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Lebensangst

Erwachen & ein neuer Tag

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

“DU VERDAMMTER ARSCH!”

Durch den dichten Zigarettenrauch, der im trüben Licht der Bar wie Nebel hängt, sehe ich ihn auf mich zukommen. Er ist ein paar Zentimeter größer als ich und wirkt sehr kräftig. Sein Gesicht ist wutverzerrt, seine Augen sind zu Schlitzen verengt. In der rechten Hand hält er eine Bierflasche. Eigentlich sieht er wirklich gefährlich aus, wie er so auf mich zukommt. Aber eine Bierflasche als Waffe benutzt man nur in billigen Filmen, oder wenn man ein kompletter Idiot ist. Sie hat die dumme Angewohnheit zu zersplittern und man zerschneidet sich die eigene Hand. Außerdem bewegt er sich ohne jede Deckung auf mich zu. Er ist kein Kämpfer.

Jetzt macht er die nächste Dummheit: Er versucht den Boden der Flasche am Tresen abzuschlagen. Armer Kerl! Er denkt wohl wirklich, das hier wäre ein Film.

Natürlich zersplittert die Flasche und er sieht verblüfft und ungläubig zu seiner blutenden Hand.

Wieso gerate eigentlich immer ich an solche Idioten?!

Ich wollte doch nur in Ruhe was trinken. Und dann hat mich dieses Mädchen angesprochen. Aus purer Höflichkeit hab ich mich ein paar Minuten mit ihr unterhalten. Na ja, die meiste Zeit hat sie geredet und ich hab so getan, als würde ich zuhören. Gerade, als ich mich dann mit einer faulen Ausrede aus dem Staub machen will, kommt dieser Idiot ins Spiel.

Wie dem auch sei…

Ich mache einen schnellen Schritt nach vorne und breche ihm die Nase mit einer schnellen Aufwärtsbewegung meines Handballens. Noch in der Vorwärtsbewegung, drehe ich mich und treffe ich ihn mit meinem linken Ellenbogen an der Schläfe. Er fällt um wie ein nasser Sack.

„Hey!“ höre ich hinter mir.

Ich drehe mich um und sehe aus dem Augenwinkel, wie eine Faust auf mich zufliegt. Gerade noch kann ich mich ein wenig zur Seite wegdrehen, so dass ich nicht voll getroffen werde. Trotzdem lässt die Wucht des Schlages mich kurz taumeln und ich sehe Sterne.

Da versteht jemand sein Handwerk.

Die nächsten Schläge des Angreifers landen zwar in meiner Deckung, aber dann erwischt mich eine sehr schöne Rechts-Links-Kombination voll am Kinn. Ich versuche aus seiner Reichweite zu kommen, stoße aber hinter mir an den Tresen. Keine Fluchtmöglichkeit. Ich nehme die Deckung etwas höher.

Da landet seine Faust in meinem Magen und mir wird schlecht. Er schlägt immer weiter auf mich ein. Ich versuche immer noch so gut es geht mein Gesicht zu schützen. Nach einem gewaltigen Leberhaken sinke ich auf die Knie und kann nur noch flach atmen.

“Sieh mich an!” Seine Stimme klingt total ruhig. Er scheint nicht mal außer Atem zu sein. Ich blicke zu ihm auf und sehe ihm in die stahlblauen Augen. Jetzt erst habe ich die Zeit meinen Angreifer genauer anzusehen. Er ist ein wenig kleiner als ich und vielleicht ein paar Jahre älter. Mitte zwanzig schätze ich. Er hat sich den Kopf kahl geschoren und trägt einen kleinen goldenen Stecker im linken Ohr. Eine olivgrüne Bomberjacke rundet das Bild ab.

Und irgendwie kommt er mir bekannt vor... Ach ja, jetzt weiß ich es wieder. Als ich mich vorhin in der kleinen, Müll-übersähten Gasse hinter dem Lokal erleichtert habe, hat er sich mit irgendeinem anderen Typen unterhalten. Die beiden haben mich erst bemerkt, als ich mich wieder durch die Hintertür in die Bar stehlen wollte.

“Ich will Dich hier nie wieder sehen. Ist das klar?” Er wirkt immer noch absolut ruhig und gefasst. Ich versuche krampfhaft mich nicht zu übergeben und hatte sowieso nicht vor noch mal in diese Absteige zu kommen, also nicke ich.

Er beugt sich näher zu mir herunter, so dass sein Mund ganz dicht an meinem rechten Ohr ist. Dann flüstert er:

„Wenn Du jemand etwas erzählst, dann komme ich wieder. Dann bringe ich dich um.“ Er klopft mir auf die Schulter und richtet sich auf.

“Gut! Ach eines noch…” Ich hebe meinen Kopf noch einmal und sehe, wie sein Fuß auf mein Gesicht zurast.

Dann explodiert die Welt in dunklem Schmerz.

Kapitel I - Erwachen

Dunkelheit.

Bleierne Müdigkeit.

Bohrende Kopfschmerzen.

Was zur Hölle ist nur passiert? Ich kann mich an fast nichts mehr erinnern. Ich glaube ich war gestern in dieser seltsamen Bar unten am Markt. Oder war das letzte Woche?

Scheiß drauf!

Mein Bauch ist ein einziger, schreiender Schmerz und mein Kiefer tut ebenfalls höllisch weh. Ich habe den dunklen, kupfrigen Geschmack von Blut im Mund. Mit der Zunge kann ich eine Lücke fühlen, wo früher einmal einer meiner Lieblings-Backenzähne war.

Was habe ich bloß gemacht?

Langsam versuche ich die Augen aufzumachen. Aber sie scheinen verdammt schwer geworden zu sein seit gestern. Heroisch wehre ich mich gegen den überwältigenden Drang, einfach wieder einzuschlafen. Meine Schmerzen und meine übervolle Blase helfen mir sehr dabei.

Während ich noch versuche meinen Körper davon zu überzeugen, dass es für alle Beteiligten (inklusive des Bettzeugs) besser wäre aufzustehen, bewegt sich das Bett und toter Atem weht zu mir herüber.

Okay, jetzt wird es definitiv Zeit die Augen aufzumachen.

Verschwommen sehe ich eine feuchte, schwarze Schnauze dicht vor meinem Gesicht. Das ist nicht unbedingt das, was ich erwartet habe und ich brauche etwas Zeit bis die Information in meinem Kopf ankommt. Dort ist mein Gehirn noch ausgiebig damit beschäftig weh zu tun und erledigt nur unter pochendem Protest seine Arbeit.

Die Schnauze gehört zu einem großen schwarzen Hund, der mich neugierig und erwartungsvoll hechelnd anschaut.

Interessant,... so nah hab ich bisher noch nie eine Hundeschnauze gesehen. Sie hat ganz kleine Einbuchtungen, wie ein Golfball. Ich frage mich, wofür die wohl gut sind. Gewisse Dinge weiß man einfach erst mit einem gewaltigen Kater zu würdigen. Der Hund leckt mir kurz über das Gesicht. Seine Zunge ist feucht und rau. Das brauche ich nun wirklich nicht am Morgen und ich drehe mich mit einem Grunzen weg. Das war allerdings eine blöde Idee, denn ein gewaltiger Schmerz durchschneidet meinen Bauch. Ich krümme mich wie ein Fötus zusammen und warte bis der Schmerz nachlässt. Nach einer Ewigkeit ist es endlich soweit. Der Schmerz ist zwar nicht weg, aber er ist erträglich geworden.

Moment mal, da stimmte doch was nicht!

Ich habe doch gar keinen Hund!

Und mein Bett ist das sicher auch nicht. Ich sehe mich um: die Sonne scheint ein wenig durch halb geschlossene orange Gardinen. Der Raum ist recht groß, an der Wand zu meiner Rechten liegt ein großer Kleidungshaufen, unter dem man mit viel gutem Willen eine braune Cordcouch erkennen kann. Mein Blick wandert zur mir gegenüberliegenden Wand: Eine offene Tür führt wohl in das eigentliche Schlafzimmer. Ich sehe ein wenig von dem Bett, helles Holz, die schwarze Decke bewegt sich leicht.

Bei wem bin ich wohl diesmal gelandet? Ich muss unbedingt mit dem Trinken aufhören!

Ich sehe mich weiter um: Ich liege nicht auf einem Bett, sondern auf einer Matratze auf dem Boden in einer Ecke des Wohnzimmers. Der Boden um mich herum dient offensichtlich als Kleiderschrank.

Jetzt meldet sich meine volle Blase wieder, die ich bisher gekonnt ignoriert habe. Wo zur Hölle ist hier wohl das Klo?

Ich sehe mich mit wachsender Verzweiflung weiter um: Hinter mir noch eine Tür: geschlossen. Soll ich einfach?

Meine volle Blase entscheidet schließlich vehement:

‘JA! Du sollst. Und um der Matratze willen, BEEIL DICH!’

Schnell setze ich mich auf. Zu schnell, denn fast sofort beginnt das heftige Pochen in meinem Kopf. Es ist ein viel zu vertrautes Pochen. So als würde ein kleiner, sadistischer Zwerg mit einem gewaltigen Hammer von innen gegen meine Stirn schlagen. Ich stehe vorsichtig auf und muss mich gleich darauf an der Wand abstützen. Der schwarze Hund ist auch wieder da und sieht mich wieder erwartungsvoll an. Ich schaffe es schließlich zur Tür und öffne sie.

Gott sei dank! Es ist wirklich die Toilette.

Und direkt gegenüber der Tür steht sie: die weiße Schüssel meiner feuchten Träume.

Ich halte mich am Waschbecken fest, setze mich und schließe die Augen. Unendliche Erleichterung.

Nach einiger Zeit öffne ich die Augen wieder. Das Bad bildet einen erstaunlichen Kontrast zum Rest der Wohnung. Es ist sehr ordentlich und sauber. Durch ein Milchglasfenster hinter mir dringt helles Licht. Zu meiner linken ist eine schlichte Badewanne mit alten Armaturen. Auf dem Fußboden liegt ein blauer Badezimmerteppich und über dem Waschbecken zu meiner rechten hängt der obligatorische Spiegelschrank. Mit etwas Glück finde ich darin auch noch Aspirin.

Also ziehe ich meine Boxershorts hoch und…

Moment! Irgendwas stimmte da wieder nicht. Ich ziehe noch mal die Boxershorts nach unten und wiederhole die Szene noch mal. Ja, hier stimmt definitiv etwas nicht. Nach zwei weiteren Versuchen habe ich die Gewissheit:

Das sind nicht meine Boxershorts!

Ein wenig sinniere ich noch über diese fremde Hose und dann gebe ich es auf. Tja, ich habe ja wohl keine Wahl und ziehe sie wieder an. Dann öffne ich den Spiegelschrank und finde hinter dem Rasierzeug wirklich was ich jetzt brauche. Eine Packung mit Aspirin. Und es sind sogar die starken.

Halleluja!

Gepriesen seihst Du, großer Gott der freiverkäuflichen Schmerzmittel!

Ich nehme zwei und spüle sie mit Leitungswasser hinunter. Das Wasser ist zu kalt und als es in Kontakt mit meiner neuen Zahnlücke kommt durchfährt mich wieder ein gemeiner Schmerz. Das ist heute wirklich nicht mein Tag.

Dann spritze ich mir erstmal kaltes Wasser ins Gesicht und riskiere einen Blick in den Spiegel. Von dort sieht mich ein Junge mit etwas zu langen, braunen haaren und verbrauchten, blauen Augen erschöpft an. Schlimm, aber nicht so schlimm wie ich dachte. Die Schwellung, die sich an meiner rechten Backe ankündigt, ist nicht so stark, wie ich befürchtet habe...zumindest noch nicht. Ich öffne den Mund und werfe einen Blick auf meine Zähne. Der Backenzahn scheint sauber abgebrochen zu sein. Mein Zahnarzt wird sich sicher freuen. Er wollte sowieso einen neuen Mercedes.

Mein Bauch und meine linke Seite sehen aus, wie ein expressionistisches Gemälde, das ein Künstler mit einer Vorliebe für kräftige Farben gemalt hat. Da vermischt sich helles Grün mit dunklem Blau, geht in knalliges Gelb über und explodiert in einem dunklen Rot.

Offensichtlich hatte ich wieder mal eine kleine ‘Auseinandersetzung’ mit irgendjemand.

Wenn ich mich doch bloß erinnern könnte, was passiert ist! Aber die Tatsache, dass ich mich nicht erinnern kann, spricht ja für sich. Ich schätze mal, dass ich verloren habe.

Wieder einmal fasse ich den Vorsatz, weniger zu trinken. Für gewöhnlich hält dieser Vorsatz ungefähr vier Tage. Aber ich arbeite hart daran diese Zeit auf zwei Tag zu senken.

Scheiß drauf! Es ist wie es ist.

Vorsichtig trockne ich mich ab und gehe zurück ins Wohnzimmer.

“Guten Morgen!” kommt es verschlafen aus dem Nebenzimmer. Ich war wohl nicht leise genug. Langsam gehe ich auf die offene Tür zu, halte kurz inne und riskiere dann einen verstohlenen Blick hinein.

Auf dem großen Doppelbett liegt quer ein Junge. Er ist ungefähr in meinem Alter, also so um die 19, und sieht mich durch fast geschlossene Augen an. Bis zur Hüfte ist er nackt, weiter unten verdeckt eine leichte Decke die entscheidenden Teile. Er ist ziemlich blass obwohl es mitten im Hochsommer ist. Und er ist offensichtlich ein Punker, wie ich an dem grünen Irokesenschnitt erkennen kann. Allerdings hat er die Haare relativ kurz, was sehr cool aussieht. Mir fallen die hohen, fast aristokratisch wirkenden Wangenknochen auf. Im rechten Ohr trägt er einen großen und massiv aussehenden silbernen Ring und auf der linken Brust hat er einen stilisierten Drachen tätowiert.

Wo bin ich da nur hineingeraten?

“Und, ausgeschlafen?” Er selbst klingt noch nicht richtig wach.

“Hmm, nicht wirklich. Aber ich hab ein paar Aspirin gebraucht. Hab mir einfach welche genommen. Stört Dich doch nicht, oder?” Meine Stimme hört sich schlimm an.

“Unsinn, nimm Dir, was Du brauchst.” Schön langsam schafft er es die Augen aufzumachen und mustert mich neugierig. Er hat tiefbraune Augen, die einen nicht so schnell loslassen. Aber Alles in Allem wirkt sein Gesicht irgendwie alt. Ich kann es nicht besser beschreiben, aber sein Gesicht ist einfach nicht das eines Jungen in meinem Alter.

“Wie heißt Du eigentlich?” fragt er dann.

“Stefan. Und Du?”

“Chris. Schön Dich kennen zu lernen Stefan. Wie geht’s Dir? Ich hab mir gestern echt Sorgen um Dich gemacht. Du warst ja richtig weggetreten.”

Gestern, ja richtig, da waren ja noch einige Fragen offen. Aber will ich das wirklich wissen? Na ja, ich kann ja mal fragen, wie schlimm kann es schon gewesen sein.

“Wie bin ich denn hierher gekommen?” frage ich und versuche meine Stimme nicht unsicher klingen zu lassen. Der Versuch scheitert kläglich.

“Du weißt gar nichts mehr, oder?” erwidert er mit fragendem Blick.

Ich zucke hilflos mit den Schultern.

„Macht nichts, ist mir auch schon öfter passiert”, meint er dann mit einem Lächeln, das sein Gesicht um Jahre verjüngt. Er hat ein tolles Lächeln bei dem man meint alle seine Zähne zu sehen.

“Setz Dich erst mal , sagt er dann mit einer einladenden Geste auf das Bett. Ich setze mich vorsichtig an den Rand und er fängt an zu erzählen.

“Also ich war gestern noch im Barfly. Du weißt schon, diese üble Kneipe beim Bahnhof?” Ich nicke unsicher mit dem Kopf, habe allerdings keine Ahnung, welche Kneipe er meint.

“So gegen 5 Uhr hab ich mich dann auf den Heimweg gemacht und bin dabei über Dich gestolpert. Und das im wörtlichen Sinn.” Ein leichtes Lächeln zieht wieder über sein Gesicht.

“Du bist nämlich quer über den Gehweg gelegen. Zuerst hab ich gedacht Du bist hinüber.” Das Lächeln verschwindet für einen Moment.

“Dann hab ich gemerkt, dass Du nur ohnmächtig bist. Ich hab keine Ahnung, warum ich Dich dann mit zu mir genommen hab. Wahrscheinlich hab ich einfach ein Herz für Streuner.” Wie auf Kommando kommt der schwarze Hund ins Zimmer, springt aufs Bett und leckt Chris erstmal zur Begrüßung das Gesicht.

“Ist ja gut, Wolf! Ich freu mich ja auch.” Chris versucht verzweifelt, aber ohne erkennbaren Erfolg, den überschwänglichen Liebesbezeugungen von Wolf auszuweichen. Jetzt muss auch ich lächeln, denn das Bild ist einfach zu lustig.

“Soll ich euch beide vielleicht ein wenig alleine lassen?” frage ich dann nach einer Weile.

“Wahnsinnig witzig, hilf mir lieber und lenk ihn ab!” Also streichle ich Wolf über seinen Kopf und errege damit wirklich seine Aufmerksamkeit. Zum Glück begrüßt er mich nicht ganz so freudig wie sein Herrchen. Nachdem sich Wolf wieder etwas beruhigt und sich auch bei mir seine Streicheleinheiten abgeholt hat, redet Chris weiter.

“Ich hab Dich dann in meine Wohnung geschleppt. Du bist übrigens gar nicht mal so leicht.”

Also bin ich gestern irgendwo in der Gosse abgelegt worden. Okay, ich sollte wirklich mit dem Trinken aufhören. Ach, und abnehmen sollte ich auch.

“Danke, ich schätze die meisten Leute hätten mich einfach liegen gelassen.”

Ich betrachte ausgiebig und sehr verlegen meine neue Batik Unterhose.

“Ach ja, Deine Sachen liegen im Wohnzimmer, die waren total durchnässt. Hat ja ziemlich geschüttet gestern.” So langsam kommt mir der Gedanke, dass es vielleicht besser ist, wenn ich mich gar nicht an gestern Abend erinnere.

“Du scheinst ja einiges abbekommen zu haben gestern”, meint Chris mit einem Blick auf meinen Bauch und mein Gesicht.

“Vielleicht solltest Du besser zum Arzt gehen.”

“Es geht schon. Ich habe eine dicke Haut.” Chris nickt nur und versucht nicht, mich zu drängen. Damit sammelt er einige Pluspunkte bei mir.

“Weißt Du noch wie das passiert ist?” Hmm, gute Frage? Leider klafft da ein großes schwarzes Loch, wo meine Erinnerung sein sollte. Ich schüttle leicht den Kopf.

“Na ja, das kommt schon wieder.” Ich bin mir da nicht so sicher und vor allem weiß ich nicht, ob ich mich überhaupt erinnern WILL.

“Wolf scheint dich ja richtig gern zu haben”, sagt Chris dann mit einem schelmischen Grinsen. Ich merke, dass ich die ganze Zeit den Hund gestreichelt habe. Und man sieht jetzt recht deutlich, dass ihm das gefallen hat. Ich höre lieber damit auf, bevor er noch mehr will. Er sieht mich ein wenig enttäuscht an, und leckt mir über die Hand.

“Wolf hat übrigens einen recht guten Geschmack, was Menschen betrifft. Ich denke es war richtig, dass ich Dich gestern mitgenommen habe.” Oh oh, Komplimente am frühen Morgen…damit kann ich nun wirklich nicht umgehen. Ich studiere eingehend meine Hände und sage dann leise:

“Täusch Dich mal nicht. Ich bin eigentlich ein ziemliches Arschloch. Wahrscheinlich habe ich die Abreibung gestern mehr als verdient.” Und nach einer kurzen Pause füge ich hinzu:

“Ich glaube es ist besser, wenn ich jetzt gehe.”

“Kommt gar nicht in Frage. Du kannst doch nicht ohne Frühstück gehen. Das gehört zum Service”, protestiert Chris lächelnd.

“Danke ich habe eigentlich keinen…” Gerade als ich ‘Hunger’ sagen will straft mich ein lautes Magenknurren Lügen. Und ich habe gelernt meinem Magen nicht zu widersprechen.

Chris schlägt die Decke zurück und schwingt sich aus dem Bett. Ganz offensichtlich ist er ein überzeugter Nacktschläfer. Und es macht ihm anscheinend auch nichts aus, dass ich ihn so sehe. Ich versuche verzweifelt nicht hinzustarren. Obwohl da nichts ist, wofür er sich schämen müsste, im Gegenteil. Ich bemerke eine Tribal-Tättowierung rechts und links auf seinem unteren Bauch. Und dazwischen ein schöner, gerader Schwanz, dem man noch seine leichte Morgensteife ansieht. Ich bemerke, dass ich doch starre und blicke schnell weg. Chris hat es natürlich trotzdem gemerkt und meint nur trocken:

“Ist nur gerecht, dass Du mich so siehst, ich habe Dich ja heute Nacht auch schon nackt gesehen.”

Verdammt, er hat ja recht. Er hat mir ja die anderen Unterhosen angezogen. Meine Gesichtsfarbe wechselt ins Rötliche und ich brauche dringend einen Themenwechsel. Also sage ich das erste, was mir einfällt:

“Schöne Tätowierungen!” Was natürlich nur dazu führt, dass er sich vor mich hinstellt, damit ich einen noch besseren Blick auf die, wirklich schönen, Tätowierungen bekommen kann. Zusätzlich steigt mir jetzt auch noch sein Geruch in die Nase. Ein kräftiger und schwerer, aber nicht unangenehmer Geruch.

Da sitze ich also auf dem Bett eines völlig fremden Jungen, starre gebannt auf seine edelsten Teile, die er mir genau in Augenhöhe präsentiert, während meine Gesicht ganz neue Rotschattierungen ausprobiert. Ich bin mir sicher, Gott in diesem Moment irgendwo leise lachen zu hören.

Willkommen in meinem Leben!

“Äh, Hat sicher wehgetan, oder?” Der wohl mit Abstand dümmste Satz! Gratuliere, Stefan.

Chris fährt mit der Hand über die linke Tätowierung und sagt:

“Ja, schon ziemlich, aber ich denke, das war es wert.” Endlich dreht er sich um und verschwindet ins Wohnzimmer, wo er sich hoffentlich eine Unterhose anzieht. Ich atme erstmal tief durch und frage mich was wohl als Nächstes passieren wird.

“Kommst Du?” Ich höre Geschirr klappern und stehe langsam auf. Wolf hat es sich auf dem Bett gemütlich gemacht, einen Hinterlauf in die Höhe gestreckt und hat Spaß an und mit sich. Beneidenswert diese Hunde.

Kapitel II - Ein neuer Tag

Als ich ins Wohnzimmer komme ist Chris schon damit beschäftigt ein paar Teller und Besteck zu finden. Zum Glück hat er sich ein paar Boxershorts angezogen. Mir war das schon etwas viel Nacktheit so früh am Tag.

“Setz Dich einfach auf die Couch.”

Couch...!?

Setzen...!?

Ich bin schon zufrieden, wenn ich sie überhaupt finde.

Ich halte die Luft an und beginne meine Suche in dem riesigen Klamottenhaufen, unter dem ich die Couch vermute. Und tatsächlich: In dem Haufen nistet ein sehr seltenes Exemplar der gemeinen, braun-weiß gefleckten Breitcordcouch (lectus ikealis communalis). Zum Glück scheint sie gerade zu schlafen, denn nichts ist gefährlicher und unberechenbarer, als eine Breitcordcouch, die ihren Nachwuchs verteidigt. Und dort ist sogar ein Junges. Ein kleiner Sessel schmiegt sich eng an seine Mutter. Wie man deutlich erkennen kann befindet er sich gerade im so genannten Bezugwechsel. Dabei wird der alte, zerschlissene Bezug abgestreift damit ein neuer Bezug nachwachsen kann. Die gemeine, braun-weiß gefleckte Breitcordcouch ist in unserem Breiten aufgrund intensiver Bejagung durch wild marodierende Möbelhändler leider fast völlig ausgestorben. Dazu kommt, dass ihr natürlicher Lebensraum, die saftigen Sumpflandschaften und weiten, fruchtbaren Teppiche kleiner studentischer Wohngemeinschaften, immer seltener werden. Die gemeine braun-weiß gefleckte Breitcordcouch lebt meist in symbiotischer Lebensgemeinschaft mit dem großen, dreibeinigen, sperrhölzernen Couchtisch (mensula ligneus major), den ich hier allerdings noch nirgends geseh....

„Au, verdammt!“

„Was ist passiert?“ fragt Chris besorgt aus der Küche.

„Nichts, ich hab mich bloß an diesem verfluchten Couchtisch gestoßen.“ Seltsam, ich kann mich an den Tisch gar nicht erinnern. Toll, jetzt tut mein Schienbein auch noch weh. Ich beginne vorsichtig die Kleidung auf die Matratze umzusiedeln, auf der ich die Nacht verbracht habe. Dabei glaube ich manchmal ein leichtes Schnurren zu hören. Wahrscheinlich drehe ich langsam durch.

Nach ein paar Minuten hört man einen leisen Aufschrei des Triumphs. Chris hat zwei saubere Teller gefunden und präsentiert sie mir freudestrahlend.

“Ich wusste doch, dass die hier irgendwo liegen müssen.” Eigentlich wollte ich etwas Sarkastisches erwidern, aber wie er so dasteht, mit den beiden Tellern in den Händen sieht er aus, wie ein kleiner Junge bei der Bescherung.

Dass man sich über zwei saubere Teller so freuen kann?! Ich lächle wieder und stelle fest, dass ich ihn wirklich mag.

“Cool, ich hab schon richtig Hunger. Soll ich Dir helfen?” Das ist das Beste nicht-sarkastische, das mir auf die Schnelle einfällt. Da ich eigentlich immer sarkastisch, oder zynisch bin, hab ich nicht viel Übung darin.

“Unsinn, setz Dich einfach. Du bist schließlich Gast hier.” Damit dreht er sich zu der kleinen Einbauküche um und murmelt etwas über Besteck.

Ich habe jetzt die Couch soweit geräumt, dass sich zwei Leute draufsetzen können und lasse mich in die gut eingesessenen Polster fallen. Die Couch gibt dabei ein ächzendes Geräusch von sich, das sich fast menschlich anhört.

Dann hat Chris endlich das Besteck gefunden und stellt alles auf den kleinen Couchtisch, der seltsamerweise nicht mit irgendwas bedeckt ist.

“Magst Du Nutella?” Was für eine Frage!

“Klar, hab ich zu hause auch immer.”

“Gut.” Er klingt erleichtert. “Was anderes hätte ich auch nicht da. Ich war nicht auf Besuch eingestellt.”

Nach und nach füllt sich der Tisch vor mir: es gibt Toast, frischen Kaffee, Nutella und Cornflakes. Chris setzt sich mit einem zufriedenen Seufzen neben mich und sagt:

“Na los, worauf wartest Du, fang an!”

“Danke.” Leicht zitternd greife ich nach der Kaffeekanne, wie ein Süchtiger nach seiner Crackpfeife und schenke mir ein. Schön dunkel-schwarz, fast zähflüssig, quillt er aus der Kanne und plumpst in meine Tasse. Chris wird mir immer sympathischer. Zu schwachen Kaffee kann ich nämlich auf den Tod nicht ausstehen. Nach ein paar Schlucken fühle ich mich annähernd wieder wie ein Mensch. Währenddessen mampft Chris glücklich an seinem Nutella-Toast und sieht sehr zufrieden aus. Ich weiß nicht warum, aber ich fühle mich im Augenblick auch ziemlich wohl. Normalerweise brauche ich immer sehr lange, bis ich jemandem vertraue und noch länger, bis ich mich bei jemand wirklich wohl fühle. Aber manchmal, bei sehr wenigen Menschen, ist das sofort der Fall. Bei diesen besonderen Menschen bin ich mir von Anfang an sicher, dass sie gut für mich sind, und das ist ein tolles aber auch beängstigendes Gefühl. Chris ist auf jeden Fall einer dieser Menschen.

“Was ist los?” Chris hat sich von seinem Toast losgerissen und sieht mich lächelnd an. Um seinen Mund sind ein paar Nutella-Flecken und er sieht aus, wie ein kleiner Junge, der gerade sein Schoko-Eis hatte. Ich muss wieder lächeln.

“Nichts. Ich hab nur nachgedacht“, antworte ich leichthin.

“Über gute oder schlechte Dinge?” fragt er dann.

“Über gute.”

Nach dem Frühstück mache ich mich langsam daran zu gehen. So richtig weg will ich zwar nicht, aber ich glaube ich sollte mal zu Hause antanzen. Nicht dass meine Eltern bemerken würden, wenn ich nicht nach Hause käme, aber meine Oma dummerweise schon.

“Das Frühstück war toll. Danke”, sage ich, während Chris die Teller wegräumt.

“Jederzeit wieder”, erwidert er mit einem breiten grinsen.

“Ich glaube, ich muss dich jetzt verlassen”, meine ich dann nach einer kurzen Pause.

“Von mir aus kannst Du gern noch bleiben.”

“Würde ich gern, aber ich muss mich zu Hause wieder mal blicken lassen.” Chris sieht fast ein wenig enttäuscht aus.

“Du hast nicht zufällig meine Sachen irgendwo gesehen?” frage ich dann mit einem verzweifelten Blick in Richtung des riesigen Klamottenbergs auf der Matratze.

“Die sind mit Sicherheit noch nicht trocken, ich gebe Dir ein paar von meinen Klamotten.”

Chris geht unerschrocken zu der Matratze und greift heroisch und unter Einsatz seiner Gesundheit hinein. Nach ein paar Minuten hat er gefunden, was er gesucht hat. Ein paar leicht zerrissene, ehemals blaue Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit einem nicht zu entziffernden Aufdruck.

“Das sollte dir eigentlich passen, wir sind ja fast gleich groß.” Chris gibt mir die Sachen und ich stelle erfreut fest, dass sie zwar alt, aber sauber sind. Ich ziehe mich unter Chris kritischen Augen an und lasse mich begutachten.

“Sieht gut aus”, verkündet er dann sein Urteil.

Dann drückt er mir eine Plastiktüte mit meinen nassen Kleidern in die Hand und fragt:

“Musst Du wirklich schon gehen?”

Ich zögere einen Augenblick.

“Ja, muss ich. Aber ich komme ja wieder.”

Dafür ernte ich einen erstaunt freudigen Gesichtsausdruck von Chris.

“Ich muss Dir doch deine Sachen wieder zurückbringen.” Chris strahlt mich wieder an.

“Stimmt, das solltest Du. Das sind schließlich meine besten Klamotten.”

“Bist Du morgen da?”

“Ja, morgen habe ich noch nichts vor. Komm einfach vorbei.”

Ich schüttle Chris’ Hand und zucke leicht zusammen ob der Kraft in diesem Händedruck.

“Also bis morgen dann. Und Chris...” Ich halte noch immer seine Hand und schaue in seine braunen Augen.

“Was ist?” Chris sieht mich fragend an.

“Danke. Für alles.”

“Kein Problem.” Fast widerstrebend lasse ich seine Hand los und drehe mich zur Tür. Erstaunt stelle ich fest, dass sie nicht verschlossen ist. Im Treppenhaus drehe ich mich noch mal um.

“Wir sehen uns morgen”, sagt Chris dann.

Ich nicke lächelnd und mache mich auf den Weg nach unten.

Draußen vor dem Haus ist es widerlich hell. Die Sonne strahlt von einem beinahe wolkenlosen Himmel und es ist schon verdammt heiß. Der Sommer in diesem Jahr scheint kein Ende nehmen zu wollen. Dabei ist es schon Mitte September.

Ich sehe mich um und versuche mich zu orientieren. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo ich hier bin. Das könnte genauso gut eine fremde Stadt sein. Nach einer Weile entschließe ich mich resigniert dazu einfach mal nach rechts zu gehen.

Eine halbe Stunde Fußmarsch und weitere 40 min in diversen öffentlichen Verkehrsmitteln bringen mich schließlich zu dem Gartentor vor unserem Haus. Ich tippe den Code in ein kleines Nummernfeld rechts neben dem Tor ein und die Tür öffnet sich lautlos. Jetzt nur noch unbemerkt in meine Wohnung kommen und ich bin sicher. Seit ein paar Jahren wohne ich im Dachgeschoß unseres Hauses. Das ist zwar eine tolle Wohnung, mit Allem, was dazu gehört, bis auf ein kleines, aber entscheidendes Detail: Ich habe keinen separaten Eingang zu meinem Reich. Ich muss durch die gemeinsame Haustür ins Treppenhaus, im ersten Stock unbemerkt an meinen Großeltern vorbei und erst dann hab ich es geschafft. Heute allerdings entschließe ich mich einen anderen Weg zu nehmen. Ich drücke mich an der Gartenmauer entlang, hinter den Büschen gut in Deckung, zur Rückseite des Hauses wo eine kleine Treppe zur Kellertür führt. In weiser Voraussicht hab ich mir vor ein paar Jahren mal einen Nachschlüssel für die schwere Stahltür machen lassen. Kurz ins Dunkle gehorcht...alles ruhig...gut, dann durch den Weinkeller, vorbei am Fitnessraum und die Sauna links liegen lassen, zur Treppe. Wieder kurz gelauscht...alles klar.

Es kommt mir vor, als hätte ich das schon hundertmal gemacht. Dabei waren es höchstens 50-mal. Bis zum ersten Stock geht auch alles gut. Gerade, als ich die Treppe zum zweiten Stock in Angriff nehmen will, geht die Tür zur Wohnung meiner Großeltern auf. Ich drehe mich schnell um, und tue so, als wolle ich nach unten gehen. Meine Großmutter, eine kleine, resolute Frau in den Siebzigern, sieht mich durch ihre dicken Brillengläser fragend an. Dann fällt ihr sieben Dioptrien doppelt-verglaster Adlerblick auf die Aldi-Tüte in meiner Hand und sie sagt:

“Morgen Schlafmütze. Schön, dass Du endlich den Müll runter bringst. Wir essen heute übrigens schon um 13Uhr.” Ja richtig, es war ja Samstag. Da findet immer unser ‚Familienessen’ statt. Unter der Woche schaffen wir es eigentlich nie, dass die ganze Familie zur selben Zeit isst. Mir persönlich war das nur recht, aber einmal in der Woche musste ich doch dran glauben.

“Morgen Oma. Wie könnte ich unser Essen denn vergessen”, sage ich mit einer kleinen Spur Zynismus. Sie mustert mich noch mal mit einem recht missbilligenden Blick und meint dann:

“Und zieh Dir bitte etwas anderes an, deine Eltern trifft ja der Schlag, wenn sie dich so sehen.”

Sagt’ s und verschwindet wieder in ihrem Hexenhäuschen...ähh ihrer Wohnung meine ich. Wie man sehen kann, ist meine Oma nicht unbedingt der herzlichste Mensch auf der Welt. Ehemalige Lehrerin halt. Dennoch ist sie eigentlich eine Seele von Mensch, nur eben nicht besonders herzlich.

Ich warte noch etwas, und mache mich dann auf den Weg in die Sicherheit meiner Wohnung. Ich schließe die Tür auf, schmeiße die Tüte in eine Ecke, schleppe mich quer durchs Zimmer und lasse mich mit einem Seufzer der Erleichterung aufs Bett fallen. Endlich zu Hause.

Ich lasse meinen Blick in der Wohnung umherschweifen und ich bemerke den krassen Kontrast zu Chris’ Wohnung. Hier ist alles sehr aufgeräumt und ordentlich. Aber im Augenblick kommt mir das Wort ‘steril’ in den Sinn. Meine Wohnung ist recht groß, so an die 100 qm. Den größten Anteil daran hat der Raum in dem ich jetzt auf dem Bett liege. Es ist mein kombinierter Schlaf- Wohnbereich. Mein Bett steht vom Eingang gesehen an der gegenüberliegenden Wand und ist durch ein mannshohes Regal vom Wohnbereich abgetrennt.

Dort steht mitten im Raum eine recht große, schwarze Leder-Couch mit Blick auf den Fernseher. Alles, was dieses Zimmer etwas wohnlicher macht, sind jede Menge Fotos an den Wänden und an der Dachschräge. Auf die bin ich wirklich stolz. Fotografieren ist nämlich mein großes Hobby. Vor allem die Schwarz-Weiß-Fotografie hat es mir angetan. Mein Vater meint immer, dass das reine Zeitverschwendung sei und dass ich mich lieber auf das Studium vorbereiten soll. Ich glaube er erwartet ein Studium in Rekordzeit von mir, damit ich so schnell wie möglich in seiner Kanzlei einsteigen kann.

Ich will jetzt nicht an so was denken. Meine Gedanken kehren zu Chris zurück und ich muss wieder lächeln.

Wie kann man jemanden nur so schnell mögen?

Zugegeben Chris macht es einen verdammt leicht ihn zu mögen. Trotzdem ist es alles andere als typisch für mich. Ich habe eine ganz einfache Einstellung, was fremde Menschen angeht: Ich mag sie nicht! Zumindest, bis sie mich eines Besseren belehrt haben. Bei Chris ist das anders.

Chris Sachen haben einen ganz eigenen Geruch. Ich rieche genauer an dem T-Shirt; es riecht ein wenig nach Hund ähh...nach Wolf korrigiere ich mich lächelnd. Aber da ist noch ein anderer Geruch darunter. Ich schätze das ist Chris’ Geruch. Kein schlechter oder guter Geruch es ist einfach der Geruch eines anderen Menschen. Und ich fühle mich wohl in diesem Geruch um mich herum. Seltsam. Ich hänge diesen Gedanken noch ein wenig nach, als mein Blick auf die Digitalanzeige meines Weckers fällt: 12.56 Uhr. Verdammt, ich muss mich ja noch umziehen.

Mich kotzt das Ganze schon wieder dermaßen an!

Außerdem bringe ich ja sowieso keinen Bissen runter. Und wenn, dann bleibt er nicht lang unten. Das ist bei mir immer so, wenn ich einen Kater habe. Ich kann dann nur süße Sachen essen; alles andere bahnt sich schnell wieder den Weg ans Tageslicht. Außerdem tut mein Bauch immer noch verdammt weh.

Und doch, wie jedes Mal, füge ich mich in mein bedauernswertes Schicksal. Ich ziehe mich um und mache mich auf meinen Weg zur Schlachtbank.

Kapitel III: Familie

Als ich ins Esszimmer komme sind schon alle anwesend. Am Kopf des langen dunklen Tisches sitzt mein Vater. Ein großer, schlanker Mann mit kurzen, dunkelbraunen Haaren und einem Vollbart, der mittlerweile schon mit weißen Strähnen durchsetzt ist. Er hat ein kantiges Gesicht mit tiefliegenden, blauen Augen und er strahlt eine unglaubliche und sehr einschüchternde Autorität aus. Neben ihm sitzt meine Mutter, eine Frau, die mit Fünfzig noch immer wunderschön ist. Der plastische Chirurg sollte dafür irgendeinen Preis bekommen, finde ich. Ihr Gesicht sieht fast wie das einer Puppe aus. Aber für meinen Geschmack ist es einfach zu glatt, etwas zu unnatürlich perfekt. Von ihr habe ich die blauen Augen geerbt und ich glaube, dass ich auch ihre hellbraunen Haare habe. Genau feststellen lässt sich das, seit ihrer Begegnung mit einer Magnum-Flasche Wasserstoffperoxyd vor einer Ewigkeit, nicht mehr. Perfekt gestylt und makellos geschminkt sitzt sie da. Gegenüber meiner Mutter sitzt Oma, die Mutter meines Vaters. Sie ist mir ja schon über den Weg gelaufen. Wieder sieht sie mich missbilligend durch ihre dicken Gläser an. Wahrscheinlich, weil ich zu spät bin. Oder es ist etwas anderes; ist mir jetzt scheißegal, ich will dieses bescheuerte Ritual nur schnell hinter mich bringen und mich wieder hinlegen.

“Ah, da bist Du ja endlich. Ist wohl spät geworden gestern?” Meine Mutter hat die Angewohnheit immer gleich zum Punkt zu kommen. Ich habe mittlerweile gelernt gar nicht drauf einzugehen.

Ich murmle eine Entschuldigung und setzte mich meinem Vater gegenüber an den Tisch.

“Nachdem sich unser Herr Sohn endlich bequemt hat uns Gesellschaft zu leisten, können wir ja anfangen”, meint mein Vater mit seiner tiefen Bassstimme, die im Gericht nie ihre Wirkung verfehlt. Ich verkneife mir jede Bemerkung und starre auf meinen Teller. Dort liegt eine kleine Hasenkeule mit Bohnen und kleinen Kartoffeln. Unter anderen Umständen wäre das ein tolles Essen, aber ich habe so was von keinem Appetit. Trotzdem greife ich beherzt zu meiner Gabel und stochere ein wenig an der Keule rum.

“Du bist ja gestern ziemlich schnell verschwunden.” Oh oh, ich kenne meinen Vater da kommt noch was nach. Normalerweise wartet er mit seiner Standpauke immer bis nach dem Essen. Das ist kein gutes Zeichen.

“Ich habe die ganzen Leute schließlich eingeladen, damit sie dich mal kennen lernen.” Er zeigt mit dem Messer in meine Richtung an dessen Ende sich ein kleiner Soßenfleck hartnäckig hält.

“Ja ich weiß, es tut mir leid.” Immer schön den Ball flach halten. Aber ich weiß, dass es mit einer einfachen Entschuldigung nicht getan ist.

Diese verfluchte Feier in seiner verdammten Kanzlei! Er hat mich rumgezeigt, als wäre ich sein neues Auto. Ich musste mich dermaßen zurückhalten, um nicht laut loszuschreien. Natürlich hab ich mich dann bald abgeseilt um mich Volllaufen zu lassen.

“Schön, dass es dir Leid tut!” Der Sarkasmus hängt noch eine Weile wie ein ätzender Nebel zwischen uns und versickert dann langsam in dem cremefarbenen Damasttischtuch. Bei dem ganzen Gift, das sich über die Jahre dort angesammelt hat wird man die Tischdecke wohl eines Tages als Sondermüll entsorgen müssen.

“Weißt Du überhaupt, wie schwierig es war, das alles zu organisieren?” Seine tiefe Stimme dröhnt in meinem Schädel. Mein Kopf hat wieder angefangen zu pochen. Anscheinend lässt die Wirkung des Aspirins allmählich nach. Und das ist kein guter Zeitpunkt für Kopfschmerzen.

“Und ist Dir klar, wer gestern da war?”

Erwartet er jetzt wirklich eine Antwort?! Ich entscheide mich für ein kleines Nicken. Da kann man ja nichts falsch machen.

Er rattert natürlich trotzdem eine Menge Namen runter, die mich wirklich nicht interessieren. Es kommen aber viele ‘von’ und ‘zu’ darin vor. Und ein paar Mal fällt der Begriff ‘Staatssekretär’. Das Pochen in meinem Kopf hat sich zu einem dumpfen Hämmern gesteigert.

“Hörst Du mir überhaupt zu?” Ich schrecke ein wenig hoch und antworte geistesgegenwärtig und blitzschnell:

“Hmm? ...Ja natürlich!”

“Das war die ideale Gelegenheit, unsere wichtigsten Klienten kennen zu lernen. Und Du haust einfach ab.” Das stimmt so nicht ganz. Ich hab wirklich viele Hände geschüttelt gestern Abend und so gegen 22 Uhr hab ich mich dann verdrückt. Aber das will er nicht hören, also schweige ich und sehne mich zurück in mein Zimmer. Und mehrmals, während mein Vater sein Plädoyer hält, ertappe ich mich dabei, wie ich mir wünsche wieder bei Chris zu sein. Ich blicke Hilfe suchend zu meiner Mutter, aber wie immer ist aus dieser Ecke keine Unterstützung zu erwarten. Sie ist anscheinend voll auf ihr Essen konzentriert und schneidet winzige Bissen von ihrer Hasenkeule ab.

“Der Ruf ist das Allerwichtigste für einen Anwalt. Und ich dulde nicht, dass Du mit Deinem Verhalten diesen Ruf aufs Spiel setzt.” Seine Stimme klingt jetzt wie vor Gericht. ich persönlich finde ja, dass er furchtbar übertreibt, aber wenn sich ein Anwalt erst mal in Fahrt geredet hat, dann bleibt die Wahrheit meist auf der Strecke. Und mein Vater ist wirklich mit Leib und Seele Anwalt.

“Nächsten Monat werden wir wieder eine Feier veranstalten. Zu meinem Geburtstag und ich erwarte, dass Du dabei bist und vor allem...”, wieder zeigt sein Messer in meine Richtung, “erwarte ich, dass Du den ganzen Abend da bleibst. Ist das klar, Stefan?” Na das wollen wir doch mal sehen. Aber ich nicke nur…. wie immer.

Nach ein paar weiteren Alibi-Bissen von meinem Kaninchen entschuldige ich mich und renne die Treppe rauf. Oben schaffe ich es gerade noch bis zur Kloschüssel, bevor ich mein Kaninchen wieder sehe. Ich knie vor der Schüssel und würge noch lange, bis beim besten Willen nichts mehr kommen mag. Bei jedem Würgen durchzuckt mich ein greller Schmerz, der mir das Wasser in die Augen treibt. Ich kann es meinem Bauch nicht mal verdenken, dass er sich beschwert, nach der Behandlung von gestern. Was für ein beschissener Tag! Er hatte doch so gut angefangen.

Jetzt sitze ich zitternd neben der Toilette auf dem kalten Boden, lehne an der gefliesten Wand und versuche mich zu beruhigen. Als die Tränen dann endlich kommen, gibt es kein Halten mehr. Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen und flenne einfach los wie ein kleines Kind. Ich weine um so viele Dinge. Ich weine um mein armseliges Leben und um das Leben, das ich nie haben werde. Ich weine, weil ich so verflucht schwach bin und mich lieber volllaufen lasse als meinem Vater endlich die Meinung zu sagen. Ich weine um meine verschwendete Jugend, die ich nie wiederbekomme. Ich weine wegen allem, was ich den ganzen Tag schlucken muss, um in Ruhe gelassen zu werden.

Jetzt steigen zu allem Überfluss auch noch die Bilder in mir hoch, die mich seit Jahren verfolgen und die ich wohl nie vergessen werde. Normalerweise fristet diese spezielle Erinnerung ein Schattendasein im hintersten Winkel meines Verstandes. Wie ein Raubtier lauert sie dort geduldig im Dunkeln und wartet auf ihre Chance. Wartet auf einen kurzen Augenblick der Schwäche, um hervorzuspringen und alte, halb vernarbte Wunden wieder aufzureißen.

„Nein, bitte nicht. Nicht schon wieder!“ flehe ich und ziehe meine Beine näher an meinen Körper, doch ich kann es nicht verhindern. Die Bilder drängen sich erbarmungslos in meinen Kopf.

Ich stehe am Rand einer Schlucht. Etwa 50 Meter unter mir liegt reglos ein Junge auf den nassen, hellgrauen Steinen. Seine leuchtend rote Jacke ist der einzige Farbfleck in einer grauen Welt aus Stein. Sein rechtes Bein steht in einem unmöglichen Winkel von seinem Körper ab. Seine Augen sind weit aufgerissen und er scheint mich überrascht anzusehen. Die Steine unter seinem Kopf färben sich langsam rot. Es ist das intensivste Rot, das ich jemals gesehen habe.

„Es tut mir so leid! Ich hätte besser aufpassen müssen. Ich war nicht da. Ich ...ich...vermisse Dich so.“

Schließlich - ich habe längst jedes Zeitgefühl verloren - stehe ich auf, gehe zum Waschbecken und öffne langsam die rechte Schublade. Dort liegt, gut versteckt unter meinem Rasierzeug, eine einzelne, altmodische Rasierklinge. Ich nehme sie vorsichtig aus der Schublade und fahre mit dem Zeigefinger sacht, fast zärtlich, über den kalten stahl. Sie ist makellos und wunderschön. Mein Kopf ist komplett leer in diesem Moment. Ich denke an gar nichts. In mir ist nur dieses großartige Gefühl der Erwartung, so wie jedes Mal, wenn ich an diesem Punkt bin.

Gleich wird alles leichter werden, gleich wird es mir besser gehen.

Wie einfach es doch wäre!

Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, wie oft ich schon hier gestanden bin. Hier gestanden bin, um mich zu vergewissern, dass es diesen wunderbaren Ausweg noch gibt. Sicher, es wäre ein feiger Ausweg. Aber wäre das nicht passend, für einen Schwächling wie mich?

Mit diesen und ähnlichen Gedanken stehe ich einige Zeit am Waschbecken und warte.

Dann, nach ein paar Minuten, merke ich wie sich etwas in mir verschiebt. Allmählich wird aus meiner Verzweiflung etwas Anderes, Mächtigeres.

Darauf habe ich gewartet.

Und endlich ist sie da! Die alte vertraute Wut legt sich um mich, wie eine rote Decke mit scharfen Zähnen. Gierig wickle ich mich in sie ein und ich spüre, wie ich wachse, größer werde und neue Kraft schöpfe.

Noch ist es nicht zu spät!

Noch habe ich Zeit!

Noch haben sie mich nicht gebrochen!

Ich werde mich nicht unterkriegen lassen!

Ich kann noch immer etwas ändern. Langsam, ganz langsam und ohne den Blick von meinem Spiegelbild abzuwenden schließe ich meine Hand um die Rasierklinge. Ich fühle, wie die Klinge in meine Handfläche schneidet. Jetzt setzt der Schmerz ein und erfüllt mich mit seinem rotglühenden Feuer. Ich spüre, wie das Blut zwischen meinen Fingern hervorquillt und ich weiß es in tief in mir:

Ich bin noch am Leben!

Diese Erkenntnis durchflutet mich, getragen von dem pulsierenden Schmerz in meiner Hand.

Ich lächle.

Nach einer Weile öffne ich meine Hand wieder und mache die Klinge sauber. Anschließend verbinde ich meine Hand und versuche das Waschbecken so gut es geht zu säubern. Mein Kopf ist wieder völlig leer. Kein zusammenhängender Gedanke, nichts! Aber diesmal ist es eine gute, zufriedene Leere, die mich weitermachen lässt.

Nachdem ich mir die Zähne geputzt habe und zwei weitere Aspirin eingeworfen habe lege ich mich wieder aufs Bett. Aus irgendeinem Grund ziehe ich wieder Chris Klamotten an. Sie fühlen sich einfach gut an. Ich kann mir nicht erklären woran das liegt. Ich freue mich auf morgen.

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