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Treibgut

Teil 2 - Worin man sich kennen lernt

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel III

Nach ein paar Minuten hörte er wie Martin zurück in die Hütte kam. Tom wischte sich kurz mit dem Handrücken über seine Augen. Sie waren feucht. So wie immer, wenn er an Daniel dachte.

Er hasste sich dafür, dass er so schwach war.

Er musste jetzt stark sein. Durfte nicht aufgeben.

Sonst würde er Daniel nicht helfen können und er würde ihn nie wiedersehen.

Nach ein paar tiefen Atemzügen hatte er sich wieder einigermaßen im Griff und ging ins Wohnzimmer.

Martin saß auf der Couch und hatte den Kopf in den Nacken gelegt. Seine Augen waren geschlossen. In der Hand hielt er ein Glas mit einer braun-goldenen Flüssigkeit. Whiskey oder Rum vielleicht.

Tom war sich nicht sicher, ob er ihn gehört hatte, und stand unschlüssig im Raum.

„Setz dich doch“, sagte Martin ohne die Augen aufzumachen.

Tom setzte sich in den Sessel, der der Couch gegenüberstand und wartete auf die unvermeidlichen Fragen. Nervös wischte er sich seine verschwitzten Hände an seiner Jeans ab. Aber es kamen keine Fragen. Martin saß einfach nur da und nippte ab und zu an seinem Getränk. Die Augen hatte er die ganze Zeit geschlossen. Nach ein paar Minuten hielt es Tom nicht mehr aus.

„Ich werde wohl besser verschwinden.“ Jetzt machte Martin die Augen auf. Lange schaute er Tom an, sagte aber nichts.

„Hannes und die anderen Arschlöcher kommen sicher wieder.“

Martin schwieg noch immer und wartete darauf, dass Tom weiter redete.

„Warum hast du mich eigentlich nicht verraten?“

Martin zuckte mit den Schultern.

„Irgendwas gefiel mir an den Typen nicht. Bist du wirklich aus diesem Heim abgehauen?“

„Ja. Daniel und ich sind vor ein paar Wochen entkommen.“

„Daniel?“

Toms Augen füllten sich wieder mit Tränen. Dann sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus.

„Daniel ist mein Freund. Wir sind gemeinsam abgehauen. Aber sie haben ihn erwischt. In der Nacht, bevor ich deine Hütte gefunden hab, haben sie ihn erwischt. Ich konnte gerade noch entkommen. Und jetzt habe ich keine Ahnung, was Hannes mit ihm anstellt. Er ist das nicht gewöhnt. Er ist noch so jung. Ich … ich muss irgendwas tun. Ich muss ihn da rausholen. Das ist alles meine Schuld.“ Tom versagte die Stimme. Er schluchzte nur noch vor sich hin und starrte auf den Boden. Er konnte Martin nicht in die Augen schauen. Wahrscheinlich warf er ihn sowieso gleich raus. Warum sollte er auch nicht? In seinen Augen war er doch nur eine kleine Schwuchtel, die das bekommen hat, was sie verdient.

„Sieh mich an“, sagte Martin leise.

Tom schüttelte den Kopf und starrte weiter auf den Boden zu seinen Füßen. Das war alles zu viel für ihn.

„Sieh mich an, Tom!“, wiederholte Martin geduldig aber lauter diesmal. Seine Stimme duldete keinen Widerspruch.

Tom sah ihm ins Gesicht. Tränen rollten über seine Wangen und er schluchzte leise vor sich hin. Wieso war er nur so schwach?!

Martins dunkelbraune Augen blickten tief in ihn hinein. Blickten bis in den hintersten Winkel seines Verstandes. Er schien nach irgendetwas zu suchen. Langsam versiegten die Tränen in Toms Augen. Es war fast so, als würde ihm dieser Blickkontakt neue Kraft geben. Tom schämte sich seiner Tränen.

„Das ist schon besser“, sagte Martin nach ein paar Minuten. Er stand auf, ging zur Einbauküche und goss sich einen neuen Drink ein. Mit einem leisen Seufzen ließ er sich wieder auf die Couch fallen.

„Und jetzt erzähl mal von Anfang an.“

„Das gibt es nicht viel zu erzählen. Mit 16 kam ich in dieses verdammte Heim. ‚Zuflucht’ nannten sie es.“ Tom schüttelte den Kopf und lächelte ein bitteres, zynisches Lächeln.

„Hannes hast du ja schon kennengelernt. Er ist der Leiter dort. Außerdem ist er ein sadistisches Arschloch. Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der so viel Spaß daran hat, Anderen wehzutun.“

Toms’ Stimme verlor sich kurz in seinen Erinnerungen, bevor er weiterreden konnte.

„Ich hatte mich fast schon daran gewöhnt, als vor einem halben Jahr Daniel zu uns kam. Der Kleine hatte gerade seine ganze Familie bei einem Autounfall verloren. Er war total fertig und dann ist er auch noch an Hannes geraten. Viel schlimmer konnte es gar nicht mehr kommen. Ich hab mich um ihn gekümmert und dafür gesorgt, dass er nicht allzu viel abbekommen hat. Aber es war klar, dass er das nicht lange durchhalten würde. Und so kam es dann auch. Von Tag zu Tag wurde er … weniger. Er verschwand einfach. Stück für Stück. Direkt vor meinen Augen. Das konnte ich nicht ertragen. Und vor ein paar Wochen sind wir abgehauen. Wir haben uns auch recht gut durchgeschlagen. Sind von einem Ort zum anderen gezogen. Waren immer in Bewegung. Aber letzte Woche sind wir unvorsichtig geworden und sie haben uns erwischt.“ Tom zuckte mit den Schultern. „Das war’s eigentlich.“

Martin nippte an seinem Drink und ließ Tom nicht aus den Augen.

„Das war die Kurzfassung, oder?“

„Wen interessiert schon die Langfassung.“

„Mich“, erwiderte Martin trocken. „Wieso bist du überhaupt in das Heim gekommen? Was ist passiert?“

Tom schluckte hart. Das waren Erinnerungen, die er tief in seinem Kopf versteckte. Aber dummerweise hatten diese speziellen Erinnerungen Zähne und Klauen und gruben sich von Zeit zu Zeit an die Oberfläche seines Verstandes zurück. Freiwillig hatte er sich noch nie an die Zeit erinnert und so kamen die Worte auch nur widerwillig über seine Lippen.

„Ich war bei Pflegeeltern untergebracht, seit ich zehn war. Na ja, Eltern konnte man das eigentlich nicht nennen. Sie kassierten das Geld für mich und kümmerten sich ansonsten einen Dreck um mich. Ich hatte ein kleines, dunkles Zimmer im Keller, wo ich die meiste Zeit verbrachte. Dort unten war es immer saukalt. Egal ob im Sommer oder im Winter. Aber wenigstens ließen sie mich in Ruhe.“

Tom schluckte wieder und zögerte kurz. Eine einzelne Träne hatte sich aus seinem Augenwinkel gelöst und lief seine Wange hinunter.

„Was ist dann passiert?“, bohrte Martin nach.

„Ich schätze, eines Tages wurde ihnen das Geld knapp und sie suchten nach neuen Einnahmequellen. An einem Abend im Dezember kamen sie mit einem Mann in mein Zimmer. Er war ein widerlicher Kerl mit fettigen Haaren und sein Atem roch, als wäre irgendwas in seinem Mund vor langer Zeit gestorben. Meine Pflegeeltern sagten, dass ich mir ab jetzt mein Essen verdienen müsste. Ich solle brav sein und tun, was der Mann mir sagt. Er … Ich konnte nichts tun … Er war viel stärker als ich.“ Toms Stimme versagte am Ende des Satzes. Seine Kehle war wie zugeschnürt und aus der einzelnen Träne war ein stetes Rinnsal geworden, das über seine Wangen lief und auf sein T-Shirt tropfte.

Überdeutlich sah er sich auf der alten Matratze liegen. Und während der fremde Mann auf ihm lag und in sein Ohr flüsterte, dass er ihn lieben würde, versuchte Tom sich verzweifelt vorzustellen, woanders zu sein. Er konzentrierte sich auf ein Poster an der gegenüberliegenden Wand. Es zeigte einen makellos weißen Sandstrand bei Sonnenuntergang. Eine einzelne Palme wiegte sich im Wind und das türkisblaue Meer rollte in sanften Wellen an den perfekten Strand. In seiner Fantasie war er dort. War am Strand und lief an der Grenze zwischen Land und Meer entlang, während das warme Wasser seine Füße umspülte. Er war dort.

Sein Körper lag noch immer eingekeilt auf der Matratze im Halbdunkel des Kellers. Aber Tom selbst hatte sich längst daraus zurückgezogen. Und weder die Schmerzen noch das Gestöhne konnten ihn aus seiner Fantasie reißen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern und lange, nachdem sein Besucher wieder weg war, lag Tom noch immer reglos auf der Matratze. Er wollte noch nicht zurück in den Keller, in dem es nach Schweiß und Sex roch. Wollte noch nicht zurück in seinen geschundenen Körper. Längst hatte er jedes Zeitgefühl verloren. Waren es Minuten oder Stunden? Es spielte keine Rolle. Er würde einfach hier bleiben. Hier an diesem perfekten Strand in diesem perfekten Moment.

Doch dann passierte etwas. Irgendetwas in seinem Kopf machte Klick. Plötzlich und ohne jede Vorwarnung schwappte die Wut in seine kleine Welt. Das Meer hatte sich blutrot gefärbt. Meterhohe Wellen stürzten an den felsigen Strand und zerstoben in Myriaden kleiner Blutstropfen. Aus dem leichten Wind war ein tosender Sturm geworden und von der Palme stand nur noch ein verkohlter Stumpf. Inmitten der streitenden Elemente stand Tom auf einem Felsen und hielt sein Gesicht in den Sturm. Die Arme hatte er ausgebreitet und auf seinem Gesicht lag ein Lächeln, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. So leicht würde er nicht aufgeben. So leicht würden sie ihn nicht brechen. Er war noch am Leben und das würde er auch bleiben. Für einen kurzen Moment kostete er noch das wunderbare Gefühl der Wut aus. Stand auf dem Felsen in der Brandung und sog die salzige Luft gierig in seine Lungen. Die Luft hatte einen dunklen, kupfrigen Geschmack, der ihn an Blut erinnerte. Dann wurde es Zeit zurückzukehren.

Zurück in seinem Zimmer im Keller, lag er auf der Matratze und starrte in die Dunkelheit. Das Haus war absolut still. Er wusste, was er zu tun hatte. Wie in Trance stand er auf und zog sich an. Dann schlich er nach oben. Die knarrende Treppe hinauf. Oben angekommen, stand er in der Küche und lauschte. Aus dem Wohnzimmer drang lautes Schnarchen zu ihm. Steffen, sein Pflegevater, war wohl wieder mal auf der Couch eingeschlafen. Leise öffnete er eine Schublade und nahm ein langes Küchenmesser heraus. Steffen war Metzger und Tom wusste, dass das Messer immer scharf wie eine Rasierklinge war. Vorsichtig ging er ins Wohnzimmer und trat vor die Couch. Sein Pflegevater lag auf dem Rücken, den Mund leicht geöffnet. Auf dem dreckigen Couchtisch standen mehrere leere Bierflaschen.

Gott, wie er diesen Kerl hasste! Jetzt würde er bezahlen. Jetzt war es so weit.

Tom hob das Messer über seinen Kopf und zielte auf Steffens Brust. Seine Hände zitterten und seine Augen waren schon wieder feucht.

Doch irgendwas hielt ihn auf, hielt ihn zurück. Er konnte es nicht tun.

Die Wut war noch immer da. Sie tobte in seinem Inneren, füllte seinen Bauch mit roter Glut und goss Feuer in sein Blut. Aber dennoch konnte er es nicht.

Er hatte keine Ahnung, wie lange er so im Halbdunkel des Wohnzimmers stand und mit sich rang. Tränen rannen über seine Wangen und er schluchzte leise.

Wieso war er nur so schwach?! Wieso konnte er es nicht einfach hier und jetzt beenden? Es wäre so einfach, so unglaublich einfach.

Eine einzige kurze Armbewegung und sein Pflegevater wäre Geschichte. Und er hätte es verdient. Das stand außer Frage. Aber dummerweise war das nicht die Frage.

Was dann?

Das war die Frage.

Wie würde es weitergehen?

Wenn er ihn jetzt umbrachte, gab es kein Zurück mehr. Dann hätte er die letzte Grenze überschritten. Dann würde er in den Knast wandern.

Aber dieses Arschloch musste dafür bezahlen. Und plötzlich wurde Tom klar, dass es hier nicht mehr nur um ihn selbst ging. Hier stand mehr auf dem Spiel.

Was würde mit dem nächsten Kind passieren, das in dieser Hölle landete? Und schließlich kam Tom zu einer Entscheidung.

Das Zittern in seinen Armen hörte auf und die Glut in seinem Bauch gefror zu einem tiefschwarzen Eisklumpen. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, als er das Messer noch etwas höher hob.

Dann ließ er es mit aller Kraft niederfahren.

Es gab ein reißendes Geräusch und das Messer steckte bis zum Heft im Polster der Couch. Die Klinge war nur einen Zentimeter von Steffens Kopf entfernt. Der kam nur langsam zu sich, tauchte aus seinen alkoholvernebelten Träumen auf und versuchte sich in der Realität zurechtzufinden.

Noch hatte er keine Ahnung, wie unangenehm diese Realität in den nächsten Minuten für ihn werden würde. Tom lächelte noch immer, als er das Messer aus dem Polster zog und es seinem Pflegevater an die Kehle setzte. Die Klinge war so scharf, dass sie allein durch den leichten Druck in das Fleisch schnitt. Ein kleiner Blutstropfen bildete sich und hing wie eine rote Träne an der Schneide.

Steffens Augen flogen ruckartig auf und er starrte in das lächelnde Gesicht von Tom, das nur wenige Zentimeter über ihm hing.

„Was …“, fing er an und verstummte sofort wieder, als Tom den Druck des Messers erhöhte. Angst flackerte in seinen blauen Augen auf. Tom fühlte sich großartig in diesem Moment.

Sein Pflegevater hatte Angst! Hatte Angst vor ihm!!

Was für ein Gefühl!

„Weißt du, was lustig ist?“, fragte Tom leise. Steffen wollte den Kopf schütteln, besann sich dann aber eines Besseren, als er das Messer an seiner Kehle spürte.

„Was?“, fragte er stattdessen mit krächzender Stimme. Sein Atem roch nach Bier und toter Pizza.

„Es ist lustig, dass ich noch nicht genau weiß, was ich jetzt tun werde“, antwortete Tom und sein Lächeln wurde etwas breiter.

„Ich meine, wieso sollte ich dir jetzt nicht einfach die Kehle aufschlitzen? Nach allem was du mir angetan hast. Wieso nicht?“

Fasziniert, und mit unendlicher Genugtuung, beobachtete Tom, wie die Angst in Steffens Gesicht arbeitete. Er wollte sich nichts anmerken lassen, aber so ein gutes Pokerface hatte er nicht.

„Du wirst mir jetzt ganz genau zuhören, weil ich mich nicht wiederholen werde“, flüsterte Tom ruhig.

„Ich werde jetzt von hier verschwinden. In ein paar Tagen wirst du zur Polizei gehen und sagen, dass ich weggelaufen bin. Lass dir einfach irgendwas einfallen. Das sollte dir ja nicht allzu schwerfallen. Und ihr werdet nie wieder ein Kind zu euch nehmen. Ist das klar?“

Sein Pflegevater zögerte kurz, nickte dann aber zustimmend. Das Zögern gefiel Tom ganz und gar nicht.

„Sollte ich mitbekommen, dass ihr doch ein neues Pflegekind bei euch aufgenommen habt, dann werde ich zur Polizei gehen und ihnen ein oder zwei interessante Dinge über dich erzählen.“

Tom sah, wie Wut in seine Augen kam. Er hatte ihn verstanden.

„Gut. Ach eines noch …“

Ohne hinzusehen, griff Tom mit seiner freien Hand nach dem metallenen Aschenbecher, der auf dem Couchtisch stand. Steffens Augen waren noch immer vor Angst geweitet und er bekam gar nicht mit, was Tom machte.

Mit einer schnellen Bewegung schlug Tom zu. Der Aschenbecher traf seinen Pflegevater an der Schläfe und er verlor fast sofort das Bewusstsein. Den Kopf leicht schief gelegt, betrachtete Tom seinen Pflegevater ein paar Sekunden lang. Er war überrascht, wie viel Überwindung es ihm kostete diesem Arschloch nicht die Kehle aufzuschlitzen.

Tom packte seine wenigen Sachen zusammen und machte sich auf den Weg. Ein Zweite-Klasse-Ticket brachte ihn in die nächste, größere Stadt. Und dann ließ er sich treiben. Schließlich griff ihn die Polizei in einem abbruchreifen Haus auf, in dem er die letzten beiden Nächte verbracht hatte. Aus irgendeinem Grund wollten ihn seine Pflegeeltern nicht wieder aufnehmen und so landete er in dem Heim von Hannes.

Kapitel IV

Martin sah ihn nachdenklich an. In der Hand hielt er seinen Drink, der noch immer fast voll war. Bei der Geschichte von Tom hatte er ihn ganz vergessen. Tom wischte sich verschämt eine Träne aus dem Augenwinkel. Er wollte nicht schwach sein. Wollte nicht, dass Martin ihn so sah.

„Was denkst du jetzt?“, fragte er Martin leise.

Martin ließ sich mit seiner Antwort ein paar Sekunden Zeit. Dann trank er seinen Drink in einem Zug aus.

„Ich denke, dass wir von hier verschwinden sollten. So wie ich Hannes einschätze, wird er nicht locker lassen.“

Tom nickte zustimmend.

„Wir warten, bis es dunkel geworden ist und dann schlagen wir uns durch den Wald.“

„Wieso tust du das eigentlich?“, fragte Tom „Wieso hilfst du mir?“

Martin sah ihn nachdenklich an und schüttelte schließlich den Kopf.

„Ich weiß es nicht.“ Ein verlegenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Im Augenblick spiele ich nur nach Gefühl.“

Der Tag kroch in angespannter Ruhe dahin. Martin hackte noch etwas Holz und Tom versuchte sich als Aushilfskoch. Aber zu mehr als Dosenravioli reichte es dann doch nicht. Schließlich brach der Abend herein. Eine glutrote Sonne versank langsam hinter den Birken am Seeufer und tauchte den Himmel in ein blutiges Orange. Es war ein fantastischer Sonnenuntergang, den Tom aber nicht richtig genießen konnte. Dafür war er viel zu angespannt.

„Es wird Zeit“, sagte Martin schließlich, als es komplett dunkel war. Er saß in seinem Sessel vor der Couch und blickte aus dem kleinen Fenster. Er wirkte absolut ruhig und seine Stimme klang völlig entspannt. Tom dagegen war nervös und unruhig. Mit einer fahrigen Bewegung strich er sich seine Haare aus der Stirn und fragte dann:

„Glaubst du, dass sie uns noch immer beobachten?“

Martin nickte.

„Oh ja. Die sind noch immer da draußen.“

„Und wie willst du ihnen entkommen? Mit meinem Bein kann ich nicht wirklich schnell laufen.“

„Wir müssen es nur in den Wald schaffen. Dort kenne ich mich so gut aus, wie kein anderer. Dort haben sie keine Chance.“

„Und wie schaffen wir es bis zum Wald?“

Martin sagte nichts sondern stand auf und ging zur Mitte des Raumes. Dort kniete er sich hin, hob den schmutzigen, braunen Teppich hoch und warf ihn achtlos in die Ecke. Unter dem Teppich kam eine kleine Falltür zum Vorschein. Sie war aus demselben Holz gefertigt, wie der Rest des Fußbodens und war selbst ohne den Teppich schwer zu entdecken.

„So kommen wir nach draußen, ohne dass sie uns sehen. Dann robben wir zum Waldrand. Das sollte auch mit deinem Bein zu schaffen sein. Zum Glück haben wir zurzeit Neumond.“

„Und was ist, wenn sie uns sehen?“, fragte Tom nervös. Martin sagte wieder nichts, ging ins Schlafzimmer und kam nach ein paar Sekunden wieder. In den Händen hielt er ein Schrotgewehr und in seinem Gürtel steckte die Glock, die Tom schon bestens kannte.

„Wenn sie uns sehen, wäre das … unglücklich.“

Tom sah ihn an und nickte schließlich. Martin zog die Pistole aus seinem Gürtel, zögerte für den Bruchteil einer Sekunde und hielt sie Tom auffordernd hin.

„Das ist eine Glock 17. Kannst du mit so was umgehen?“

„Nein ich habe noch nie eine Pistole in der Hand gehabt“, log Tom ohne mit der Wimper zu zucken.

„Na dann wird es höchste Zeit“, sagte Martin ernst.

Tom nahm die Waffe und sah überrascht auf.

„Verdammt ist die leicht.“

„Die ist zu 40 % aus Kunststoff“, erwiderte Martin ruhig. „Und sie ist kinderleicht zu bedienen. Eine Sicherung gibt es nicht. Einfach durchladen und den Abzug drücken. Das war’s.“ Tom war sich nicht so sicher, ob die Sache wirklich so einfach war.

„Eines noch“, sagte Martin ernst. „Ziel auf den Oberkörper. Versuch keinen Kunstschuss in den Kopf. Es geht darum den Gegner zu stoppen, nicht im Zirkus aufzutreten.“

Tom nickte zögernd und blickte zu der Waffe in seiner Hand. Eine seltsame Mischung aus Angst und Macht durchströmte ihn. Der Gedanke, jemanden zu töten, machte ihm eine Heidenangst. Aber gleichzeitig genoss er die Macht, die er mit der Pistole in der Hand hielt. Er hatte die Macht über Leben und Tod. Für Tom, der sein Leben bisher in einer Art stillen Ohnmacht verbracht hatte, war das ein berauschendes Gefühl, das er gierig in sich aufsog.

„Bereit?“, fragte Martin ruhig und musterte Tom. Er war sich nicht sicher, wie viel er dem Jungen zumuten konnte.

Tom nickte unsicher. „Bereit.“

Ohne ein Geräusch zu verursachen, öffnete Martin die schwere Falltür. Tom kam es vor, als würde es in der Hütte schlagartig dunkler. So als würde die Dunkelheit hinter der Falltür nach oben strömen und das Licht dimmen.

„Bleib dicht hinter mir“, flüsterte Martin und verschwand in dem gähnenden Loch. Tom blieb keine Zeit zu überlegen und er folgte ihm hinab in die Dunkelheit. Zwischen den Dielen der Hütte und dem Boden war etwa ein Meter Platz. Tom kroch auf allen Vieren. Sein Bein hatte wieder zu pochen begonnen und protestierte bei jeder Bewegung. Die Dunkelheit war absolut. Er sah rein gar nichts und folgte nur den Geräuschen von Martin. Schließlich kroch er ins Freie, wo es etwas heller war. Es war eine schwüle Spätsommernacht. Ein kräftiger Wind wehte ihm ins Gesicht und trocknete die Schweißperlen auf seiner Stirn. Vor sich erkannte er den schemenhaften Umriss von Martin. Er kniete auf dem Boden und starrte zum Waldrand.

„Dort hin und halt den Kopf unten.“ Seine Stimme mischte sich mit dem Wind und war fast nicht zu hören.

Tom kroch durch das hohe Gras so schnell er konnte. Den Waldrand konnte er nur mit Mühe als Schatten gegen einen fast schwarzen Himmel ausmachen. Und er schien einfach nicht näher zu kommen. Die Schmerzen in seinem Bein hatten sich mittlerweile zu einem wütenden Stechen gesteigert, das seinen Oberschenkel bei jeder Bewegung durchfuhr.

Schließlich erreichte er den Wald. Hinter dem Stamm einer großen Birke richtete er sich mühsam auf und blickte zurück zur Hütte. Die Schmerzen waren jetzt fast so schlimm, wie vor ein paar Tagen, als er an der gleichen Stelle gestanden hatte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und wartete.

Wo zur Hölle war Martin?

Nach ein paar Minuten, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, hörte er ein leises Rascheln ein paar Meter vor sich.

„Hier drüben“, flüsterte Tom.

Ein großer Schatten richtete sich direkt vor ihm auf und Tom erkannte die athletische Gestalt von Martin.

„Vielleicht haben sie doch aufgegeben“, fragte Tom hoffnungsvoll.

„Nein haben sie nicht“, antwortete Martin kopfschüttelnd.

„Woher willst du das wissen?“

„Schau genau hin.“ Tom starrte in die Dunkelheit, in der er mit Mühe die Hütte erkennen konnte. Gerade als er fragen wollte, was das sollte, sah er es. Ein Schatten bewegte sich geduckt auf die Hütte zu. Er war fast nicht zu sehen und machte nicht das leiseste Geräusch. Als er etwa fünf Meter von der Hütte entfernt war, flammte ein Feuerzeug auf und kurz darauf brannte ein Stück Stoff. Es war eine fast blaue Flamme und Tom erkannte, was es war. Mit einem lauten Klirren flog der Molotow-Cocktail durch das Fenster. Für einen kurzen Moment war es wieder absolut dunkel und Tom dachte schon, dass das Feuer ausgegangen war. Aber dann flackerte es hell im Inneren der Hütte auf.

„Oh Scheiße“, entfuhr es Tom.

„Ja“, stimmte Martin ihm zu.

„Es tut mir leid. Das ist alles meine Schuld.“

„Lass uns abhauen. Sie werden jeden Moment merken, dass wir nicht mehr in der Hütte sind.“

Martin schulterte das Schrotgewehr und wandte sich von dem Anblick der brennenden Hütte ab.

Sie folgten einem schmalen Trampelpfad, der sie tiefer in den Wald hineinführte. Es war so dunkel, dass Tom kaum die Hand vor Augen erkennen konnte. Aber Martin schien den Weg gut zu kennen und ging mit traumwandlerischer Sicherheit voran. Mehrmals mussten sie allerdings eine Pause machen, weil die Schmerzen in Toms Bein mittlerweile unerträglich waren. Etwa nach einer Stunde erreichten sie einen Holzschuppen, der neben dem Pfad stand. Gut versteckt zwischen ein paar hohen Büschen hätte Tom ihn wahrscheinlich gar nicht gesehen. Martin ging geradewegs auf den Schuppen zu und schloss die Tür auf.

„Warte hier“, sagte er und verschwand im Dunkel. Kurz darauf kam er wieder heraus und Tom erkannte, dass er ein Motorrad neben sich her schob. Wortlos setzte er sich darauf und deutete Tom sich hinter ihn zu setzen. Er war sich nicht sicher, ob er das gut finden sollte, aber Martin wusste anscheinend was er tat und er war froh, mit seinem Bein nicht mehr laufen zu müssen.

Die schwere Geländemaschine sprang schon beim ersten Versuch an und der Weg vor ihnen wurde von dem Frontscheinwerfer hell erleuchtet.

„Halt dich gut fest.“

Martin fuhr zügig, aber sehr sicher durch die Nacht. Nach etwa 10 Minuten bogen sie auf einen breiten Forstweg und sie kamen wesentlich schneller voran. Ein paar Minuten später hatten sie den dunkeln Wald hinter sich gelassen und nun fuhren sie durch schier endlose Maisfelder. Rechts und links stand der Mais über zwei Meter hoch und wirkte wie eine undurchdringliche, grüne Wand. Tom stellte überrascht fest, dass er tatsächlich begann, die Fahrt zu genießen. Es war eine laue Sommernacht und der warme Fahrtwind blies ihm ins Gesicht. Der Geruch nach Mais und frischer Erde lag schwer in der Luft und er fühlte sich irgendwie … sicher.

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