zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Hoffen auf Regen

Teil 2 - Blut

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

Blut

Hinunter durch das dunkle Treppenhaus und durch den strömenden Regen folgst du dem Riesen in die Nacht. Deine nackten, wunden Füße werden von dem Wasser umspült, das mittlerweile zentimeterhoch in den Straßen steht. Dein neuer Freund lässt sich Zeit, damit du ihm folgen kannst. Etwa eine Viertelstunde geht ihr schweigend durch das verlassene Viertel, dann biegt er in eine schmale Seitengasse ein, die du zwischen den riesigen Wohnblöcken fast übersehen hättest. Du zögerst kurz, ein kleines bisschen Angst leuchtet wie eine 10-Watt Birne in deinem Hinterkopf auf. Doch dann folgst du ihm in die enge Gasse. Nach ein paar Metern fallen die Mauern zu beiden Seiten zurück und ihr steht in einem rechteckigen Innenhof. Der Platz ist nicht besonders groß, vielleicht zwölf auf zwölf Meter, und genau in der Mitte steht eine große, alte Kastanie. Der schwere Regen prasselt auf die Blätter und erzeugt ein beruhigendes Rauschen, das von den Hauswänden noch verstärkt wird. Das Haus direkt vor euch ist eindeutig älter und um einiges kleiner als die Blöcke, rechts und links von euch. Mit seinen fünf Stockwerken und den alten Eisenbalkonen wirkt es ziemlich fehl am Platz. Wie ein hartnäckiges Überbleibsel einer längst vergessenen Zeit.

Der Fremde geht zielstrebig auf das alte Haus zu und du folgst ihm in den engen Hausflur.

„Ich wohne direkt unter dem Dach“, flüstert er dir zu. Es sind die ersten Worte, die er seit einer Viertelstunde gesagt hat. Oben angekommen, fummelt er etwas ungeschickt einen großen Schlüsselring aus seiner engen Jeans und beginnt mit der Suche nach dem richtigen Schlüssel. Das ist der erste Moment, in dem du dir ernsthaft überlegst zu verschwinden.

Was machst du hier eigentlich?

Du kennst diesen Kerl überhaupt nicht und jetzt gehst du mit in seine Wohnung? Hast du heute nicht schon genug Scheiße erlebt!?

Aber bei dem Riesen fühlst du dich irgendwie...sicher. Er würde dir nie etwas tun, das weißt du einfach. Und du willst um keinen Preis zurück in deine Wohnung. Was deine Möglichkeiten ziemlich einschränkt, wenn du nicht auf der Straße schlafen willst.

Jetzt hat er den Schlüssel gefunden und schließt die Tür auf.

„Es ist nicht besonders aufgeräumt“, entschuldigt er sich, als ihr hinein geht und er das Licht einschaltet.

‚Nicht besonders aufgeräumt?!’

Du kannst dir beim besten Willen nicht vorstellen, wie man eine Wohnung noch besser aufräumen könnte. In dem schmalen Gang, stehen die Schuhe exakt nebeneinander und alle sind unglaublich sauber. Bei dir zu Hause kannst du froh sein, wenn du zu deinem linken Schuh den passenden Rechten findest. Die Jacken an der Garderobe hängen alle auf Bügeln und wirken, als ob sie gerade frisch aus der Reinigung gekommen sind. Dabei machen weder die Jacken noch die Schuhe den Eindruck dass sie neu sind oder teuer waren, aber sie sind gepflegt. Der Fremde passt auf seine Sachen auf, das muss man ihm lassen. Unter einem schlichten, rechteckigen Spiegel zu deiner Rechten ist ein kleines Schlüsselbrett aus Holz angebracht. Und dort liegt doch tatsächlich nichts! Es ist einfach eine unbenutzte Ablagefläche, unglaublich!

Keine Zettel mit Telefonnummern, von denen man keine Ahnung mehr hat, zu wem sie gehören. Keine Post, die man letzten Monat nur schnell mal ablegen wollte. Kein Kaugummi oder sonstiger Kleinkram. Das fasziniert dich irgendwie.

Der Fremde geht voraus und öffnet eine Tür zu deiner Linken, die in das Bad führt.

„Trockne dich erst mal ab. Du kannst den Bademantel nehmen, der hinter der Tür hängt.“

Zögernd trittst du in das kleine Badezimmer. Hellblaue Fliesen und ein orangener Badezimmerteppich streiten sich darin um die farbliche Vorherrschaft. Eine altmodische Badewanne mit Metallfüßen und verspielten Messing-Armaturen steht an der Wand gegenüber der Tür. Die einzige Lichtquelle ist eine helle Halogenlampe in einem weißen Spiegelschrank über dem Waschbecken an der rechten Wand.

„Handtücher sind in dem Schrank unter dem Waschbecken. Ich mach uns gleich was Warmes zu trinken.“ Damit lässt er dich allein. Leise schließt du die Tür und gehst zum Waschbecken. Dabei vermeidest du sorgsam jeden Blick in den Spiegel. Du kannst dir jetzt nicht in die Augen sehen. Hast Angst vor dem, was du dann sehen würdest. Hast Angst vor der Leere in deinen Augen. Willst nicht erinnert werden. Willst nur vergessen.

Du bückst dich und holst ein riesiges, rotes Badehandtuch aus dem Unterschrank. Die Fliesen und der Teppich unterbrechen ihren Kampf um die farbliche Dominanz und wenden sich angewidert ab. Sie wissen, dass sie gegen dieses heftige Blutrot keine Chance haben.

Mechanisch beginnst du dich abzutrocknen. Deine nasse Jeans wehrt sich etwas, aber schließlich gibt sie nach. Wäre es deine Wohnung, dann würdest du sie einfach auf dem Boden liegen lassen. Aber hier kommt das gar nicht in Frage. Also legst du sie ordentlich ausgebreitet über den Rand der makellos sauberen Badewanne. Dann kümmerst du dich um deine wunden Füße. Sie haben mittlerweile aufgehört zu bluten, tun aber noch immer weh. Die Schmerzen pochen dumpf im Rhythmus deines Herzschlags. Du setzt dich vorsichtig auf den Rand der Badewanne und ziehst Glassplitter und kleine Steine aus deinen Fußsohlen. Ein paar der Splitter sitzen ziemlich tief, aber du nimmst die Schmerzen nur am Rande wahr, registrierst sie einfach als eine Tatsache. Schmerzen sind sowieso seit langem ein fester Bestandteil deines Lebens. Dann wäschst du die Wunden mit kaltem Wasser aus und trocknest deine Füße mit Toilettenpapier ab.

In den dekadent flauschigen, grünen Bademantel gehüllt, betrittst du kurze Zeit später das Wohnzimmer, das mindestens genauso aufgeräumt ist wie der Flur. Es ist ein recht großer Raum - vielleicht fünf auf sieben Meter - und er bietet deinen Augen eine willkommene Erholung von dem farblichen Super-GAU des Badezimmers. Die Wände sind in einem hellen Erdton gestrichen und auf dem dunklen Echtholzparkett liegt ein beiger Teppich. Das dominierende Möbelstück in dem Raum ist die große helle Eckcouch, die an der rechten Wand steht. Auf dem modernen Glastisch davor liegt nichts, außer einer kleinen Fernbedienung und einer Fernsehzeitung. Seufzend setzt du dich auf die Couch und schließt die Augen. Ruhe!

Herrlich!

Du musst eingeschlafen sein, denn als du die Augen wieder aufmachst, scheint die Sonne durch die hellblauen Vorhänge. Du liegst auf der Couch unter einer dünnen Decke. Langsam richtest du dich auf und sitzt eine Zeit lang einfach nur da. Du hast den Kopf in deine Hände gestützt und dein Kopf ist komplett leer. Schließlich hörst du wie eine Tür geöffnet wird und ein paar Sekunden später tritt der Fremde in das Wohnzimmer. Er trägt nur enge, dunkelblaue Boxershorts und reibt sich verschlafen die Augen. Du ertappst dich dabei, wie du seinen gut-definierten Oberkörper anstarrst. Wie deine Blicke über seine leicht behaarte Brust gleiten und verschämt über seinen flachen Bauch wandern.

„Morgen.“ Seine Stimme hört sich an, als bräuchte sie noch ein paar Stunden Schlaf.

„Morgen“, antwortest du müde.

„Wie geht’s dir?“, fragt er dich besorgt. Das ist eine gute Frage. Wie geht es dir eigentlich? Du zuckst mit den Schultern.

„Besser als gestern auf jeden Fall.“

„Ich dachte mir, dass ich dich am besten auf der Couch schlafen lasse. Du warst schon ziemlich weggetreten, als ich dich gefunden habe.“

„Kein Problem, ich hab recht gut geschlafen.“ Du zögerst kurz und fügst dann hinzu: „Danke. Ich hätte nicht gewusst, wo ich sonst übernachten hätte sollen.“

Der Fremde macht eine wegwerfende Handbewegung und gähnt intensiv.

„Vergiss es.“

„Wie heißt du eigentlich?“, fragst du dann. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, als ihm klar wird, dass er sich wirklich noch nicht vorgestellt hat.

„Mike. Ich heiße Mike.“

„Hi Mike.“

„Willst du erzählen, was gestern passiert ist?“ Die Frage kommt behutsam, vorsichtig. Du starrst auf deine Hände und bemerkst, dass sie zittern. Du willst eigentlich auf keinen Fall an gestern erinnert werden. Aber du schuldest deinem neuen Freund eine Erklärung. Und so fängst du leise an zu erzählen. Wie du mit dem ‚Freund’ deiner Mutter im Flur zusammengestoßen bist, wie er dich in deine Wohnung gedrängt hat und dann in dein Zimmer. Du versuchst verzweifelt nicht zu weinen, als du beschreibst, wie er dich mit seinem Gewicht auf dein Bett gedrückt hat. Auf dein eigenes, verdammtes Bett! In deinem eigenem verdammten Zimmer! Sein Mund ganz nah an deinem Ohr, als er dir zugeflüstert hat, dass du jetzt ihm gehörst. Dass Du jetzt sein Junge bist.

„Das ist alles. Was danach passiert ist, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich erst wieder daran, wie ich auf dem Dach gestanden bin.“ Mike hat sich neben dich gesetzt, während du erzählt hast, und jetzt legt er seinen Arm auf deine Schulter.

„Du solltest den Wichser anzeigen, wenn du mich fragst.“

Du starrst weiter auf deine Hände und schüttelst den Kopf.

„Er wird es wieder tun. Vielleicht nicht bei dir, aber bei einem Anderen“, versucht Mike zu argumentieren.

„Ich kann nicht, Mike. Ich kann einfach nicht.“ Er sieht dich ein paar Sekunden lang schweigend an und nickt dann leicht.

„Okay. Vielleicht überlegst du es dir ja doch noch anders. Und bis es soweit ist, kannst du erst mal hier bleiben.“

Du siehst Mike lange an. Deine Augen sind feucht.

„Danke.“

„Kein Problem.“

Ein paar Stunden später stehst du wieder vor der Tür zu deiner Wohnung. Mit zitternden Fingern und Tränen in den Augen versuchst du die Eingangstür aufzuschließen. Schließlich legt Mike seine große Hand auf deine Schulter und sagt mit sanfter Stimme:

„Soll ich es mal versuchen?“

Du nickst mit gesenktem Kopf und hältst ihm den Schlüssel hin. Du warst noch nie so dankbar nicht allein zu sein, wie in diesem Moment. Als Mike dir angeboten hat dich zu begleiten, hättest du fast losgeheult vor Dankbarkeit. Nur dein letztes bisschen Stolz hat deine Tränen letztendlich zurückgehalten.

Mike hat inzwischen die Tür aufgeschlossen.

„Alles okay?“, fragt er dich mit besorgter Stimme.

Du schluckst hart und nickst dann. Am Liebsten würdest du auf der Stelle umdrehen und zurück in Mikes Wohnung gehen. Aber es geht nicht. Mike hat dir zwar angeboten, die nächsten Tage bei ihm zu bleiben, aber du brauchst auf jeden Fall ein paar Sachen aus deiner Wohnung. Geld, deinen Pass und vor allem Kleidung in deiner Größe. Das T-Shirt, das dir Mike geliehen hat, geht dir bis zu den Knien.

Du atmest tief durch und trittst dann in den dunklen Flur deiner Wohnung. Mike ist dicht hinter dir. Dein Zimmer liegt direkt voraus am Ende des Flurs. Die Tür ist geschlossen. Irgendwie hast du ein beschissenes Gefühl, das mit jedem Schritt über den billigen Linoleumboden schlimmer wird. An der Tür zu deinem Zimmer zögerst du. Die Klinke in der Hand stehst du für ein paar Sekunden einfach nur da. Irgendwas tief in deinem Gedächtnis schreit laut, dass du da besser nicht rein gehen solltest.

„Ich bin bei dir, Jan. Dir kann nichts passieren“, sagt Mike beruhigend.

Du drückst die Klinke nach unten und willst die Tür öffnen. Sie rührt sich nur ein paar Zentimeter. Anscheinend lehnt von innen irgendwas dagegen. Du drückst stärker, aber sie bewegt sich kaum.

„Darf ich mal?“, fragt Mike. Du trittst zur Seite und lässt Mike an die Tür. Er schiebt sie anscheinend ohne größere Anstrengung auf. Dabei hörst du, wie hinter der Tür etwas Schweres umfällt. Mike wirft dir einen fragenden Blick zu. Du starrst ausdruckslos zurück und zuckst mit den Schultern. Aber tief in deinem Hirn formt sich das fehlende Stück Erinnerung an gestern Abend und sickert langsam in dein Bewusstsein. Es sind nur ein paar einzelne Bilder und ein paar unzusammenhängende Erinnerungsfetzen, die vor dir auftauchen. Aber dir genügt das schon voll und ganz. Das kann nicht passiert sein!

„Mike!“

„Ja?“

Was willst du ihm sagen? Dass ihr besser wieder verschwinden solltet. Dass du nicht willst, dass er sieht, wo es passiert ist?

„Nichts“, sagst du dann leise.

Langsam tritt Mike in dein Zimmer und du folgst ihm, den Blick fest auf den Boden direkt vor dir gerichtet.

„Oh shit!“, flucht Mike leise und starrt auf den Boden.

Die Vorhänge sind zugezogen und der Raum liegt im Habdunkel. Aber du kannst trotzdem mehr als genug erkennen. Direkt gegenüber der Tür steht dein Bett. Eigentlich ist es nur ein 10 cm hoher Holzrahmen ohne Füße, der auf dem Boden steht und in dem die Matratze liegt. Von der Tür bis zum Bett erstreckt sich eine breite Blutspur auf dem billigen, hellblauen Teppich. Ein langes Küchenmesser mit schwarzem Griff liegt in einer großen Blutlache auf dem Boden vor dem Bett. Die Klinge ist fast komplett mit getrocknetem Blut überzogen und die Spitze ist abgebrochen. Unweigerlich gleitet dein Blick höher. Das weiße Spannbetttuch auf der Matratze ist blutgetränkt. Bei diesem Dämmerlicht sieht das Blut fast schwarz aus. Wie ein großer, unregelmäßiger Ölfleck. An der beigen Wand über dem Bett sind eine Menge Blutspritzer und ein paar verschmierte Handabdrücke. Manche der tiefroten Spritzer gehen fast bis an die Decke.

Mike starrt jetzt fassungslos auf etwas hinter der Tür. Du machst noch einen vorsichtigen Schritt in dein Zimmer und siehst es auch. Auf dem Boden hinter der Tür liegt der Wichser von gestern. Er liegt auf der linken Seite und sein Körper formt einen fast perfekten, rechten Winkel. Wie ein großes ‚L’. Anscheinend ist er im Sitzen, gegen die Tür gelehnt, gestorben. Sein Oberkörper ist nackt und blutüberströmt. Er hat unzählige Einstichstellen in der Brust und in seinem Bauch. Aber am Schlimmsten sieht sein Unterleib aus. Er hat enge, blaue Jeans an, die im Schritt total zerfetzt und tiefrot sind. Es sieht aus, als wäre ein Rudel Wölfe über ihn hergefallen.

„Jan?“ Mike sieht dich an. In seinem Blick liegt Überraschung und Wut.

„Wann wolltest du mir das sagen?“

„Ich hatte keine Ahnung. Ich hab dir doch gesagt, dass ich mich nicht mehr an alles erinnere“, verteidigst du dich.

„Na ja, wenn das hier...“, er macht eine auslandende Handbewegung, „deine Erinnerung nicht zurückbringt, weiß ich auch nicht mehr weiter.“

„Er wollte mich vergewaltigen, Mike.“

„Wo ist das Telefon?“ Du siehst ihm in die Augen.

„Wieso? Willst du die Polizei rufen?“

„Nein, Jan. Ich dachte mir, ich rufe seine Avon-Beraterin an. Nur weil er tot ist, heißt das nicht, dass er dabei nicht gut aussehen kann.“ Seine Stimme wird lauter. „Natürlich will ich die Polizei rufen! Hier liegt schließlich eine verdammte Leiche auf dem Boden.“

„Sie werden mich verhaften, Mike“, sagst du ruhig.

„Du erzählst ihnen einfach die ganze Geschichte. Er wollte dich vergewaltigen. Es war Notwehr.“

„Notwehr?! Sieh ihn dir an, Mike.“ Du zeigst auf den blutigen Körper. „Sieht das für dich nach Notwehr aus!? Ein Stich ist Notwehr. Das hier ist ein verfluchtes Blutbad.“

Mike setzt zu einer Antwort an, dann fällt sein Blick wieder auf die Leiche und er beißt auf seine Unterlippe. Nach ein paar Sekunden schüttelt er den Kopf und sieht dich wieder an.

„Okay, und was willst du jetzt machen?“, fragt er dich resigniert.

„Ich hab wirklich keine Ahnung.“

Seine Stimme wird eine Spur schärfer.

„Dann solltest du dir was einfallen lassen. Falls du es noch nicht bemerkt hast, da liegt eine Leiche in deiner Wohnung und wir haben Hochsommer.“

„Das hab ich bemerkt. Aber Danke, dass du mich noch mal darauf hinweist, Mike!“, erwiderst du sarkastisch.

Du schließt für einen Moment die Augen und atmest tief durch. Denk nach! Es gibt immer eine Lösung.

„Okay. Ich glaube nicht, dass er gestern jemandem erzählt hat, wo er hin will. Das heißt, wir haben noch etwas Zeit. Aber wir müssen ihn auf jeden Fall aus der Wohnung schaffen und dann hier sauber machen.“

„Wir?! Wie kommst du eigentlich darauf, dass ich dir helfen werde?“

Okay, daran hast du wirklich noch nicht gedacht. Irgendwie bist du einfach davon ausgegangen, dass er dir helfen wird.

„Bitte Mike. Ich brauche deine Hilfe. Ich kann das nicht allein machen.“

Mike sieht dich schweigend an. Du kannst seinen Blick nicht richtig deuten.

„Ich will nicht ins Gefängnis, nur weil das Schwein da bekommen hat, was es verdient hat“, versuchst du ihn zu überzeugen.

„Nehmen wir mal für einen winzigen Moment an, dass ich dir tatsächlich helfe. Wie willst du ihn hier raus schaffen? Es genügt ja nicht ihn aus der Wohnung zu bringen. Wir müssen ihn auch aus dem Haus schaffen.“

„Ich weiß.“

„Also, was willst du tun? Willst du ihn in einen Teppich wickeln?“

„Hmm, wir müssten auf jeden Fall warten bis die Totenstarre wieder nachgelassen hat.“

„Jan?“ Du blickst auf.

„Das mit dem Teppich war ein Witz. So was funktioniert nur im Film.“

„Ich weiß. Wir brauchen eine große Kiste, oder so was ähnliches.“

„Und wohin genau tragen wir dann die große Kiste mit dem toten Kerl?“

Du überlegst kurz.

„In das alte Haus, wo wir uns getroffen haben. Es wird einige Zeit dauern, bis ihn dort jemand findet. Und bis dahin sollten wir die Spuren hier beseitigt haben.“

„Okay, nur damit ich dich richtig verstehe: Wir tragen also eine sehr große Kiste mit einem sehr toten Kerl quer durch die Stadt und versuchen dabei so unauffällig wie möglich auszusehen?“

Hmm, wenn man das so hört, klingt das gar nicht mehr so toll.

„Ich gebe zu, dass der Plan vielleicht noch nicht ganz ausgereift ist.“

„Und wenn wir doch die Polizei rufen? Vielleicht kannst du dich auf vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit berufen.“

„Oh toll, dann bekomme ich nur fünf statt zehn Jahre. Super Plan! Ich hol schon mal das Telefon.“ Deine Stimme wird leiser und jede Spur von Sarkasmus ist daraus verschwunden, als du hinzufügst:

„Wegen dieses Arschlochs werde ich sicher nicht in den Knast gehen. Nicht einen einzigen, verdammten Tag!“

„Wirst du auch nicht!“, meldet sich eine dünne Stimme hinter euch. Du fährst herum. In der Tür zu deinem Zimmer steht deine Mutter. Sie sieht müde aus. Ihre pechschwarzen Haare hängen ihr strähnig ins Gesicht und ihre Unterlippe zittert leicht. Aber ihre Augen sind so klar wie schon lange nicht mehr. Das erste Mal seit langer Zeit hast du den Eindruck, dass sie völlig nüchtern ist.

„Mutter.“

„Hallo Jan.“ Ihre Stimme ist leise und rau. „Es tut mir so leid. Das ist alles meine Schuld.“

Tränen sammeln sich in deinen Augen, deine Hände ballen sich zu Fäusten, aber du bringst kein Wort heraus.

Deine Mutter ist tatsächlich zurückgekommen!

„Ich glaube, ich habe eine Menge falsch gemacht.“ Sie schüttelt ihren Kopf. „Nein, ich weiß, dass ich eine Menge falsch gemacht habe. Ich war eine furchtbare Mutter.“

Sie sieht dich verzweifelt an. Ihre Augen flehen darum, dass du ihr widersprichst. Und du möchtest ihr widersprechen. Möchtest es wirklich. Du willst ihr sagen, dass es gar nicht so schlimm war. Aber du kannst nicht. Da ist viel zu viel Wut in dir. Vielleicht kannst du ihr eines Tages verzeihen. Jetzt kannst du es noch nicht.

„Du bist einfach abgehauen. Du hast mich verlassen. Wieso?“, presst du schließlich hervor.

„Ich hab das Ganze nicht mehr ausgehalten. Es ist mir einfach zuviel geworden.“

„Was!? Was genau hast du nicht mehr ausgehalten!? Den ganzen Tag auf der Couch zu liegen und zu saufen? Ich hab mich doch um alles hier gekümmert. Du bist doch manchmal tagelang nicht vor die Tür gegangen!“, fährst du sie wütend an.

„Genau das hab ich nicht mehr ausgehalten! Du hattest hier alles im Griff. Alles, was ich nicht auf die Reihe bekommen habe, hast du mit links gemacht. Du hast mich doch nie gebraucht.“

„Ich mische mich wirklich nur ungern in Familienangelegenheiten ein, aber wir haben hier immer noch ein 90 Kilo schweres Problem rumliegen“, mischt sich Mike in die Unterhaltung ein.

Deine Mutter sieht noch immer dich an, als sie antwortet: „Ich kümmere mich darum. Ihr beide verschwindet.“

„Und wie wollen Sie den Kerl aus der Wohnung schaffen?“, fragt Mike ungläubig.

Du weißt fast sofort, was sie vorhat.

„Nein!“ Deine Stimme ist leise, fast nur ein Flüstern.

„Es gibt keine andere Möglichkeit, Jan. Du hast dein ganzes Leben noch vor dir. Und außerdem ist das wirklich meine Schuld. Er ist gestern hergekommen, weil er mich gesucht hat. Nur deshalb ist das alles hier passiert.“

„Wieso hat er dich gesucht?“, fragst du verwirrt.

„Ich...ich hab gelegentlich ein paar Dinge für ihn erledigt. Nichts Großes. Meistens hab ich irgendwo ein kleines Päckchen abgeholt und zu einem von seinen Freunden gebracht.“

„Drogen?“

Sie nickt nur kurz.

„Vorgestern hab ich ein größeres Paket bekommen. Ich weiß nicht genau warum, aber ich hab es an einem Ende aufgemacht und reingeschaut. Es war voller Hunderter. Bündelweise. In dem Paket waren sicher an die 50.000 €. Ich habe noch nie so viel Geld auf einem Haufen gesehen.“

Sie wischt nervös die Hände an ihrer Hose ab.

„Ich hab’s behalten. Ich bin einfach in die U-Bahn gestiegen, die in die andere Richtung fuhr. Ich hab nicht nachgedacht und ich war total zugedröhnt. Erst heute Morgen ist mir klar geworden, dass er mich zuallererst in unserer Wohnung suchen würde. Also bin ich so schnell wie möglich wieder hergekommen.“

Eine Träne kullert träge ihre Wange herunter und ihre Stimme zittert als sie fortfährt.

„Und jetzt verschwindet. Ich möchte nicht, dass die Polizei euch hier findet.“

Du schüttelst den Kopf.

„Nein!“

„Jan, bitte! Lass mich einmal in meinem Leben das Richtige tun. Lass mich einmal eine richtige Mutter für dich sein.“

Mike tritt von hinten an dich heran und legt seine Hand auf deine Schulter.

„Sie hat Recht, Jan.“

Du gehst zu deiner Mutter und umarmst sie. Etwas, das du seit einer Ewigkeit nicht mehr getan hast. Sie riecht nach kaltem Rauch.

„Danke“, flüsterst du ihr ins Ohr. Dann lässt du sie los und siehst zu Mike.

„Komm, lass uns gehen.“

Mike zögert einen kurzen Moment, aber dann geht ihr aus dem Zimmer und verlasst die Wohnung ohne euch noch einmal umzudrehen. Schweigend geht ihr nebeneinander durch die sonnenüberfluteten Straßen zwischen den Plattenbauten. Du hältst den Blick nach unten gerichtet und siehst nur die paar Meter rissigen Asphalts, die direkt vor dir liegen. Mehr gibt es jetzt nicht mehr. Dein Kopf ist komplett leer. Du setzt immer einen Fuß vor den anderen. Ganz mechanisch. So geht ihr gemeinsam durch die Wüste und hofft auf Regen.

Epilog

Du liegst im Bett. Dein Kopf ruht auf Mikes breiter Brust. Deutlich hörst du das dumpfe Pochen seines Herzens und fühlst das gleichmäßige Auf und Ab seines Atems. Seit ein paar Tagen schläfst du bei ihm in seinem Bett. Irgendwie hat sich das so ergeben. Als wäre es das Natürlichste der Welt, dass er dich jeden Abend hält, bis du eingeschlafen bist. Es ist ein schönes Gefühl und es ist das erste Mal in deinem Leben, dass du dich so nah bei einem anderen Menschen wirklich wohl fühlst. Vielleicht bist du sogar dabei dich zu verlieben. Aber ‚Liebe’ ist ein großes Wort für jemanden wie dich. Du bist dir nicht mal sicher, ob es das für dich geben kann, nach der ganzen Scheiße, die du erlebt hast.

Draußen ist es ist dunkel. Ein dünner Streifen blassen Mondlichts fällt durch die Gardinen in das Schlafzimmer. Heute kannst du nicht einschlafen. Die letzten Tage waren verdammt hart. Am Sonntag war es schon überall in den Nachrichten. Kein Wunder, es war ein grausamer Tod. Selbst für diese grausame Gegend. Es hieß, dass die Tat schon jemand gestanden hat. Eine Frau, in deren Wohnung das Verbrechen begangen wurde, hatte sich sofort dazu bekannt.

Am Sonntagabend seid ihr dann gemeinsam zu deiner Wohnung gegangen. Mike hat gemeint dass es verdächtig aussehen könnte, wenn du dort gar nicht mehr auftauchst. Ein junger Polizist in Uniform stand gelangweilt vor der Tür. Nachdem du ihm erklärt hast, wer du bist, rief er sofort seinen Vorgesetzten und ihr musstet mit auf die Wache kommen. Dort hast du dann die Aussage gemacht, die du den ganzen Tag mit Mike geübt hast. Du sagst aus, dass du Freitagnachmittag sofort nach der Arbeit zu Mike gefahren bist, um dort das Wochenende zu verbringen. Getrennt voneinander gebt ihr zu Protokoll, dass ihr das ganze Wochenende zusammen gewesen seid. Es ist ein perfektes Alibi. Und nach dem Geständnis deiner Mutter sucht die Polizei ohnehin nicht mehr wirklich nach einem anderen Täter.

Du seufzt leise und kuschelst dich stärker an Mike.

„Es war wirklich deine Mutter, stimmt’s?“, fragt er dich leise.

„Ich dachte du schläfst“, sagst du überrascht.

„Ich hab nachgedacht. Sie war es, oder?“

„Wie kommst du darauf?“

„Das Messer. Du hast gesagt, dass er dich auf das Bett gedrückt hat. Wie hättest du da an das Messer kommen sollen? Ich glaube einfach nicht, dass du immer ein Küchenmesser griffbereit neben deinem Bett liegen hast.“ Du schließt die Augen und fängst an zu erzählen.

„Er lag auf mir und wollte gerade anfangen. Dann hat er geschrieen und ist auf den Boden gefallen. Sie stand über ihm und hatte das Messer in Hand.“

Überdeutlich siehst du das Bild deiner Mutter vor dir. Die Haare hängen ihr ins Gesicht. Ihre blutunterlaufenen Augen funkeln voller Hass. Das blutige Messer hält sie so fest in der Hand, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortreten.

„Sie kniete sich hin und stach weiter auf ihn ein. Wieder und wieder. Da bin ich abgehauen. Ich bin gelaufen und gelaufen. Und irgendwann fand ich mich auf dem Dach wieder.“

„Ich habe sowieso nicht geglaubt, dass du es warst“, meint Mike ernst und drückt dich an sich.

„Gute Nacht, Jan.“

„Gute Nacht, Mike.“

Kurz bevor du in dieser Nacht in Mikes Armen einschläfst hörst du noch von weit entfernt das leise Grollen des Donners.

‚Es wird bald regnen’, denkst du zufrieden.

ENDE

Lesemodus deaktivieren (?)