich ja nicht gefunden. Hatten die Suche irgendwann aufgegeben.“ Er zögerte kurz. „Ich konnte entwischen, als einer der Typen die Tür offen ließ, er hatte meinen Kopf irgendwo gegengeschleudert, muss Angst bekommen haben und ist abgehauen. Ich habe die Chance genutzt. War aber nicht recht bei Sinnen und rannte auf die Straße. Dort wurde ich, wie mir erzählt wurde, angefahren. So hatten sie mich dann dort gefunden.“

Raphael war geschockt. Er hatte diese vier Wochen schon als Höllenqualen empfunden und konnte nicht verstehen, wie Alec das so lange ausgehalten hatte. Er wusste auch so recht nichts mehr dazu zu sagen.

„Wie kommst du damit klar?“

„Nicht gut. Ich habe einen verständnisvollen Freund, aber ...“

„Was?“

„Ich weiß nicht, wie lange er mich so erträgt.“ Alec schaute zur Seite weg, versuchte die Tränen zu verdrängen. Dann schaute er zurück zu Raphael, die Zähne zusammengebissen.

„Wenn er dich versteht, wird er dich ertragen. Ich gehe mal davon aus, dass er dich liebt. Sonst hätte er dich doch nicht als Freund.“ Raphael versuchte, etwas Ruhe reinzubringen. Erkannte Alecs plötzliche Zerbrechlichkeit.

„Das hoffe ich. Wie lange musst du noch hier bleiben?“

„Keine Ahnung, muss ich den Arzt fragen.“

„Ich war ewig hier. Mein Freund sagt, es war ein Wunder, dass ich überlebt habe. Die Verletzungen waren sehr schwer. Er muss es ja wissen.“

„Wie, du hattest ihn damals schon?“ Raphael schaute verwirrt.

„Nein. Also ich hatte ihn vor der ganzen Sache schon mal gesehen. Dann trennten sich unsere Wege und dann haben wir uns hier wiedergetroffen.“

Nun wurde der andere neugierig. „Wer ist es denn?“

„Du kennst ihn auch, arbeitet hier. Ich muss jetzt wieder los. Können wir uns wieder sehen? Ich meine, würdest du das wollen?“

„Ja. Ich denke, wir können über viel reden, vielleicht hilft es uns beiden?!“

Alec nickte, ging dann zur Tür und verabschiedete sich. „Ich weiß ja, wo ich dich finde.“

Auf dem Flur blickte Alec in beide Richtungen, niemand zu sehen, menschenleer. Er hockte sich, angelehnt an die Wand, hin und atmete tief durch. Luke war noch nicht da, auch hatte er noch einige Minuten. Aber er musste die Anspannung loswerden. Er stand schnell wieder auf, bevor noch jemand vorbeikam und ihn darauf ansprechen konnte. Er wollte eigentlich ganz schnell aus diesem Gebäude raus, musste aber auf Luke warten. Er wurde nervös, zittrig. Endlich kam er um die Ecke geschlendert, sah Alec seine Gefühle an.

„Alles okay?“

„Ich muss hier raus und zwar schnell!“

Luke dachte schnell nach, wählte den kürzesten Weg. Er schnappte Alec am Arm, zog ihn hinter sich her.

„Komm mit, los.“ Er ließ ihn sehr bald wieder los, aus Angst, dass es ein Kollege entdecken könnte. Er wählte einen der Notausgänge, die immer offen standen und an der Seite des Gebäudes herausführten. Vor der Tür blieben beide stehen. Luke drehte sich zu Alec um, schaute ihn an, sah ihm an, dass er kurz vor einem Zusammenbruch war. Wie gern hätte er ihn jetzt in den Arm genommen, tat es aber nicht.

„Beruhige dich, lass uns nach Haus fahren. Ok?“ Er versuchte, ihm in die Augen zu schauen. „Sag mir, dass es ok ist?“ Kurze Stille. „Alec!“ Er reagierte wieder. „Ja.“

„Dann lass uns gehen. Schnell.“

Die beiden gingen zum Auto, Alec wie ein Häufchen Elend hinter Luke her. Beobachtet wurde die Situation von Lukes Oberarzt. Der machte sich noch keinen Reim, glaubte aber, Alec zu erkennen. Lange genug hatte er ihn als Patient gehabt.

 

Luke beobachtete während der Fahrt Alec ein wenig, musste sich dann aber vermehrt auf den dichten Verkehr konzentrieren.

„Geht's wieder?“ Er bekam keine Antwort.

„Alec? Hey?“

Alec starrte wieder aus dem Seitenfenster, rührte sich nicht. Luke fasste ihm gegen die Schulter, er zuckte zusammen.

„War es so schlimm? Ich hätte dich nicht zu ihm lassen dürfen. Am besten gehst du nicht wieder hin.“

Alec kam wieder zurück in die Realität, erlangte die Fassung wieder: „Nein. Das war gut so. Danke.“

„Du bist aber doch sehr geschafft? Habt ihr viel geredet?“

„Nein, ein wenig. Aber für mich war es fürs Erste genug. Ich möchte ihn nochmal besuchen.“

Luke stöhnte leise. „Bist du dir sicher?“

„Ja, das bin ich.“

Der Abend war nicht mehr lang, als die beiden die Wohnung erreichten. Luke besorgte schnell etwas zu essen, dann gingen sie ins Bett. Er war beruhigt, dass der vorherstehende Nervenzusammenbruch doch nicht kam und Alec sich wieder beruhigt hatte. Diese Nacht hatte er ihn vorsorglich überredet, eine Schlaftablette zu nehmen.

Verdächtigungen

Luke stand völlig übermüdet gegen sechs Uhr auf, um auch Alec zu wecken, der musste ja wieder nach Hause und zur Arbeit. Schlaftrunken brachte er ihn zum Bahnhof, bevor er wieder zurück in seine Wohnung wandelte und weiterschlief. Am nächsten Abend würden sie sich nicht sehen, Luke hatte Schichtwechsel und war dann in der Nacht arbeiten.

Tagsüber bekam er allerdings noch unerwarteten Besuch. Als es an der Tür klingelte und er sie öffnete, erblickte er verwundert die beiden Polizisten, die Alec damals abgeholt hatten.

„Guten Tag, Herr Franklin, Sie erinnern sich bestimmt an uns?“

„Natürlich. Alec ist aber nicht hier, falls Sie ihn wieder suchen?“ Luke konnte es sich kaum verkneifen, sie leicht zu verspotten.

„Nein, wir möchten mit Ihnen reden.“ Er bat sie mit einer Geste herein und führte sie wieder ins Wohnzimmer. Als sich alle gesetzt hatten, begann einer der Beamten.

„Wir sind noch immer beim Ermitteln im Fall von Alec Wiek und Raphael Neumann.“ Luke nickte, ließ ihn weiter sprechen. „Wie lange kennen Sie Herr Wiek schon? Kannten Sie ihn schon vor dem Krankenhausaufenthalt?“

„Ja. Nicht direkt kennen. Aber ich hatte ihn schon mal gesehen.“

„Wo und wann war das?“

„Uff, ich weiß nicht. Ein, zwei Jahre vorher.“

„Und wo?“

Luke versuchte, sich Worte zurechtzulegen. Sagte die Wahrheit: „Ich habe ihn auf der Straße aufgelesen. Jemand hatte ihn verprügelt und er hatte Drogen genommen oder auch verabreicht bekommen. Zu allererst sah ich ihn aber damals in Neuruppin im Krankenhaus.“

„Wo haben Sie ihn hingebracht, als Sie ihn auf der Straße gefunden haben?“

„Zu mir nach Hause. Ich weiß, er hätte in ein Krankenhaus gehört.“

„Warum haben Sie ihn nicht dorthin gebracht?“

„Das weiß ich nicht.“ Luke resignierte, er wusste wirklich nicht, was ihn damals geritten hatte, das zu tun.

„Sie haben also einen völlig Fremden, der zusammengeschlagen auf der Straße lag, mit nach Hause genommen?“

„Das habe ich getan.“ Erst jetzt wurde ihm klar, wie verantwortungslos er gewesen war. „Ich weiß wirklich nicht warum. Aber ich konnte ihm helfen. Ich war da noch Student, hatte aber Erfahrungen. Manchmal tut man halt seltsame Sachen.“

Die Polizisten nahmen die Antwort hin, versuchten weiter, geschickte Fragen zu stellen, um Luke einzuwickeln. Das Gespräch zog sich hin, bis die entscheidende Frage fiel, die Luke aus dem Konzept brachte. Er hatte vorher brav alles wahrheitsgemäß geantwortet. Jedenfalls so gut er konnte.

„Führen Sie eine Beziehung mit ihm?“ Eine Antwort auf diese Frage käme einem Coming-out gleich. Zu lange zögern durfte er nicht, das wäre zu auffällig.

„Ich ... wir sind befreundet. Ich kümmere mich um ihn. Ich versuche ihm zu helfen.“

„Machen Sie das mit allen ehemaligen Patienten so?“

„Nein, nur mit ihm“, wehrte er sich vehement.

„Warum?“

„Weil wir befreundet sind, wie gesagt.“ Luke wurde etwas unruhig.

„Sind sie homosexuell?“

„Was geht Sie das an?“ Nun wurde er bissig. Diese Antwort wurde hingenommen.

„Kommt er freiwillig zu Ihnen?“

„Na sicherlich tut er das. Ich möchte Sie bitten, jetzt zu gehen. Ich muss solche Fragen nicht beantworten.“ Er schmiss die beiden raus, war wütend, etwas ungehalten. Sowas kannte er von sich kaum. Es gab wenige Situationen, in denen er so reagierte. Aber ihm indirekt zu unterstellen, dass er ihm all diese Schmerzen bereitet hätte, ließ den Kragen platzen.

Als er die Tür zugeschmissen hatte, beschloss er, sofort Alec anzurufen. Der war wahrscheinlich noch arbeiten. Er versuchte es auf seinem Handy, niemand ging ran. Auch in Alecs Büro nahm niemand ab. Luke machte sich Gedanken. Überlegte gleich, in Richtung Neuruppin zu fahren, ließ es aus Zeitmangel dann aber sein. Seine Schicht beginnt ja bald.

Alec war noch immer arbeiten und plagte sich an diesem Tag mit einer älteren Mitarbeiterin rum, mit der er gemeinsam etwas erarbeiten sollte. Die freute sich über den jungen Mann, der ihr zur Seite gestellt wurde.

„Ach Alex, das ist toll, dass du mir dabei hilfst.“

„Alec.“

„Ja, weißt du, Alex, ich hatte dich ja in deiner Ausbildung das letzte Mal hier oben. Du kommst ja nicht so oft in meine Abteilung.“

„Alec.“

„Wie bitte?“

„Ich heiße Alec, nicht Alex. Sie haben mich schon in der Ausbildung die ganze Zeit Alex genannt.“

Sie lachte. „Ach ich hab's mit Namen nicht so. Lass uns anfangen.“

Alec war schon nach den ersten Minuten völlig genervt und ließ sich vollquatschen. Sie nannte ihn weiterhin Alex und erzählte über Gott und die Welt, während er versuchte, konzentriert einige Daten rauszusuchen. Er machte sich gegen fünf völlig gestresst auf den Rückweg. Als sein Handy klingelte, schaute er gar nicht, wer anrief und nahm ab. Noch immer etwas aggressiv eingestellt kam von ihm nur ein „Was?“. Luke am anderen Ende war leicht geschockt.

„Alles in Ordnung?“

„Ach, du bist es. Entschuldige. Ja klar, ich bin auf dem Heimweg. Meine Kollegin hat mich heute nur völlig auf die Palme gebracht. Ich kann mich da nicht konzentrieren, die hört nicht auf zu reden und nennt mich ständig Alex.“ Luke am anderen Ende lachte. „Mach dir doch nichts draus, kommt deinem Namen doch sehr nahe.“

„Ja, ja, aber die war schon immer so. Bei dir alles ok?“

„Na ja. Ich hatte heute Besuch.“

„Von wem denn?“

„Von den beiden Polizisten, die sich um deinen Fall kümmern.“

„Was wollten die denn bei dir?“ Alec wurde hellhörig.

„Die haben mich ausgefragt. Die denken, ich habe dir das angetan.“ Plötzliche Stille am anderen Ende, bis Alec stammelte. „W... wa... wie jetzt? Wie kommen die denn da drauf?“

„Ich habe keine Ahnung. Aber die Fragen, die sie mir stellten, leiteten darauf hin. Ich wollte dir das nur sagen.“

„Also bei mir waren die bisher nicht“, meinte Alec, als er um die Straßenecke lief und schon den Polizeiwagen vor der Tür stehen sah. „Ja prima, die stehen gerade vor der Tür. Zumindest das Auto. Ich ruf dich nachher nochmal an?“

„Du wirst mich nicht erreichen, ich bin arbeiten.“

„Dann morgen. Mach‘s gut!“

„Mmmh.“

Als er ins Haus ging, rief seine Mutter ihn gleich ins Wohnzimmer. Sie wartete dort mit den Beamten. Das waren natürlich auch die, die Luke befragt hatten. Alec schaute sie etwas genervt und böse an, begrüßte sie aber.

„Guten Tag, Herr Wiek. Wir haben nur einige Fragen.“

„Das dachte ich mir“, meinte Alec und setzte sich. Seine Mutter verließ den Raum.

„Konnten Sie sich bisher noch an andere Sachen, die passiert sind, erinnern? Wir sind sehr bemüht, den Täter zu finden und die Sache aufzuklären.“

„Nein, konnte ich nicht. Ach so und deshalb verdächtigen Sie jetzt Dr. Franklin?“ Jetzt wurde der sonst so ruhige Alec auch etwas bissig. Die Polizisten leicht geschockt, wie schnell er davon erfahren hatte: „Nein, das war nur eine Standardbefragung.“

„Wenn Sie das sagen. Er hat jedenfalls nichts damit zu tun.“

„Dann sagen Sie uns doch, wer.“

„Ich weiß es doch nicht. Ich habe einen Filmriss. Mir fehlt genau dieser Abschnitt. Ich habe keine Ahnung.“

„Wir würden Ihnen gern noch Fragen bezüglich Dr. Franklin stellen.“

„Er hat damit nichts zu tun, aber gut.“ Die beiden stellten ihm fast die gleichen Fragen, wollen sehen, ob sich die Antworten decken. Das taten sie, auch wenn Alec nicht mehr alles über die erste Begegnung wusste. Auch konnte er sich an Teile seines Krankenhausaufenthalts nicht vollständig erinnern.

„Und Sie besuchen Dr. Franklin in Ihrer Freizeit oft?“

„Ja, spricht etwas dagegen? Wir haben uns angefreundet.“

„Nein, da spricht nichts dagegen. Wir möchten uns erst mal für das Gespräch bedanken.“

Sie verabschiedeten sich und verließen das Haus. Alec blieb nachdenklich zurück. Wie kamen sie nur darauf, dass Luke etwas damit zu tun haben könnte. Dort konnten doch keine Parallelen sein, er kannte ihn doch vorher gar nicht richtig. Sie hatten sich ja lediglich die paar Male gesehen, dann nie wieder, bis zu seinem Krankenhausaufenthalt. Alec ging noch, bevor seine Mutter ihn abfangen konnte, in sein Zimmer und dachte weiter nach.

Er hatte plötzlich wieder Bilder im Kopf. Seinen Peiniger sah er in Umrissen, er war sehr groß, hatte es leicht, ihn zu unterdrücken. Er hörte im Gedächtnis die Stimme. Aus den Gedanken holte ihn seine Mutter, die an seiner Tür klopfte und nach ihm rief. Er machte die Augen auf, atmete tief durch. „Ja?“ Sie kam herein, sah ihn auf dem Bett sitzen.

„Geht es dir gut, Alec?“

„Ja, war nur auf Arbeit etwas stressig heute.“

„Was wollten denn die Polizisten von dir?“

„Nur einige Fragen stellen, nichts weiter.“

Alec hasste die Neugier seiner Mutter. Als sie das Zimmer verließ, begann er ein Bild zu zeichnen. Das hatte er lange nicht getan. Früher immer, sobald er Zeit und Ideen hatte. Er zeichnete die halbe Nacht verschiedene Skizzen. Fast wahllos, aber doch irgendwie im Zusammenhang. Am nächsten Tag war er während der Arbeit recht müde, seine Kollegen zerrissen sich mal wieder das Maul über andere und stellten dann fest, dass von Dana, die eigentlich Berufsschule hatte, ein Krankenschein eingegangen war.

„Weiß denn einer, was sie hat?“, fragte Anna, alle verneinten. Alec sagte nichts. Er wusste, dass sonst zu viele Fragen folgen würden.

Falsche Fährte

Luke hingegen beschäftigte sich am nächsten Morgen mit der Visite. Dabei auch mit Dana. Er trat ein, begrüßte sie und stellte einige Fragen. Sie schaute ihn ständig an, glotzte auf sein Namensschild, bis sie den Namen Franklin entziffern konnte. „Sie sind doch ...“, begann sie mitten im Gespräch. Luke wurde hellhörig, wusste nicht, was sie meinte und hakte freundlich nach. „Was bin ich?“

„Ich habe Sie doch in Neuruppin schon mal gesehen.“ Nun erkannte auch Dana das Gesicht wieder, sie hatte ja gestern schon überlegt, war sich aber nicht sicher.

„Das muss eine Verwechslung sein“, Luke versuchte, sich aus dem Thema zu winden.

„Nein, Sie fahren einen BMW, Sie waren dort mit Alec.“

Im selben Augenblick trat eine der Schwestern ein, Luke widmete sich ihr sofort. Gut, dass sie diese Situation aufgelöst hatte. Diese Frage ließ er unbeantwortet. Er überlegte vergebens, Dana an einen anderen Arzt abzugeben. Aber sie hatte ihn sowieso schon erkannt. Vor der nächsten Visite graulte es ihm schon ein wenig. Er wollte ihre Fragen nicht beantworten, wusste aber nicht, wie er sich freundlich da herausmanövrieren konnte. Sie war so frech, wie Alec bereits erzählt hatte.

Nach der Arbeit telefonierte Luke sehr lang mit Linda. Sie verabschiedete sich nur, weil sie mit Sohn Eric zum Schwimmen musste und es Zeit wurde, Töchterchen Lisa vom Reiten abzuholen. Luke war dankbar für die Gespräche, er genoss es, wieder jemanden zu haben, bei dem er sich seine Sorgen von der Seele reden konnte. Und vor allem jemanden, mit dem er über Alec sprechen konnte.

 

Der Visite am nächsten Morgen konnte Luke sich nicht entziehen. Auch hatte er an diesem Tag niemanden dabei, der ihn hätte aus dieser Situation holen können. Keinen Praktikanten, keine Schwester, kein Student, der ihn begleitete. Dana versuchte vergeblich, ihn zu löchern, er wand sich aus den Fragen heraus, hielt sich nur sehr kurz bei ihr auf. Alec machte sich erst am Freitag wieder auf den Weg nach Berlin. Ihm war es zu stressig, jeden Abend zu fahren. Er wollte so gern bei Luke sein, nur ließ Lukes Schichtplan das sehr selten zu.

Er hatte ihm nochmal versprochen, ihn zu Raphael zu bringen und wollte sein Wort auch halten. Alec kam pünktlich im Krankenhaus an und traf auf Luke, als dieser gerade eine kurze Pause vor der Tür machte. Luke schleuste ihn durchs Haus, gab ihm eine halbe Stunde und verschwand zurück an die Arbeit.

Als er ihn wieder vor der Tür des Patientenzimmers abholte, wirkte er entspannter als beim letzten Mal. Die beiden hatten noch nicht viele Worte gewechselt, auch hatten sie in der letzten Woche selten miteinander telefoniert. Die Zeit war nicht da und Luke war noch immer etwas geschockt vom Verdacht der Polizisten. Er wusste nicht, wie sie darauf gekommen waren. Was hatte Alec ihnen erzählt?

Wortlos gingen sie zum Auto. Alec bemerkte Lukes Abneigung, wusste aber keine Erklärung, sah seinem Freund nur die Müdigkeit an und blieb stumm. Erst in der Wohnung wollte er das Eis brechen. Er zog sich gerade die Jacke aus, betrachtete Lukes Rücken und begann: „Darf ich fragen, was los ist?“

„Darfst du. Ich bin sehr müde. Deine Dana schafft mich und die vielen anderen Sachen, die in meinem Kopf rumschwirren.“

„Was ist denn?“ Alec war verwundert, hatte Luke noch nie so niedergeschlagen erlebt.

„Ach nichts. Lass mich nur schlafen, bitte. Hat nichts mit dir zu tun.“ Luke küsste Alec noch schnell auf die Stirn und ging dann Richtung Schlafzimmer, es war erst 17 Uhr. Alec stand allein im Flur, gerade angekommen und schon wieder allein gelassen. Er war vorsichtig, wurde schüchtern. „Darf ich mit zu dir ins Bett?“

„Seit wann fragst du das?“ Er drehte sich nochmal um und schaute Alec an. „Nun komm.“

Alec verschwand noch schnell im Badezimmer und ging dann zu Luke, der schon im Bett lag und das Hinlegen und die Umarmung seines Freundes mit einem leichten Murren entgegennahm.

Diese Nacht hatte er wieder Albträume. In der letzten Zeit hatte er es geschafft, einige Nächte normal zu schlafen. Warum musste ihm das ausgerechnet wieder in Lukes Gegenwart passieren? Es dauerte nicht lange, bis er anfing, um sich zu schlagen, traf dabei auch Luke, der verwirrt erwachte. Er bemühte sich, Alec zu beruhigen, fing sich dabei einige Schläge ein und drückte ihn schließlich aufs Bett, woraufhin er zu schreien begann.

Plötzlich klingelte es an der Tür. Luke ignorierte es und versuchte weiter, Alec zu beruhigen. Als das Klingeln durch ein Klopfen und Rufen verstärkt wurde, ging er schnell zur Tür, ließ seinen Freund zurück.

Vor ihm standen wieder die Polizisten. Er ihnen gegenüber, in Boxershorts und T-Shirt.

„Was wollen Sie denn? Es ist ein denkbar schlechter Zeitpunkt“, war Lukes harsche Begrüßung. Einer der Beamten stürmte in die Wohnung, als Sie Alecs Gewimmer hörten. Der andere hielt Luke in ständiger Beobachtung, strafte ihn mit einem abwertenden Blick. Luke wollte folgen.

„Sie bleiben hier“, forderte der zurückgebliebene Beamte und hielt ihn am Arm fest, als er sich wegdrehen wollte. Luke wollte verhindern, dass sie zu Alec gingen. „Lassen Sie ihn“, rief er hinterher. „Lassen Sie mich los“, brüllte er den anderen an und riss sich los, um ins Schlafzimmer zu folgen. „Was soll das alles hier? Fassen Sie ihn nicht an!“

„Sie werden ihn nicht mehr anfassen. Wir müssen Sie festnehmen. Verdacht auf Vergewaltigung. Bloß gut, dass wir jetzt gekommen sind!“, war die Feststellung der Polizistin, die sich Alec nähern wollte.

„W… Was wollen Sie? Das stimmt nicht, das ist nicht so, wie es aussieht. Er hat einen Nervenzusammenbruch. Sie verschlimmern das nur!“, rechtfertigte Luke sich.

„Das sagen sie alle, kommen Sie mit“, ergriff der Polizist nun seinen Arm.

Als Luke versuchte, die Hand an seinem Arm abzuschütteln, festigte der Polizist seinen Griff und setzte nach. „Wir können das ganz vernünftig machen. Sie ziehen sich was an, folgen mir. Sollten Sie nur noch einmal versuchen, sich zu wehren, werde ich Sie hier in Handschellen abführen. Ich traue Ihnen eigentlich zu, dass Sie sich soweit benehmen können, dass das nicht notwendig ist.“

Luke wusste kaum etwas zu sagen, atmete schwer, hatte ein Auge auf Alec. Der andere Polizist rief in der Zwischenzeit einen Notarzt.

„Machen Sie schon“, drängte der andere Luke.

„Darf ich überhaupt mal sagen, was los ist?“, kam bissig zurück.

„Das können Sie auf der Wache.“ Er schaute noch immer aufgeregt auf Alec, der sich durch die Situation nicht mehr beruhigte und Lukes Namen rief. Der Notarzt traf recht schnell ein. Luke hatte man ins Nebenzimmer verfrachtet. „Er darf bestimmte Medikamente nicht nehmen. Lassen Sie mich wenigstens mit dem Arzt sprechen“, bedrängt er den Polizisten, der auf ihn aufpasste.

„Woher wollen Sie das wissen? Sie bleiben hier und reden mit niemanden.“

„Mann, ich weiß es, weil ich ihn behandele. Ich bin sein Arzt! Er hat Allergien. Die falschen Medikamente können ihn umbringen. Gerade bei Beruhigungsmitteln das Diazepam. Und das ist das meistverwendete. Das wäre damals fast passiert, der Notarzt hatte ihm die falschen Medikamente gegeben, weil er es nicht wusste. Wir hatten zu tun, ihn wieder zurückzuholen. Lassen Sie mich ihm doch helfen. Ich kenne ihn! Das wird sonst lebensgefährlich für ihn!“ Der Polizist ließ sich darauf ein, dass Luke einen Zettel schrieb, was Alec nicht bekommen dürfe. Luke kritzelte darunter schnell, was er ihm geben sollte und in welcher Dosierung, und reichte den an den Polizisten weiter, der ihn dem anderen Arzt überbrachte. Beinahe wäre es zu spät gewesen. Jedoch brauchten die Rettungsassistenten und der Arzt sehr lange, um ihn überhaupt so weit festhalten zu können, um ein Beruhigungsmittel zu spritzen. Alec war durch die vielen fremden Gesichter völlig verwirrt und nahm nichts mehr wahr. Völlig verkrampft, zitternd und nach Luke schreiend lag er am Boden, festgehalten von den Helfern.

„Warten Sie! Er hat wohl eine Medikamentenallergie, das hier darf er nicht bekommen“, und hielt ihm den Zettel vor die Nase. „Woher wissen Sie das?“, fragte der Mediziner. „Sagt der, den wir festgenommen haben, ist Arzt.“

Der Notarzt nahm die Antwort so hin. Der Zettel erschien ihm schlüssig. Er wechselte schnell das Beruhigungsmittel, bevor er es Alec spritzte.

Alec wurde ins Krankenhaus verfrachtet, Luke nahm man mit auf die Wache.

„Ich weiß nicht, was das hier soll?“, versuchte der, sich zu verteidigen. Sie befragten ihn nach dem Ablauf des Abends. Befragten, warum sich Alec bei ihm aufhielt, behielten ihn die Nacht dort.

Dann warteten sie darauf, bis Alec so weit ansprechbar war, um ihn zu befragen.

 

Er erwachte etwas später im Krankenhaus, sehr schläfrig und nahm nur verschwommen die Ärzte wahr, die sich um ihn kümmerten. Er wurde wieder unruhig, rief nach Luke. Als er wieder zu vollem Bewusstsein kam, beruhigte er sich auch langsam wieder.

„Hallo Herr Wiek, wissen Sie, wo sie sind?“, befragte ihn einer der Ärzte. Alec schaute zu ihm. „Wer sind Sie?“

„Ich bin Dr. Merten. Können Sie mir erzählen, was passiert ist?“ Alec bemerkte die Beamten im Hintergrund nicht.

„Es ist nichts passiert.“ Seine Stimme klang noch immer benommen.

„Versuchen Sie, sich zu erinnern. Können Sie sich erinnern?“

„Ja. Es ist nichts passiert. Ich hatte wieder diese Albträume.“

„Was hat der andere Mann mit Ihnen gemacht?“

„Gar nichts, er hat versucht, mich zu beruhigen. Er würde mir nichts tun. Wo ist er, wo ist Luke?“

„Zwingt er Sie, das zu sagen?“

„Nein, verdammt.“ Alec bekam plötzlich stechende Kopfschmerzen und kniff die Augen zusammen.

„Ich komme gleich zu Ihnen zurück“, sagte der Arzt und ging gemeinsam mit den Polizisten vor die Tür.

„Nun, es gibt keine Hinweise auf eine Vergewaltigung, er hat keine Verletzungen, die darauf hinweisen könnten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es nur ein normaler Nervenzusammenbruch war. Er ist wieder völlig klar. Und in dem jetzigen Zustand ist er nicht in der Lage, sich Geschichten auszudenken. Welche Beweise haben Sie denn?“

„Wir haben Vermutungen, wir danken Ihnen, Dr.“

Der Arzt schüttelte den Kopf: „Da ist nichts passiert. Er zeigt keine Angst mehr, benimmt sich der Situation entsprechend. Wäre da wirklich was gegen seinen Willen passiert, hätte er uns nicht so bereitwillig aufgeklärt und schon gar nicht seinen Namen gerufen. Und nach der Vorgeschichte, die sie mir erzählt haben, sind solche Zusammenbrüche keine Seltenheit. Ich würde da keine voreiligen Schlüsse ziehen.“

Die Beamten zogen von Dannen, zurück zur Wache, wo noch immer Luke verweilen musste. Der erste Weg führte sie zum Vorgesetzten, der sie zur Rede stellte und die Situation erfragte.

„Na bitte, lasst den Mann sofort wieder gehen! Wisst ihr, was der uns für Ärger machen kann? Ihr hattet keine ausreichenden Beweise, um ihn festzunehmen!“

„Die Mutter sagte, Alec Wiek sei verschwunden. Wir dachten, ihn dort zu finden. Und die Situation dort sah nach einer Vergewaltigung aus, wir mussten davon ausgehen!“ Die beiden versuchten, sich zu rechtfertigen, der Chef winkte ab. „Lasst ihn sofort gehen. Mit dem Fall werde ich ein anderes Team betrauen. Ihr baut ja nur Scheiße! Erst verliert ihr ihn und dann nehmt ihr seinen Arzt und Lebensgefährten fest.“ Wütend schickte er sie raus.

 

Alec hatte inzwischen Besuch von seinen Eltern bekommen, seine wieder besorgte Mutter war nicht ganz unschuldig an dem, was passiert war.

„Habt ihr Luke die Bullen auf den Hals gehetzt?“, war gleich eine der ersten Fragen, die Alec seinen Eltern stellte.

„Alec, wir haben dich vermisst. Du hast keine Nachricht hinterlassen, wo du bist. Du bist nicht an dein Telefon gegangen, du warst nicht mehr auf Arbeit. Und die Polizisten kamen gerade vorbei, weil sie dich noch was fragen wollten. Die wollten dich dann nur bei Luke aufsuchen, weil wir vermutet haben, dass du dort bist.“

„Oh Mann. Ja, mein Handy war noch auf stumm gestellt. Wisst ihr, was das für ein Zirkus geworden ist? Die haben Luke verhaftet! Lasst mich doch mal mein Leben leben. Ständig bin ich unter eurer Beobachtung.“

Die Mutter schaute wortlos auf ihren Sohn. „Das mit Luke wussten wir nicht, was war los?“

„Das geht dich nichts an. Ich möchte euch heute nicht mehr sehen.“ Er schaute Richtung Fenster, bemerkte, dass sich keiner rührte. „Nun geht schon! Du hast es echt auf die Spitze getrieben, Mama. Ich melde mich, wenn ich hier raus kann.“ Seine Mutter wusste gar nicht richtig, was er meinte. Verließ dann aber niedergeschlagen den Raum. Auf dem Rückweg meinte der Vater nur flach zu ihr: „Du erdrückst ihn mit deiner Zuwendung. Er ist doch alt genug.“ Dann herrschte Funkstille.

 

Alecs Doktor, der eigentlich gleich wiederkommen wollte, kam erst einige Zeit später wieder zu ihm. Alec plagte sich schon mit seinen Rückenschmerzen, es war inzwischen Vormittag und er hatte seine Medikamente nicht bekommen. Er erklärte dem anderen, dass er sie dringend bräuchte. Wusste aber mal wieder nicht, welche genau. Luke hatte sich in der letzten Zeit darum gekümmert.

„Sie müssen ihn anrufen. Er weiß das genau.“

„Ist das der Mann, den die Polizei festgenommen hat?“

„Ja. Er kann das aber genau sagen.“

„Wir haben schon versucht, ihren Hausarzt zu erreichen, aber der geht nicht ans Telefon.“

„Dann fragen Sie doch Luke, bitte. Ich hasse diese Schmerzen.“ Alec verzog das Gesicht, merkte, wie es stärker wurde.

Luke hatte man inzwischen rausgelassen. Der überlegte fix, welches Krankenhaus das nächste im Einzugsbereich war und steuerte dieses so schnell wie möglich an. Er ärgerte sich über die Verspätungen der S-Bahn und wusste nun wieder genau, warum er meistens sein Auto bevorzugte. Er machte Alecs Zimmer schnell ausfindig und stieß vor der Tür fast mit dem anderen Arzt zusammen, als dieser gerade das Zimmer verlassen wollte.

„Wo wollen Sie denn so schnell hin?“ fragte der. „Zu Alec Wiek. Wie geht es ihm?“

„Sind Sie Dr. Franklin? Sie hatten den Zettel geschrieben?“

„Bin ich. Welchen Zettel? Was ist los?“

„Gegen was er allergisch ist. Er bekommt täglich Medikamente? Welche sind das?“

„Ja, hatte ich. Die, wegen seinem Rücken?“ Luke konnte kaum so schnell reagieren und antwortete perplex.

„Ja“, antwortete der andere. Luke zählte die verschiedenen Mittel auf und stürmte daraufhin sofort ins Zimmer, Alec blickte zur Tür.

„Gott sei Dank, Luke!“ Er war sichtlich erfreut.

„Geht's dir gut?“ Luke ging sofort auf ihn zu, umarmte ihn so gut das möglich war. Alec wimmerte leicht vor Schmerzen. „Entschuldige“, meinte Luke und ließ ihn los.

„Ich brauche meine Medikamente. Du musst denen sagen, welche.“

„Das habe ich schon, ich habe den Arzt vor der Tür fast umgerannt. Mann, ich habe mir solche Sorgen gemacht, was die mit dir anstellen.“

„Nichts weiter. Aber ich konnte mich nicht mehr beruhigen. Da war plötzlich so viel Stress und die haben dich nicht mehr zu mir gelassen. Und so viele Leute, die mich festhalten wollten.“ Luke merkte, wie Alec beim Sprechen immer mehr nach Luft schnappte, beruhigte ihn dann gleich wieder.

„Was haben sie denn mit dir gemacht?“, fragte Alec mit einem Schuldgefühl in der Stimme.

„Ja, ich durfte auf der Wache übernachten, du bringst mir immer wieder neue Erfahrungen.“

„Das wollte ich nicht. Ich ...“

„Ist gut. Du brauchst dich nicht rechtfertigen. Ich weiß nur nicht, warum die genau dann auftauchten. Tut mir leid wegen gestern Abend, ich hatte echt keine Kraft vorher.“

„Das ist die Schuld meiner Eltern. Die hatten sie geschickt. Sie wollten ...“ Der eintretende Arzt unterbrach das Gespräch, verabreichte Alec die ersehnten Medikamente. Dann schaute er Luke an und fragte nach einem Gespräch unter vier Augen. Der willigte ein und folgte ihm in ein leeres Behandlungszimmer.

„Ich hatte mich nicht vorgestellt. Ich bin Dr. Merten. Ich war auch als Notarzt bei ihm.“

„Ich wollte Ihnen das sagen mit den Medikamenten, aber die haben mich nicht gelassen.“

„Der Zettel war in Ordnung. Aber fast zu spät. Warum kennen Sie ihn so genau?“ Luke war verwundert, mit welchem Vertrauen der Fremde ihm die Fragen stellte. Noch vor wenigen Stunden war er wegen Vergewaltigungsvorwürfen festgenommen worden und der andere sprach mit ihm, als wäre nichts gewesen.

„Ich habe ihn in der Unfallklinik behandelt. Der damalige Notarzt hatte ihm was Falsches gespritzt und wir mussten versuchen, ihn wieder voll herzustellen. Noch dazu hatte er diese ganzen Verletzungen. Er ist damals vor einen LKW gelaufen und über die Straße geschleudert worden. Im Laufe der Behandlung stellte sich aber heraus, dass nicht alle Verletzungen daher stammen konnten.“

„Woher stammten die?“

„Vergewaltigungen. Man hatte ihn eingesperrt.“

„War er danach in psychologischer Behandlung?“

„Nein. Also doch, war er, aber er nahm sie nicht an. Er arbeitet das nach und nach auf und dabei kommen des Öfteren diese Nervenzusammenbrüche vor. Die Polizisten dachten, ich wollte ihn vergewaltigen. Ich habe nur versucht, ihn zu beruhigen.“ Luke rutschte etwas unruhig auf seinem Stuhl umher.

„In welchen Situationen hat er diese Zusammenbrüche?“

„Das ist ganz verschieden, meistens äußert es sich im Schlaf. Je nachdem, wie der vorangegangene Tag war.“

„Haben Sie versucht, ihn nochmal zu einer Therapie zu überreden?“

„Ja, oft genug. Er will nicht, da führt kein Weg hin. Und mit Zwang braucht man es bei ihm nicht versuchen. Da blockiert er völlig. “

„Das habe ich mir gedacht. Und Sie versuchen, ihm jetzt weiterhin zu helfen?“

„Ja, er ist mein Freund.“ Luke nahm dieses Geständnis kaum wahr, sagte es, als würde er es jedem erzählen. Wusste, dass der Arzt niemandem etwas sagen dürfte. Wurde dann aber plötzlich verlegen.

„Ich hab da kein Problem mit, nicht, dass Sie das denken. Ich finde es schön, dass Sie sich die Mühe mit ihm machen. Es ist bestimmt nicht leicht.“

„Nein, das ist es nicht“, antwortete er etwas betrübt.

„Was ich Ihnen eigentlich sagen wollte. Der eine der Polizisten schien großes Interesse daran zu haben, Ihnen die Schuld zuzuschieben. Er schien regelrecht enttäuscht, als ich ihm sagte, dass es keine Anhaltspunkte für eine Vergewaltigung gab. So wie ich Sie hier erlebe, würde ich Ihnen sowas auch nie zutrauen. Sie machen sich richtig Sorgen und das merkt man.“

Luke lächelte ein wenig. Er bedankte sich brav.

„Na ja, die haben mich ja dann schnell wieder gehen lassen. Aber dass ich mal eine Nacht bei der Polizei verbringen muss, damit habe ich auch nicht gerechnet. Wann kann Alec raus, wollen Sie ihn noch beobachten?“

„Nein, das brauche ich nicht. Ich bin aber verpflichtet, ihn bis morgen hierzubehalten. Außer aber, er unterschreibt den Wisch, von wegen auf eigene Gefahr. Würden Sie ihn mit nach Hause nehmen?“

„Ja, das würde ich. Ich habe auch heute noch frei, also etwas Zeit für ihn.“

„Nehmen Sie ihn mit“, meinte der andere und lächelte Luke an.

Der ging zurück zu Alec und verkündete ihm die Nachricht. Alec blickte ihn verschlafen an. „Du bist müde, mmh?“

Alec grinste: „Na, du doch auch, schau dich mal an.“

„Die letzte Nacht hat mich den Schlaf gekostet. Zieh dich an, lass uns nach Hause fahren. Ich will nicht meine freien Tage auch noch in einem Krankenhaus verbringen. Soll ich dir helfen?“

Alec verneinte, zeigte ihm aber seinen Arm, wo noch der Zugang vom Tropf steckte.

„Wenn du mir den rausmachst? Sonst komme ich klar.“

Luke lächelte kurz und machte sich daran, die Butterfly-Kanüle rauszuziehen und den Einstich abzudrücken. Einen Tupfer hatte er gefunden, nur am Pflaster haperte es. Er drückte ihm einen weiteren Tupfer in die Hand. „Hier drück das drauf. Du weißt, ich darf das hier gar nicht.“

„Ich weiß aber, dass du es kannst. Gibst du mir meine Klamotten?“

Zu Hause angekommen erklärte Alec, was ihm seine Eltern erzählt hatten. Warum also die Polizisten genau dann bei Luke aufgetaucht waren. Beide saßen gemeinsam auf der Couch.

„Du solltest deinen Eltern sagen, wo du bist, sonst stehen die Bullen gleich wieder vor der Tür“, witzelte Luke. „Nachher.“ Inzwischen war es früher Nachmittag, als beide die Müdigkeit überraschte.

Eifersucht

Alec fuhr am Montag zum Arbeiten nach Hause. Sein Elternhaus besuchte er nur kurz, um einige Sachen zu holen. Mit seiner Mutter, die versuchte sich zu entschuldigen, wechselte er steif wenige Worte. Luke musste auch wieder arbeiten und hoffte, dass dort niemand etwas von dem Vorfall wusste. Raphael und Dana waren inzwischen entlassen worden. So konnte ihm wenigstens Dana keine Schwierigkeiten mehr machen.

In den nächsten Wochen pendelte Alec zwischen Berlin und seinem Arbeitsplatz hin und her. Eines Abends kam Luke zwei Stunden später als geplant. So saß Alec vor der Tür und wartete geduldig. Luke gab ihm seinen Wohnungsschlüssel. So konnte das nicht mehr passieren und er hatte genug Freiräume. Der freute sich natürlich darüber, dass er Alec öfter sah, auch wenn es, schichtbedingt, manchmal nur schlafend war.

Wenige Versuche, sich Alec anzunähern, beendete Luke aufgrund der Abweisung recht schnell. Irgendwann beließ er es resignierend bei einer Umarmung und einem Kuss. Eines Nachts kam Luke von der Spätschicht wieder und fand Alec nicht in der Wohnung vor. Er beschloss, im Wohnzimmer auf ihn zu warten. Schlafen konnte er jetzt noch nicht, er war zwar müde, aber noch zu aufgekratzt.

Als Alec endlich mitten in der Nacht zurückkehrte, stellte er ihn kurz zur Rede.

„Wo warst du so lange?“ Alec erschrak, als er aus der Dunkelheit Lukes Stimme vernahm.

„Du hast mich erschreckt. Ich war mit Raphael weg.“

„Wie oft willst du dich noch mit ihm treffen? Dir geht es jedes Mal schlecht danach“, warf Luke ihm vor.

„Du bist nicht meine Mutter. Das stimmt doch gar nicht. Nur manchmal, wenn wir über bestimmte Sachen reden“, antwortete Alec völlig genervt. Nebenbei legte er seine Jacke weg, ging zu Luke.

„Wie war deine Schicht?“

„Nicht so spaßig wie dein Abend.“

„Nun hör schon auf. Wollen wir ins Bett gehen?“ Alec bemerkte Lukes miese Laune, verdrehte die Augen und ging nicht weiter darauf ein.

„Geh ruhig. Ich komme nach“, sagte Luke, der noch etwas zornig in seinem Sessel saß. Er kam nicht nach, verbrachte die Nacht auf seiner Couch. Alec saß am nächsten Morgen im Bett und zeichnete wieder einige Skizzen.

Als Luke ins Schlafzimmer kam, um sich andere Klamotten anzuziehen, fragte Alec nur leise, warum er im Wohnzimmer geschlafen hatte. Die Antwort war kalt und ließ ihn erschüttern: „Macht doch keinen Unterschied, wo ich schlafe. Anfassen darf ich dich eh nicht, ohne dass du gleich ausrastest. Du scheinst dich bei dem anderen Typen ja wohler zu fühlen.“

Alec starrte auf die Skizze, als er die Worte vernahm, und drückte dabei dermaßen den Bleistift auf den Block, dass die Miene abbrach. Er traute sich nicht, Luke ins Gesicht zu schauen.

In einer Nacht hatte Alec einen Nervenzusammenbruch, Luke half ihm nicht, er beruhigte ihn nicht, er ließ ihn links liegen. Überwachte nur indirekt, dass nichts weiter passierte. Er ließ ihn leiden.

 

Die nächsten Tage wurden kaum besser. Alec verbrachte immer mehr Zeit mit Raphael, bis ihn dieser schließlich überredete, doch mal über Nacht zu bleiben. Nach einem weiteren Streit mit Luke stimmte er dem auch zu. Nach einem Kinobesuch kochten sie gemeinsam, wobei Raphael fast zärtlich Alecs Hand berührte. Alec, sichtlich verwirrt, zog seine sofort weg, hielt sich in sicherem Abstand auf, verbrachte aber trotzdem die Nacht bei ihm.

Was er nicht wusste, war, dass Luke diese Nacht frei hatte und somit allein zu Hause war. Er nahm die Abwesenheit seines Freundes hin, in ihm brodelte die Wut. Er schaute sich währenddessen Alecs Skizzenblock an. Die Zeichnungen zeigten ein kleines Verließ, wahrscheinlich dieser Schuppen am Stadtrand, in dem er festgehalten wurde, dann eine Straße in einer Stadt und eine Gestalt. Allerdings nur die Umrisse dieser Person.

Am nächsten Nachmittag tauchte Alec wieder in Lukes Wohnung auf, aber der war inzwischen mit seinen Arbeitskollegen weggegangen.

Die Frau seines Kollegen Ralf hatte ihr Kind bekommen und so beschlossen sie zu feiern. Luke hatten sie natürlich mit eingeladen. Der kam nicht sehr oft mit, dieses Mal allerdings schon. Was sollte er zu Hause? Allein.

Alec war unruhig, als Luke nicht da war, und schaute verwirrt auf dessen Dienstplan. Er hatte sich nicht geirrt, Luke hätte wirklich da sein sollen. Er schluckte, wartete aber im Wohnzimmer, nahm wieder seinen Block zur Hand und kritzelte dieses Mal nur darauf herum. Aus den Kritzeleien wurde sehr bald ein vernünftiges Bild, es war dieses Mal Luke, den er zeichnete.

An diesem Abend kehrte Luke spät zurück. Er hatte reichlich getrunken und fand Alec noch immer im Wohnzimmer vor.

„Was willst du denn hier?“, pflaumte Luke ihn an.

„Ich habe auf dich gewartet.“

„Wozu? Letzte Nacht warst du doch auch nicht da. Wo warst du?“ Alec bemerkte, wie angetrunken Luke war. So hatte er ihn noch nicht erlebt, wusste nicht, wie er in dieser Situation reagiert. Er stand auf, stand Luke im sicheren Abstand gegenüber. Er wurde nervös.

„Ich war bei Raphael. Ich wollte früher zurückkommen.“

„War‘s wenigstens schön mit ihm? Von mir lässt du dich ja nicht anfassen.“ Luke näherte sich und Alec wich zurück.

„Weil du mir kein Stück vertraust. Du lügst mich ständig an, sagst, du würdest mir vertrauen, und tust es nicht! Und fast jede Nacht hängst du bei dem anderen Typen rum. Dem kannst du wohl vertrauen. Was treibt ihr die ganze Zeit?“ Luke lallte ihn weiter an und machte Vorwürfe.

„Ich vertraue dir“, erwiderte Alec schnell, Luke leicht ausweichend, bis er an der Wand stand und nicht weiter zurückweichen konnte.

„Ach ja“, meinte Luke, stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und kam Alec bedrohlich wirkend nahe.

„Und warum lässt du dich nicht anfassen?“

„Hör auf, du bist betrunken.“

„Ja und? Darf ich nicht auch mal Spaß haben. Du treibst dich ja ständig rum.“ Luke legte seine rechte Hand an Alecs Hüfte, leicht unter sein T-Shirt fassend.

„Hör auf! Lass mich!“ Er stieß verwirrt Lukes Hand weg. „Du bist betrunken, Luke. Was soll das? Ich vertraue dir doch. Es ist nur ...“

„Was ist es nur? WAS? Wie lange willst du das noch machen? Wie lange kennen wir uns? Wann habe ich dir je etwas Schlimmes angetan? Wo ist dein Problem? Du machst mich wahnsinnig! Ich weiß echt nicht weiter!“ Luke schrie Alec mitten ins Gesicht. Der stand ängstlich an die Wand gepresst, hatte Luke noch nie so wütend erlebt. Er konnte die Tränen kaum zurückhalten. „Schrei mich bitte nicht so an. Du siehst fast aus wie er!“, sagte er fast unhörbar und drehte seinen Kopf weg. Luke stand ihm noch immer bedrohlich nah, drückte ihn gegen die Wand.

„Ach ja? Ich bin aber nicht er, ich bin nicht so ein Schwein, ich würde so etwas nie tun. Warum denkst du das von mir? Vielleicht sollte ich hier mal andere Seiten aufziehen!“

„Luke, hör bitte auf. Ich denke das nicht von dir, ich kann das in dem Moment nur nicht mehr kontrollieren. Geh bitte weg, lass mich los.“

„Was zieht dich denn so zu dem anderen Typen? Warum erzählst du mir nicht, was los ist? An was du dich erinnerst. Meinst du, ich habe deine Bilder nicht gesehen? Du sprichst ja kaum noch mit mir! Ich drehe nochmal durch! Treibst dich lieber mit dem rum! Ist es schön mit ihm? Fickt er dich?“ Luke war außer sich und steigerte seine Wut.

„Nein! Nun hör doch mal auf! Warum hast du mir denn letztens nicht zugehört, warum hast du mich nicht beachtet?“

„Bei deinem Nervenzusammenbruch? Weil ich nicht konnte! Den ganzen Tag hängst du woanders herum, weiß Gott, wo, und dann wunderst du dich, wenn so etwas passiert? Da wunderst du dich noch?“

Alec bekam Angst, fühlte sich bedrängt. „Du machst mir Angst, hör auf! Bitte, Luke.“

„Ach, leck mich doch!“ Luke drehte sich um, nahm sich seine Jacke und verschwand. Er schloss die Wohnungstür leise, er war zu wohlerzogen, um sie zuknallen zu lassen. Er selbst war über sich erstaunt, er hätte sich nicht träumen lassen, jemals so auszurasten. Der Alkohol unterstütze dabei wohl gut genug. Alec, der allein zurückblieb, hockte zusammengerollt an der Wand und weinte. Luke wanderte ziellos die halbe Nacht durch die Straßen. Nach einigen Stunden kehrte er in seine Straße zurück, starrte nur auf das Wohnhaus und beschloss, sich in seinen Wagen zu setzen und wegzufahren.

Auszeit

Er brauchte Ruhe, einfach ein paar Tage Ruhe. Er steuerte in Richtung Westen. Nach etwa dreihundert Kilometer lautloser, einsamer Fahrt stoppte er an einer Raststätte, um erst mal Linda anzurufen. Es war inzwischen früher Morgen. Sie nahm sofort ab und sah seine Nummer auf dem Display ihres Telefons.

„Hallo Luke, was gibt es denn so früh?“

„Hallo. Kann ich dich ein paar Tage besuchen kommen?“

Sie hörte sofort seine betrübte Stimme. „Na klar kannst du das, aber meine nervenden Kinder sind hier, mein Mann ist auf Geschäftsreise. Was ist denn los?“

„Das erzähle ich dir dann. Du musst mir deine Adresse geben.“

„Wo bist du denn jetzt?“, fragte sie besorgt, als sie die Autobahngeräusche im Hintergrund hörte.

„Irgendwo an der A2. Sag mir einfach, wo ich hin muss.“

Sie gab ihm die Adresse, wünschte noch gute Fahrt. Luke steuerte unterwegs noch schnell ein Geschäft an, um sich neue Kleidung zu kaufen. Er wollte nicht wie eine halbe Kneipe stinken, wenn er bei Linda ankam.

Er fand das Haus in der schicken Wohngegend sofort und klingelte. Linda öffnete, schaute Luke von oben nach unten an und begrüßte ihn herzlich.

„Komm rein! Die Kinder sind alle verteilt, bis heute späten Nachmittag herrscht hier also Ruhe.“

„Danke.“ Sie nahm ihm die Jacke ab, schaute ihn nochmal an.

„Sorry, aber du siehst echt beschissen aus.“

„Ich weiß.“ Luke sprach mit ruhiger, bedrückter Stimme.

„Wie lange möchtest du denn bleiben?“

„So drei Tage? Wenn es dir nicht zu lange ist. Ich brauche mal eine Auszeit. Gut, dass ich zufällig noch Urlaub bekommen habe.“

„Nein, das ist in Ordnung. Ich hoffe, die Kinder stören dich nicht. Wenn die hier sind, ist meistens Trubel.“

„Damit kann ich leben. Sie sind ja nicht den ganzen Tag da.“ Luke grinste sie leicht an.

„Prima. Möchtest du etwas essen? Ich habe Mittag gekocht und es ist ja auch schon zwölf. Du hast bestimmt Hunger.“

„Gute Idee. Schönes Haus“, lobte er.

„Danke. Ich mag es auch, aber die Nachbarschaft hier besteht nur aus verzweifelten Hausfrauen. Entsprechend hoch ist auch der Lästerfaktor. Du bist der Nächste, über den sie sprechen werden. Kaum ist mein Alter aus ‘m Haus, hole ich mir ´nen neuen Mann ins Haus.“ Linda lachte, gab Luke mit einer Geste zu verstehen, dass er ihr folgen sollte; ihr blondes Haar wallte, als sie sich umdrehte. Lukes Stimmung wurde durch Lindas Art wieder ein wenig aufgeheitert.

„Meinst du, sie haben mich schon gesehen?“, spottete Luke.

„Na klar. An denen geht nichts vorüber und so oft haben wir kein Auto mit einer Berliner Nummer vor der Tür. Mach dir nichts draus, an mir geht das vorbei. Lass sie lästern. Aber die lästern so öffentlich, die werden mich sogar noch fragen, wer du bist.“

Luke lächelte, amüsierte sich darüber.

„Los, setz dich“, meinte sie.

Während des Essens suchte sie wieder das Gespräch.

„Also, mein Lieber. Was bringt dich so plötzlich hierher. Was ist los?“

Luke schaute auf seinen Teller, verlegen mit der Gabel spielend. „Alec.“

„Das habe ich mir gedacht. Möchtest du jetzt darüber reden?“

„Lass uns das später machen. Ich möchte gern erst mal ein wenig runterkommen und die Gegend anschauen, wenn das okay ist?“

„Klar, kein Problem. So lange du dich wachhalten kannst. Wie lange hast du nicht geschlafen?“

„Zu lange.“

Die beiden machten sich auf den Weg. Am späten Nachmittag musste Linda jedoch wieder zu Hause sein, da ihre Kinder wiederkamen. Die waren heute zu einer Geburtstagsparty eingeladen. Sie wurden nach Hause gebracht. Linda erwartete sie schon, bedankte sich bei den Eltern des Geburtstagskindes und begrüßte sie.

Die Kinder blieben wie angewurzelt stehen, als sie Luke sahen. Er hockte sich hin, um zuerst den Jüngsten zu begrüßen. Der schaute ihn schüchtern an, bis Linda dazu kam und mit ihrem Sohn sprach: „Das ist Luke, er besucht uns einige Tage. Ein alter Schulfreund von eurer Mutter. Du kannst ihm ruhig Hallo sagen.“ Eric reichte schüchtern seine kleine Hand, Luke nahm sie an. Dann kamen die Mädchen an die Reihe. „Das sind Lisa und Amelie.“

Sie begrüßten Luke und schauten ihn groß an. Alle setzten sich noch kurz ins Wohnzimmer, Linda las eine Geschichte vor. Lisa, ständig Luke anschauend, quakte irgendwann dazwischen. „Was arbeitest du?“, fragte sie neugierig und vorlaut. Luke, der fast schon weggedämmert war, schaute sie erst an, bevor ihm Linda das Wort abnahm. „Luke ist ein Doktor.“ Die drei Kinder schauten ihn mit großen Augen an. Luke lächelte. „Willst du ihnen Angst machen? Keine Angst, ich verarzte euch nicht.“

„Eric hat immer große Angst vor seinem Doktor, stimmt‘s Eric?“ Der Kleine nickte schüchtern und starrte Luke an.

„Was macht dir denn da Angst, Eric?“ Der schaute nun zu seiner Mutter. „Du kannst es ihm sagen. Du hast Angst vor den großen Spritzen, stimmt‘s?“ Er nickte. „Die Mädels haben damit kein Problem. Typisch Mann, Weicheier eben“, ärgerte Linda Luke nun. „Haha“, kam von dem nur mit einem vielsagenden Blick. Linda las weiter, beendete die Geschichte und brachte die Kinder ins Bett. Das dauerte ein Weilchen. Luke, der ohnehin schon schläfrig war, döste auf der Couch und schlief kurz ein.

„Hey Großer. Einmal musst du noch aufstehen, ich habe dir dein Zimmer noch nicht gezeigt. Du musst hier nicht auf der Couch schlafen. Du siehst wirklich arg müde aus.“

„Hatte ich auch nicht vor. Bin bloß kurz eingenickt. Deine Geschichte war zu schön.“

„Kann man dich also auch noch in den Schlaf lesen? Komm mit. Du kannst morgen ausschlafen, ruh dich ein bisschen aus.“

 

Alec war in dieser Zeit normal arbeiten gegangen. Er war verwirrt, nicht ganz bei der Sache. Mindestens zehn Mal hatte er schon versucht, Luke anzurufen, es kam keine Reaktion. Er war nicht mehr nach Hause gekommen. Er beschloss, nach der Arbeit wieder nach Berlin zu fahren, hoffte, dass Luke wieder da war. Er fand nur die leere Wohnung vor und durchsuchte seinen Dienstplan, bis er feststellte, dass er einige Tage frei hatte. Er überlegte kurz und rief dann im Krankenhaus an. Vielleicht hatte er ja nur eine Schicht getauscht. Dort wurde er allerdings auch vertröstet, man meinte zu ihm, dass Dr. Franklin erst in der nächsten Woche wieder da sei. Er schmiss sein Handy aufs Bett und legte sich dann daneben. Flüsterte zu sich selbst: „Wo bist du nur, Luke.“ Er machte sich Sorgen, fragte sich, ob ihm etwas passiert sei. Ihn würde ja niemand informieren. Bis auf seine Eltern wusste doch bisher niemand von dem Verhältnis. Er hatte den Ernst der Lage vorher nicht erkennen können und dachte über Lukes Verhalten nach. Mitten in der Nacht wachte er wieder schweißgebadet auf, völlig außer sich, schwer atmend. Seine Träume hatten ihn wieder in den Bann gezogen. Er wandelte ziellos durch die Wohnung, ging von einem Zimmer ins andere. Völlig bedeutungslos.

 

Luke erwachte am nächsten Morgen erst gegen Mittag, er hatte den fehlenden Schlaf nachgeholt. Linda war im Wohnzimmer, las eine Zeitung. Sie hörte ihn, als er sich annäherte.

„Na, ausgeschlafen?“

„Ja, das tat gut.“

Sie drehte sich um, schaute ihm ins Gesicht. „Du siehst auch schon etwas besser aus. Komm her hier, ein bisschen Zeit haben wir noch, bevor die Kinder wieder eintrudeln.“

Luke setzte sich zu ihr, sie begann wieder zu reden. „Nun, dann verrate mir mal den wirklichen Grund deines Besuches. Du hast in letzter Zeit auch sehr selten angerufen.“

„Ich weiß. Entschuldige. Aber dafür bin ich ja jetzt hier.“

„Nun erzähl schon, es brennt dir doch auf der Seele.“

„Ja. Ich weiß nicht weiter. Ich kann so nicht mehr weiter machen. Alec wohnt schon seit einer Weile bei mir. Das war nach der Geschichte, als sie mich verhaftet hatten. Das hatte ich dir ja noch erzählt.“

„Oh ja.“

„Seitdem pendelt er immer zwischen seiner Arbeitsstelle und meiner Wohnung. Ich habe mich darüber eigentlich sehr gefreut, aber dann fing er an, sich laufend mit diesem Raphael zu treffen. Er kam manchmal sehr spät nach Hause, hatte vermehrt seine Nervenzusammenbrüche, bis er eines Nachts schließlich gar nicht nach Hause kam.“

„Wo war er?“

„Na bei Raphael. Gott weiß, was die getrieben haben. Von mir lässt er sich ja nicht anfassen.“

„Noch immer nicht? Du bist eifersüchtig auf diesen Typen.“

„Nein. Weiter als kurz mal küssen und kuscheln kommen wir nie. Versuchst du etwas mehr, flippt er völlig aus. Und dann hatten wir in der Nacht, bevor ich her kam, einen furchtbaren Streit. Ich war ... na ja ... etwas angetrunken und er hatte zu Hause auf mich gewartet. Ich habe ihn angeschrien, war völlig außer mir. So wütend habe ich mich selbst nie erlebt. Habe ihn bedrängt. Er hatte wirklich Angst vor mir. Eigentlich wollte ich es gar nicht so weit kommen lassen. Aber ich war so sauer.“

„Du hast ihm Vorwürfe gemacht?“

„Ja, das habe ich. Ich habe ihm gesagt, dass er mir nicht vertraut und dass er fremdgeht.“

„Denkbar schlechter Zeitpunkt. Was sagt er?“

„Er beteuert immer wieder, dass er mir vertrauen würde. Und dann sagte er, ich sehe fast aus wie er. Das riss mir dann den Boden unter den Füßen weg.“

„Wie wer? Du hast ihn aber nicht geschlagen, oder?“ Linda war inzwischen dichter an Luke gerutscht, hatte ihren Arm um seine Schultern gelegt. Er wurde immer zerbrechlicher.

„Na der Typ, der ihn eingesperrt hatte. Sowas würde er mir zutrauen? Nein, nein, ich habe ihn nicht geschlagen, das würde ich nicht tun. So weit kann ich mich selbst angetrunken kontrollieren.“

„Na Gott sei Dank. Man weiß ja nie mit dem Alkohol und so. Nein, das glaube ich nicht. Aber wenn du die gleiche Gestalt hast, dann kann es sein, dass es ihm einfach nur Angst macht. Genau dann werden seine Gedanken hochkommen und sein Kopf streikt.“

„Aber dann vertraut er mir nicht hundertprozentig!“

„Vielleicht braucht er einfach noch Zeit? Komm schon, der Sex ist nicht das Wichtigste an einer Beziehung. Ich merke doch, dass du gar nicht richtig ohne ihn kannst. Sonst hättest du ihn einfach rausgeschmissen und einen Schlussstrich gezogen, aber das machst du nicht. Du hängst an ihm. Und du solltest es schon als Vertrauensbeweis sehen, dass er nachts neben dir schläft und überhaupt ein wenig Nähe zulässt. Nach dem, was er erlebt hat, ist das auch nicht selbstverständlich.“

„Ich finde das schon recht wichtig. Überlege doch mal, wie lange ich ihn nun schon kenne.“

„Das spielt doch keine Rolle. Ich liebe meinen Mann auch, trotzdem da nicht mehr so viel läuft.“

„Nicht?“

„Nein. Na hör mal, wir haben drei Kinder, da fällt man abends schon halbtot ins Bett, und er ist laufend auf Geschäftsreisen. Da geht nicht mehr so viel, aber wenn, dann ist es umso schöner. Kannst du das nicht mal außen vor lassen, das ist doch wohl nicht das einzige Problem. Du bist eifersüchtig auf diesen Raphael, richtig?“

Nun hatte sie ihn. „Ja, das bin ich. Ich weiß nicht, was da läuft. Die hängen ständig zusammen und es geht Alec nachts oft sehr schlecht.“

„Er arbeitet alles auf. Du weißt doch selbst, dass er eigentlich in eine Klinik gehört.“

„Andersrum ist das ja gut, dass er es endlich macht, aber warum spricht er nicht mit mir darüber? Neulich hatte er einen Nervenzusammenbruch und ich habe ihn einfach links liegen lassen, ich habe ihn nicht beachtet, nicht beruhigt. Das tat mir selbst weh. Ich weiß, dass er in eine Klinik gehört, aber ich möchte ihn nicht gegen seinen Willen einweisen lassen. Er ist ja voll zurechnungsfähig und mit den Medikamenten geht das zurzeit alles ansonsten ganz gut.“

„Warum hast du ihm nicht geholfen?“

„Ich konnte einfach nicht. Ich weiß nicht, wieso.“

„Hast du ihm wenigstens gesagt, wo du jetzt bist?“

Luke schüttelte den Kopf.

„Das habe ich mir gedacht. Er macht sich bestimmt Sorgen. Hat er versucht, dich zu erreichen?“

Luke nahm sein Handy aus der Tasche, zeigte es Linda.

„25 Anrufe?“

„Ja, seit gestern. Er versucht mich immer wieder zu erreichen.“

„Mensch Luke, weißt du, was er sich für Sorgen machen muss? Du musst ihm wenigstens sagen, wo du bist! Mach ihn nicht noch mehr kaputt.“

„Muss ich nicht.“ Er schüttelte leicht den Kopf.

„Du weißt, wie es dir ging, als er auf einmal weg war und du ihn die halbe Nacht gesucht hast. Luke, sag ihm wenigstens Bescheid. Sei vernünftig.“

„Ich bin ständig vernünftig. Ständig versuche ich immer zu helfen, alles bestens zu erledigen. Heute Abend sage ich ihm dann Bescheid.“

„Gut, wenn du es nicht tust, werde ich es machen.“

Die beiden redeten noch so lange, bis Linda die Kinder abholen musste. Luke begleitete sie und begleitete sie auch dabei, die Kinder am Nachmittag zu verteilen. Lisa zum Reiten, Amelie zum Schwimmen und Eric zu einem Freund.

„Das machst du jeden Tag?“, fragte Luke erstaunt.

„Ja, nachmittags werden die Kinder verteilt, abends wieder eingesammelt. Aber es gibt auch Tage, da sind sie mal zu Hause.“

„Du könntest ja gar nicht arbeiten gehen.“

„Ich könnte, aber ich brauche nicht. Das hätte ich mir auch nie träumen lassen. Andreas verdient genug, wir kommen gut klar. Du siehst ja, meine geplante Karriere ist vorbei.“

„Na ja, Hauptsache du bist glücklich.“

„Bin ich. Aber das würde ich gern mal von dir hören.“

Luke zuckte mit den Achseln: „Vielleicht sollte ich Schluss machen, ihn verlassen, ihn rausschmeißen.“

„Das willst du nicht wirklich.“

„Nein, das will ich nicht. Ich fühle mich einsam, wenn er nicht da ist. Und das, obwohl ich, seit ich ihn kenne, nur Ärger und Stress habe.“

„Du wusstest, dass es nicht einfach werden wird. Und es gab doch auch schöne Momente.“

„Da hast du recht. Ich habe mich wohl selbst überschätzt, dachte, ich könnte ihm helfen.“

„Du hilfst ihm, glaub mir.“

„Nein, das glaube ich kaum. Dazu hätte ich wohl Psychologe und nicht Chirurg werden müssen. Ich kann nur an Leuten rumschnippeln. Und ich muss mich auch noch auf meine Aus- und Weiterbildungen konzentrieren. Das ist echt ein Problem, wenn ich den Kopf nicht frei kriege.“

„Luke“, sie atmete tief durch, „jetzt reiß dich mal zusammen. Rede mal vernünftig mit ihm. Glaubst du wirklich, er geht zu diesem Raphael, um dich zu betrügen? Glaubst du, er lässt sich von dir nicht anfassen, aber von ihm? Das kann ich mir nicht vorstellen. Überlege dir, was du von ihm erwartest.“

Die beiden redeten, solange Zeit war. Alec hingegen in Berlin drehte fast durch. Er wusste nicht, wo Luke war oder wie es ihm ging. Er versuchte noch einige Male, ihn anzurufen. Keine Reaktion. Am Abend war er so fertig, dass er weinend zu Raphael ging. Der schaute Alec erstaunt an, als er die Tür öffnete.

„Luke ist weg. Ich weiß nicht, wo er ist!“

„Wie? Warum das? Arbeiten ist er auch nicht?“ Die beiden hatten nie wirklich über Luke gesprochen. Raphael wusste, dass er existierte, irgendwo im Krankenhaus arbeitete, wusste aber nicht, dass es der Arzt aus dem Krankenhaus war.

„Nachdem ich neulich die Nacht bei dir war, hatten wir einen Streit. Luke hatte getrunken, er hat mich bedrängt.“

„Was hat er dir angetan?“ Raphael war leicht geschockt und insgeheim froh, in der Hoffnung, Alec nun für sich beanspruchen zu können.

„Er hat mir nichts getan, nur angeschrien und Angst gemacht. Dann ist er irgendwann verschwunden. Er ist nicht erreichbar, sein Auto ist auch weg.“ Alec war außer sich, saß nun bei Raphael auf der Couch, tränenüberströmt.

„Er kommt bestimmt bald wieder. Vielleicht braucht er nur mal eine Auszeit?“

„Kann er nicht wenigstens auf meine Anrufe reagieren? Oder eine SMS schreiben, dass es ihm gut geht und wo er ist?“

Sie redeten weiter, Alec blieb diese Nacht bei Raphael, hatte einen schrecklichen Nervenzusammenbruch. Raphael hatte das noch nie in der Form erlebt. Er wusste nicht, wie er ihm helfen sollte, versuchte vergebens, auf ihn einzureden. Alec reagierte kaum. Aus Hilflosigkeit rief Raphael wenig später einen Notarzt. Der befragte ihn, Raphael wusste kaum Antworten, dazu kannte er Alec dann doch zu wenig. Sie hatten nie über Allergien und dergleichen gesprochen.

Die alarmierten Helfer nahmen den apathischen Alec mit. Aufgrund des falschen Beruhigungsmittels geschah es, dass Alec während der Fahrt zum Krankenhaus die allergischen Reaktionen zeigte. Der Notarzt und die Rettungsassistenten sowie Sanitäter hatten alle Hände voll zu tun, um Alec vor dem Ersticken zu bewahren. Im Klinikum erwartete sie Dr. Milikan, der den Patienten erkannte. Er beauftragte sofort eine der Schwestern, die Akte herauszusuchen. Er konnte sich dunkel an die Allergie erinnern und durchforstete die Unterlagen.

Wiederhergestellt brachten sie Alec auf ein Einzelzimmer, Dr. Milikan verblieb kurz bei ihm, bis er wieder zu sich kam. Er wollte allein mit ihm reden, wusste, wie prekär die Lage für Luke war.

„Na, Herr Wiek, wollen Sie Dauergast bei uns werden?“

„Was?“, fragte Alec benommen, mit den Augen den Arzt suchend.

„Erkennen Sie mich? Wissen Sie, wo Sie sind?“

Alec nickte.

„Sagen Sie es mir“, setzte der Oberarzt nach.

„Klinik Marzahn. Sie sind Lukes Oberarzt, Chefarzt, wie auch immer, Dr...“ Ihm fiel der Name nicht ein.

„Milikan, genau. Können Sie mir sagen, was passiert ist?“

„Kann ich, möchte ich aber nicht! Ich bin so müde und mein Kopf ...“

Alecs Stimme war rau, er fühlte sich so schlapp und völlig hilflos.

„Sie können sich gleich ausruhen. Hat es mit Luke zu tun? Ich habe Sie neulich hier mit ihm gesehen. Ich weiß auch, was damals passiert war, als er als Notarzt draußen war. Glauben Sie mir, ich weiß Bescheid, was da zwischen Ihnen läuft. Das macht ihn nicht zu einem schlechten Menschen und schon gar nicht zu einem schlechten Arzt. Zumal er einer meiner besten ist.“

Alec wurde klarer. „Er möchte nicht, das andere es wissen. Wahrscheinlich ist es ihm peinlich. Kann ich bitte schlafen, mir tut mein Kopf so weh“, wimmerte er.

„Ich lasse Sie gleich in Ruhe. Ich weiß nicht. Luke hat Angst, sich vor seinen Kollegen zu outen. Er hatte mit mir unter vier Augen darüber gesprochen. Darum geht es jetzt aber nicht. Was war vorgefallen? Warum war Luke nicht bei Ihnen? Er hätte das mit der Allergie gewusst.“

„Weil ich nicht weiß, wo er ist. Können wir das jetzt lassen? Ich bin so müde und was wollen Sie überhaupt von mir?“

Dr. Milikan nickte ab und verließ das Zimmer. Der blieb natürlich nicht tatenlos und griff zum Telefon. Alec schlief sofort ein.

 

Luke war gerade mit Linda im Park spazieren, die Kinder tobten um beide herum, als sein Handy klingelte. Er schaute verwundert drauf, Linda fragte sofort. „Ist das Alec? Hast du ihm endlich gesagt, wo du bist?“

„Nein, die Klinik. Nein, ich habe es ihm nicht gesagt. Ich muss rangehen.“ Linda verdrehte die Augen, setzte sich auf eine Bank, beobachtete ihre spielenden Kinder und lauschte Lukes Gespräch, der hinter der Bank stand.

„Franklin?“

„Hallo Luke. Es tut mir leid, dich im Urlaub zu stören, aber wir haben hier einen Patienten, den du sehr gut kennst.“

„Dr. Milikan! Kein Problem. Wer ist es denn? Wie kann ich helfen?“

Luke lief die ganze Zeit hin und her, während sie diese Worte wechselten.

„Alec Wiek.“ Als Luke den Namen hörte, blieb er stehen, verstummte. Linda schaute kurz zu ihm, sah, dass er blass wurde.

„Bist du noch da?“, frage sein Chefarzt.

„Ja, ja, bin ich. Was ist passiert?“

„Henk war als Notarzt draußen. Er hatte wohl einen Nervenzusammenbruch. Und hat dann das falsche Beruhigungsmittel bekommen. Henk wusste das mit der Allergie nicht und er hatte keine Papiere und nichts bei sich.“

„Oh Mann. Er hat normalerweise ein Armband, trägt das aber nicht. Hab ihm schon zigmal gesagt, er soll das machen. Wie geht es ihm?“ Linda hielt ein Auge auf Luke, der sich ein Stück weiter entfernte und unruhiger wurde.

„Alles wieder im grünen Bereich. Er ist nur sehr schwach und müde, hat erhöhte Temperatur. Die Allergie hat Henk recht schnell wieder entschärfen können, aber er muss sich von der Behandlung erholen.“

Luke atmete durch. „Wo hatten Sie ihn gefunden? Wer hat euch verständigt?“

„Ich weiß nicht, ich habe das Einsatzprotokoll nicht hier. Wo treibst du dich rum?“

„Ich bin in Hagen, eine alte Schulfreundin besuchen.“

„Das ist ja auch gleich um die Ecke.“ Die Ironie dieser Worte war kaum zu überhören. „Er sagte, er wisse nicht, wo du bist.“

„Das weiß er auch nicht.“ Luke wurde ganz kleinlaut.

„Du kennst seine psychische Lage, da solltest du sowas nicht mit ihm machen.“ ihm wurde es zunehmend unangenehmer, mit Luke darüber zu sprechen. Luke war es einfach nur noch peinlich, mit seinem Vorgesetzten über sein Liebesleben reden zu müssen.

„Das weiß ich. Ich wusste in diesem Moment nur nicht weiter.“

„Gut, das sind eure privaten Geschichten, die ihr klären müsst. Ich wollte dir nur Bescheid geben. Ich behalte ihn noch einige Tage hier. Er hat zwei Rippenfrakturen.“

„Wie ist das denn passiert?“

„So hatte Henk ihn dort schon vorgefunden. Ist nicht weiter schlimm. Stimmen ansonsten die Medikamentenangaben aus seiner Akte noch, wegen der Rückengeschichte?“

„Ja, da ist alles gleich geblieben.“

„Wann kommst du wieder zurück?“

„Arbeiten? Ab Montag. Ich mache mich dann heute auf den Rückweg.“

„Gut. Bis dann.“

„Danke tschüss.“ Luke legte auf, verweilte noch einen Augenblick mit seinem Handy in der Hand. Linda sprach ihn sofort darauf an.

„Was ist los? Setz dich hin, bevor du umkippst, so blass wie du auf einmal bist.“

Luke setzte sich zu ihr auf die Bank.

„Das war mein Vorgesetzter. Alec ist im Krankenhaus. Er hatte ihn gleich wiedererkannt.“ Luke erzählte ihr alles und beschloss, so bald wie möglich die knapp sechshundert Kilometer in Richtung Berlin zurück zu fahren.

 

Nachdem beide mit den Kindern wieder zu Hause waren, verabschiedete er sich und machte sich auf den Weg. Er erreichte die Klinik erst gegen 22 Uhr. Dr. Milikans Schicht war bereits zu Ende. Er fragte sich fix durch, wo er Alec finden konnte. Seine Kollegen waren etwas erstaunt, ihn in seinem Urlaub und um diese Zeit dort zu sehen. Luke schossen gleich Gedanken durch den Kopf, dass er sich gerade in Teilen outet.

Er betrat ganz still Alecs Zimmer. Machte durch den Lichtschein, der durch den Türspalt drang, die kleine Lampe am Patientenbett aus, schloss die Tür und steuerte im Dunkeln darauf zu. Er schaltete sie ein und beugte sich über Alec; der schlief relativ ruhig. Luke schaute auf die Infusion, die nebenbei lief. Er war sich nicht sicher, ob er ihn wecken sollte oder ob er einfach wieder nach Hause fährt und am nächsten Tag wiederkommt. Er bewegte sich Richtung Fenster und schaute ins Dunkel hinaus. Alec wurde inzwischen unruhig, hatte etwas bemerkt und erwachte schockartig, nahm im Halbdunkeln und verschwommen die Person im Raum wahr. Noch bevor er sich richtig erschrecken konnte, begann Luke zu reden. „Ich bin‘s nur.“

Alec schaute in seine Richtung, sagte nichts, er konnte seine Gefühle nicht ordnen. Er war zornig auf Luke, weil er ihn so ignoriert hatte, einfach verschwunden war, ohne zu sagen, wo er sei. Plötzlich war er wieder da, stand mitten in der Nacht in seinem Zimmer. Gleichzeitig überfiel ihn trotzdem ein Gefühl von Erleichterung. Luke schaute noch immer in die Dunkelheit, Alec schaute die Gestalt an. Beide schwiegen minutenlang. Alec brach das Schweigen. „Woher weißt du, dass ich hier bin?“

„Solche Nachrichten verbreiten sich schnell.“ Luke drehte sich um, sah Alec an, dem die Tränen leise die Wangen herunterrollten.

„Warum hast du mich allein gelassen?“ Alec wurde immer leiser.

„Ich weiß nicht. Ich musste nachdenken.“

„Du hättest mir wenigstens sagen können, wo du bist. Ich habe mir Sorgen gemacht, mir ging es schlecht.“

Darauf erwiderte Luke nichts. Er sagte nur ganz kalt. „Ich werde morgen wiederkommen.“ Und verließ den Raum.

Alec schrie ihm hinterher, dass er warten solle. Er riss sich die Kanüle aus dem Arm, folgte ihm auf den Flur und wollte ihn am Gehen hindern. Luke bemerkte die Aktion sofort, drehte sich wieder um und fauchte ihn an. „Was soll das? Spinnst du? Willst du mich hier bloßstellen? Es ist schon peinlich genug, dass mein Chef es weiß. Bald wissen es alle!“

Alec stand schwer atmend da, aus seinem Arm tropfte das Blut. Er hatte sich zu schnell bewegt und spürte die Schmerzen seiner Rippenbrüche. Er wimmerte nur ein leichtes „Au“. Und fuhr dann fort. „Du kannst jetzt nicht so einfach wieder gehen. Mich hier zurücklassen.“ Er hatte seinen Arm um seinen Bauch gelegt, in der Hoffnung, die Schmerzen so unterdrücken zu können. Stand wackelig vor Luke.

Luke nährte sich ihm, fasste ihn am Oberarm, woraufhin Alec an der Wand heruntersackte und dort zusammengekauert hockte. Luke hockte sich vor ihn, suchte nach Worten. „Meinst du, das ist für mich so einfach?“

Alec schaute ihn an, die Tränen rannen, ähnlich den Bluttropfen auf seinem Arm.

Enthüllung

Henk betrat den Flur, sah die beiden dort und näherte sich schnell. Er schaute verwundert Luke an und fragte sofort, ob alles in Ordnung sei. Der nickte nur und zog Alec sehr unsanft am Oberarm hoch, um ihm wieder ins Bett zu helfen. Henk, leicht verwundert über diese Brutalität, stand schweigend daneben. Wusste so schnell kaum, was er sagen sollte.

„Kannst du mir bitte eine neue Kanüle und Verbandsmaterial holen, er hat sich den Zugang herausgerissen“, bat Luke ihn nüchtern.

Henk hatte noch nicht ganz verstanden, was da abgelaufen war, holte aber schnell die nötigen Utensilien. Luke brachte wortlos seinen Freund zurück zum Bett.

„Prima gemacht, Alec, nun kann ich mir gleich auf die Stirn schreiben, dass ich schwul bin. Herzlichen Dank!“

„Was hast du damit für ein Problem? Deine Kollegen werden dich deshalb nicht hassen. Mann, du wohnst in Berlin, bei mir sähe es da anders aus, auf ‘m Dorf.“

„Lass gut sein. Sei einfach ruhig.“

Henk trat ein und übergab Luke die Sachen. „Soll ich, oder?“

„Nein, ich mache das schon“, erwiderte Luke niedergeschlagen. Alec hielt seinen Arm bereitwillig hin, schaute ansonsten in die andere Richtung, zuckte nur ganz kurz beim Einstich der Nadel. Auch der war dieses Mal nicht sonderlich sanft.

Henk nickte und verließ den Raum, wartete aber vor der Tür. Luke verarztete Alec wortlos, schnell und verließ dann das Zimmer. Er stand fast stramm, als er sah, dass Henk gewartet hatte.

„Boa, hast du mich erschreckt!“

„Was treibst du hier mitten in der Nacht in deinem Urlaub? Es ist inzwischen kurz vor zwölf. Patienten besucht man um diese Zeit normalerweise nicht.“

Luke atmete aus, war im Weitergehen begriffen.

„Das weiß ich. Lass mich in Ruhe.“

„Was war los? Warum war er draußen und hatte sich den Zugang rausgerissen. Außerdem ist das mein Patient!“ Henk ergriff Lukes Arm und hinderte ihn am Weitergehen.

Luke starrte auf den Boden ins Leere. „Es ist wahrscheinlich bald offensichtlich genug.“

Henk schaute ihn an, wartete auf das Satzende.

„Er ist mein Freund, nicht nur ein Freund. Deshalb bin ich hier und weil ich so weit weg war, kam ich vorhin erst hier an. Ich bin 'ne Schwuchtel ganz einfach. Jetzt kannst du mich hassen, wenn du willst und es allen anderen erzählen.“

Henk bemerkte, wie schwer ihm das fiel, schluckte und schaute dann ebenfalls auf den glänzenden Fußboden. Er wusste nicht ganz, wie er sich verhalten sollte, hatte bisher nie damit zu tun. Er hatte gerade von Luke nicht erwartet, dass er Männer lieben würde. Wo sich die Hälfte der jungen, weiblichen Belegschaft die Finger nach ihm leckte. Dann versuchte er, die Stille zu brechen und witzelte.

„Deshalb ignorierst du immer die ganzen Schwestern, die dir schöne Augen machen“, und wartete, dass Luke ihn anschaute. Das tat er und grinste zurück: „Ja, genau. Das ist der Grund. Sie sind mir nicht männlich genug“, meinte der und strich sich mit der Hand leicht durchs Haar. Nun war es raus, er wirkte ein wenig beruhigt, freute sich über Henks lockere Reaktion.

„Na komm schon, lass ihn schlafen. Ich schaue morgen früh gleich als erstes zu ihm. Du solltest um die Zeit auch im Bett sein, wenn du nicht gerade arbeitest.“

„Ja. Ich komme wohl besser morgen wieder. Das ist gerade alles zu viel.“

Die beiden gingen gemeinsam Richtung Ausgang, kurz vor der Tür fragte Luke noch verunsichert: „Du wirst es aber nicht gleich jedem erzählen?“

Henk schüttelte den Kopf. „Nein. Wer es mitkriegt, kriegt es mit. Ich werde damit nicht hausieren gehen, von mir erfährt das niemand.“

Luke nickte erleichtert und ging.

Heiße Spur

Als er in seine Wohnung eintrat, war er von der Stille etwas irritiert. Er fand seine Wohnung ordentlich und blitzblank geputzt wieder. Darüber wunderte er sich. Alec hatte noch nie großartig sauber gemacht oder mal aufgeräumt. Das tat Luke meistens nach seiner Schicht, wenn Alec eh nicht da war. Er zog seine Jacke aus und durchlief kurz alle Zimmer.

Er schrieb Linda eine SMS, dass er gut angekommen sei, und legte sich dann ins Bett. Zu müde, um noch über die Situation zwischen den beiden nachzudenken, schlief er sofort ein.

Morgens rief er gleich Linda an, die schon auf diesen Anruf gewartet hatte.

„Mensch Luke, du solltest mich gestern doch gleich anrufen, wenn du angekommen bist.“

„Ja, ich weiß, aber ich wollte erst schnell zu Alec.“

„Wie geht es ihm denn?“

„Den Umständen entsprechend gut. Ihm muss es sehr schlecht gegangen sein, als ich weg war. Meine Wohnung ist blitzblank geputzt.“

Linda am anderen Ende begann plötzlich zu lachen. „Entschuldige, Luke, aber da muss ich jetzt wirklich lachen.“

„Na ja, er hat hier noch nie einen Finger krumm gemacht. Was Putzen angeht, hält er sich total raus.“

„Das machst du alles?“

„Ja, meistens nach der Schicht. Wenigstens hatte er inzwischen seine Klamotten immer weggeräumt. Die lagen zu Anfang auch überall verteilt. Er bringt hier eigentlich nur Chaos rein. Was er macht, ist kochen. Jedenfalls immer wenn er wusste, wann ich zu Hause bin. Das kann er sogar richtig toll.“ Während er das sagte, bemerkte er, wie sehr dieses Chaos auf einmal fehlte. Er hasste Unordnung, aber hatte die letzten Monate bedingungslos Alecs kleines Chaos akzeptiert. Das wunderte ihn. Bei seinen Ex-Liebhabern hielt er sich meist nicht lange auf, es waren meist andere Studenten, die teilweise in ihrer geliebten Unordnung lebten. Das störte ihn jedes Mal, wenn er dort gewesen war. Warum störte es ihn bei Alec nicht? Und das, wo es in seiner Wohnung war. In seiner geliebten Wohnung. War es jetzt ihre Wohnung?

Luke verwarf den Gedanken, als Linda ihn weiter zutextete. Nebenbei begab er sich ins Wohnzimmer und fand auf dem kleinen Eckregal Alecs Zeichenmappe. Er schlug sie mit der linken Hand auf, in der rechten hielt er sein Handy und lauschte Linda. Während er die Zeichnungen durchblätterte, wurde er immer unkonzentrierter. Das merkte irgendwann auch Linda und beendete das Gespräch sehr bald.

Luke schaute erstaunt auf die Bilder, setzte sich dann samt Zeichenmappe auf das Sofa.

Die Gedanken flogen wieder durch seinen Kopf. Er fand die Zeichnung von sich. Was hatte das zu bedeuten? Sein Bild lag zwischen all den anderen negativen Skizzen. Alec zeichnete fast originalgetreu, seine Bilder waren kleine Kunstwerke. Luke hätte ihm das nicht zugetraut und war umso erstaunter. Unter den Zeichnungen war auch das Bild eines anderen Mannes, den Luke nicht kannte. War das der Entführer?

Luke beschloss für sich, die Polizei anzurufen, vielleicht konnten denen die Zeichnungen weiterhelfen, um den Typen endlich zu schnappen. Ihm widerstrebte es, wieder diese beiden zu sehen, die ihn festgenommen hatten. Kurze Zeit später stand zu seiner Überraschung ein anderes Ermittlerteam, eine junge Frau und ein etwas älterer Herr, vor seiner Haustür. Er bat sie herein, wechselte wenige Worte und zeigte ihnen dann die Skizzen.

„Ich weiß ja nicht, ob sie weiterhelfen. Alec weiß auch nicht, dass ich Ihnen diese Bilder zeige.“

„Wo ist er?“, fragte die junge Dame zurück.

„Im Krankenhaus. Es wäre jetzt nicht die richtige Zeit, mit ihm darüber zu reden. Aber vielleicht hilft das Bild von diesem Typen auch schon weiter?“

„Die sind echt gut die Bilder, also ich meine vom Zeichnerischen her. Hat er denn sonst nochmal etwas erwähnt?“, fragte die Polizistin routiniert.

Luke schüttelte den Kopf. „Ich versuche nur zu helfen, weil ich möchte, dass Sie den Typen kriegen. Vielleicht bringt Alec das auch mehr innere Ruhe. Mehr als dass der Typ in Marzahn gewohnt haben soll in einer Neubauwohnung, weiß ich leider auch nicht. Konnten Sie denn von Raphael Neumann nichts erfahren.“

„Der schweigt auch, aber wir werden ihn nochmal befragen.“

„Er scheint mit seinen Erfahrungen gut umgehen zu können. Alec gelingt das nicht, das liegt sicher auch daran, dass er so lange dort war.“

Zwiespalt

Henk bemühte sich am Morgen, zuerst zu Alec zu schauen. Das gelang nicht ganz. Inzwischen war es elf, aber immerhin. Alec ging es unverändert. Sein Fieber wurde nicht besser, auch die Medikamente unterdrückten es nur mäßig.

„Er kommt heute nicht, oder?“, fragte Alec den behandelnden Arzt.

„Wen meinen Sie?“

„Luke.“

„Ich weiß nicht, er sagte gestern, er kommt vermutlich morgen nochmal vorbei. Der Tag ist noch lang. Und er war mitten in der Nacht hier.“

Alec seufzte. „Wann kann ich gehen?“

„Bisher nicht. Wir müssen erst mal Ihr Fieber in den Griff kriegen bzw. den Grund dafür feststellen.“

„Ich bin immer noch so müde und mir ist schwindelig. Ist das normal?“ Alec fielen fast die Augen zu, er hatte zu tun, sich wach zu halten, um weiter mit dem Arzt zu sprechen.

Henk wurde wieder aufmerksamer, dachte nach. Irgendetwas stimmte nicht.

„Nein, das sollte nicht sein. Schauen Sie mich mal an.“

Er schaute sich Alec nochmal genauer an, bemerkte, dass er ein Zucken im linken Auge hatte.

„Wo bin ich?“, fragte Alec noch verschwommen, bevor die Lichter ausgingen. Henk leitete sofort alle nötigen Maßnahmen ein. Beim CT stellten sie fest, dass er eine Gehirnblutung hatte.

Henk war nach seiner langen Schicht total geschafft und beschloss trotzdem noch schnell bei Luke vorbeizusehen. Er war an diesem Tag wirklich nicht mehr im Krankenhaus gewesen.

Luke öffnete die Tür und war erstaunt, ihn bei sich zu sehen.

„Henk? Komm rein.“ Er führte ihn in die Küche, sie setzten sich.

„Hallo Luke. Wolltest du nicht heute noch vorbeikommen?“

„Ja schon, aber ich weiß nicht. Keine Ahnung, warum ich nicht da war.“

„Dann mache ich es kurz: Alec hatte eine Hirnblutung. Wir haben ein CT gemacht. Die Bilder waren eindeutig.“

Luke wurde blass, fassungslos. Fühlte sich beinahe schuldig.

„Kein Angst, es ist alles in Ordnung. Nur ganz klein, musste nicht operiert werden. Die Blutung hörte recht schnell wieder auf, führte aber erst zur Bewusstlosigkeit.“

Luke atmete aus, schloss die Augen, ließ seinen Kopf nach unten sinken. Henk fuhr fort: „Also ich weiß nicht, wie das bei euch so läuft, aber wenn‘s mein Freund bzw. meine Freundin wäre, würde ich jetzt darüber nachdenken, mich gehörig zu entschuldigen und bei ihm zu sein. Er hat nach dir gefragt.“

Luke schaute wieder hoch, den Tränen nahe.

„Was ist los?“, fragte Henk fordernd.

„Ich weiß nicht mehr weiter. Ich konnte bisher jede Situation meistern, bin immer souverän gewesen, habe alles geschafft. Und nun weiß ich nicht mehr weiter.“ Luke merkte dieses beklemmende Gefühl. Wie kann es sein, dass er nicht weiter wusste? Er wusste, dass es für alles eine Lösung gibt, jedes Problem lässt sich lösen, jede Situation lässt sich meistern. Und nun saß er da, Tränen in den Augen, erzählte seinem Kollegen Dinge, die er niemanden erzählen wollte, und wusste nicht weiter. Er schaute vorsichtig Henk an. Der verzog den Mundwinkel und war selbst überwältigt von der plötzlichen Offenheit Lukes ihm gegenüber.

„Das ist, weil du richtig verliebt bist. Das Gefühl kennst du wohl noch nicht. Lass dir was einfallen, da musst du allein durch.“

Henk sagte das, klopfte ihm auf die Schulter und verließ die Wohnung. Luke blieb zurück, legte den Kopf in seine Hände und ließ die Tränen endlich raus. An diesem Abend zog er sich komplett zurück, telefonierte nicht einmal mit Linda. Seine reguläre Schicht begann gegen fünf Uhr morgens.

 

Ein ruhiger Morgen im Krankenhaus, er konnte zu Alec gehen, musste sich nur überwinden. Er fischte sich seine Akte heraus und verfolgte die letzten Behandlungen. Dann kam Dr. Milikan in seine Richtung. „Luke, schön, dass du wieder da bist. Herr Wiek wäre dann wieder dein Patient, die Akte hast du ja bereits“, meinte der schnell und ging weiter. Luke schluckte. Prima eingefädelt von seinem Chef.

Sein erster Weg führte ihn dann schnurstracks zu Alec. Vor der Tür zögerte er. Er hatte keinen Plan, hatte sich keine Worte bereitgelegt. Luke war einfach völlig hilflos, das war er vorher nie gewesen. Seine Hand fing an zu zittern, ein seltsames Gefühl durchzog seinen Körper. Dann betrat er endlich das Zimmer und blickte auf Alec, der nach oben an die Decke schaute.

„Hallo Alec“, begann Luke vorsichtig, noch in der Tür stehend. Alec würdigte ihn nur eines kurzen Blickes und schaute sofort wieder weg.

„Was willst du denn?“, wispelte er.

Luke schluckte, als ihm die Kälte dieser Worte entgegenkam und ihn fast zu Eis erstarren ließ.

„Mich bei dir entschuldigen“, sagte er kaum hörbar. Alec hatte es genau gehört. Nickte sachte.

„Ich ... ich weiß, dass es für mein Verhalten keine Entschuldigung gibt. Ich will es dennoch versuchen.“ Luke wurde zittrig. „Ich hatte nie diese Erfahrungen, die ich mit dir mache. Ich kann leider nicht alles richtig einordnen. Und das einzusehen ist für mich sehr schwer, da ich normalerweise immer alles einordnen und deuten kann. Meine Gefühle zu dir aber nicht. Du musst denken, dass ich kalt wie ein Eisberg bin.“

Luke machte eine Pause, atmete tief durch. Alec starrte weiter an die Decke, völlig regungslos.

„Und dann kam dazu die Tatsache, dass du ständig bei Raphael warst und dass es dir dadurch nicht besser ging. Und ich habe gedacht, du betrügst mich. Du warst ständig bei ihm, wir haben uns kaum gesehen. Und ich kann nicht verstehen, ob du mir vertraust, oder nicht. Du sagst immer ja, aber dein Verhalten sagt manchmal das Gegenteil aus. Ich kann das nicht deuten, Alec. Ich versuche, es zu lernen. Das ist wirklich nicht einfach für mich. Und als du dann noch sagtest, ich würde aussehen wie er, also dieser Mistkerl, da bin ich völlig ausgeflippt. Ich brauchte eine kurze Auszeit. Ich war bei einer alten Schulfreundin, ein wenig reden, versuchen, meine Gefühle in den Griff zu bekommen. Sie sagte immer, ich solle dir wenigstens sagen, wo ich bin. Sie hatte recht, ich war zu stur. Ich bin sofort wieder los hierher, als ich hörte, was passiert ist. Da habe ich gemerkt, wie viel du mir bedeutest und was ich dir angetan habe. Ich hoffe, du verzeihst mir, und ich hoffe, dass du mich deshalb nicht verlassen wirst.“

Luke stand völlig zerstört da, er war aber froh, die Worte einigermaßen herausgebracht zu haben, wartete auf eine Reaktion.

„Du hättest wenigstens anrufen können“, sagte Alec nur.

„Ich weiß.“ Die Worte standen im Raum.

„Wo warst du gestern?“

„Ich konnte nicht, Alec, ich hatte solche Angst. Ich habe versucht, mir über einiges klar zu werden.“

„Und bist du zu einem Ergebnis gekommen?“ Nun schaute Alec zu Luke, der noch immer in der Nähe der Tür verweilte.

„Dass ich nicht ohne dich leben möchte.“ Es fiel ihm so schwer, diese Worte zu sagen, dass er Alecs Blickkontakt nicht halten konnte. Warum kam genau heute niemand zur Tür herein, der diese Situation entschärfte?

Dieses Mal schützte ihn auch sein Kittel nicht. In dem hatte er eigentlich sein sonst so sicheres Auftreten. Er kam sich dumm vor, etwas verloren, da er diese Situation nicht meistern konnte und Alecs Antwort abwarten musste.

„Und? Was denkst du, wie es weitergehen soll?“, fragte der schließlich nach kurzem Zögern.

„Das weiß ich nicht. Ich hoffe, dass du wieder zu mir kommst, wenn du raus darfst.“

„Das liegt wohl an Ihnen, wann ich raus darf, Herr Doktor!“, meinte Alec förmlich und musterte Luke leicht grinsend. Der hatte sich inzwischen an Alecs Akte festgeklammert, die er mit sich trug und ihn jetzt erinnerte, was er eigentlich in seinem Zimmer sollte.

Alec mochte den Anblick seines Freundes in diesem Kittel nicht. Es machte ihm Angst, zeigte, dass er ihm deutlich überlegen war. Er mochte ihn lieber natürlich in seiner schwarzen Kapuzenjacke und einer Jeans. So fühlte er sich ihm verbundener und Luke wirkte dann so jung, beinahe jugendlich.

„Das weiß ich nicht. Ich müsste dich nochmal untersuchen, weswegen ich ursprünglich gekommen bin, und du solltest wenigstens bis morgen zur Beobachtung hier bleiben. Nicht, dass so etwas nochmal passiert. Der Neurologe kommt nachher nochmal zu dir.“

„Meinst du nicht, dass du mich bei dir zu Hause genug unter Beobachtung hast?“ Alec versuchte etwas gezwungen zu lächeln. Immer noch erbost über Luke, aber glücklich über sein Geständnis. Er hatte nicht geahnt, dass Luke in dieser Situation nicht weiterwusste, da er sonst immer der Bodenständige war.

Er wollte auch in seiner Nähe sein, er hatte ja gemerkt, wie es ihm zu schaffen machte, wenn Luke weg ist.

„Wissen deine Eltern eigentlich, dass du hier bist?“, unterbrach Luke Alecs Gedanken, der wieder vom Thema ablenkte.

„Nein. Ich war in den letzten Wochen nicht bei ihnen. Ich will sie nicht beunruhigen.“

„Meinst du nicht, es beunruhigt sie viel mehr, wenn du dich gar nicht meldest?“

„Das mag sein. Aber lass uns darüber später reden.“

Luke nickte. In dem Moment ging sein Pieper, dieser rettete ihn. Endlich! Luke schaute auf das Display, ging zu Alec, ließ die Akte auf dem Nachttisch liegen und küsste ihn schnell aber innig. Dann rannte er in Richtung OP und ließ Alec zurück. Der ließ seinen Kopf in das Kissen fallen und dachte laut: „Mein Gott, was läuft hier.“ Woher hatte Luke plötzlich den Mut gefasst, ihn hier, in diesen Mauern, zu küssen? Es hätte jeden Moment jemand zur Tür hereinkommen können und ihn dabei sehen.

Der Tag zog sich dahin, Luke stand erst Abends wieder in Alecs Zimmertür, schloss sie sachte hinter sich.

„Was war das vorhin?“, fragte Alec fordernd.

„Was? Nichts, da kamen einige Unfallopfer rein und ich musste ...“

„Du weißt, dass ich das nicht meine.“

„Ach das, ja, das war nichts“, meinte Luke, der leicht rot wurde.

„Du warst mutig“, sagte Alec, insgeheim stolz auf seinen Freund. Der lächelte nun zurück.

„Komm, zieh dich an, ich nehme dich mit. Markus hat Entwarnung gegeben, er hat nichts weiter festgestellt.“

„Wer ist denn Markus?“

„Der Neurologe.“

„Achso.“ Alec mühte sich aus seinem Bett hoch, schien kurz wackelig auf seinen Beinen. „Soll ich dir helfen“, eilte Luke in seine Richtung und griff nach seinem Arm.

„Nein, das geht schon.“ Die plötzliche, schnelle Berührung ließ Alec ein wenig Erstarren und zu Luke schauen. Der lockerte den Griff sofort, bis er schließlich losließ. „Ich warte draußen“, sagte er noch schnell und verließ das Zimmer.

Alec kam wenig später heraus.

„Hast du nichts weiter hier?“, sagte Luke, während er ihn anschaute.

„Nein, woher denn?“

„Warst du so bei Raphael?“

„Ja, ich hatte nur noch eine Jacke da.” Luke gab ihm seine Jacke, Alec nahm sie und sprach weiter: “Du willst wissen, was an dem Abend los war, oder?“

„Das möchte ich gern, wenn du bereit bist zu erzählen.“ Während des Gesprächs bewegten sie sich in Richtung Parkplatz.

„Es war nichts. Ich war total verzweifelt, weil du dich noch immer nicht gemeldet hattest. Ich suchte Trost, verlor die Nerven, verlor die Orientierung und die Kontrolle über mich. Er wusste damit wohl nicht umzugehen, rief einen Arzt. Und da er ja hier in der Nähe wohnt, kam halt einer aus deinem Klinikum. Das war alles.“

„Wirklich?“

„Wirklich.“

„Gut.“ Luke steuerte mit seinem Auto auf Raphaels Wohnung zu und hielt vor dem Mahrzahner Plattenbau an.

„Was willst du hier?“, fragte Alec verwundert.

„Nur deine Jacke holen. Du bleibst bitte hier.“

„Luke, lass das doch. Mach keinen Ärger!“

„Nein, ich muss das nur regeln.“ Er stieg aus, ging Richtung Eingang, die Haustür unten stand offen. Nach seinem Klopfen öffnete Raphael vorsichtig die Wohnungstür und wunderte sich, wer da zu ihm kommen würde. Er erschrak, als er den Doktor dort stehen sah. Solchen Besuch hatte er nicht erwartet.

„Hallo. Ich bin ...“

„Ich kann mich erinnern, Sie sind einer der Ärzte aus der Unfallklinik.“

„Richtig.“

„Wie kann ich helfen?“

„Darf ich reinkommen?“

Raphael zögerte, ließ ihn jedoch rein. Dann wartete er, bis er den Grund seines Besuches vortrug.

„Weswegen ich gekommen bin. Ich wollte Alecs Jacke holen.“ Raphael starrte ihn an. So lange, bis Luke schließlich fragte, was das soll.

„Sind Sie Luke?“

„Ja. Wieso?“

Raphael lächelte kurz bedeppert. „Ich wusste ja, dass Alecs Freund einer der Mitarbeiter aus dem Krankenhaus ist, aber nicht, dass Sie das sind.“

„Nun, jetzt wissen Sie es. Ich möchte außerdem wissen, was hier los war. Warum war Alec in der Klinik? Wo hat er die Rippenfraktur her, wo die Kopfverletzung?“

Raphael senkte den Kopf. „Er kam diesen Abend völlig aufgelöst zu mir. Sie hatten sich nicht gemeldet und er wusste nicht, was los war. Irgendwann fing er plötzlich an, heftigst zu schreien und um sich zu schlagen. Ich dachte, er will mich angreifen. Er hat mir Angst gemacht, da habe ich ihn weggestoßen.“ Raphael wurde zittrig. „Er fiel etwas unglücklich auf die Kante des Tisches, dabei muss er sich die Rippen gebrochen haben. Aber ich habe ihm nichts getan.“

„Was ist mit der Kopfverletzung?“

„Was für eine Kopfverletzung? Er hatte keine. Er lag plötzlich völlig verkrampft auf dem Boden, schrie nur noch. Da wusste ich nicht weiter und rief Hilfe.“

„Diese posttraumatischen Belastungsstörungen sind keine Seltenheit bei ihm. Und je mehr Zeit er hier verbrachte, desto schlimmer wurde es! Sie müssen es doch wissen, Sie waren doch in derselben Situation!“

„Das war ich, aber nicht so lange wie er. Ich habe ihm nichts getan. Ich wollte nicht, dass er da so blöd auf die Tischkante fällt. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich habe sowas noch nicht erlebt. Er war völlig ausgerastet.“

„Und dann haben Sie ihn abholen lassen und danach nicht mehr drum gekümmert, was passiert?“

„Ich wusste, dass er in guten Händen ist.“

Luke ging einen Schritt auf Raphael zu. Er stand ihm sehr nahe, blieb ruhig, aber bestimmt: „Eines sage ich Ihnen und das noch im Guten, lassen Sie die Finger von ihm. Es tut ihm nicht gut, mit Ihnen zusammen zu sein. Fassen Sie ihn nicht an.“ Luke nahm sich Alecs Jacke, die er bereits erspäht hatte, und verließ den Flur der Wohnung. Raphael sagte nichts mehr, stand nur wie angewurzelt dort und schaute Luke hinterher.

Alec hatte brav gewartet, schaute Luke groß an, als der wieder einstieg und ihm die Jacke auf den Schoß legte.

„Was hast du getan?“

„Nichts. Deine Jacke geholt und kurz geredet.“

„Nichts weiter?“

„Nein. Ich möchte, dass du ihn nicht mehr triffst.“

„Du bist nicht meine Mutter!“, entgegnete Alec entrüstet.

„Richtig. Nein, ich kann es dir auch nicht verbieten. Ich möchte dich darum bitten. Es ging dir jedes Mal schlecht danach.“

„Richtig schlecht ging es mir, als du nicht da warst.“

„Hör schon auf. Ich habe versucht, mich zu entschuldigen, Alec“, entgegnete Luke etwas herzlos. Alec schwieg. Erst in der Wohnung suchte Luke auch wieder ein Gespräch.

„Wie lange willst du noch hungern?“

„Ich hungere nicht, das weißt du.“

Alec drehte sich weg, Luke umarmte ihn von hinten und legte seinen Kopf auf Alecs Schulter. „Ja, das weiß ich“, flüsterte er, „wir müssen aber sehen, dass wir das in den Griff kriegen, du hast zu viel Stress durch deine Erinnerungen, du wirst zu dünn.“

Alec griff mit seinen Händen an Lukes Arme, verweilte eingeschlungen von ihm und seufzte. Nach einer Weile löste Luke seine Arme. „Komm schon, du musst ins Bett.“

„Und wenn ich das nicht möchte?“

„Dann hätte ich dich da lassen sollen, da hattest du ja kaum eine andere Wahl. Komm schon.“

Versorgt mit Schmerzmitteln schlief Alec sehr schnell ein. Luke blieb wach, beobachtete ihn ein wenig und griff dann schließlich zum Telefon. Er wählte die Nummer von Alecs Eltern. Während des Klingelns wechselte er ins Wohnzimmer. Alecs Mutter nahm recht schnell ab. Am anderen Ende herrschte Stille, als Luke sich vorstellte.

„Sind Sie noch dran, Frau Wiek?“

„Ja, ja! Ich war nur etwas erstaunt, wie kann ich Ihnen denn helfen?!“, fragte sie aufgeregt.

„Es geht um Alec“, begann Luke langsam.

„Der ist leider nicht hier. Ich habe eine Weile nichts von ihm gehört.“ Man hörte, wie ihr diese Worte wehtaten.

„Nein, das weiß ich. Er ist bei mir.“

„Wirklich? Geht es ihm denn gut? Er hat sich damals so sehr zurückgezogen nach der Sache ... na Sie wissen schon ... wo Sie verhaftet wurden. Das war gar nicht meine Schuld. Ich wusste ja nicht …“

„Ist schon gut. Ich wollte nur fragen, ob ich morgen mal vorbeikommen könnte?“

„Ja. Ich bin da. Um was geht es denn?“, fragte sie erstaunt.

„Ich möchte nur über Alec sprechen, wenn das in Ordnung ist. Ich will versuchen, ihm zu helfen und müsste daher etwas mehr erfahren.“

„Ah. Na ich weiß nicht, ob ich da weiterhelfen kann. Aber Sie können morgen gern vorbeikommen. Ich bin den ganzen Tag da.“

„Das ist prima. Dann bis morgen!“

Luke machte sich am nächsten Tag auf den Weg zu Alecs Mutter. Alec wusste nichts von dem Besuch, hatte die Anweisung, im Bett zu bleiben und sich möglichst wenig zu bewegen. Er hörte brav, verbrachte den Tag damit, Bücher zu lesen, TV zu schauen und Bilder zu malen.

Plappermaul

Luke und Agnes verfielen in ein Gespräch. Er stellte sich zuerst ihren Fragen. Sie war neugierig, wollte wissen, wie es ihrem Sohn ginge und warum er nicht zur Arbeit gegangen war. Luke antwortete brav, verschwieg aber den letzten Nervenzusammenbruch und natürlich auch den Streit. Irgendwann kam auch Luke zum Zuge und versuchte, Alecs Mutter ein wenig auszuhorchen. Wahrscheinlich hätte er die meisten Fragen auch Alec stellen können. Nur wollte er ihn nicht belasten.

„War Alec schon immer so still und verschwiegen?“

„Alec? Oh nein. Das war er nie. Er war immer ein aufgeweckter Junge, Partygänger, er war ja kaum ein Wochenende zu Hause. Irgendwann zog er ja aufgrund des Studiums nach Berlin. Ab da bekam ich nicht mehr viel mit. Aber er war unverändert, wenn er uns besuchte. Er war nie so still, wie er es jetzt ist. Ich bin etwas beunruhigt, wenn er in Berlin ist. Also jetzt, vorher war das egal, er konnte gut genug auf sich aufpassen. Aber er ist jetzt so verändert. Gott weiß, was die da mit ihm gemacht haben. Mir hat er davon gar nichts erzählt. Er hat nie darüber geredet. Redet er denn mit Ihnen?“

„Bedingt“, antwortete Luke kurz und fuhr dann fort, „aber er erzählt nicht alles und ich möchte versuchen, ihm zu helfen. Aber dafür muss ich ihn verstehen, um herauszufinden, was passiert ist. Und vor allem müssen wir den Täter finden.“

„Ich fürchte, da kann ich nicht weiter helfen. Er spricht darüber gar nicht, wenn er hier ist. Wenn er denn je wieder kommt. Wir haben ja lange nichts von ihm gehört.“ Nun war sie den Tränen nahe.

„Ich werde mit ihm reden, dass er sich wieder meldet. Er war etwas durcheinander. An dem Abend lief alles schief, was nur schief laufen konnte.“

„Darf ich fragen, was genau war?“, fragte Agnes neugierig.

Luke nickte. „Er hatte am Tage mit dem anderen Jungen gesprochen, der dort auch eingesperrt war. Irgendwann in der Nacht kehrten Erinnerungen zurück und er hatte einen Nervenzusammenbruch. Zeitgleich erreichte die Polizei meine Wohnung. Für die sah die Situation etwas anders aus.“

„Haben die gedacht, Sie haben ...?“

„Haben sie.“

Nun nahm sie die Hand vor dem Mund. „Das wollten wir wirklich nicht. Die kamen lediglich hier an und wollten Alec einige Fragen stellen. Dann meinte ich nur, dass er bei Ihnen ist. Dann müssen Sie wohl gleich hingefahren sein. Das tut mir schrecklich leid!“

„Ist ok, man hat mich ja dann wieder rausgelassen. Aber die Situation hätte für Alec entspannter laufen können. Durch den ganzen Stress und die Leute konnte er sich dann nicht mehr beruhigen. Die Polizisten hatten den Notarzt gerufen und mich nicht mehr an ihn rangelassen. Ich weiß inzwischen, wie ich ihn wieder einigermaßen beruhigt kriege, ohne Medikamente geben zu müssen.“

„Ich weiß von seinen Alpträumen und den Nervenzusammenbrüchen. Er hat hier immer versucht, alles geheim zu halten. Aber als Mutter merkt man sowas, wissen sie. Aber er will ja keine Hilfe, er möchte keine Therapie.“

„Ich weiß, deshalb versuche ich, so gut ich kann, ihm zu helfen. Sie wissen auch, dass ich ihm nichts tun würde?“

„Natürlich. Ich vertraue Ihnen da völlig. Das andere war ein großes Missverständnis. Wie gesagt, das wollte ich nicht.“

„Konnten Sie ja nicht wissen, es war einfach der falsche Zeitpunkt, als die kamen.“

„Ich weiß, dass Sie ihn gut behandeln. Sonst wäre er nicht ständig bei Ihnen. Er scheint Sie sehr zu mögen. Ich, ich mag das zwar nicht, dass er schwul ist, aber ich muss es wohl hinnehmen.“

Luke huschte ein Lächeln über die Lippen. Er beendete das Gespräch sehr bald und machte sich auf den Weg nach Berlin. Er wollte Alec nicht zu lange allein lassen. Er kam in die dunkle, stille Wohnung. Sofort hellhörig. Die Stille machte ihm Angst, war alles okay mit Alec? Er fand ihn schließlich im Sitzen schlafend auf dem Bett, einen Bleistift in seiner Hand, den Zeichenblock halb heruntergerutscht auf seinem Schoß.

Luke nahm ihm vorsichtig den Stift und den Block weg, dann wollte er ihn zudecken, als Alec plötzlich wach wurde.

„Was machst du?“, fragte der verschlafen.

„Ich wollte dich zudecken. Du hast geschlafen.“

Alec erspähte den Block, den Luke noch in der Hand hatte und wurde leicht nervös. „Gib mir den Block!“

„Warum? Was hast du gezeichnet?“, fragte Luke und hielt den Block von ihm fern.

„Gib ihn mir, bitte. Luke! Ich will nicht, dass du das siehst.“ Alec stand auf, angelte nach dem Zeichenblock.

„Warum darf ich das nicht sehen. Was hast du so Besonderes gezeichnet?“

„Gib ihn mir!“ Alec bewegte sich auf Luke zu, ihm gelang es nicht, an diesen Block heranzukommen. Als Luke merkte, wie nervös und kurzatmig er plötzlich wurde, reichte er ihm das Papier zu. Alec nahm es, stand nun völlig errötet, kurzatmend vor Luke.

Der schaute ihn an. „Du vertraust mir nicht, oder?“

„Fang nicht damit wieder an. Ich vertraue dir, ich habe nur Angst. Ich bin unsicher.“

Luke antwortete ihm nicht, schaute ihm nur ins Gesicht, suchte den Blick, der nun auf den Boden gefallen war. Er nahm mit einer Hand Alecs Kinn, zog seinen Kopf wieder hoch.

„Nun schau mich schon an.“

Alec begann zu zittern, schaute Luke mit leeren Blick an. Der merkte sofort, dass etwas nicht stimmte.

„Vor mir brauchst du keine Angst haben, das weißt du. Was ist denn los?“

„Mir ist auf einmal so schwindelig, mein Kopf tut ...“ Noch bevor er die Worte beenden konnte, fiel er Luke ungewollt in die Arme. Der konnte ihn gerade auffangen und legte ihn sofort aufs Bett. Etwas benommen schaute Alec gleich wieder hoch.

„Ich bin auf einmal so müde.“

„Bleib liegen. Alles in Ordnung“, meinte Luke, der ihn schnell durchcheckte und fasste ihm auf die Stirn.

„Du hast wieder erhöhte Temperatur. Hast du schon was gegessen?“

Alec schüttelte den Kopf. „Ich möchte auch nichts“, wispelte er langsam, die Augen halb zu. Luke hatte sich inzwischen zu ihm gesetzt und streichelte ihm sanft über die Stirn. „Mh, schlaf dich erst mal aus.“

Am nächsten Morgen weckten beide das Zwitschern der Vögel und die Reste der Sonnenstrahlen, die versuchten, die Wohnung auf dem Hinterhof zu erreichen. Luke hatte seinen Arm bereits in der Nacht um Alec gelegt und war dicht an ihn herangerutscht. Der war seit einigen Stunden wach, verhielt sich aber ruhig. Luke wachte später auf.

„Du bist ja schon wach“, meinte er, als Alec sich bewegte.

„Die halbe Nacht schon.“

„Armer Schatz“, murmelte Luke zurück und drückte sich fester an Alec.

„Mh, du musst deine Tabletten bald nehmen“, bemerkte Luke noch rasch.

„Dazu müsstest du mich loslassen.“

„Ich weiß. In ein paar Minuten. Wann willst du eigentlich mal wieder zu deinen Eltern?“

„Keine Ahnung. Ich nehme ihr das noch immer etwas übel.“

„Ich habe mit deiner Mutter gesprochen.“

Alec schnellte zu Luke herum, wurde bissig. „Wieso und wann?“

„Gestern, weil ich wissen wollte, was da wirklich los war, als die mich verhaftet hatten. Es war nur ein Missverständnis. Sie hat da keine Schuld dran und sie vermisst dich.“

„Das dachte ich mir schon, also, dass sie mich vermisst. Sobald ich wieder arbeiten muss, werde ich zu ihnen gehen. Wann darf ich denn wieder?“

„Na ja, wenn du nicht nochmal umkippst, in einer Woche. Jetzt noch nicht, mir gefällt dein Zustand nicht.“

 

In der darauffolgenden Woche ließ Luke Alec wieder zur Arbeit. Luke selbst war nun sehr beschäftigt, seine Schichten wurden aufgrund einer Weiterbildung noch länger als vorher. Meistens saß er über seinen Büchern, wenn er zu Hause war. Zeit für Alec blieb kaum und Zeit sich Gedanken zu machen, hatte er ebenfalls nicht. Etwas erstaunt war er darüber, dass sich die Polizei nicht rührte.

 

Alecs Kollegen heuchelten Freude, als er wieder da war, und fragten ihn etwas neugierig aus. Sie wollten natürlich wissen, weshalb er krank war. Er dachte sich wieder eine Geschichte aus, um die Neugier zu stillen. Ansonsten hatte sich in seiner Abwesenheit nicht viel geändert, nur der Stapel auf seinem Schreibtisch ist in der Zwischenzeit gewachsen. Dana war noch immer in seiner Abteilung, inzwischen allerdings in einem anderen Büro. Trotzdem hatte er sie während der Pausen am Hacken. Zur Mittagspause mokierten sich seine Kollegen über Schwule. Alec nahm das Gespräch hin, versuchte sich anzupassen. Er verhielt sich ruhig, lächelte nur leicht. Dana warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.

Das Gespräch begann Peter: „Gestern war schon wieder der Henke da, wegen der Anhörung. Und dann sagte der doch tatsächlich, zu der Zeit hat er keinen Krach gemacht, da lag er mit seinem Lebensgefährten im Bett. Mir ist da gleich ganz anders geworden, so viel Informationen wollte ich gar nicht haben.“

Die anderen lachten, der Amtsleiter stieg darauf ein: „Ist doch völlig widerlich, sowas. Und wenn die sich dann noch küssen. Könnt ihr euch noch an die Lutze-Bande erinnern? Das war doch auch so ein Pärchen. Fehlt bloß noch, dass die mal heiraten.“ Die anderen lachten. Alec fiel es sichtlich schwer, neutral zu bleiben, sein Blick verzog sich, woraufhin Gabriele ihn fragte, ob‘s ihm nicht gut ginge.

„Doch, doch, nur ein wenig Kopfschmerzen. Das wird schon wieder“, wiegelte er ab und schaute sie freundlich an. Dana beäugte ihn, dachte sich ihren Teil. Alec machte der Arbeitstag ein wenig zu schaffen, er versuchte erst mal, einen Überblick zu bekommen. Nach der Arbeit besuchte er noch seine Mutter, die beiden redeten ein wenig und versöhnten sich. Am Abend machte er sich auf den Weg zu Luke. Die nächste Woche zog ins Land. Alec hielt sich brav von Raphael fern, auch wenn die Versuchung da war, ihn zu treffen. Luke sah er kaum. Und wenn, hockte er meistens über seinen Büchern, irgendwelche Krankheitsabläufe studierend. Er störte ihn nicht, zog sich jedes Mal schnell zurück. Luke merkte auch nicht, dass es Alec zeitweilen schlechter ging, er sah ihn ja kaum. Teilweise fuhr Alec abends nicht mal nach Berlin, sondern blieb bei seinen Eltern, Luke bemerkte es nicht. Meistens war er arbeiten.

Dana machte sich daran, Alec wieder näher zu kommen, und stand eines Morgens in seiner Bürotür.

„Na, kommst du durch die Aktenberge durch. Soll ich dir helfen? Frau Müller meinte, ich solle dir ein wenig Arbeit abnehmen.“

„Ja. Da muss ich was raussuchen von all dem.“

Dana schloss die Tür hinter sich und setzte sich neben Alec, nahm sich einige Akten vor, tat so, als wenn sie lesen würde, und begann nebenbei ein Gespräch.

„Du bist oft in Berlin, oder?“

„Manchmal.“

„Ich weiß es.“

„Was weißt du?“, fragte Alec zurück, ohne von den Ordnern aufzublicken.

„Ich habe den Mann wieder gesehen, den Arzt aus der Unfallklinik. Er war bei deinen Eltern und vorher ja ab und an da, wenn du auch da warst. Du scheint ja einen sehr engen Kontakt zu ihm zu haben.“

„Und?“

„Du brauchst das nicht vor mir verheimlichen, ich weiß, dass du schwul bist. Du hast mich ja auch immer sauber abblitzen lassen.“ Dana wusste, dass sie ihn eingewickelt hatte und er ihr kaum entkommen konnte.

„Sauber rausbekommen, Sherlock Holmes“, meinte Alec nur trocken und schluckte. „Ich habe mitbekommen, dass du es weißt. Du hast mich und mein Elternhaus ja ständig beobachtet.“

Nun wurde Dana etwas rot. „Na ja, ich dachte, ich hätte Chancen. Aber die habe ich ja nun nicht.“

„Nein. Behältst du es wenigstens für dich?“

„Je nachdem.“

„Nach was?“

„Wie mir gerade ist“, kürzte sie ab und wechselte das Thema. „Ich nehme die Rechnungen mit zum Buchen.“

Alec saß wortlos da, schloss die Augen und atmete durch. Es dauerte nicht lange, bis Dana sich an einem Dienstag von Alec auf den Schlips getreten fühlte und sich am Tisch verquatschte, als die Kollegen wieder auf dieses Thema kamen. Alec hatte gerade Kundschaft und saß nicht mit in der Runde.

Sabine bemerkte nur kurz, dass sie in der nächsten Woche ein gleichgeschlechtliches Paar zu verheiraten bzw. zu verpartnern hätte, zwei Frauen. Die anderen zogen darüber her. Sie meinte dann noch, dass sie zwei Männer ja noch nicht gehabt hätte. Dana, den ganzen Vormittag schon sauer auf Alec, meinte nur trocken: „Dann kann Alec ja bald mit seinem Freund nachziehen.“

Nun hatte sie alle Blicke auf sich gezogen.

„Was meinst du denn?“, fragte Brigitte neugierig. Dana bemerkte den Fauxpas, wollte sich aber rächen und plauderte fröhlich weiter.

„Na, der ist doch mit einem Typen liiert.“

„Woher weißt du denn das?“ Die anderen wurden neugierig.

„Er ist mit dem Arzt aus der Klinik zusammen. Ich habe das mit der Zeit mitbekommen. Ich war doch nach meinem Unfall auch da. Der hatte mich behandelt, Alec hatte ich in der Zeit auch kurz dort gesehen. Und hier habe ich den Arzt auch schon gesehen.“

Die anderen waren etwas entsetzt, verzogen das Gesicht. Manchen sah man den Ekel an, der Chef schüttelte nur mit dem Kopf. Ein Schweigen kehrte ein. Alec kehrte nichtsahnend zum Tisch zurück, überrascht von dem Schweigen, traute sich aber auch nicht, nach dem Grund zu fragen. Er merkte nur, wie ab und an die schnellen Blicke der anderen auf ihm hafteten. Er bemerkte die plötzliche Abwehrhaltung, welche sich über den Tag hinwegzog. Die Kälte seiner Kollegen zog sich auch den Rest der Woche dahin. Alec hielt es nicht mehr aus. Am Donnerstag fuhr er gleich nach der Arbeit wieder zu Luke, der war heute zu Hause, lernte wieder.

Alec rief ein leises 'Hallo' über den Flur und zog sich sofort ins Schlafzimmer zurück. Das veranlasste Luke aufzuschauen. Warum begrüßte er ihn nicht? Sonst kam er wenigstens kurz zu ihm.

Luke nahm seine Bücher vom Schoß und folgte Alec. Er fand ihn auf dem Bauch liegend auf dem Bett. Luke verweilte kurz in der Tür, ging dann zu ihm und legte sich daneben.

„Was hast du? Es tut mir wirklich leid, dass ich so wenig Zeit für dich habe“, entschuldigte sich Luke sofort.

„Es ist nicht deshalb“, antwortete Alec, der seinen Kopf in die andere Richtung gedreht hatte.

„Was ist es dann?“, fragte er weiter mit seiner Hand auf Alecs Rücken.

„Dana hat das mitbekommen.“

„Was denn?“, fragte Luke verwundert.

„Dass ich mit dir zusammen bin. Und sie hat die Klappe nicht gehalten. Meine Kollegen wissen es.“

„Mann! Ja, sie ahnte es ja damals schon, als sie mir die frechen Fragen stellte. Du hast dich dort so schon nicht so wirklich wohl gefühlt, oder? Du warst so seltsam die letzte Zeit.“

„Das hast du bemerkt? Du hattest doch kaum Zeit. Und ich habe mich nicht wohl gefühlt und nun kann ich den Job an den Nagel hängen.“ Alec begann zu weinen.

Luke rückte näher an ihn heran. “Verstehen sie das gar nicht?“

Alec schüttelte den Kopf. „Auf dem Dorf wirst du ja fast gelyncht dafür.“

„Dann kündige, wir suchen hier was Neues für dich. Irgendwo hier in der Nähe, dann brauchst du auch nicht mehr fahren.“

„Du weißt genauso gut wie ich, dass es schwer ist, hier Arbeit zu finden. Und wovon soll ich in der Zwischenzeit leben?“

„Du bleibst einfach hier bei mir.“

„Ich will nicht auf deine Kosten leben!“

„Alec. Hör schon auf, das Geld reicht für uns beide und du kannst in Ruhe suchen.“

„Dann wäre ich ja abhängig von dir.“

„Ich möchte dir nur helfen, überlege es dir. Schreib deine Kündigung und schick sie per Post hin. Ich will nicht, dass es dir schlecht geht, das weißt du doch.“

Alec nahm die Worte mit einem Schluchzen hin, blieb ruhig liegen und ließ sich den Rücken von Luke streicheln. Er genoss die warme Hand, beruhigte sich schnell wieder.

„Deine Eltern wären genauso, oder?“

„Ja. Sie haben für sowas kein Verständnis. Sie würden mich wohl zum Teufel jagen, wenn sie das erfahren. Versteh mich nicht falsch, ich stehe zu dir, aber ich habe Angst, es denen zu sagen. Das Echo wäre gewaltig.“

„Das ist ok. Aber früher oder später ...“

„Ich weiß ja.“

„Bist du morgen mal hier?“

„Ja, ich habe frei und ich wollte auch mal einen Tag vom Lernen freinehmen. Mir raucht der Kopf.“

„Du bist doch schon so schlau, du weißt das doch alles“, meinte Alec grinsend. Luke lächelte zurück „Nein, nein, ich muss das auch erst lernen. Nun veräpple mich nicht. Lass uns morgen ausschlafen und einen schönen Tag haben. Jeder Tag ist ein neuer Anfang. Also?“

„Gut. Wenn es dich nicht stört, dass ich wie eine Made auf deinen Kosten lebe.“

„Hör schon auf, die Wohnung muss ich eh bezahlen und das bisschen, was du isst, fällt kaum auf. Außerdem musst du ja kochen, sonst versorgt mich ja keiner. Ich kann das ja nicht.“

Alec lachte. Luke war im Begriff aufzustehen, als Alec ihn zu sich zog und küsste.

Lesemodus deaktivieren (?)